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Eine Muslimin und ein Protestant auf dem Jakobsweg

Berlin. Das Aufstehen ist ein Problem. Jörg Steinert ist gern morgens schon um 6 Uhr wach und würde nach einem kurzen Frühstück am liebsten sofort loslaufen. Während Seyran Ates eher noch etwas schlafen, dann ihr Büro in Berlin kontaktieren und dann ihre Blasen an den Füßen etwas schonen würde. „Jeden Tag ist da eine neue Blase bei ihr“, sagt Jörg Steinert. Und Seyran Ates kontert: „Dafür bist du unsere Prinzessin aus Preußen.“ Alles müsse Zack zack gehen bei ihm.

Die beiden Berliner haben sich in den vergangenen Wochen zusammengerauft, sie sind das Kernteam einer kleinen Reisegruppe, die sich vor einem Monat aufgemacht hat auf eine Pilgerreise in Richtung Süden. Der eine ist der Noch-Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbands, die andere ist Menschenrechtsanwältin und Vorsitzende einer liberalen muslimischen Gemeinde mit dem Namen „Ibn Ruschd-Goethe“.

Jörg Steinert ist den Jakobsweg schon mehrfach gelaufen. Für Seyran Ates, die wegen Drohungen von radikalen Muslimen unter Personenschutz steht, ist es nicht das erste Mal, dass sie sich für mehrere Wochen auf solch eine Reise begibt. Sie hatte Steinert schon einmal auf einer Strecke des Jakobswegs in Frankreich begleitet.

„Als liberale Muslimin kann ich nicht nach Mekka pilgern“, sagt Ates, „aber ich wollte auf einem spirituellen Weg laufen.“ Nach Santiago de Compostela in Spanien sind es rund 3000 Kilometer, aber die beiden wollen den deutschen Teil des Jakobsweges kennenlernen: Brandenburg, Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Bayern und Baden-Württemberg. „Wir laufen durch verschiedene Bundesländer“, sagt sie, „von denen einige nicht unbedingt bekannt dafür sind, freundlich zu Ausländern oder überhaupt Fremden zu sein.“ Sie habe auch schon Grundstücke mit der Reichsflagge gesehen. „Aber mehrheitlich werden wir mit einem Lächeln begrüßt.“

Interview mit Ilko-Sascha Kowalczuk und Stefan Wolle

Berlin. Stefan Wolle (69) ist wohl Deutschlands bekanntester DDR-Forscher, der das System des Staates auch von innen kennt. Er leitet seit 15 Jahren das DDR-Museum gegenüber dem Berliner Dom. Es ist eines der bestbesuchten Museen der Stadt. Dort in einem Konferenzsaal treffen wir ihn auch zum Doppelinterview mit seinem Kollegen Ilko-Sascha Kowalczuk (53). Der gebürtige Ost-Berliner arbeitet seit Beginn der Pandemie vor allem von zu Hause. Deshalb ist er per Zoom zugeschaltet. Nach anfänglichen technischen Schwierigkeiten mit der Verbindung steht die Leitung. Die beiden haben einander eine Weile nicht gesprochen, und man merkt, dass sie sich gut verstehen.

Wie geht es Ihnen?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Ich hab’ schon etwa tausend Seiten meines Buchs über Ulbricht geschrieben und bin noch nicht einmal in der DDR angekommen.

Stefan Wolle: Hast du das neue Buch von Heinrich August Winkler gesehen?

Kowalczuk: Ach ja, er wird nicht müde, seine Thesen immer wieder neu zu verkaufen. Das ist die Kurzgeschichte der Kurzgeschichte seiner Langgeschichte.

