Guter Park, böser Park

Berlin – Der Mitteplatz heißt eigentlich nicht Mitteplatz. Aber die Anwohner nennen ihn so. Es ist einfach der Platz westlich der U-Bahnstation Gleisdreieck. An diesem Platz müssen alle vorbei, die von Ost nach West oder von Nord nach Süd wollen, von Schöneberg nach Kreuzberg, vom Potsdamer Platz zur Yorckstraße. Der Mitteplatz ist der Punkt, der mit einer rosafarbenen 1 eingezeichnet ist auf der Orientierungskarte, die überall im Park aufgestellt ist. In der Legende steht unter „1“: „Sport & Spiel“. Der gesamte Park wird auf der Karte ernsthaft „Oase“ genannt.

Vormittags um 11 Uhr: Drei Frauen schieben drei unterschiedlich große Kinderwagen vor sich her. Daneben machen vier Männer Burpees, eine Liegestütz-Luftsprung-Kombination. Ein weiterer steht daneben, hat die Hand in die nackten Hüften gestemmt, schaut schwitzend in den blauen Himmel. Ein Mittdreißiger in Baggyjeans fährt Longboard und zieht dabei einen Rollkoffer hinter sich her. Er findet das selbst so crazy, dass er mit der anderen Hand ein Selfie-Video dreht.

Zwölf Stunden später am selben Tag: Drei Jugendliche hören laut Rap-Musik. Sie singen jede Zeile mit und das einzige Wort, das sie deutlich gemeinsam rufen, ist „Nutte“. Immer sehr laut. Zwei Endzwanziger, Frau und Mann, in seltsam stylischen Klamotten drehen derweil ihre Runden mit ihrem Skateboard auf der Tartanbahn. Die Art, wie sie einander umkreisen, wirkt vertraut, sie sprechen nicht. Ein Polizeiauto fährt um 23.14 Uhr am Mitteplatz vorbei. Die Musik verstummt.

„Der Park am Gleisdreieck ist ein Kompromiss“, sagt Matthias Bauer. „Dieser Platz hier ist es auch.“ Mitteplatz, den Namen haben sich die Leute angewöhnt, die rings um den Park wohnen. Eben weil der Platz in der Parkmitte liegt. „Es ist ja auch schön, dass man den Namen selber entwickelt und dass der nicht irgendwo einfach dran steht.“ Die Wege haben hier auch keinen Namen. Über das „Sport & Spiel“ auf der Karte muss Matthias Bauer lachen. Es klingt etwas verbittert. Er zeigt auf einen der E-Scooter, die am Rand des Parks stehen. „Mit denen haben sie Jagd auf Fußgänger gemacht.“ Inzwischen haben die Betreiber wohl etwas unternommen gegen den Missbrauch der E-Roller. Ein paar Tage später dann: die Aktion mit den Feuerlöschern.

Bauer begann im Jahr 2009 das „Gleisdreieck-Blog“ zu betreiben. Darin werden Themen rund um die Entwicklung der inzwischen 35 Hektar großen Grünfläche besprochen. Wer im Blog liest, bekommt schnell das Gefühl, dass diese Gegend wie keine zweite Berlins Probleme und Trends zusammenführt: die Verdrängung von Alteingesessenen durch Neureiche, die Kämpfe der Fahrradfahrer gegen die Fußgänger und umgekehrt, die fehlende Rücksichtnahme älteren Leuten gegenüber, die kaum im Park zu sehen sind. Der Dreck, die Kulturunterschiede, das Bildungsproblem, die Flüchtlinge, der Fitnesswahn, die geschlossenen Schulen in der Pandemie, die verdammten Drogen. Auf alles das knallt gerade die Sommersonne und lässt es hier am Gleisdreieck umso greller erscheinen.

Aber zurück zu den Feuerlöschern. Anwohner sagen, Jugendliche hätten sie aus den Parkhäusern in der Nähe gestohlen. Im Internet gibt es Videos, die zeigen, wie jemand die Feuerlöscher auf Menschen richtet und unter Johlen „abdrückt“. „Gleisdreieck030“ hält es stolz für Instagram fest. Anfang April wurden so auch Polizisten angegriffen und in die Flucht geschlagen. Als Anwohner ein paar Tage danach die Polizei anriefen und sich wegen des Lärms beschweren wollten, dauerte es vier Stunden, bis die Beamten vom Abschnitt 52 am Platz waren. Später sagte ein Sprecher, dass sie erst eine Hundertschaft zusammenbekommen mussten, denn zwei Polizeistreifen beeindrucken niemandem am Gleisdreieck.

Fast 250-mal mussten die Polizisten des Abschnitts zu Einsätzen allein in diesem Jahr zum Gleisdreieck ausrücken, jeder fünfte Einsatz war wegen Lärmbelästigung. Immer wieder entdeckt die Polizei verbotene „Corona-Partys“. Ein sogenannter kriminalitätsbelasteter Ort, also eine Gegend mit einer besonderen Häufung an Straftaten, ist der Park dennoch nicht, sagt eine Polizeisprecherin. Neben der Lärmbelästigung und der damit verbundenen erhöhten Jugendkriminalität komme es im Park vor allem zu verschiedenen Raub- und sogenannten Rohheitsdelikten, also Körperverletzungen oder Nötigungen, auch: Vergewaltigungen.

Die Liste wird länger, je nachdem, mit wem man spricht. Da ist etwa Beate K. Seiferth, die seit 24 Jahren in diesem Kiez wohnt und vor ein paar Monaten eine Bürgerinitiative gegründet hat. Da ist Matthias Bauer, der in den 80er-Jahren gegen das hier geplante Autobahnkreuz demonstriert hat, dann Architektur studierte und sich seit Jahrzehnten mit diesem Park beschäftigt, um den sich jemand kümmern muss. Und da ist Kristiana Elig. Sie leitet ein Café am Rande des Parks, das so heißt wie jenes nachtaktive Tier, das den Kopf um 270 Grad drehen kann: Eule.

Das Café Eule liegt südlich vom Mitteplatz, inmitten einer kleinen Gruppe von Kleingärten. Am Rand stehen zwölf Rosenbüsche. Kristiana Elig hat jedes Mal einen gepflanzt, wenn ihr Café zerstört, in Brand gesetzt oder alle Stühle kaputt geschlagen wurden. „Klar hätte ich zumachen können“, sagt sie. „Aber dann hätten sie gewonnen.“ Sie, das sind diejenigen, die Koksspuren auf den Tischen hinterlassen, Uringestank in den Sträuchern oder wie neulich eine Blutlache. Fast 30-mal wurde eingebrochen in den neun Jahren, die es das Café Eule gibt. „Erst Anfang der Woche hat wieder jemand versucht, das Schloss aufzubrechen.“ Aber das hat Frau Elig inzwischen verstärken lassen, es gibt eine Alarmanlage. Was sie nicht sein will: ein Opfer.

Die 48-Jährige hat zwei Kinder und bis vor ein paar Jahren Reportagen für das ZDF gedreht. Dann kam die Idee für das Café im Park, der noch nicht mal fertig war. Im Herbst 2011 wurde der Ostteil des Parks eröffnet, drei Jahre später der Westteil. Damals galt der Park als der einzige Park Berlins ohne Dealer. Es dauerte, bis sich Menschen auf den Wiesen niederließen, zu neu wirkte alles. Die Stadt fremdelte eine Weile mit dieser seltsamen Fläche, die aus der Luft betrachtet aussieht wie jener gezackte Pfeil, der auf Stromkästen vor Hochspannung warnt. Dann kam das erste Graffiti, die erste zersprungene Flasche, die erste Spritze im Sandkasten.

Matthias Bauer ist schon durch den Park gelaufen, als der noch umzäuntes Bahngelände war. „In den 70er-Jahren war hier ein Autobahnkreuz geplant“, sagt er, „das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.“ Aber damals stand die Mauer noch und das hier war eine Brache. Heute treffen sich im Park die Bezirke Mitte, Schöneberg und Kreuzberg, das macht die Frage der Zuständigkeit nicht einfacher. Bauer zeigt auf die neuen Gebäude, die gerade neben dem Mitteplatz gebaut werden. „Im FNP ist diese Fläche noch als Grünfläche markiert.“ FNP steht für Flächennutzungsplan. Jetzt entsteht hier ein S-förmiges Gebäude. „Und warum diese Form?“, fragt er und antwortet gleich selbst: „Damit für noch mehr Wohnungen das Argument Parkblick gelten kann.“

Bauer hat nichts gegen Neubauten. Aber er findet es problematisch, dass hier falsche Erwartungen geweckt werden. So ist es schon am Mauerpark in Prenzlauer Berg oder an den Luxusbauten am Friedrichshain oder am Teutoburger Platz gewesen. Da kosten 70 Quadratmeter so viel wie eine kleine Stadtvilla an der Stadtgrenze zu Brandenburg – und manche bezahlen es trotzdem. Und dann wundern sich die Erstbezügler, dass der nahe gelegene U-Bahnhof Yorckstraße ausgerechnet der hässlichste der Stadt ist und dass gleich neben dem Park etwas beginnt, das die Alteingesessenen ganz nonchalant „Babystrich“ nennen und dann schnell das Thema wechseln.

Beate K. Seiferth ist vor einem Vierteljahrhundert in eine der Sozialwohnungen am Park gezogen. Wenn sie auf einer Skala von 1 bis 10 beschreiben soll, wie sich die gefühlte Bedrohungslage verändert habe in ihrem Wohnviertel, sagt sie: „Als der Park eröffnet wurde, war es ganz klar eine Null — und aktuell ist es eindeutig eine 15.“ Sie sagt, die Partys gehen am Wochenende teilweise bis 7 Uhr morgens, Technomusik, Rap, dunkle Bässe. „Am Anfang bin ich noch selbst hin und hab‘ um Ruhe gebeten“, sagt die 60-Jährige. „Aber bis ich bei meiner Wohnung ankam, war es schon wieder laut.“ Neulich wurde sie mit einer Bierflasche bedroht, als sie um Ruhe bat. Seitdem ruft sie nur noch die Polizei. „Vor ein paar Tagen kam noch eine Vergewaltigung hinzu“, sagt sie, „und jedes Wochenende macht dieser Park einer Müllkippe Konkurrenz.“

Im Spät-Frühsommer 2020 wurde es Seiferth zu viel. Sie druckte A4-Flyer, auf denen dreimal groß stand: „Schluss mit Ballermann am Gleisdreieckpark!!!“ Wobei Ballermann es nicht richtig trifft. Wer an Ballermann denkt, dem fallen nicht Kot und Ratten auf Spielplätzen ein, oder Spritzen, die in Baumstämmen stecken, benutzte Tampons und Kondome in den Büschen. Plus der entsprechende Geruch. Diese Streifen-Flyer klebte sie an Türen im Kiez und forderte einen runden Tisch. Rund 40 bis 50 Menschen trafen sich zu einem ersten Treffen auf den Plastikstühlen im Café Eule, alle hatten eine Horrorgeschichte parat. Ein paar Wochen später gründete sich die Bürgerinitiative Gemeinsam fürs Grüne Gleisdreieck.

