Warum Momo beim Abgewöhnen einer Sucht hilft

Momo

Es ist eine seltsame Gruppe, die sich da im „Nirgend-Haus“ in der „Niemals-Gasse“ verschanzt hat: Eine Schildkröte namens Kassiopeia, auf deren Rücken Buchstaben auftauchen, der allwissende Meister Hora und Momo, ein junges, sehr spezielles Mädchen. Die drei sitzen und rätseln wie sie den „grauen Herren“ entkommen können, die den Menschen die Zeit stehlen. Die bösen Zeitdiebe können zwar nicht in das Haus hineinkommen, aber die drei bleiben gefangen, während giftiger Dampf die Zeit vergiftet. Meister Hora aber bleibt ruhig und fragt die Schildkröte: „Kassiopeia, meine Teure! Was ist nach deiner Ansicht das Beste, das man während einer Belagerung tun kann?“ Die Antwort erscheint auf ihrem Panzer in Großbuchstaben: „FRÜHSTÜCKEN!“

Für den Südkoreaner Lee Tae-kyung ist das eine Schlüsselszene in Michael Endes Märchenroman „Momo“ aus dem Jahr 1973. „Gemeinsam frühstücken!“, ruft der Chefpsychiater des National Hospitals von Seoul, „das ist genial, denn genau das ist es doch, was den Online-Gamern abhandengekommen ist. Als ich diese Szene in dem Buch noch einmal gelesen habe, begann ich es mit anderen Augen zu sehen.“

Das war im Juni dieses Jahres. Kurz darauf begann Lee Tae-kyung, für die Abteilung Sucht ein neues Programm vorzubereiten. Er wollte die noch recht neue Form der Bibliotherapie an onlinesüchtigen Jugendlichen ausprobieren. Sie sind zwischen 14 und 20 Jahre alt, meist männlich und in der künstlichen Welt von „League of Legends“, von „Starcraft“ oder „World of Warcraft“ gefangen. In Südkorea sind laut neuesten Studien immerhin 12,5 Prozent der Jugendlichen gefährdet, eine solche Spielsucht zu entwickeln. Rund 30 Prozent der Jugendlichen wiederum gelten als süchtig nach ihrem Mobiltelefon.

Für Lee Tae-kyung sind die Programmierer und Verkäufer dieser Spiele die modernen „grauen Herren“. „Diese Programme sind so gut konstruiert“, sagt er, „dass sie eine eigene Welt erzeugen, mit Wetter, mit echtem Sound und anderen virtuellen Freunden.“ Es sei ganz leicht, sich in dieser Welt wohl zu fühlen. „Das Gehirn ist wie ein wildes Tier, das durch das Computerspiel gezähmt und beruhigt wird.“ Aber durch diese Zähmung sei es auf Dauer nicht mehr am Abenteuer Wirklichkeit interessiert. „Das Gehirn ist bequem und möchte am liebsten auch die Fantasie jemand anderem überlassen.“ Genau das, so Lee, passiere beim Onlinespielen. Die Fantasie gehe verloren.

Bei seinen Patienten hat er bis heute zweimal die Buchtherapie angewandt, eine dritte Therapiegruppe ist gerade in der Vorbereitung. Von Montag bis Freitag musste die Gruppe ihr Mobiltelefone abgeben. Gleich in der ersten Sitzung wurde den Jugendlichen das 42 Jahre alte Buch des deutschen Schriftstellers in die Hand gedrückt. Zunächst mussten die Patienten es gemeinsam während einer Sitzung lesen. Doch Lee Tae-kyung konnte beobachten, dass die Jugendlichen auch in ihrer Freizeit plötzlich begannen, das Buch weiterzulesen. Es ist schließlich ein Kinderbuch, das viele Fantasy-Elemente enthält und „Starcraft“-Welten nicht vollkommen entgegenläuft. Böse graue Herren, die Zeit-Blumen rauchen und die Menschheit bedrohen.