Die Geisterinsel

Die Insel

Bernd H. sitzt an seinem Strand, schaut in die Dunkelheit, aus der es leise plätschert. Zwei Katzen schnurren um sein Bein. Er sagt: „In der Nacht ist es fast am allergeilsten.“ Oben am Himmel schiebt sich eine Wolke über das große, unendliche Schwarz. Er löscht alle Lichter auf der Insel und schaut nach oben. „Das da oben ist keine Wolke, das ist die Milchstraße.“ Er zündet sich eine sehr lange Zigarette an, die er sich gebaut hat. Aus einem Lautsprecher kommt leise House-Musik, die auch in Berlin in einem Club laufen könnte.

Aber Bernd H. wollte weg aus Berlin und das schon lange. Es ist Juni 2019, und der 39-Jährige wohnt sein zweites Jahr auf seiner eigenen Insel in Indonesien. Sie heißt Maila und ist so klein, dass Google Maps sie nicht anzeigt. Sie liegt mitten in der Inselgruppe, die Pulau Banyak heißt, indonesisch für: viele Inseln. Sie ist „seine“ Insel, er hat sie für 30 Jahre gemietet. Sie ist ungefähr 3000 Quadratmeter groß, „wie der Görli, ganz für mich allein“. Bezahlt hat er 8600 Euro. Das sind 150 Millionen Indonesische Rupiah, ein Vermögen in einem Land, in dem das monatliche Durchschnittseinkommen bei 154 Euro liegt.

Bernd H. fand die Insel 2017, als er eine Reise durch verschiedene Länder in Südostasien machte. Noch im gleichen Jahr reiste er wieder nach Indonesien. Er flog also von Berlin nach Singapur, von dort nach Medan, die viertgrößte Stadt Indonesiens auf der Insel Sumatra. Dann dauerte es noch rund 20 Stunden bis zu seiner Insel: per Nachtbus von Medan nach Singkil an die Westküste Sumatras, per Schiff in drei Stunden auf die Insel Balai, danach mit einem Schnellboot auf die Insel Sikandang. Von dort sind es 15 Minuten bis nach Maila.

 

 

 

 

Teil-Lockdown in Berlin: Die Nacht der leeren Straßen

Berlin.  Ein Packung Toffifee, ein Teelicht, eine Flasche Rotwein. Mehr hat Ewald Klassen nicht dabei. „Ist das nicht eine märchenhafte Nacht“, fragt er. „Ich meine das rote und gelbe Laub auf den Straßen, das Licht der Straßenlaterne, die Leere.“ Der 34-Jährige sitzt auf einem Vorsprung an der Gabriel-Max-Straße in Friedrichshain auf einer Decke und wartet auf „Concrete Flower of Berlin“, die Berliner Beton-Blume. So nennt er die Frau, die er vor drei Wochen auf der Museumsinsel singen hörte. Er hat ein Video gemacht, wie sie im Säulengang der Alten Nationalgalerie ohne Begleitung „O mio babbino caro“ singt, eine Puccini-Arie. Er zeigt auf die Einschusslöcher vom 2. Weltkrieg neben ihr im Video. Er hat sie angesprochen, fuhr zurück nach Gstaad, wo er wohnt. „Heute bin ich den ganzen Tag von den Alpen bis hierher gefahren, um sie wieder zu treffen.“ Bei Whatsapp hat er sie unter „Ruth Herzberührt“ abgespeichert. „Wir haben uns heute geküsst.“

Es ist 21 Uhr, Montagabend. Die erste Nacht des Berliner Lockdowns hält auch solche Geschichten parat. Zum zweiten Mal in diesem Jahr wird das öffentliche Leben in der Stadt und im ganzen Land heruntergefahren. Bars, Restaurants, Kinos, Theater, Fitnessstudios bleiben im November geschlossen. Die Zahl der positiv Getesteten ist in Deutschland auf über 15.000 am Tag gestiegen, Friedrichshain-Kreuzberg ist aktuell der am stärksten betroffene Berliner Bezirk. Laut den neuen Regeln dürfen sich Personen aus maximal drei Haushalten treffen, die Gruppen sollten zehn Personen nicht übersteigen. Das gilt auch für Obdachlose. Und streng genommen ist der verliebte Deutsch-Schweizer auf der Decke genau das.