Zum Beispiel die Geschichte, die Beate K. Seiferth erlebt hat: „Da gehe ich den Weg durch den Westteil des Parks zwischen U1 und U2 vorbei, dort stehen mehrere Jugendliche, die ganz aufgeregt sind, weil einer von ihnen am Boden liegt. Sie bitten mich inständig, die Polizei zu rufen. Sie hätten kein Handy. Als doch eines aus der Tasche eines der Jungs herausschaut, werde ich misstrauisch. Offenbar wollten sie unsere Handys abziehen. Zum Glück war ich nicht allein, wir sind weiter, der Junge am Boden stand längst wieder auf, sie warteten auf das nächste Opfer.“

Aus dem ersten Anwohnertreffen hätte eine große Bürgerbewegung werden können, wären Demonstrationen, vielleicht ein gemeinsames Sit-in im Park gefolgt. Aber weil die Stadt, das Land und der Planet von einem Virus heimgesucht wurden, kann Beate K. Seiferth sich an fünf Zoom-Sitzungen erinnern. „Herausgekommen ist“, sagt sie, „dass es jetzt zwei große Mülleimer im Park gibt.“

Die von den Architekten für diesen Park designten Mülleimer haben nur kleine Löcher, da passen keine Pizzakartons hinein. Sonst änderte sich wenig. Und dann ging eben im Frühjahr 2021 die Sache mit den E-Scootern und den Feuerlöschern los. Wieder trafen sich die Bürger und beratschlagten. „Ich hätte nie gedacht“, sagt Beate Seiferth, „dass ich einmal mehr Polizeipräsenz möchte.“ Aber es gehe nicht anders.

Matthias Bauer weiß um diese Probleme und er moderiert Streitgespräche dazu in seinem Blog. Neulich wurde eine Mauer im Park aufgebaut. Die BVG hat unter dem Viadukt Absperrungen errichten lassen. „Der Bau steht unter Denkmalschutz“, sagt Bauer, „und ist über 100 Jahre alt.“ Er soll irgendwann erneuert werden, aber wahrscheinlich gehe es auch darum, sagt er, mit der Sanierung schon mal offiziell zu beginnen, bevor sie durch andere Neubauten kompliziert wird. Für Graffitikünstler ist das eine willkommene Aufforderung. „Aber es ist auch ein Freiraum weniger für das Auge“, sagt Bauer. „Andererseits weiß man im Park am Gleisdreieck immer, dass man in einer Großstadt ist.“

Im östlichen Teil des Parks, der im Herbst zehnjähriges Jubiläum feiert, sind die Probleme ähnlich. Gesäubert wird der Park so gut es geht von der Firma Grün Berlin, aber im Jahr 2020 erhöhten sich die Kosten für die Reinigung von rund 230.000 Euro um rund die Hälfte. Zu häufig war es zu mutwilliger Zerstörung gekommen. Auf Anfrage sagt eine Sprecherin von Grün Berlin: „Wir beseitigen die Müllberge täglich – jeden Morgen.“ An einigen Orten der Parkanlage wurden zusätzliche Abfallbehälter installiert. „Die werden bisher gut angenommen, jedoch auch für die Entsorgung von Haus- und Sperrmüll genutzt.“ Weitere Behälter sollen folgen.

Wer diesen Park im Juni 2021 besucht, der trifft ähnlich wie im Westteil viele Sportler, ein paar Hip-Hop-Tänzer, und hört den Satz: „Wo wollen wir es machen?“ Und die passende Antwort: „Warte, hier schauen zu viele zu.“ Dieser ungelenke Dialog zwischen Dealer und Käufer ist auch am Tag zu hören. Abends dann Jugendliche in Gruppen, die um eine kleine USB-Box sitzen. Einer macht ein Foto von seinen Schuhen im Gras. Dann zoomt er ganz nah ran: noch ein Foto. Dann gibt sein Nachbar ihm den Joint.

„Am Wochenende“, sagt Joye, 20, „sind es zehnmal so viele.“ Der gebürtige Berliner wohnt in Wedding, studiert Politik an der Freien Universität und „hängt hier oft ab“, wie er sagt. Er hat gerade Besuch aus Frankreich. „Wo sollen wir sonst hin?“ Die Clubs haben zwar gerade wieder aufgemacht, aber er sagt voraus, dass es noch eine Weile dauern wird – weil diese Art des Feierns auch günstiger sei. Bier oder Sekt vom Späti – und viele andere im gleichen Alter. „Da lohnt sich die Herfahrt.“

Das ist ein Satz, den man oft hört von jungen Erwachsenen, die außerhalb des Rings wohnen, in Pankow, in Friedenau, aber hier feiern oder Volleyball spielen. Sport & Spiel eben. Dann eine Zigarette rauchen und sie fallen lassen.

Grün Berlin hat im Ostteil des Parks einen riesigen Zigarettenstummel aufgestellt. Der soll die Parkbesucher daran erinnern, dass sie ihren Müll wieder mitnehmen. Funktioniert hat das bisher nicht. Sobald es dunkel wird, ist nicht mehr genau auszumachen, ob der Schatten, der sich gerade im Busch bewegt hat, ein Fuchs, ein Kaninchen oder eine Ratte ist. Nicht alle Scherben kann Grün Berlin von der Wiese aufsammeln. Auf die Frage, ob sie überfordert sind, antwortet die Sprecherin: „Wir erfüllen unsere Aufgaben in der Bewirtschaftung und Pflege der Anlagen vollumfänglich.“ Und selbst die kritischsten Anwohner sagen: Ab acht Uhr ist es meistens sauber.

Doch langsam bewegt sich auch einiges auf politischer Seite. Mehrere Anträge sind in die BVV eingegangen und werden wohl noch diesen Sommer umgesetzt: Die FDP will Parknutzer mit Flyern über ihre Pflichten informieren. Vier Toilettenanlagen sollen installiert werden. Die liberale Partei bringt auch eine Umzäunung ins Spiel. Nach 22 Uhr wäre dann Schluss im Park. Klaus Lederer (Linke) hatte dagegen verkünden lassen, dass er einen „Sommer der Ermöglichung“ möchte, in dem Menschen einander begegnen.

Und die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) sagt: „Ich wünsche mir für alle Grünorte, ob Parks oder Spielplätze, dass sie wieder Orte mit positiver Aufenthaltsqualität werden. Und ich wünsche mir, dass die Menschen endlich ihre Verantwortung für die Gemeinwesenflächen übernehmen und dieser unerträgliche Egoismus aufhört.“ Fernab solcher Worte möchte sie durchsetzen, dass tagsüber und abends Ordnungskräfte vor Ort sind. So sollen Situationen erst gar nicht entstehen, die eine polizeiliche Unterstützung nötig machen.

Kristiana Elig vom Café Eule würde sich zumindest über mehr Engagement von politischer Seite freuen. Sie hat am Montag dem Innensenator Andreas Geisel eine E-Mail geschrieben. Seitdem ist es spürbar ruhiger. „Bei mir ist sowieso Scooter-Verbot“, sagt sie, „das darf ich durchsetzen, ich hab das Hausrecht.“ Wie das Wochenende wird, wagt sie nicht vorauszusagen. Sie bleibt dabei: „Der Park ist übernutzt.“

Beate K. Seiferth wird sich weiter einsetzen für mehr Ruhe, weniger Vandalismus und Abfall im Park. „Es gibt manchmal total nette Momente im Park“, sagt sie. Tagsüber hat sie einen schönen Blick in die Baumkronen. „Schon ein großer Luxus.“ Neulich hat ihr einer der Partypeople, wie sie die Feiernden nennt, zugerufen: „Was ziehst du auch an einen Park. Dann zieh doch weg.“ Sie hat gesagt: „Ich war hier, als es den Park noch gar nicht gab.“

Migranten engagieren sich leider selten in Initiativen

Und Matthias Bauer hat ein neues Thema gefunden, um das er sich kümmert. Am Rande des Westparks, auf einem 500 Meter langen Grundstück,  planen Investoren sieben Hochhäuser, zwischen 60 und 90 Meter hoch. „Urbane Mitte“ heißt das. Aber Bauer hat gemerkt, dass sich sein Engagement gelohnt hat. Ohne Menschen wie ihn sähe es jetzt anders aus an diesem Park. Dann hätten die Stadtdesigner, die „Sport & Spiel“, „Strand & Sitztribüne“ sowie „Naturerfahrungsraum“ als ein ernsthaftes Freizeitangebot für Berliner Jugendliche verstehen, vielleicht gewonnen. „Denn das war doch das besondere hier, an diesem Park“, sagt Bauer, „dass die Natur sich den Platz zurückerobert hatte.“

Er findet das erhaltenswert, weil sich nur so Stadtgeschichte erklären lässt. Dieser Park, der bis zum Zweiten Weltkrieg nur ein Güterbahnhof war und in dem dann ein Fußballplatz nach Fifa-Regeln entstehen sollte. Bauer: „Wurde dann zum Glück nicht gebaut.“ Gegen die geplanten Hochhäuser am Gleisdreieck formierten sich inzwischen elf Initiativen. Bauer fiel dabei etwas auf: „Es waren kaum Migranten und kaum junge Menschen unter denen, die sich engagierten.“ Er hofft, das ändert sich. Denn das war ja mal seine Idee, der Park für alle.

Mitarbeit: Maxi Beigang

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 19.6.2021.

Merkel und Laschet in Bad Münstereifel

Sie sollen sich das einmal vorstellen wie eine Sandburg, sagt Elmar Mettke zu zwei Fernsehjournalistinnen des US-Senders ABC. „Wie eine Sandburg an der Nordsee.“ Obwohl Mettke ein auffallend schönes Englisch spricht, ist nicht klar, ob die beiden Frauen wissen, wie ein „sand castle at the north sea“ aussieht. Mettke fährt fort: „Wenn Sie neben dieser Sandburg während der Ebbe einen Graben ausheben und dann kommt die Flut, dann läuft dieser Graben erst voll und irgendwann…“ Er macht eine Pause, zeigt mit seinen beiden Händen den Graben in der Luft und deutet mit den Fingern an, wie etwas bröckelt. Die beiden Frauen nicken höflich. „Naja, die Burg stürzt dann einfach ins Wasser.“ Aber das wisse man hier eben noch nicht. „Die Wissenschaftler müssen jetzt herausfinden, ob der Ort Blessem so wie die Sandburg reagiert.“

Elmar Mettke ist eigentlich Anwalt. Dass er in dieser Woche auf der Brücke Journalisten aus aller Welt (darunter Dubai, Frankreich, Türkei und Indien), die Geschichte von der Sandburg im Graben erzählt, hat damit zu tun, dass er mit 16 Jahren der Freiwilligen Feuerwehr des Ortes Erftstadt beigetreten ist. Und Erftstadt ist jetzt weltweit bekannt. Hier entstand am 15. Juli, vor eineinhalb Wochen, ein Foto, dass diesen Ort neben einer Kiesgrube in Nordrhein-Westfalen plötzlich in eine Reihe stellte mit Katastrophenregionen in Indonesien, Bangladesch und New Orleans. Dieses Bild sagt auch: Die Umweltkatastrophen haben die reichen Länder erreicht.

Das Wetter spielt verrückt, der Starkregen in Deutschland, Grund dieser Katastrophe, hat in den letzten zwanzig Jahren zugenommen. In Kanada wabert eine Hitzewelle, im Westen der USA gibt es erneut Waldbrände, China, Mitteleuropa, jetzt auch die Türkei versinken in den Fluten. Extremwetter wie diese werden in Zukunft häufiger vorkommen. Die aufgeheizte Atmosphäre verändert die Welt. Der Klimawandel ist da. Auch hier.