Erst stückweise lernen die Probanden, dass Lebenszeit etwas Besonderes, vielleicht das einzige Wichtige am menschlichen Leben ist. „Denn Zeit ist Leben“, heißt es bei Michael Ende. „Und das Leben wohnt im Herzen.“ Das sind große Worte, die auf Koreanisch ebenso poetisch klingen, aber die vor allem Gesprächsbedarf liefern. „Für die Spielenden vergeht doch die Zeit bewusst schneller“, sagt Lee Tae-kyung. „Und es gibt kein einziges Onlinespiel, bei dem man sich während des Spielens eine Uhr anzeigen lassen kann.“ Die künstliche Rollenspielwelt finde meist abgetrennt von der wirklichen statt: in einem PC-Café ohne Fenster. „Aus dem gleichen Grund gibt es in Einkaufszentren und Kasinos keine Fenster und keine Uhren“, sagt Lee. Diese Orte seien eigene Realitäten. „Schon deshalb ist es richtig, die Süchtigen durch ‚Momo‘ mit der Schildkröte Kassiopeia zu konfrontieren, die so schnell sein kann und langsam wie die Zeit.“

Doch es ist eine andere Szene aus dem Buch, die Doktor Lee für noch entscheidend hält. In seiner Ausgabe klebt ein roter Zettel an dieser Stelle: Es ist die berühmte Szene, in der Beppo, der Straßenkehrer, Momo erklärt, wie er eine Straße fege. Er sagt: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“ Später sagt er: „Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.“

Das sei etwas, sagt Lee Tae-kyung, das er in verschiedenen Therapien den Menschen sage, gerade in Südkorea, das eine Alkoholismusrate von 10 bis 15 Prozent in der Bevölkerung habe. „Gerade für diese Menschen ist es wichtig, in kurzen Schritten zu denken, von einem Tag zum nächsten – und zum nächsten.“ Das gelte ebenso für Glückspiel- und Kaufsüchtige. „Wenn es so etwas wie eine Bibel für Suchtkranke geben müsste“, sagt Lee, „dann könnte das doch ‚Momo‘ perfekt werden.“ Die „Unendliche Geschichte“ sei auch gut, fügt er an, mit dem „Nichts“, das eine bunte Fantasywelt bedrohe. „Aber das Buch ist leider sehr dick und für Menschen mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne nicht so gut geeignet wie ‚Momo‘.“

Dieser Märchenroman von Michael Ende ist in Südkorea schon seit den Siebzigerjahren beliebt und wird auch in der Schule gelesen. Michael Endes zweite Frau war Japanerin, und so reiste er in die Region, schrieb für die koreanische Übersetzung sogar ein eigenes Vorwort. Das Buch wurde so bekannt, dass ein koreanischer Film folgte, der Momo als Rebellin für die Demokratiebewegung darstellte, ein Musical und einen Popsong gab es auch. Darin säuselte eine Männerstimme: „Momo ist ein Wanderer. Momo ist der Uhrzeiger, der das Leben jagt.“

Lee Tae-kyung kennt das Lied und summt es lächelnd. „Gut für die Motivation ist auch“, sagt er, „dass ‚Momo‘ ein Happy End hat.“ Doch bei aller Liebe zu diesem Buch ist er schon jetzt sicher, dass es auch Gegner seiner Therapieform geben wird. „Wir stehen ja gerade erst am Anfang in der Erforschung der Onlinesucht“, sagt er, „wie sollen wir da schon jetzt die richtigen Mittel haben?“ Doch Korea sei eben das Land mit dem schnellsten Internet in der Welt. Deshalb sollte in diesem Land auch die Forschung bei psychologischen Folgen voranschreiten. Bisher jedenfalls unterstützt der Staat sein Institut – und hilft damit bei der Verbreitung von Meister Horas wichtiger Lehre. Am Ende des Buches sagt der zu Momo: „Wir werden uns wiedersehen, Momo, und bis dahin wird jede Stunde deines Lebens dir einen Gruß von mir bringen. Denn wir bleiben doch Freunde, nicht wahr?“

 

Erschienen in Die Welt, 21.10.2015