„Ich weiß noch nicht, wo ich heute wohne“, sagt Ewald Klassen, „aber das findet sich.“ Da kommt Ruth vom Boxhagener Platz zurück. Die 24-Jährige ist tatsächlich professionelle Sängerin, kam vor einem Jahr aus England nach Berlin. „Meine Heimatstadt ist Bedfordshire“, sagt Ruth Harley, „das ist bekannt, weil die Romanfigur Bridget Jones auch von dort kommt.“ Sie hat in Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain gelebt, jetzt wohnt sie in einer WG in Lichtenberg. Sie erzählt von ihren Auftritten auf der Museumsinsel. Weil es im Augenblick keine Bühnen gibt, singt sie manchmal an öffentlichen Plätzen. „Es ist unglaublich, manchmal fangen die Menschen an zu weinen, wenn sie vor mir stehen.“ Ewald habe sie angesprochen und sie hat sich sein Profil auf der Webseite „Soundcloud“ angeschaut. Er ist Pianist. „Sein Stück ‚Seelenspiel‘ hat mich berührt.“ Sie sagt, er werde schon nicht auf der Straße übernachten müssten. „Er hat Geburtstag am Mittwoch.“

Ein Hubschrauber kreist in der Luft, ein Mann führt in kurzen Hosen seinen Hund spazieren und zwei Männer vom Ordnungsamt vergeben Strafzettel für Falschparker, eines direkt vor dem kleinen romantischen Lager am Boxhagener Platz, wo Ruth und Ewald sitzen. Die Männer sagen, dass es eine ruhige Nacht sei. Sie vergeben wenig Strafzettel, es komme ja niemand von außerhalb in die Gegend. Die Menschen, die hier parken, wohnen hier. Auch die Simon-Dach-Straße, sonst eine belebte Gegend, ist leergefegt. Sechs Polizisten stehen um einen Betrunkenen und versuchen ihn zu überreden, nach Hause zu gehen. Es ist 21.30 Uhr.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 03.11.2020

Bushido: “Ich will kein Gangster sein”

Berlin. Nachbarschaftsstreit vor dem Landgericht Moabit: Am Mittwoch lernten die Zuhörer, dass die Freundschaft zwischen Bushido und Abou-Chaker wegen eines Zauns endete, der zwischen ihren Häusern in Kleinmachnow gebaut werden sollte. Im Sommer 2017 habe Bushido mit seiner Frau das Grundstück abtrennen wollen, Abou-Chaker war dagegen. Es ging um eine geplante Grillstelle, den Hund, der frei herumlaufen sollte, und Sichtschutz, weil seine Frau im Bikini am Pool sitzen wollte. Daran entzündete sich ein lauter Streit, bei dem Bushido zu seiner Frau hielt. Als der Clanchef zu Bushido sagte, er habe sich verändert, entgegnete Bushido: „Wann hast du mich eigentlich das letzte Mal angerufen, nur um zu wissen, wie es mir so geht?“

Seite Mitte August wird bereits im Landgericht Moabit darüber verhandelt, welche Beziehung Clanchef Arafat Abou-Chaker mit dem bekannten Rapper über 14 Jahre lang verband. Waren sie Freunde, Geschäftspartner oder war es eine „Zwangsehe“, wie es Bushido darstellt? Als Bushido diese Beziehung, die ihn seiner Aussage nach bis zu neun Millionen Euro gekostet habe, auflösen wollte, kam es laut der Anklage zu versuchter schwerer räuberischer Erpressung, zu Freiheitsberaubung, Nötigung, Beleidigung – und auch zu Fällen von Untreue. Mitangeklagt sind Arafats Brüder Yasser, Rommel und Nasser Abou-Chaker.