Auf dem Bild aus Erftstadt ist deutlich zu erkennen, wie aus der Kiesgrube ein reißender Fluss geworden ist, wie Häuser in der Mitte abbrechen und in braunen Fluten verschwinden. Auf anderen Fotos aus der Gegend hängen Autos in Bäumen, brechen Brücken durch, tauchen Autobahnen ab, stehen Menschen auf Häusern und rufen um Hilfe. Manche von ihnen haben das nicht mehr geschafft, in einigen Gegenden sind die Zimmer im ersten Stock innerhalb weniger Minuten so schnell voller Wasser gelaufen, das die Bewohner ertrinken. Ein Mann erzählt in eine Kamera, dass sein LKW innerhalb von fünf Minuten volllief. Mehr als 170 Menschenleben sind derzeit zu beklagen. Noch immer werden Menschen vermisst.

Am Ende dieser Woche ist dieses Land ein anderes. Als am Freitag 18 Uhr die Glocken in allen evangelischen Kirchen des Landes läuten, um an die Toten der Flut zu erinnern, da sind die ersten Bürger von Erftstadt-Blessem schon wieder in ihre Häuser eingezogen. Bedingung ist, dass sie 100 Meter oder weiter vom Rand des Erdrutsches entfernt wohnen und nicht näher an den Abgrund herangehen. Zwar leben sie ohne Strom und ohne fließend Wasser, aber es ist das was sie Zuhause nennen.

Spätestens beim Klang der Kirchenglocken im ganzen Land dämmert es vielleicht wirklich allen, dass es bei dieser Flut keine wirklich Unbeteiligten mehr gibt, dass diese Flut eben doch anders ist, dass sie das Leben aller Deutschen beeinflussen wird: Weil die Abstände kleiner werden, weil das Wort Jahrhundertflut eben nur einmal im Jahrhundert passt, weil sie Probleme im Warnsystem offengelegt hat, weil der Klimawandel endgültig Wahlkampfthema geworden für die kommende Bundestagswahl — und weil diese Wassermassen, die sich dort in Erftstadt-Blessem Bahn brachen, überall im Kontinent auftauchen können.

Zum Glück gibt es jemanden wie Elmar Mettke, der selbst bei dramatischen Momenten die Nerven behält. Mit seiner unterhaltsamen Art kann er einer weltweiten Klimakrise, die über einem Dorf einbricht, die Spitze nehmen, ohne dabei pietätlos zu werden. Mettke erzählt von einem Mann, der ihn am Abend des 15. Juli um Hilfe flehte. Mettke erzählt: „Seine Frau sei noch im Haus, mit Baby! Also bin ich zusammen mit anderen hin und wir konnten die Frau samt Kind retten, da sagt der Mann: ‚Aber mein Hund!‘ Ich holte den Hund aus dem Haus. Da sagt der Mann: ‚Und meine Katze?‘ In diesem Moment brach eine Mauer an der Seite des Hauses unter den Wassermassen zusammen.“ Mettke sagte dem Mann, dass sie jetzt so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone fliehen müssten. Die Zuhörer auf der Brücke lachen für einen Moment. Wie bestellt fährt ein Wagen des Tierschutzbundes aus dem Katastrophengebiet über die Brücke. Doch Mettke wird ernst: „Sehen Sie, so schnell kann es gehen, dass man einmal lacht…“

Alle Bürger in der Region verstehen diese Anspielung. Jeder hat vor einer Woche das Lachen des konservativen Kanzlerkandidaten gesehen, das genau neben dieser Brücke entstand. Armin Laschet stand hinter dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der gerade sein Beileid den Bürgern der Katastrophenregionen aussprach. Doch jemand machte im Hintergrund in der wartenden Gruppe mit Laschet einen Witz — und schon entstand der Moment, der manche Anwohner, die jahrelang in der CDU waren, zum Austritt trieb. Wie Laschet seine Zunge lachend hervor schiebt, das Bild wird in Jahresrückblicken eine Rolle spielen und dann noch einmal Menschen wütend machen. Diese Menschen, sie erzählen das an der Brücke und auch weiter weg in anderen Regionen mit zu viel Wasser in den Straßen.

„Ich bin kein Freund der Union“, sagt zum Beispiel Ralf Kaiser, ein Bewohner aus Blessem, „aber das hat den Menschen hier wirklich wehgetan.“ Kaiser ist am Montag dieser Woche 60 Jahre alt geworden. Er hatte eine Feier geplant mit seiner Familie, im Haus an der Erft. „Aber ich hatte noch Glück“, sagt er, „bei mir stand das Wasser nur im Erdgeschoss.“ Einige seiner Nachbarn haben gar kein Haus mehr, in das sie zurückkehren können. „Ich lade sie ein, dass sie erst einmal bei mir bleiben.“ Doch zurück zu Laschet: Kaiser sagt, wenn er zu einer Beerdigung gehe, dann ziehe man sich doch schwarze Kleidung an. „Wer sich dann nicht entsprechend benehmen kann, der hat keinen Schneid.“ Insgesamt aber fand Ralf Kaiser es gut, dass die Politiker sich auf den Weg in die Katastrophenregion gemacht haben. „Wir sind hier alle unter Schock“, sagt er, „wir wollen einfach wieder in unsere eigenen vier Wände.“

Es ist noch nicht klar, wie lange es dauern wird, bis die Dörfer und Städte, die vom Hochwasser zerstört wurden, wieder aufgebaut sind.

Diese Woche hat er wie viele Bürger von Blessem im Ville-Gymnasium im Nachbar-Ortsteil verbracht. Dort wurde in sehr kurzer Zeit eine Notunterkunft geschaffen, mit Hilfe des Roten Kreuzes, das rund um die Uhr für die Bürger da ist. In der Schulkantine gibt es kostenloses Essen, Tee und Kaffee. Im Raum daneben liegen Kleider bereit für die, die nichts mehr retten konnten. Doch, und das ist neu bei dieser Katastrophe, zum festen Stamm bei solchen Einsätzen zählt eine Gruppe von Seelsorgern. Sie setzen sich mit Menschen in einen Teil der Schule und sprechen darüber, wie ein Leben nach der Katastrophe aussehen kann. Einer erzählt, dass er fünf Minuten hatte, um das wichtigste zu greifen, bis die Fluten es verschluckten. Er hält dabei die Hand seines Sohnes, der wiederum die Pfote eines kleinen Kuschel-Tigers drückt und nach oben schaut, was die Erwachsenen da reden.

Karl Berger kann nicht in der Unterkunft sein. Er muss so nah wie möglich an sein Haus. Er geht also zu einem der Übergänge nach Blessem und steht zwischen Schränken und Bettwäsche, die zusammengeschoben und schmutzig am Straßenrand aufgebaut sind. Er schaut und redet. „Das längste, was ich bisher geschlafen habe“, sagt der 65-Jährige, „sind 3,5 Stunden.“ Er habe ein Wohnmobil und sonst könne er auch in das Gymnasium und habe zur Not auch Freude und Familie im Ort. „Aber man ist eben angespannt, wie das jetzt weitergeht mit dem Ort.“ Einige der Rettungskräfte hatten angedeutet, dass sie vielleicht gar nicht mehr in ihren Ort zurück dürfen. Zu unsicher, das Leben an einer Abbruchkante. „Das einzige, was mich wirklich freut“, sagt Berger, „ist, dass so viele füreinander da sind gerade.“

Das ist etwas, was man immer wieder hört an verschiedenen Stellen des Katastrophengebiets. Der Anwalt/Feuerwehr-Sprecher Elmar Mettke hat dazu auch eine Geschichte: Als er für einen kurzen Besuch in seine Kanzlei ging, lag dort ein Zettel auf dem Tisch, den seine Sekretärin geschrieben hatte. Er legte also einen dicken Filzstift über den Namen des Mandanten und fotografierte das Schreiben. Auf der Brücke zeigt er das Foto jedem Menschen, mit denen er redet. Auf dem Zettel steht in deutlicher Schreibschrfit: „X hat angerufen, er will seine Klage zurückziehen. Der Nachbar, den er angezeigt hat, hat ihm in der Flut geholfen.“

Ein paar Kilometer südlich von Erftstadt, in Bad Münstereifel, hängt ein ganz ähnlicher Zettel am Schaufenster des „Alt&Neu“ Ladens. Darauf steht mit rotem Filzstift: „Freunde, Fremde, ihr tollen Menschen! Danke für Eure Hilfe. Ich bin sprachlos. DANKE!“ Direkt neben dem Laden hat ein Nachbarrestaurant Getränkekisten aufgestapelt. Wasser, Cola, Brause, alles von Schlamm verdreckt, der langsam trocknet und abplatzt von den Plastikflaschen. „Zum Mitnehmen!“ hat jemand daneben geschrieben.

Thomas Krumbein steht vor dem Laden, der seiner Lebensgefährtin gehört, zusammen mit ihrem Bruder räumt er auf. „Nicht für die dort“, stellt er klar und zeigt auf Leute, die offensichtlich keine Bürger sind, „wir brauchen nicht noch mehr Fähnchenschwenker.“ Er meint Armin Laschet, aber es spielt auf ein seltsames Phänomen an, dass er in dieser Woche gesehen hat: Einwohner aus Nachbarstädten, die „nur einmal schauen wollen“. Das macht ihn schon wütend. Aber gegen einen Besuch von Angela Merkel und Laschet, der in dieser Woche in seiner Stadt stattfand, hat er im Grunde nichts. „Es bringt ja auch Aufmerksamkeit“, sagt er und lacht kurz, „ich wünschte nur, wir hätten noch etwas mehr aufräumen können, bevor sie kommt.“

Und wieder ist da dieser Moment, der eigentlich nicht sein darf, da stehen Menschen vor den Trümmern ihrer materiellen Existenz, man sieht ihnen an, dass sie sich anstrengen müssen um nicht die Nerven zu verlieren, sie sind müde und überfordert — und sie machen trotzdem einen kleinen Scherz. In solchen Momenten ist dann wieder der lachende Laschet mit anwesend. Doch der tut viel in dieser Woche, um das Bild zu zerstreuen vom vergangenen Wochenende.

Am Dienstag kommt er hierher, nach Bad Münstereifel. Zusammen mit der Kanzlerin geht er von Laden zu Laden, wird Menschen vorgestellt, die manchmal weinen, niemand lacht dann. Er trägt wie immer seine glänzenden Halbschuhe, Merkel ist für den Besuch passender gekleidet, mit hohen wasserdichten Wanderschuhen. Sie ist es auch, die von der Bürgermeisterin Sabine Preiser-Marian durch den Ort geführt wird. „Sie hätte mal früher hier sein sollen“, sagt einer der Bürger leise, als der Trupp vorbeistürzt. Auf Nachfrage sagt er, er meine nicht die Kanzlerin, sondern die Bürgermeisterin. „So lange hat sie sich bisher nicht blicken lassen.“

Seit der damalige Kanzler Schröder bei einer der vielen „Jahrhundertfluten“ der letzten Jahre sich in Stiefeln präsentierte, ist klar, dass sich in solchen Momenten Wahlen entscheiden können. Doch es ist längst keine leichte Aufgabe mehr, bei solch Ereignissen Gesicht zu zeigen. Medien registrieren noch genauer als früher jeden Schritt, jeder Fehltritt wird live gestreamt. So fällt es eben auf, dass Merkel bei jedem Besuch in einer neuen Stadt auch neue Sätze mitbringt für die Menschen dort. Laschet hingegen findet in jedem Ort fast identische Worte: „unbürokratische Hilfe“, die er verspricht und auch die „gute alte Sirene“, die man vielleicht wieder einmal testen solle.

