Rattenplage in Kreuzberg

Seyhan F. ist eigentlich Tierliebhaberin, das ist wichtig, weil das bei ihr für alle Tiere gilt. Sie hat ein Vogelhaus auf einer Stelze stehen, ein weiteres hängt an der Wand, gleich neben einem Insektenhotel.

Im ersten Hof nistet manchmal ein Kauz, sagt sie, das kann man hören. Im Garten hat sie schon Habichte, Waschbären und Erdhummeln gesehen und sich immer gefreut über so viel Stadtnatur. Und als die Nachbarin einmal von Mäusen in der Wohnung berichtete, da war es Seyhan, die ihr anbot, die Tiere mit einer Lebendfalle zu fangen und sie ins Grüne zu tragen.

„Ich hab sie in Brandenburg freigelassen“, sagt sie. Auch gegen Tauben hat Seyhan F. nichts. Sie kann im Garten genau die Stelle im Baum zeigen, wo sich gerade eine Ringeltaube eingenistet hat. „So ungeschickt, das Tier, sie stolpert regelmäßig auf dem Weg zum Nest.“ Gerade als sie vom Vogel spricht, kommt er angeflogen und klettert ohne zu stolpern in sein Nest. Aber Ratten? „Ratten in dieser Menge ekeln mich dann doch, wenn ich nur eine bei uns in der Wohnung gesehen hätte, wären wir ausgezogen.“

Die Kreuzbergerin wohnt seit fast vier Jahren im Bergmannkiez, die Wohnung hat zwei Etagen, oben das Schlafzimmer, unten das Wohnzimmer mit Esstisch und dem Zugang zum Garten. Der ist groß, es gibt Blumen und Beete, eine Sitzecke. Sie pflanzt gerade zwei Sorten Klee und Gras an, damit sich der Boden erholen kann. „Gründünger“ heißt das bei Gärtnern.

Doch das Erlebnis mit dem Rattenturm im Mai des vergangenen Jahres hat das Verhältnis zu dieser Wohnung und vor allem zum Garten nachhaltig verändert. Die Ratten im Garten wurden zu einer Herausforderung, die ihren Mann und sie den ganzen Sommer über beschäftigte. Bis heute prägt sie diese Erfahrung. Das einzig Positive: Sie hat dadurch Kontakt zur neuen Nachbarin bekommen, die sich als ein Hollywoodstar entpuppte.

Das Rattenthema begann auf der Hochzeitsreise. Seyhan F. und ihr Mann hatten mitten in der Corona-Krise im sehr kleinen Kreis geheiratet. Im Mai vor einem Jahr flogen sie dann nach Finnland und bekamen dort ein Video geschickt. Im Hinterhof, ein oder zwei Häuser weiter, wurde eine sehr alte Mauer abgerissen. Ihre neuen Nachbarn hatten das gefilmt. Wenn man ganz genau hinschaut, bewegt sich auf dem Video in dem Schutthaufen etwas. Oder ist das nur der Staub?

Das Paar kam zurück und setzte sich im Juni 2021 abends wieder öfter auf den Hof. „Immer wieder raschelte es abends“, sagt sie. „Als dann auch lautes Quieken dazu kam, wurde es mir doch unheimlich.“ Sie seien dann lieber in die Wohnung gegangen. Am nächsten Tag erzählte eine Nachbarin, die immer ihren Biomüll auf das Fensterbrett stellte, dass der umgeworfen war. „Sie hatte einen Schatten gesehen, aber trotzdem das Fenster offen gelassen.“ Katze, Waschbär, Marder. Alles schon im Hof gesehen.

Dann kam der Abend, an dem Seyhan F. vom lauten Rascheln im Hof aus ihrem Schlaf aufschreckte, in den Garten blickte und den Weg nicht mehr sah: Alles war schwarz vor Ratten. Sie fragte bei den Nachbarn nach, die ihr das Video geschickt hatten. Sie stellten sich vor, sagten, dass sie selten in der Wohnung seien. Sie drehten gerade in Potsdam-Babelsberg einen Kinofilm. Aber ja, das mit den Ratten hätten sie auch mitbekommen. Aber sie hätten einen Hund, und der halte die Ratten weitgehend fern. Was Seyhan F. in dem Augenblick dachte: Er hält sie fern, und dadurch kommen alle zu uns.

Es ist generell so, dass Ratten in der Öffentlichkeit sofort gemeldet werden sollten. Niemand weiß genau, wie viele von den Nagetieren in Berlin leben. Zwischen zwei und zehn Millionen, sagen Schätzungen. Die Tiere sind aber so scheu, dass man sie selten sieht. Wenn doch, dann sind es offenbar zu viele. So wie am Oranienplatz bei den Mülltonnen, in der Gegend zwischen Jannowitzbrücke und Ostbahnhof oder im Waldeckpark. Die Ufer von Spree und Landwehrkanal schaffen mit vielen Grünflächen ideale Voraussetzungen für Rattenbefall. Manche Spielplätze in Berlin können wochenlang nicht betreten werden, weil Giftköder ausgelegt wurden.