Der Prozess wurde in den vergangenen Wochen mehrfach unterbrochen, unter anderem weil die Mutter der Brüder an Covid-19 erkrankte und starb – und vor zwei Wochen wurde Bushido, Nebenkläger im Verfahren, selbst positiv auf Corona getestet. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht“, sagt Richter Martin Mrosk nun, und Bushido entgegnet knapp: „Das glaube ich nicht.“ Er sei symptomfrei und fühle sich auch wieder fit. Im Gerichtssaal, der zu Beginn des Prozesses noch voll war und vor dessen Eingang damals Fans morgens um 6 Uhr anstanden, ist es am Mittwoch halbleer.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 12. 11. 2020

Corona-Tagebuch: Dezember 2020

Berlin. In dieser Woche habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, ab und an an sich herunterzuschauen und seinen Füßen dabei zuzusehen, wie sie das so hinkriegen: einen Schritt vor den anderen zu setzen, so ganz ohne stolpern. Ich hatte das neulich in einem Popsong der Kanadierin Veda Hille gehört: „Wenn du dich verloren glaubst, schau auf deine Füße“ singt sie im Song „Oh Precious Heart“. Ich will jetzt nichts überdramatisieren, wozu ich zugegebenermaßen neige, aber nach dieser Woche habe ich das Gefühl, dass uns die dunkelsten Kapitel dieser Krise noch bevorstehen.

Montag. Mein erster Gang geht jeden Morgen zuerst an die beiden Adventskalender, die ich in der Wohnung in zwei Zimmern verteilt habe. Am Montag ist das Öffnen der Türen zu einem Ritual geworden, noch am Tag zuvor hatte ich eine Tür vergessen. Wie überhaupt immer mal ganze Tage durchgerutscht sind seit November. Wieder Lockdown, wieder Tagebuch, nur dieses Mal ohne den Frühling vor der Haustür. Dafür immerhin mit Adventskalender. Ich hole ein Stück Apfelstollen aus dem Adventskalender und esse es direkt zum Morgenkaffee.

Und noch etwas hat sich verändert, seit ich im Frühjahr zwölf Wochen lang diese Seite am Sonntag betreut habe: Ich schlafe besser. Das könnte daran liegen, dass ich vor ein paar Wochen das Rauchen aufgegeben habe und mir jetzt jeden Morgen eine App verkündet, welche weiteren Vorzüge dieser Tag ohne Rauchen mit sich bringen wird. Nur beim morgendlichen Kaffee auf dem Balkon fehlt es mir noch ein kleines bisschen.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 13. 12. 2020.

Bushido im Zeugenstand: “Ich gehe zum Psychologen”

Berlin. Dieser Tag im Saal 500, Landgericht Berlin Moabit, ist so eine Art Showdown in einer Serie, die alle sehr mögen, aber die jetzt wirklich langsam mal zum Punkt kommen könnte. Alle Reporter im Saal drehen sich um zur Uhr an die Wand, Ihre Telefone, auf denen sie sonst die Zeit ablesen, mussten sie abgeben. Es ist Punkt 11.02 Uhr am 14. Dezember und fast erwartet man auftosenden Beifall im Saal, als der Vorsitzende Richter Martin Mrosk mit feierlich-fröhlicher Stimme verkündet: „Herr Ferchichi, darf ich Sie bitten, uns allen von den 18. Januar 2018 zu erzählen.“

Dieser Aufforderung gingen 15 Verhandlungstage voraus, an denen der berühmte Rapper seinen Karriereweg nachzeichnete, ein Erfolg, der eng mit seiner Freundschaft zu Arafat Abou-Chaker einem in Berlin stadtbekannten Mafiaboss zusammenhängt. Als Gangster-Rapper braucht er einen „Rücken“, der ihn vor den Begehrlichkeiten anderer Gangster beschützt.

Außer hilft natürlich Zugang zu diesem Milieu das eigene Image des rauen Buben zu verkaufen. Als Bushidodiese „Zwangsehe“, wie er ihr Verhältnis selbst bezeichnete, auflösen wollen, wollte ihn der Abou-Chaker-Clan nicht gehen lassen. So Bushidos Version, der im Verfahren ein Nebenkläger ist. Angeklagt sind neben Arafat (41) seine Brüder Nasser (49), Rommel (42) und Yasser (39) Abou-Chaker.