Die Sirenen in Bad Münstereifel, sie wurden nicht benutzt. Das sagt Thomas Krumbein auch vorm Laden seiner Frau. „Es war so gegen Mittag um 12 Uhr“, sagt er, „doch die großen Wassermassen kamen erst am Abend, da wurde es sehr schnell immer mehr und obwohl es noch gar nicht tief war, wurde es schnell zu einem reißenden Fluss.“ Dann kamen die Hilferufe aus dem Haus gegenüber. Und die Straße runter noch weitere Hilferufe. „Es war gespenstisch.“ Dann wird er wütend: „Da gibt es keine dusseligen Ausreden, wir wurden einfach nicht ordentlich gewarnt.“ .

Noch ist nicht klar, ob das daran lag, dass der Strom ausgefallen war, aber im Laufe der Woche, als die Zahl der Toten nicht mehr anstieg, als auch die letzten Autos aus Kiesgruben geborgen wurden und zum Glück leer waren, schauten sich die Menschen um, was schief ging in der Warnung. Das seltsame: Je nachdem, wen man fragt, berichten sie unterschiedliches. Manche haben vor zwei Wochen vom Deutschen Wetterdienst gehört, dass mit Starkregen zu rechnen sei und ihre Keller ausgeräumt. Andere haben die Nina-App installiert und hatten sogar noch Zeit, Sandsäcke zu kaufen — auch in Bad Münstereifel. Das aber erzählen Betroffene nur, wenn man ihren Namen nicht schreibt, aber sie betonen, dass es eben nicht nur an der Warn-Infrastruktur liegt, sondern die Menschen noch lernen müssen, wann sie wie handeln. Vor allem: Wann es dringend ist.

Der Merkel-Laschet-Tross, der mit erstaunlich freundlichen Personenschützern durch Bad Münstereifel läuft, macht hin und wieder halt, meist spricht vor allem Merkel mit den Betroffenen. Einmal kämpft sich eine Anwohnerin zu ihr durch. Sie sagt nur: „Schön, dass Sie gekommen sind.“ Sie schüttelt die Hand der Kanzlerin, die sich darüber freut und trotzdem nicht zu sehr. Beherrscht ist wohl der passende Ausdruck für ihren Auftritt.

Nur eines funktioniert nicht und dass das so ist, erzählt dann doch viel vom Verhältnis „Politik zu Bürger“: Am Ende der Tour durch den Matsch, über kaputte Brücken und vorbei an zerborstenen Scheiben, stehen Merkel und Laschet dann nebeneinander und halten ihr Statements. In die Kameras. Sie wolle, sagt Merkel, „alles daran setzen, dass das Geld schnell zu den Menschen kommt“. Sie reden vom „Ausmaß der Zerstörung“ und Laschet sei sich im Klaren, dass an vor allem einen „sehr langen Atem“ brauche.

Direkt gegenüber stehen rund 15 Journalisten und schreiben mit. Fünf dürfen Fragen stellen, die mehr oder weniger kritisch sind. Doch wer sich aus diesem Pulk entfernt, merkt, die Lautsprecher von Laschet und Merkel sind nur direkt auf die Journalisten gerichtet. Es ist quasi ein Zwiegespräch zwischen erster und vierter Gewalt, mitten im Krisenort. Natürlich ist es im Internet gespeichert. Die Bürger sagen, dass sie es später auf YouTube nachhören mussten. Aber es macht einen Unterschied, zu wissen, dass keinen der Menschen im Hintergrund auch nur ein Wort der Politiker erreicht hat. Einmal ist deutlich zu hören, wie jemand ruft: „Lauter!“ Merkel geht darauf ein, entschuldigt sich, sie rede so laut sie könne.

Anruf am Freitag bei Thomas Krumbein in Bad Münstereifel. Der 51-Jährige hat die ganze Woche mit dem Schwager und seiner Frau weiter den Laden aufgeräumt, an dessen Schaufenster noch immer „Alt&Neu“ steht. „Der Fußboden ist komplett raus“, sagt er. „Jetzt bereiten wir alles für den Strom vor.“ Er war bei einer Ärztin, um sich die Tetanus-Impfung abzuholen. Nach der Flut kommt die Seuche, diese Regel gilt auch in Indonesien und in Bangladesch. In Deutschland greift zumindest ein Gesundheitssystem.

Das Video von Laschet und Merkel hat er inzwischen gesehen und darauf angesprochen wird er wütend. „Ja, ich war der, der ‚Lauter‘ gerufen hat!“ Er sei einfach enttäuscht gewesen, dass die Lautsprecher so leise eingestellt waren. „Und direkt vor der Pressekonferenz hat mich einer aus Merkels Team aus dem Bild geschickt.“ Wörtlich habe der Mann gesagt: „Sie müssen hier weg, Sie passen nicht ins Bild.“ Der Gipfel aber war Laschets Versicherung, die Politiker arbeiten auch in der Sommerpause. „Was denkt der denn, wie wir uns den Sommer vorgestellt haben? Hat der einmal die Leute gefragt, woher die kommen, die da überall anpacken? Das sind doch fast nur Freiwillige!“ Dann bricht seine Stimme.

Elmar Mettke aus Erftstadt hat am Freitag bessere Nachrichten. Sie haben die Autos bergen können aus der Kiesgrube. Es waren keine Leichen dabei. Noch am Montag, als er so anschaulich von der Sandburg erzählt hatte, war die ganze Zeit in seinem Kopf dieses Bild der Feuerwehrkollegen bei einer Rettung, wie sie von der Strömung mitgerissen wurden. Erst am Mittwoch habe er erfahren, dass sie überlebt haben. „Aus Erftstadt haben bisher alle überlebt“, sagt er und dann erzählt er von einer Beobachtung am Freitag und auch seine Stimme bricht: „Da waren zwei Mädchen, die haben Kuchen verkauft.“ Auf ihrem Schild stand: „Kuchen gegen Spende für die Flutopfer.“

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 23.7.2021.

Würzburg nach dem Anschlag 2016

Würzburg/Ochsenfurt.  Früher waren die Güterzüge die „bösen Züge“ für Melanie Göttle, weil die so laut ratterten hinter ihrem Haus in Würzburg-Heidingsfeld. Das Rattern ist bis in ihr Wohnzimmer zu spüren. Jetzt sind die Personenzüge „böse“. Erst gestern, sagt sie, habe sie Unkraut gejätet. Nur eine Hecke trennt ihr Grundstück von den Bahnschienen. „Als ein Regionalexpress kam, musste ich weg. Mir ist fast das Herz stehen geblieben.“ Ihr Leben sei nicht mehr dasselbe seit einem Monat.

Göttle war eine der Ersten, die am 18. Juli am Tatort waren, in dem Regionalexpress, der auf offener Strecke hielt, hinter ihrem Haus. Jemand hatte gegen 20 Uhr die Notbremse gezogen, nachdem der 17 Jahre alte Flüchtling Riaz A. mit einer Axt und einem Messer auf eine chinesische Touristenfamilie eingeschlagen hatte, auf Kopf und Körper. Vier der fünf wurden schwer verletzt.

Riaz A. verließ dann den Zug und lief in das Wohngebiet am Mainufer. Dort schlug er auf eine Spaziergängerin mit der Axt ein, wohl in der Absicht, sie zu köpfen. Als er dann auf zwei Polizisten losging, erschossen sie ihn mit mindestens vier Schüssen. Riaz A. soll vorher Kontakt zu Mitgliedern des sogenannten Islamischen Staats (IS) gehabt haben. Seine letzte Nachricht vor der Tat an seine Kontaktmänner enthielt den Satz: „Wir sehen uns im Paradies.“

Seit einem Monat hat Deutschland damit auch den ersten Anschlag des IS im eigenen Land. Eine Woche später folgte das erste Selbstmordattentat in Ansbach, auch dort gab es mehrere Verletzte, der Täter starb. Auch wenn es in beiden Fällen schlimmer hätte kommen können – die Menschen sind nun in Habachtstellung, sind gewarnt, dass der Terror sie nun jederzeit auch hierzulande erreichen kann.

Auch Melanie Göttle weiß, wie knapp die Sache für sie war. Von einem Nachbarn erfuhr sie, dass Riaz A. direkt an ihrem Haus vorbeilief. „Er hat ihn gesehen, mit der blutverschmierten Axt“, sagt sie, „eine halbe Stunde früher und mein elfjähriger Sohn hätte noch im Garten gespielt.“ Das sind Dinge, die ihr nicht aus dem Kopf gehen.

Als sie hörte, dass im Zug noch Verbandsmaterial gebraucht werde, wollte sie es zunächst nur an die Tür des Zuges bringen. Doch der Schaffner wandte sich ab und wies auf das Großraumabteil, wo sonst Reisende mit ihren Fahrrädern stehen. Sie ging hinein. „Da war alles voller Blut“, erinnert sie sich, „egal wo ich mit meinen Händen hingefasst habe.“ Sie erzählt von den schlimmen Wunden der Verletzten am Kopf und am Bauch, von den Handtüchern, dem Verbandszeug. Sie sagt: „Und dann erst der Geruch.“

Melanie Göttle besuchte in den Tagen nach der Tat das Uniklinikum Würzburg. Sie wollte erfahren, wie es den Opfern geht. Doch aus Datenschutzgründen konnte man ihr keine Auskunft geben. Das Krankenhaus sagt jetzt auf Nachfrage, dass alle vier schwer verletzten Touristen noch in Behandlung seien. Der Vater der Familie werde gerade aus dem Koma zurückgeholt. „Dieser Prozess kann Tage dauern“, sagt Susanne Just vom Uniklinikum. Er bleibe weiter auf der Intensivstation.

Die deutsche Spaziergängerin aus Heidingsfeld lebt inzwischen wieder zu Hause. Sie selbst möchte nicht mit den Medien sprechen. Nachbarn beschreiben sie als „von der Tat gezeichnet“, sie habe eine große Narbe am Hals und eine im Gesicht. Doch sie sei schon wieder mit dem Hund unterwegs gewesen, auch dort, wo es passierte. Die 51 Jahre alte Frau habe den Nachbarn erzählt, dass sie erst dachte, der junge Flüchtling wolle sie etwas fragen oder brauche Hilfe. Doch er drehte sich zu ihr um und schlug auf sie ein, mit der Axt.

Melanie Göttle sagt, sie kenne über Freunde die Pflegefamilie von Riaz A. „Die schlagen ihr Holz noch selbst für den Winter, die Axt ist sehr scharf.“ Sie kann aber nicht verstehen, warum jemand einem Krieg entkommt und dann bei denen, die ihn aufnehmen, eine derart schlimme Tat anrichtet. Ihr Nachbar, der auch im Zug geholfen hatte, schrieb ihr noch in der Nacht eine SMS: „Was der Junge durchgemacht haben muss, um so etwas zu tun.“ Göttle sieht das anders: „Er hat das Leben von vielen Menschen zerstört und meines zur Hölle gemacht.“ Warum nur habe keiner aus seinem Umfeld etwas bemerkt?