Bushido im Prozess gegen Arafat Abou-Chaker: „Yasser hat eigentlich nichts zu sagen“

Die vier Brüder waren zusammengekommen, erzählt Bushido, um ihn einzuschüchtern. In ihrem Treffpunkt in Kreuzberg schrien ihn an, schlugen ihn und bedrohten nicht nur den Sänger, sondern auch seine Frau und die Kinder. Bushido war im Glauben zu dem Treffen gefahren, er könne ihre Beziehung „sauber“ beenden – doch er fand sich eingesperrt und beleidigt wieder. Vor allem Arafat führte den Streit an, Nasser versuchte erfolglos zu schlichten, Rommel sei zu sehr mit seiner Drogensucht beschäftigt gewesen – und Yasser: „Der hat doch eigentlich gar nichts zu sagen.“

Lockdown und Schnuffi: Welche Corona-Wörter werden bleiben

Berlin/Mannheim. Annette Klosa-Kückelhaus ist Leiterin des Programmbereichs Lexikographie und Sprachdokumentation beim Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Wir haben mit ihr über die “Corona-Sprache” gesprochen.

Berliner Morgenpost: Frau Klosa-Kückelhaus, die “Corona-Sprache” ist relativ neu als Forschungsfeld hinzugekommen, oder?

Annette Klosa-Kückelhaus: Die Linguisten haben das als Thema entdeckt, weil Linguisten eben dort genau hinschauen, wo sich Sprache verändert.

Wann wuchs das Interesse?

Das begann schon im Frühling, als die ersten Anfragen kamen zu dem Wort „Lockdown“ oder „Shutdown“. Ist das der richtige Begriff? Wird das Wörterbuch erweitert werden? Benutzen wir zu viele englische Begriffe? Dann kam „Social Distancing“ auf.

Familien in Korea: Nur für Stunden wiedervereint

Seoul.  Als Kim Kwang-ho seinen Bruder zum ersten Mal nach 68 Jahren wiedersieht, weint er nicht, er umarmt ihn auch nicht – sondern er bleibt kühl. „Ich konnte ja nicht sofort wissen“, sagt er wenige Wochen nach dem Treffen, „ob es wirklich mein Bruder ist.“ Er lächelt unsicher und schiebt hinterher, er sei an sich kein emotionaler Mensch.

„Ich bin Ingenieur“, sagt Kim, „also habe ich auch dieses Thema zunächst nüchtern betrachtet.“ Der 80 Jahre alte Mann wirkt streng, auch wenn es hier um einen der emotionalsten Momente seines Lebens geht. „Und es ist doch normal, dass ich nicht weiß, wie jemand aussieht, den ich fast 70 Jahre nicht gesehen habe.“

Kim will auf keinen Betrüger hereinfallen und der Mann, der ihm gegenübersitzt, könnte genau das sein: Jemand, der sich Kontakte in den Süden erschwindeln will. „Zum Glück hatte er ein Bild dabei, von sich selbst als Kind und von anderen Verwandten“, sagt Kim. „Und er kannte alle ihre Namen, da wusste ich, das muss Kwang-il sein, mein Bruder.“

Das Jahr 2018 war für Kim Kwang-ho ein ganz besonderes Jahr und für sein Heimatland Südkorea auch. Nach mehr als vier Millionen Toten im Koreakrieg und nach Jahrzehnten der Funkstille nahmen die beiden Staaten, die „Bruderstaaten“ genannt werden, Süd- und Nordkorea, am 9. Januar 2018 erstmals wieder bilaterale Gespräche miteinander auf.

Am 27. April 2018 trafen Diktator Kim Jong-un und Südkoreas Präsident Moon Jae-in sich in der demilitarisierten Zone. Die Fotos von diesem Treffen hängen noch jetzt im Schaukasten der Botschaft Nordkoreas in Berlin. Im Juni 2018 fand dann der erste Gipfel zwischen US-Präsident Donald Trump und Nordkoreas Diktator Kim Jong-un in Singapur statt – und kapp acht Monate später folgt in dieser Woche der zweite Gipfel der beiden Männer in Vietnam.

Für Herrn Kim bedeutete diese Annäherung, dass er sich wieder Hoffnung machen darf, nach fast 70 Jahren Trennung Anschluss zu seiner Familie im Norden zu bekommen. Seit dem Jahr 2000 organisieren beide Staaten regelmäßig sogenannte Familienzusammenführungen. Mal werden sie kurzfristig abgesagt, mal verschoben. Doch weil Besuche verboten sind, bleiben diese Treffen die einzige Gelegenheit, bei der normale Menschen aus dem Volk aufeinandertreffen – keine Sportler oder Politiker.

Es sind immer hochemotionale Termine, sehr alte Menschen liegen sich weinend in den Armen. Bis zu 700.000 Südkoreaner haben noch Familie im Norden, 130.000 von ihnen haben sich für diese Treffen registriert, aber nur 20.000 davon konnte zu einem Treffen verholfen werden. Doch jedes Jahr wird die Zahl derer geringer, die sich noch an Verwandte im Norden erinnern können.

Kim Kwang-ho jedenfalls besteigt am Morgen des 20. August 2018 zusammen mit seiner Frau einen Reisebus und fährt in Richtung Norden, von Seoul aus nur rund 50 Kilometer. Fast 90 Menschen sitzen mit ihm im Bus, das Ticket zum Verwandten-Treffen wurde unter ihnen verlost. Die Stimmung hat er als angespannt in Erinnerung.

Stumm fahren sie vorbei an einem Urwald, zu dem sich in den 60 Jahren die demilitarisierte Zone entwickelt hat. Doch die grüne Idylle täuscht. In diesem rund vier Kilometer breiten Streifen sollen Millionen Landminen liegen. Ein weiterer positiver Effekt der Gespräche: Die Staaten haben sich geeinigt, die Minen zu räumen.

Im Gepäckfach des Busses liegen viele Pakete für die Geschwister im Norden. Herr Kim hat zwei für seinen Bruder gepackt: mit Hemden, Westen, Medikamenten und Daunendecken, weil die Winter im Norden noch härter sind als im Süden. „Ich habe auch südkoreanischen Schokokuchen eingepackt“, sagt er und lacht, „weil ich gehört habe, dass den jeder in Nordkorea kennt.“

Er spricht das Wort nicht Koreanisch aus, sondern Englisch: „Choco Pie“. Manche sagen, einige Nordkoreaner fliehen nach Süden, weil sie endlich den berühmten Schokokuchen essen wollen. Aber bis heute weiß Kim Kwang-ho nicht, ob das Paket seinen Bruder erreicht hat. „Da waren sofort Männer, die es mitgenommen haben.“ Er meint nordkoreanische Beamte, die immer neben ihnen standen. Aber das merkte er nicht, weil er sich so auf seinen Bruder konzentrierte. „Die Zeit verging viel zu schnell.“

Die Familienzusammenführungen sind streng reglementiert. An drei Tagen gibt es vier Begegnungen von jeweils rund drei Stunden. Zusammen, sagt er, habe er seinen Bruder zwölf Stunden gesehen. Manche der Treffen finden in einem großen Saal statt, mit Stimmengewirr und Lärm, andere in einem privateren Umfeld, einem kleinen Extra-Zimmer. Südkoreanische Medien umringen die Familien oft, machen Fotos. Am Tag nach einem Treffen drucken die Zeitungen Bilder der weinenden alten Menschen. Kim Kwang-ho aber sagt, dass nicht viele geweint haben. Ihm sei viel eher aufgefallen, wie still es häufig war.