Das ist eine Frage, die Ochsenfurt derzeit zerreißt, jene pittoreske Fachwerkstadt, in der Riaz A. rund ein Jahr lang lebte. In dem orangefarbenen Kolpinghaus bei der Innenstadt wohnen noch immer 23 unbegleitete Flüchtlinge. Anwohner sagen, dass sie die Jugendlichen seltener auf der Straße sehen. Schüchterner seien sie geworden.

Vom Kolpinghaus selbst heißt es, es gab Absagen von Praktikumsbetrieben und verbale Beleidigungen. Aber angegriffen wurde niemand. „Wir sind froh, dass etwas Ruhe einkehrt“, sagt ein Mitarbeiter. „Viele hier kannten ihn ja, haben mit ihm gebetet.“ Riaz A. wollte Bäcker werden, spielte im Fußballverein, dann starb ein Freund in Afghanistan und Riaz A. – so die Ermittler – habe sich „turboradikalisiert“. Die Mitarbeiter von Kolping, so sagen sie, sind jetzt „stärker sensibilisiert“, was „mögliche Radikalisierungstendenzen“ betrifft.

Simone Barrientos vom Helferkreis in Ochsenfurt kannte Riaz A. nur flüchtig. Sie grüßte ihn, wie sie noch jetzt auf einem Spaziergang durch Ochsenfurt ständig junge Flüchtlinge grüßt. Die resolute Berlinerin zog vor drei Jahren in die Kleinstadt und hat es nie bereut. Es ist ein Ort, in dem jeder so leben könne, wie in Berlin eigentlich auch. „Sie sind sehr tolerant hier“, sagt sie, „und vor allem pragmatisch“. Sie habe noch in der gleichen Woche des Attentats Deutsche und Flüchtlinge Fußball spielen sehen. „Da hätte ich heulen können.“

Barrientos musste in diesem Monat auch Kritik einstecken, weil sie eine der wenigen war, die sich überhaupt äußerte. Sie bleibt dabei: „Für die, die Riaz kannten, war er auch ein Freund.“ Ein Bekannter von ihr wollte zwei Tage nach der Tat ein paar Kerzen für den Toten aufstellen. Der Flüchtling hatte bei ihm gearbeitet, er mochte ihn. Die Polizei hinderte ihn daran. Viele Anwohner verstehen die Sympathie für den Attentäter nicht.

Auch die Pflegefamilie in Gaukönigshofen, wo Riaz A. zur Tatzeit wohnte, möchte sich nicht äußern. Als sie die Tür öffnen, sagen sie nur: „Wir sind froh, dass es jetzt vorbei ist, und möchten unsere Ruhe.“

Für Melanie Göttle ist nichts vorbei. Sie hatte vor wenigen Tagen ihren 44. Geburtstag, es war der erste, den sie nicht feierte. Sie war auf keinem Weinfest in diesem Monat, meidet Gruppen, den Regionalzug sowieso. Auch ihr Sohn durfte nicht zum Sportfest. Am Montag war sie im Kino, im Film „Pets“, aber sie ging erst in den Saal, als alle anderen Besucher an ihr vorbeigelaufen sind. „Ich weiß, das ist irrational, aber ich kann nicht anders.“ Sie hat psychologische Hilfe beantragt, beim Weißen Ring, bei der Polizei. Das LKA hat sie vor zwei Wochen angerufen, seitdem ist nichts passiert. „Das Attentat“, sagt sie am Ende, „war in meinem Wohnzimmer.“

Schöner Sterben in Seoul

Der Kopf stößt an die obere Seite des Sarges, die Füße liegen mit der Fläche auf der unteren Seite. Dieser Sarg hat, kein schöner Gedanke, wirklich genau meine Größe. Bevor er zuging, hatte ich die Arme parallel vor die Brust gelegt, ohne zu bedenken, dass diese Position später nicht mehr zu ändern sein würde. Der Sargdeckel liegt auf und verhindert jede Bewegung. Ein kleiner Spalt Luft bleibt. Sonst nichts.

Durch die Holzwand entferntes Rauschen eines Waldes, noch entfernter eine koreanische Schnellstraße im Süden von Seoul, ganz nah plötzlich Schritte im Wald, eine Glocke, das muss der Zeremonienmeister sein. Er läuft an den Särgen auf und ab.

So beginnt das Nachdenken. Über die Zeit, die bleibt. Und die Frage: Was mache ich hier?

Das Sterbe-Seminar heißt „Happy Dying“, seit zwölf Jahren veranstaltet es der koreanische Mönch Kim Giho, immer samstags in einem Tempel im Süden Seouls, direkt neben einem Waldstück auf einem Hügel. Die große Buddha-Statue ist eingerüstet, davor steht eine zweite in Gold. Im Gespräch zuvor hat der Mönch erzählt, was die Erfahrung bei Besuchern auslöst („Sie finden wieder eine Richtung im Leben“), warum es einen Sarg geben muss („Nur wer dem Tod nahe kommt, verliert die Angst vor ihm“) und wie es bei ihm angefangen hat: „Ich habe meditiert und plötzlich das Große gefunden.“ In holprigem Englisch sagt er: „The big one.“ Irgendetwas Großes also. Eine Antwort vielleicht?

Zuerst wird ein Trauerfoto erstellt

Im Sarg habe ich nicht das Gefühl, hier etwas Großes zu finden. Es ist einfach verdammt eng. In den fünf Stunden vorher habe ich genug über das Ende nachgedacht. Es begann mit einem Handyfoto von mir, das eine ältere Frau gemacht und ausgedruckt hat, mit einer schwarzen Schärpe an den Rändern. Es ist ein Trauerfoto, manch andere Teilnehmer versuchten ein Lächeln, aber der schwarze Rand überschattet jeden Gesichtsausdruck: Alles ist vorbei.

Die Damen legen die Fotos der „Toten“ ordentlich auf den Tisch, daneben kann jeder und jede sich seinen Grabspruch aufschreiben. Es sind 18 Teilnehmerinnen und 12 Männer, die koreanische Gesellschaft ist hier versammelt. Darunter eine alte Frau am Stock, eine ältere im Abendkleid, ein 40-Jähriger gekleidet wie für eine Bergwanderung, ein junges Pärchen.

Kann dieses Sprechen über den Tod nicht auch riskant sein? Nein, sagt Kim Giho, riskant sei hier gar nichts. Und Menschen mit einem schwachen Herz dürften die Sargzeremonie am Ende ohnehin nicht mitmachen.

Korea hat einen besonderen Umgang mit dem Tod. Vor allem Suizid gilt bei Problemen als gesellschaftlich akzeptiert. Südkorea führt seit elf Jahren die Liste der Selbstmorde in der OECD an. Insgesamt 14.427 waren es im Jahr 2013, das entspricht rund 40 Menschen am Tag.

Eine der Brücken über den Hangang in Seoul heißt im Volksmund „Brücke des Todes“, denn von ihr stürzen sich besonders viele Menschen. Die Stadt reagierte, indem sie sie offiziell die „Brücke des Lebens“ nannte und am Geländer Lautsprecher anbrachte, die Fußgänger daran erinnern, das Leben zu schätzen und vielleicht noch einmal die Eltern anzurufen. Zugleich forderten in diesem Jahr nicht wenige Demonstranten den Kapitän der untergegangenen „Sewol“-Fähre auf, sich das Leben zu nehmen. Beim Unglück waren mehr als 300 Menschen gestorben, die meisten Kinder.

Im Seminar erklärt Kim Giho den Tod anhand von Filmausschnitten. Er zeigt einen Teil aus „The Impossible“ mit Ewan McGregor, der in der Szene beinahe seine Familie im Tsunami in Thailand verliert. „Familie ist das wichtigste überhaupt“, schärft Kim Giho den Zuhörern ein. „Sie trauert am meisten.“

Er zeigt Patrick Swayze, wie er als „Ghost“ in ein gleißendes Licht geht. „Sterben ist etwas Friedliches, haben Sie keine Angst.“

Am Ende des Vortrags zeigt er einen Dokumentarfilm über einen sterbenden Koreaner in Palliativbehandlung. Sein Todeskampf ist nur schwer zu ertragen. Röcheln, Husten, weinende Verwandte. Auch viele der Teilnehmer weinen. Spätestens hier nimmt Kim sie mit auf seine Reise in das, was danach kommt. Er sagt, er selbst hat viele Patienten beim Sterben betreut, bevor er begann, diese Seminare zu geben.

Eine Botschaft wird an die Wand geworfen: „Wir sind nur eine Energie, die weiterwandert, wenn wir sterben.“ Ein Schniefen geht durch den Raum, die älteren Damen bringen Taschentücher an die Tische.

Das mit der Energie ist natürlich etwas, das man schon gehört hat. Buddhismus, Daoismus, Leben ist Leiden. Und doch ist Sterben ein sehr persönlicher Prozess. Auch ein sehr einsamer. Erst im Sarg wird klar, warum Kim zu Beginn des Nachmittags die drei Paare, die gekommen waren, getrennt gesetzt hat. „Sterben muss jeder allein.“ Im Sarg ist kein Platz für jemand zweiten.

Ein paar Särge weiter weint leise eine Frauenstimme. Dann ein Flüstern. Kim kümmert sich. Das Leben da draußen auf den Straßen mit seinen Millionen kleinen Mobiltelefonbildschirmen und großen Straßenbildschirmen, mit den Hochhäusern und Betrunkenen vor kleinen Eckkneipen ist nur noch gedämpft und weit entfernt zu hören.

„In Seoul geht das Leben so schnell vorbei und die Menschen merken gar nicht, wie wichtig Zeit ist“, sagt Kim Giho. Deswegen seien Koreaner wohl empfänglicher für so ein Seminar. Nicht einmal Entschleunigung hilft hier noch, sondern Entzug von allem. Im Sarg wirkt noch dieser Satz nach: „Du bist kein Statist in deinem Leben, du bist der Hauptdarsteller. Verhalte dich in Zukunft auch so.“

Im Seminar stellt Kim Giho Fragen an die Besucher, sie füllen sie aus, zum Teil lesen sie die Antworten vor allen vor: Welche Menschen haben Dich bis heute beeinflusst? Was hast Du bisher erreicht? Was würdest Du tun, wenn Du noch sechs Wochen zu leben hättest? Worauf bist Du stolz? Wer ist über Deinen Tod am traurigsten? Wann warst Du zuletzt so richtig glücklich? Oder die wichtigste Frage: Welche Lehre hast Du bisher aus dem Leben mitgenommen?

Immer wieder melden sich Teilnehmer und erzählen aus ihrem Leben, von ihrem autistischen Kind, vom verstorbenen Vater, den entfremdeten Geschwistern. Kim Guan Yeol, 31, sagt, er hatte schon einmal den Lebenswillen verloren und fügt schnell hinzu, er wollte sich aber nicht umbringen. Nur sei dieser eine Schicksalsschlag sehr schwer gewesen. Auch seine Freundin habe ihm da nicht mehr hinaushelfen können. Sie ist mitgekommen zu diesem Seminar.

Eine ältere Dame sagt, sie habe erst hier bei „Happy Dying“ gelernt, dass sie ihr Erbe regeln muss, es sei doch alles so unsicher heutzutage. Die Koreanerin wohnt seit Jahren in Los Angeles, dort gehe auch alles so schnell und alle schauten nur auf das Geld, sagt sie.