Das lag auch daran, dass alle konzentriert versuchten, die Zeit zu nutzen. „Wir haben uns über unsere Familien erzählt“, sagt Kim Kwang-ho. Er berichtet seinem Bruder von seinem Studium in Seoul, wie er dann mehr als dreißig Jahre als Professor an einer Universität gelehrt habe, wie er dort seine Frau kennenlernte, drei Kinder mit ihr bekam, später vier Enkelkinder. Seine beiden Söhne sind Zahnärzte, er ist stolz, wenn er von ihnen erzählt. Dann ist sein Bruder dran: Kwang-il wuchs allein mit der Mutter auf, er studierte erst Elektrotechnik und dann Chemie in Nordkorea. Auch er heiratete, hatte aber nur eine Tochter, die ebenfalls eine Tochter hat.

Kim Kwang-ho war 13 Jahre alt, als er seinen damals neunjährigen Bruder und die gemeinsame Mutter zum letzten Mal sah. Der Norden hatte gerade den Süden angegriffen. Kwang-ho wurde wie viele flüchtende Nordkoreaner im Jahr 1950 mit Schiffen aus der umkämpften Stadt Hungnam in den Süden gebracht.

Es waren Schiffe der US-Marine und Frachter, die bis zu 100.000 Zivilisten und ebenso vielen Soldaten das Leben retteten. Die Aktion spielt eine Rolle im Film „Ode to my Father“ aus dem Jahr 2014, der diesen Moment ins Kino brachte: Tausende winkende Menschen am Hafen, und dazwischen Verwandte, die einander verlieren. „Genauso war es“, sagt er, „ein großes Chaos.“ Die Familie trennte sich dort am Hafen. Der Bruder Kwang-il dachte damals, er könnte Kwang-ho und die anderen bald wiedersehen.

Kim Kwang-ho kann sich noch genau erinnern: „Als ich das Schiff bestieg, hatte ich das Gefühl, dass ich meine Mutter und meinen Bruder für lange Zeit nicht wiedersehen würde.“ Sonst aber habe er nur wenige Erinnerungen an die Zeit vor der Trennung. „Ich weiß noch, dass ich meinen Bruder immer geärgert habe, weil er so jung war.“

Und der Bruder habe ihn daran erinnert, wie sie beim Abendessen eine richtige Familie waren: Mutter, Vater und die sieben Kinder. „Aber wir haben noch Glück gehabt“, schiebt er sofort nach. „Mein Bruder hat immerhin überlebt.“ Er selbst ist der letzte Überlebende der Familie in Südkorea, seine fünf Geschwister sind mittlerweile gestorben, ohne Kwang-il je wiedergesehen zu haben.

Jetzt wo die Zeichen mehr auf eine Kooperation mit Nordkorea stehen, denkt Kim Kwang-ho oft an seinen Bruder. Er schaut vor sich hin, faltet sein Taschentuch sorgfältig zusammen, er spricht leise und überlegt länger vor jedem Satz. Er sagt, dass weder er noch sein Bruder über politische Umstände ihrer Heimat sprechen durften.

Sie haben sich daran gehalten. „Natürlich hat mein Bruder nichts Negatives über Nordkorea gesagt“, sagt Kim Kwang-ho, „aber ich konnte sehen, dass es ihm nicht gut ging.“ Kwang-il sei sehr dünn gewesen und auch die Kleidung habe ärmlich gewirkt.

Der Moment, in dem Kwang-ho die Tragweite dieses Treffens aber bewusst wurde, ist der Moment des Abschieds. Es gab so viel aufzuholen, dass beide nicht daran dachten, was sein wird, wenn die Zeit um ist. „Doch als ich wieder auf einem Platz im Bus neben meiner Frau saß und meinem Bruder winkte, der draußen stand“, sagt er und beginnt zu schluchzen, „da wusste ich, den sehe ich nie wieder.“

Er sagt, dass er diese Erfahrung seinen Enkeln einschärft. „Damit sie verstehen, wie froh sie sein können, ihre Geschwister immer um sich zu haben.“