Die Menschen die hierherkommen, wollen Bilanz ziehen, wollen das Nachdenken über den Tod, das Ende in den Griff bekommen. Religion spiele keine Rolle, das bestätigen die Teilnehmer. Gestorben wird weltweit.

Nur hier in Korea und in Japan haben sich diese Seminare so entwickelt, als ob der Tod – verbunden auch hier mit vielen Ritualen –, als ob sich durch diese Summe der Rituale schon eine Erkenntnis ergibt. Vielleicht geht es nur um das Nachdenken darüber? Am Ende des Seminars haben alle die Gelegenheit, einen letzten Brief an die Wichtigsten zu schreiben. Die Familie, die Freunde, alle lesen ihren Brief vor, die meisten entschuldigen sich, dass sie ihre Liebe nicht genug gezeigt haben. Das Weinen vor Fremden ist nach diesen vier Stunden schon nicht mehr ungewöhnlich. Ich lese meinen Brief auf Deutsch vor.

„Ihr Lieben“, geht er los, und ich bedanke mich für das Abenteuer der letzten 35 Jahre. Der Brief entschuldigt sich auch für Dinge. Aber am Ende des Briefes zitiere ich Kim Giho, weil er gesagt hatte, Tod sei auch Neubeginn. Ich schreibe: „Nicht traurig sein. Hab Euch lieb.“ Als ich den Zettel zu Ende vorgelesen habe, sehe ich, dass ich jede Zeile von links bis rechts vollgeschrieben habe. So wie ich früher eine SMS auch immer bis genau 160 Zeichen geschrieben habe. Das Maximum herausholen. Sollte das auf meinem Grab stehen?

Als ich an den Tischen vorbeigehe, sehe ich, dass die Koreaner immer nur ihren Namen auf den Grabstein schrieben. Mit dem Datum. Auch die Gräber sind in Korea schlicht gestaltet: Ein kleiner Grashügel, ein Stein mit Namen und Daten. Alles andere wäre hier vielleicht eitel. Im Sarg mit dem Luftschlitz werden die Dinge plötzlich furchtbar egal. Energie, weiterziehen, wir sind nur Gäste, auch diese Theorien werden egal. Es ist ja nichts mehr.

Die 20 Minuten im Sarg fühlten sich länger an. Als ich aus dem Sarg aufstehe, den Deckel zur Seite lege, habe ich keine Lust mehr, noch mehr von Kim Giho und seinen Weisheiten zu hören. Er beginnt auch, ein bisschen anstrengend zu werden, sagt, er wolle die Welt erleuchten, so wie „Neo“ im Film „Matrix“ die Menschen erleuchten wollte. Sein E-Mail-Name sei deshalb auch „Neo“. Wir seien nur Hologramme, sagt er und macht mir ein bisschen Angst.

Bevor sich die Gruppe trennt, lässt er sich noch dreimal alle gemeinsam zusammenkommen, er lächelt – das hat er nicht oft getan an diesem Tag –, und alle rufen dieses eine Wort laut: „Hwaiting! Hwaiting! Hwaiting!“ Dieser koreanische Ausdruck wird oft verwendet im Alltag hier im Land, vor Prüfungen, oder morgens, wenn man keine Lust hat, auf Arbeit zu gehen. Er geht auf ein englisches Lehnwort zurück: „Fighting!“, Kämpfen.

Die meisten sehen gelöst aus. Die, die vorhin weinten, lachen besonders laut. „Happy“ sind sie wohl jetzt, weil es vorbei ist, weil irgendwo ein Familienmitglied jetzt bald einen Anruf bekommt. Die kalifornische Koreanerin fliegt morgen zurück nach Amerika. Kim Guan Yeol geht jetzt mit seiner Freundin etwas essen. In den 50.000 Won (rund 35 Euro) Seminargebühr waren keine Snacks enthalten. Draußen vor dem Buddha rauscht der Verkehr und blinken die Bildschirme vom teuren Stadtteil Gangnam. Vielleicht geht es ja leichter, jetzt, mit dem Sarg im Herzen: Hwaiting.

Dating in Südkorea

Die Koreanerin Kim Eun-Ji war auf rund 50 Dates in ihrem Leben, alle liefen nach dem gleichen Muster ab: Reden über Hobbys, essen (Mann zahlt), Kaffee trinken (Frau zahlt), dann bringt der Mann die Frau nach Hause – oder zur U-Bahn-Haltestelle. Sie hat sie alle gesehen: Männer, die eine Stunde zu spät kamen, solche, die keine Spaghetti mit der Gabel aufrollen können, und jene, die stundenlang von ihrem Lieblingscomputerspiel erzählten.

Die 37-jährige Koreanerin ist noch immer unverheiratet. Generell, sagt sie, komme es nie so gut an, wenn sie erzählt, dass sie beruflich viel reist und finanziell für sich selbst sorgen kann. „Ich war vor einigen Tagen mit ein paar Koreanern essen und trug wie immer meinen Hermès-Schal.“ In Südkorea ist es normal, sich gut und teuer zu kleiden. Doch einer der Männer hörte nicht auf, Kim vor allen darauf anzusprechen: „Er sagte mir immer wieder, ich kleide mich zu luxuriös.“

Wenn Kim Eun-Ji ihren koreanischen Freunden davon erzählt, klingt das plötzlich gar nicht mehr so unhöflich. „Auf Koreanisch sind solche Sätze nicht anmaßend“, sagt sie, „dort es ist normal, private Dinge öffentlich zu diskutieren.“ Wer in Korea lebe, höre schnell einmal: Du bist zu dick, zu alt, zu teuer angezogen. Koreaner lieben Konfuzius und der sagte einmal: „Wenn ein Nagel herausschaut, dann zielt ein Hammer darauf.“ Kim Eun-Ji ist hübsch, erfolgreich, aber weil sie unverheiratet ist, stellt sie für koreanische Verhältnisse einen riesigen Nagel dar, der quasi nach einem Hammer schreit.

Doch es ist in Korea und Ostasien insgesamt für Frauen schwer geworden, sich in die Gesellschaft einzufügen, denn die Anforderungen an sie sind widersprüchlich. Einerseits sollen sie gebildet und selbstständig sein, gleichzeitig auf keinen Fall dem Mann überlegen. Sie sollen strengen Schönheitsidealen (schlank, große Augen, hohe Wangen) entsprechen, aber nicht zu viel aus ihrem Typ machen. Sie sollen erwachsen auftreten und gleichzeitig auf Fotos kindliche Grimassen ziehen. Sie sollen westliche Filme kennen und reisen, aber wenn sie nach einem westlichen Vorbild leben wollen, gelten sie als Verräter der Tradition. Superfrauen gesucht.

Eine der Folgen dieser hohen Erwartungen der Gesellschaft ist, dass rund ein Drittel der Frauen über 30 Singles sind. Gerade in Korea haben sich die Marktgesetze längst auf Beziehungen ausgeweitet, ganz wie in Michel Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“ vorausgesagt.

Nur sind die Verlierer nicht wie im Buch die Männer, sondern die Frauen. Das ist für Seoul-Besucher aus Europa nicht unbedingt ersichtlich, wenn sie am Wochenende durch Gangnam flanieren, diesen reichsten Stadtteil Koreas, der durch den Hit des Sängers Psy weltberühmt wurde. Überall sieht man vermeintliche Liebespaare, die Arm in Arm Doppel-Selfies machen.

Dabei müssen das gar keine Pärchen sein, sagt der Dating-Coach Lee Myung-Gil, sondern nur Menschen beim Daten. Lee arbeitet für die mitten in Gangnam residierende Firma „DUO“, Koreas erste Partnerschaftsagentur. Lee ist 34 Jahre alt, genau in dem Alter seiner Premium-Kundinnen, die alles gleichzeitig sein müssen, schön und gebildet, sexuell erfahren und Jungfrau, erfolgreich und ein bisschen blöd.

Lee kennt ihre Probleme. Wenn er im Fernsehen auftritt, stellt er sich selbst so vor: „Ich war früher Casanova und bin jetzt der Dalai Lama.“ Er ist Dating-Coach geworden, weil er das am besten konnte: Frauen rumkriegen. Er ist muskulös, hat weiße Zähne und spricht von Dates wie von einer Mathe-Aufgabe. Er weiß, was Männer wünschen – und warum es Frauen in Korea so schwer haben: „Heute sind Koreanerinnen wirtschaftlich unabhängig. Männer aber wollen nicht zum ‚Rollladen-Mann‘‚ werden.“ Das ist der abfällige Begriff im Koreanischen für die Ehemänner, die abends im Geschäft ihrer Frauen die Rollläden herunterlassen.

Was tun? Lee rät nach wie vor zum „Sogeting“, einem formellen, arrangierten Date. Das ist die Norm in dem Land – Koreaner fragen ihre Freunde: „Kennst du jemanden, der zu mir passen würde?“ Dann gehen beide zusammen aus. Wenn es gut läuft, treffen sie einander wieder. Wenn nicht, fragt man weiter im Freundeskreis – ab 30 beginnen auch die Eltern, einen Partner vorzuschlagen.

Nicht umsonst schrieb der „New Yorker“ kürzlich über Seoul, dass die Stadt die Technik aus dem Jahr 2050 habe und die Moralvorstellungen von 1950. Zwar werden hier die besten Mobiltelefone der Welt hergestellt, aber Eltern enterben ihre Töchter, wenn diese mit ihrem Freund unverheiratet zusammenziehen.

Das drängt manche zur Eile. Park Mi-Kyung erzählt, ihr habe beim ersten Date der Mann schon von seinen Hochzeitsplänen erzählt und sie nach ihrem Kinderwunsch gefragt. „Das ist das Schwierige bei Koreanern“, sagt Park Mi-Kyung, „wenn sie dich mögen, dann wollen sie gleich alles von dir!“ Die Koreanerin hat in den USA gelebt, betreibt ein Fitnessstudio und ist 38 Jahre alt. Höchste Zeit, sich zu binden, finden auch andere. „Wenn du noch lange wartest, siehst du in deinem Hochzeitskleid sehr alt aus“, erklärte ihr kürzlich ein Taxifahrer. Der Hammer hat den Nagel voll getroffen.

Dating-Coach Lee Myung-Gil will diesen Aufprall etwas abmildern, er lehrt seine Klienten das richtige Maß beim Flirten. „Alle wollen Daten, aber niemand hat ihnen die richtigen Regeln beigebracht.“ Er sagt, dass Smalltalk und langsames Kennenlernen in Korea oft ein Problem seien – sowohl beim Treffen als auch beim Chatten. „Manche Frauen schreiben zu oft SMS oder erwarten zu viel“, sagt er.

Männer täten sich dagegen oft schwer mit Komplimenten. „Außerdem empfehle ich für ein Date Donnerstag gegen Sonnenuntergang.“ Donnerstag sei nahe am Wochenende, aber noch nicht mit den privaten Terminen vom Samstag belastet, und bei Sonnenuntergang scheine das Licht am sanftesten auf das Gesicht.

Beim eigentlichen Date rät er zu wenig Alkohol (zu meiden sei in jedem Fall der Nationalschnaps Soju) und sich mit dem Rücken zur Wand zu setzen (damit das Gegenüber von nichts abgelenkt wird). Zuletzt verrät Lee einen Code, den noch nicht jeder seiner Landsleute kennt: „Der Satz ‚Möchtest du mit mir Ramyon (Nudeln) essen‘, ist eine Einladung zum Sex.“

Das Synonym stammt aus einem zehn Jahre alten Lied einer Sängerin, die im Refrain vom Nudeln-Essen schwärmte. Seitdem sprechen Koreanerinnen offener davon, dass sie eine lose Beziehung haben. Tatsächlich hat sich bereits das englische Wort „some“ für „etwas miteinander haben“ im Koreanischen eingebürgert, und zwar als Verb.

Ich some, du somest, wir somen. Vielleicht geht man nur miteinander ins Kino, oder man macht Pärchenfotos mit einem Selfiestick – oder trifft sich in einem der vielen Liebeshotels, die es in jeder koreanischen Stadt gibt. Selbst das Nicht-Definierte ist damit irgendwie festgelegt. Kim Eun-Ji, die Frau mit den fünfzig Treffen, wohnt gerade für einen Monat in Berlin. Da sehe sie mit einem gewissen Neid, dass es auch ohne offizielles Date gehen kann. „In Berlin geht man einfach zusammen etwas trinken.“

Park Mi-Kyung hatte bereits einige „Some“-Freunde, aber ihrer Familie und den Freunden hat sie davon nichts erzählt. Koreas Superfrauen müssen eben auch ihr Image im Blick haben. Seoul mit seinen 22 Millionen Einwohnern bietet zumindest genügend Anonymität. Bei einem der letzten Dates mit einem Landsmann schien es etwas Ernstes zu sein. „Doch dann sagte er, seine Eltern möchten, dass er es noch einmal mit seiner Ex probiert.“ Sie habe sofort seine Telefonnummer gelöscht. Park Mi-Kyung braucht eine „Sogeting“-Pause.

Doch der Hammer ist ungeduldig: Kürzlich berichtete das koreanische Fernsehen über ihr Fitnessstudio, die Crew folgte der „erfolgreichen Businessfrau“ einige Tage durch den Alltag. „Seltsam war, dass die TV-Moderatorin immer wieder fragte, ob ich einsam sei.“ Vor ein paar Tagen wurde der Film ausgestrahlt. Mi-Kyung schüttelt noch immer den Kopf beim Gedanken daran. „Die letzte Einstellung zeigt, wie ich allein in meiner Wohnung sitze und Nudeln esse und sage, ‚Nein, ich bin nicht einsam‘.“ Dann schwenkt die Kamera auf ihre Katze.

 

Erschienen im Iconist, 25.5.2015

Warum Momo beim Abgewöhnen einer Sucht hilft

Es ist eine seltsame Gruppe, die sich da im „Nirgend-Haus“ in der „Niemals-Gasse“ verschanzt hat: Eine Schildkröte namens Kassiopeia, auf deren Rücken Buchstaben auftauchen, der allwissende Meister Hora und Momo, ein junges, sehr spezielles Mädchen. Die drei sitzen und rätseln wie sie den „grauen Herren“ entkommen können, die den Menschen die Zeit stehlen. Die bösen Zeitdiebe können zwar nicht in das Haus hineinkommen, aber die drei bleiben gefangen, während giftiger Dampf die Zeit vergiftet. Meister Hora aber bleibt ruhig und fragt die Schildkröte: „Kassiopeia, meine Teure! Was ist nach deiner Ansicht das Beste, das man während einer Belagerung tun kann?“ Die Antwort erscheint auf ihrem Panzer in Großbuchstaben: „FRÜHSTÜCKEN!“

Für den Südkoreaner Lee Tae-kyung ist das eine Schlüsselszene in Michael Endes Märchenroman „Momo“ aus dem Jahr 1973. „Gemeinsam frühstücken!“, ruft der Chefpsychiater des National Hospitals von Seoul, „das ist genial, denn genau das ist es doch, was den Online-Gamern abhandengekommen ist. Als ich diese Szene in dem Buch noch einmal gelesen habe, begann ich es mit anderen Augen zu sehen.“

Das war im Juni dieses Jahres. Kurz darauf begann Lee Tae-kyung, für die Abteilung Sucht ein neues Programm vorzubereiten. Er wollte die noch recht neue Form der Bibliotherapie an onlinesüchtigen Jugendlichen ausprobieren. Sie sind zwischen 14 und 20 Jahre alt, meist männlich und in der künstlichen Welt von „League of Legends“, von „Starcraft“ oder „World of Warcraft“ gefangen. In Südkorea sind laut neuesten Studien immerhin 12,5 Prozent der Jugendlichen gefährdet, eine solche Spielsucht zu entwickeln. Rund 30 Prozent der Jugendlichen wiederum gelten als süchtig nach ihrem Mobiltelefon.

Für Lee Tae-kyung sind die Programmierer und Verkäufer dieser Spiele die modernen „grauen Herren“. „Diese Programme sind so gut konstruiert“, sagt er, „dass sie eine eigene Welt erzeugen, mit Wetter, mit echtem Sound und anderen virtuellen Freunden.“ Es sei ganz leicht, sich in dieser Welt wohl zu fühlen. „Das Gehirn ist wie ein wildes Tier, das durch das Computerspiel gezähmt und beruhigt wird.“ Aber durch diese Zähmung sei es auf Dauer nicht mehr am Abenteuer Wirklichkeit interessiert. „Das Gehirn ist bequem und möchte am liebsten auch die Fantasie jemand anderem überlassen.“ Genau das, so Lee, passiere beim Onlinespielen. Die Fantasie gehe verloren.

Bei seinen Patienten hat er bis heute zweimal die Buchtherapie angewandt, eine dritte Therapiegruppe ist gerade in der Vorbereitung. Von Montag bis Freitag musste die Gruppe ihr Mobiltelefone abgeben. Gleich in der ersten Sitzung wurde den Jugendlichen das 42 Jahre alte Buch des deutschen Schriftstellers in die Hand gedrückt. Zunächst mussten die Patienten es gemeinsam während einer Sitzung lesen. Doch Lee Tae-kyung konnte beobachten, dass die Jugendlichen auch in ihrer Freizeit plötzlich begannen, das Buch weiterzulesen. Es ist schließlich ein Kinderbuch, das viele Fantasy-Elemente enthält und „Starcraft“-Welten nicht vollkommen entgegenläuft. Böse graue Herren, die Zeit-Blumen rauchen und die Menschheit bedrohen.

Erst stückweise lernen die Probanden, dass Lebenszeit etwas Besonderes, vielleicht das einzige Wichtige am menschlichen Leben ist. „Denn Zeit ist Leben“, heißt es bei Michael Ende. „Und das Leben wohnt im Herzen.“ Das sind große Worte, die auf Koreanisch ebenso poetisch klingen, aber die vor allem Gesprächsbedarf liefern. „Für die Spielenden vergeht doch die Zeit bewusst schneller“, sagt Lee Tae-kyung. „Und es gibt kein einziges Onlinespiel, bei dem man sich während des Spielens eine Uhr anzeigen lassen kann.“ Die künstliche Rollenspielwelt finde meist abgetrennt von der wirklichen statt: in einem PC-Café ohne Fenster. „Aus dem gleichen Grund gibt es in Einkaufszentren und Kasinos keine Fenster und keine Uhren“, sagt Lee. Diese Orte seien eigene Realitäten. „Schon deshalb ist es richtig, die Süchtigen durch ‚Momo‘ mit der Schildkröte Kassiopeia zu konfrontieren, die so schnell sein kann und langsam wie die Zeit.“

Doch es ist eine andere Szene aus dem Buch, die Doktor Lee für noch entscheidend hält. In seiner Ausgabe klebt ein roter Zettel an dieser Stelle: Es ist die berühmte Szene, in der Beppo, der Straßenkehrer, Momo erklärt, wie er eine Straße fege. Er sagt: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“ Später sagt er: „Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.“

Das sei etwas, sagt Lee Tae-kyung, das er in verschiedenen Therapien den Menschen sage, gerade in Südkorea, das eine Alkoholismusrate von 10 bis 15 Prozent in der Bevölkerung habe. „Gerade für diese Menschen ist es wichtig, in kurzen Schritten zu denken, von einem Tag zum nächsten – und zum nächsten.“ Das gelte ebenso für Glückspiel- und Kaufsüchtige. „Wenn es so etwas wie eine Bibel für Suchtkranke geben müsste“, sagt Lee, „dann könnte das doch ‚Momo‘ perfekt werden.“ Die „Unendliche Geschichte“ sei auch gut, fügt er an, mit dem „Nichts“, das eine bunte Fantasywelt bedrohe. „Aber das Buch ist leider sehr dick und für Menschen mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne nicht so gut geeignet wie ‚Momo‘.“

Dieser Märchenroman von Michael Ende ist in Südkorea schon seit den Siebzigerjahren beliebt und wird auch in der Schule gelesen. Michael Endes zweite Frau war Japanerin, und so reiste er in die Region, schrieb für die koreanische Übersetzung sogar ein eigenes Vorwort. Das Buch wurde so bekannt, dass ein koreanischer Film folgte, der Momo als Rebellin für die Demokratiebewegung darstellte, ein Musical und einen Popsong gab es auch. Darin säuselte eine Männerstimme: „Momo ist ein Wanderer. Momo ist der Uhrzeiger, der das Leben jagt.“

Lee Tae-kyung kennt das Lied und summt es lächelnd. „Gut für die Motivation ist auch“, sagt er, „dass ‚Momo‘ ein Happy End hat.“ Doch bei aller Liebe zu diesem Buch ist er schon jetzt sicher, dass es auch Gegner seiner Therapieform geben wird. „Wir stehen ja gerade erst am Anfang in der Erforschung der Onlinesucht“, sagt er, „wie sollen wir da schon jetzt die richtigen Mittel haben?“ Doch Korea sei eben das Land mit dem schnellsten Internet in der Welt. Deshalb sollte in diesem Land auch die Forschung bei psychologischen Folgen voranschreiten. Bisher jedenfalls unterstützt der Staat sein Institut – und hilft damit bei der Verbreitung von Meister Horas wichtiger Lehre. Am Ende des Buches sagt der zu Momo: „Wir werden uns wiedersehen, Momo, und bis dahin wird jede Stunde deines Lebens dir einen Gruß von mir bringen. Denn wir bleiben doch Freunde, nicht wahr?“

 

Erschienen in Die Welt, 21.10.2015

Die Nacht im Topfhotel von Südkorea

Neulich habe ich im Steinkrug übernachtet und hatte einen Traum, in dem Raben sprechen konnten. Wie im Märchen. Als ich aufwachte, war ich noch immer in diesem Zimmer mit runden, bunten Wänden und lag unter einer gewölbten Zimmerdecke. Als ich durch das runde Fenster schaute, konnte ich sechs haushohe Töpfe erkennen, weiter hinten auch das Meer und – das andere Ufer. War das Nordkorea?

So ungefähr könnte der Inhalt meine Postkarte klingen aus dem südkoreanischen Yeongheung-do. So heißt eine kleine Insel vor Seoul, die neben Wäldern, einem Windpark und einem schönen Strand mit Blick Richtung Nordkorea noch eine Attraktion hat: das Topfhotel – „The Pottery Pension“.

Sieben bemalte Riesentöpfe und Krüge stehen in einer Kieselstein-Straße, mit kleinen runden Fenstern, wie die Kulisse aus einem Kinderfilm, in dem knubbelnasige Wesen aus den Türen treten. Die Inhaberin Jun Myeong-Hua hat es vor acht Jahren eröffnet.

„Zunächst hatte ich gesundheitliche Gründe“, sagt sie. Das habe mit der Industrie-Luft in ihrem Heimatort Incheon zu tun, einer Vorstadt von Seoul, die inzwischen eine eigene Millionenstadt ist. „Weil ich die Luft nicht mehr gut vertragen habe, musste ich näher ans Meer ziehen.“ Der Doktor hat ihr gesagt, am besten wäre es, wenn sie in einem Lehmhaus wohnen würde. „Da dachte ich, warum nicht gleich in einem Haus aus Erde?“ So entstand der erste Steinguttopf.

Sie hat damit eine der wichtigsten Voraussetzungen für koreanische Reisende erfüllt: Der Urlaubsort muss als Selfie-Hintergrund taugen. Da Koreaner lange Arbeitszeiten haben und nur ein bis zwei Wochen Urlaub im Jahr, muss möglichst Ungewöhnliches erlebt werden, damit die Kollegen auch etwas zum Staunen haben.

Die Riesentöpfe sind nach koreanischer Töpfer-Tradition gestaltet. Wer sich auskennt, kann bei jedem Haus zuordnen, aus welcher Region es stammt. „Der dort ist aus Gwangju“, sagt Jun Myeong-Hua und zeigt auf einen Topf mit rundem Bauch.

Architekturprofessoren seien schon gekommen, nachdem das nationale Fernsehen da war, folgten der chinesische Staatssender CCTV und schließlich Besucher aus New York und Europa. „Es kann sein, dass ich bald anbauen muss“, sagt sie. Drei Töpfe seien in Planung.

Seit rund zehn Jahren eröffnen in Korea Hotels in Form von Pilzen, Trauben oder Äpfeln. Es gibt Zimmer im Design eines Bierkrugs und eines Damenschuhs. Wer in einem Gefängnis übernachten will, geht ins Hotel „Cozydesign“. Es gibt auch die „Sun-Cruise“, ein Schiff, das nur so aussieht, als könnte es ablegen. Es ist ein Haus in Form eines Dampfers.

Mit solchen Konkurrenten wollte Jun Myeong-Hua nie mithalten. In jedem ihrer Töpfe ist nur Platz für acht Gäste. Die Stadt Seoul bat sie schon um Hilfe beim Bau eines Denkmals – für koreanisches Steingut.

Jun Myeong-Hua schmeichelt es, wenn Spaziergänger stehen bleiben. Sie kann auf den Kieselsteinen jeden Schritt hören, dann kommt sie aus ihrer Hütte und erzählt die Geschichte ihrer Töpfe – und wie gut man darin schläft.

Erschienen in Die Welt, 28.10.2015

Der Phallus-Park von Südkorea

Als wir vor dem Park stehen, verlässt mich kurz der Mut. Das Kartenhäuschen ist geschlossen, und die Tore sind eindeutig zu. Doch ich kann mich neben dem Kassenhäuschen an einem Mauerstück leicht vorbeidrücken. Und schon stehe ich in einem Park, den zunächst nichts von anderen Parks unterscheidet. Ich laufe einen langen, kurvigen Weg entlang. Ein Gärtner jagt mir einen Schrecken ein, aber da er nur kurz aufschaut und nichts sagt, laufe ich weiter. Da steht er: der erste Penis.

Er hat ein Gesicht, ist ungefähr zwei Meter hoch und grinst wie aus einem Asterix-Comic, aus seinem Peniskopf wächst eine Nase, die auch aussieht wie ein Penis. Daneben steht noch eine Statue, deren Kopf wieder sehr phallisch aussieht, nur dünner, und er lächelt nicht, sondern schaut eher erschrocken.

Dieser Penis hat eine normale Nase, aber weiter unten wächst ein Glied, es steht wie ein Ast ab. Daneben steht eine Holzbank und ein Steinhocker, beide sind wieder entsprechend geformt. Ohne mich hinzusetzen, laufe ich weiter, und plötzlich stehe ich im Penispark.

Das Internet ist voller Bilder von Männern und Frauen, die diese Steine umarmen, küssen, auf ihnen sitzen. Große US-Medien waren hier, von der schönen Höhle bei Samcheok und dem Strand haben sie nichts geschrieben. Der Park heißt offiziell Haesindang-Park und liegt an der Ostküste Südkoreas, südlich der Stadt Samcheok in der Provinz Gangwon-do.

Benannt ist er nach dem Ritual, das hier zweimal im Jahr durchgeführt wird. Dabei wird dem Mädchen Auebawi gehuldigt. Diese junge Frau soll vor vielen Jahren ihre Liebe einem jungen Fischer versprochen haben. Der Verlobte setzte sie eines Tages an einem Felsen im Meer ab, damit sie dort Seegras sammeln konnte. Er wollte sie am Nachmittag wieder mit seinem Boot einsammeln, aber wegen eines Sturms erreichte er den Felsen nicht. Auebawi ertrank und der Fischer hatte große Schuldgefühle.

Nirgendwo steht mehr über ihn, aber ich bin mir sicher, er hat sein Leben lang gelitten. In den folgenden Wochen und schließlich Monaten waren die Netze der Fischer fast immer leer, wenn sie am Abend ans Ufer zurückkehrten. Das Meer schien ihnen nicht mehr gewogen, sagten die Alten im Dorf.

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Eine Legende besagt, dass die jungen Fischer sich an das Ufer stellten und dem Meer kollektiv regelmäßig ihr erigiertes Geschlechtsteil zeigten. Außerdem haben die Dorfbewohner damit begonnen, Statuen von Penissen aufzustellen. Eines von beiden muss funktioniert haben, die Dorfbewohner konnten den Geist der traurigen, unverheirateten Jungfrau Auebawi besänftigen.

In Südkorea gilt nach wie vor der Glaube, dass Geister von Verstorbenen nicht in das Jenseits gelangen, wenn noch Rechnungen offen sind. Die Bewohner des Dorfes fanden wieder Nahrung im Meer.

In den 90er-Jahren hatte die Lokalregierung die Idee, den etwas wilden Park auszubauen und bat südkoreanische Künstler, eigene Penisstatuen herzustellen. Und jetzt stehen 56 verschiedene Pfähle verteilt in diesem Park, es gibt ein Museum, in dem angeblich auch weibliche Geschlechtsteile gezeigt werden (leider eben heute geschlossen).

Es gibt eine große doppelköpfige Penisschaukel, eine Statue, die statt Zunge einen Penis hat, eine Schildkröte mit einem Peniskopf, zwölf Statuen der chinesischen Tierkreiszeichen (mit großen Penissen) – und Penisse als Windspiel, als Glockenschlaginstrument, als Trommel, als Springbrunnen und schließlich, als Höhepunkt: eine goldene Phalluskanone, die sich bewegen lässt. Vor dieser Kanone steht ein südkoreanisches Paar mit einem Kinderwagen, und der Mann lässt sich hinter der Kanone fotografieren.

Ich dachte, ich wäre allein im Park. Er ist schließlich geschlossen. Aber plötzlich sehe ich, wie unten am Hang, bei einem zweiten Eingang, immer mehr Menschen die Absperrung übersteigen. Sogar ein Reisebus hält auf dem Vorplatz, und die ganze Gruppe betritt den Park, illegal. Offenbar stört es niemanden, kein Aufpasser hindert sie daran. Aber dieser ganze Park ist eine Ausnahme von den sonst so strengen Regeln in Südkorea.

Nur nach außen wird Sexualität in Südkorea ausgeblendet

Ich hatte das Land bisher als sehr sittenstreng wahrgenommen. Südkorea ist bekannt dafür, pornografische Seiten im Internet zu sperren. Ein Kollege interviewte einmal einen solchen Online-Sittenwächter. Er sagte, es sei wie „Schneeschippen im Schneesturm“, eine unmögliche Arbeit. Er sagte auch, die wohl am häufigsten aufgerufene Seite in Korea ist die, auf der ein Comic-Polizist rät, sich bei der zuständigen Dienststelle zu melden. Sie erscheint, wenn jemand eine pornografische Seite aufrufen will.

Auch im Alltag wird Sexualität ausgeblendet, fast wie Deutschland vor der sexuellen Revolution: Unverheiratete dürfen nicht zusammenwohnen, Mädchen sollen jungfräulich in die Ehe gehen, in den südkoreanischen Seifenopern wird eine Liebesbeziehung durch einen Kuss auf den Mund belegt – und als der Bürgermeister von Seoul sich in einem Interview indirekt für die Homo-Ehe in Südkorea aussprach, wurde er von der (mehrheitlich) konservativen Presse im Land dafür hart verurteilt. Er ruderte zurück, was ihm wiederum die liberale Presse nicht verzieh.

Ich hatte in Seoul einmal Südkoreas bekannteste TV-Sex-Beraterin getroffen, Bae Jeong-won. Eine Frau wie eine Schamanin, im Büro standen Blumen auf dem Tisch, im Hintergrund lief Klaviermusik von Bach, als sie mir sagte, dass dies alles nur die Oberfläche sei. „Nach außen zeigen wir viktorianische Strenge, aber im Grunde sind wir sehr wild.“ Nur sei diese Seite versteckter und leiser.

Das habe mit dem Konfuzianismus zu tun. „Jungen und Mädchen müssen ihren Eltern wenigstens vorspielen, ein guter Sohn oder eine gute Tochter zu sein.“ Was sie dann wirklich tun, ist eigentlich deren Sache.

Als ich ihr von dem Penispark erzählte, musste sie lachen. Natürlich war sie schon da. Sie sagte: „Diese Orte sind wie eine Befreiung für uns Südkoreaner. So wie Amsterdam in Europa die Stadt ist, von der viele denken, dort sei alles erlaubt, so haben wir Südkoreaner diesen Park, wir laufen durch die Peniswälder, und an diesem Ort ist es kein Problem, auch über Sex leicht zu reden.“

Der Park ist an einem Hang angelegt, unten brechen sich die Wellen an einem Pier. Dort sind auch Statuen aufgebaut, Männer, die mit geöffneten Hosen sich grinsend in Richtung Meer befriedigen. Als die Busreisegäste dort vorbeilaufen, fassen sie die Statuen an und stellen sich zu Gruppenfotos mit Penis auf.

Eine US-Zeitung nannte diesen Park einmal den „seltsamsten Wald der Welt“. Nur in einer Ecke wird es ernst. Dort steht ein Schrein für Auebawi, die daran erinnert, das jemand sterben musste, damit es diesen Park der Befreiung geben kann. Eine Statue eines Mädchens mit gesenktem Kopf ist in einem kleinen Tempelpavillon aufgestellt. Viele frische Blumen liegen davor. Ihr Geist wird noch immer besänftigt, mit Blumen und lachenden Geschlechtsteilen.

Ich blicke mich noch einmal um, all die Holzstämme, die auch etwas Kindlich-Unschuldiges an sich haben. Aber wenn es einen Zweck erfüllt, dann hat vielleicht Auebawi mehr für die Liberalisierung des Landes getan, als es eine TV-Sex-Kolumne hätte jemals schaffen können.

Bae Jeong-won hatte am Ende unseres Treffens seufzend gesagt, dass ihre Aufklärungssendung im öffentlichen Sender eingestellt wurde, kurz nachdem Park Geun-hye Präsidentin wurde. Die konservative Partei wollte keine Sexgespräche mehr im Fernsehen.

Erschienen in Die Welt, 11.12.2016