Seyhan F. aber wollte genau das nicht: die Giftkeule. Zusammen mit den berühmten Nachbarn überlegte sie, wie man dem Problem ohne Gift bekommen könne. Der Hund der Hollywood-Stars sollte ja nicht aus Versehen mitvergiftet werden. Doch nach dem Besuch des Kammerjägers war klar: Etwas anderes wird nicht funktionieren. Die Hausverwaltung hatte ihn geschickt, sein Urteil war eindeutig. Es seien bereits so viele Höhlen gegraben, man könne dem Problem nur mit Gift Herr werden.

Denn die Zeit laufe ihnen davon: Ratten können pro Jahr zwischen vier und sieben Mal Nachwuchs gebären. Pro Wurf können acht oder neun neue Ratten hinzukommen. Manche Tiere bekommen auch 22 Babys auf einmal. Nach drei Monaten sind die Nachkommen geschlechtsreif. Sie sind Allesfresser, zu ihren Speisen gehören auch Seife und Kerzenwachs. Sie übertragen rund 70 Krankheiten und über den Rattenfloh die Pest.

Seyhan F. kennt diese Geschichten, sie hat sich belesen im vergangenen Sommer. Sie weiß auch, dass die Ratten, die im Brandenburger Umland bei ihren Eltern leben, eine Art Wanderratte sind. „Ich war einmal dort, aber die sind bei weitem nicht so groß“, sagt sie, „außerdem sind sie nicht so sehr eine Plage, weil sie mehr Platz haben.“

Die Berliner Wanderratte muss sich oft in einem sehr ungesunden Umfeld behaupten, in der Kanalisation zum Beispiel, während die Wanderratten zum großen Teil in ihrem natürlichen Habitat in Wäldern leben. „Wir haben uns dann doch für das Gift entschieden.“ Sie wollten den Garten zurück, wieder Vögel füttern.

Sie weiß noch, dass sie den ganzen Sommer über den Garten nicht benutzt haben. Der Kammerjäger kam an einem Tag Ende August. Er schüttete das Gift in die Löcher in den Büschen und in die verschiedenen Ecken des Gartens. Er brachte auch überall die roten Schilder („Achtung, Rattengift!“) an, im Vorderhaus, im Hausflur. Spätestens jetzt wussten alle im Haus, was los war. Der Hollywood-Star war etwas ungehalten, das zeigten die SMS, weil er Angst um den Hund hatte. Aber er war überstimmt.

Das Ende der Ratten, für Seyhan F. war es kein schöner Tag, eher ein traumatischer. „Ich war im Wohnzimmer und hörte plötzlich lautes Fiepen.“ Sie sah Dutzende Ratten im Hof, wie am ersten Tag, aber irgendwas stimmte nicht. „Sie wirkten wie im Todeskampf.“ Sie hatte gedacht, Ratten verenden einfach, mit diesem Drama hatte sie nicht gerechnet. Und auch nicht mit diesem Gefühl: Mitleid.

Sie werde in diesem Sommer noch ein paar Mal daran denken, sagt sie. Und obwohl es schon ein paar warme Tage gab, war sie bisher noch nicht einmal im Garten, um sich zu erholen. „Wir müssen ihn uns neu erobern.“

Besuch bei zwei Ostermärschen in Berlin

Heiko Gaekel will, dass das Sterben aufhört, er will für den Frieden demonstrieren, aber gerade weiß er nicht, ob er hier am Oranienplatz richtig ist. „Das ist doch verrückt“, sagt er, „Tausende Tote, ein zerstörtes Land, niemand kann das wollen.“ Der 65-Jährige ist deshalb zum Oranienplatz gekommen, weil hier eine Friedensdemonstration angekündigt war, der traditionelle Ostermarsch der Friedensbewegung. „Aber ich bin gerade angesprochen worden, ob ich denke, ich sei hier richtig.“ Der Grund: Gaekel trägt eine Gelbe Jacke über einem blauen Hoodie. Und auf seinem Schild steht: „Frieden für Ukraine – Putin go home“.

Im besten Sinne vielfältig sind die Meinungen auf dem Platz. Geladen hatte zum Ostermarsch die Friedenskoordination, ein Zusammenschluss aus „friedenspolitisch Interessierten“. Laut Polizeisprecher waren es zu Beginn rund 400 Menschen, die sich trafen und anschließend zu einem Zug durch den Bezirk verabredet hatten. Später sollen nach Polizeiangaben bis 1200 Menschen bei dem Marsch dabei gewesen sein. Sie halten Schilder in die Luft, auf denen steht:„Desertiert alle!“, „Keine Waffen für Ukraine!“, „Klimaschutz statt Rüstung!“, „Hände weg von Russland!“, „Für ein vereintes Eurasien!“.
Als kurz nach 12 Uhr die Reden auf dem Podium beginnen, wird noch einmal deutlich, wie unterschiedlich das Publikum ist, dass hier zusammengekommen ist.

Almut W. gehört wohl zum Kernpublikum. Die 65-Jährige kommt fast jedes Jahr hierher, heute hält sie ein Schild in die Höhe: „Kein Krieg. Nirgends“. „Ich bin zunächst einmal froh, dass in diesem Jahr ein paar Menschen gekommen sind.“ Sie finde es schlimm, dass im Moment alles so polarisiert sei, sagt Almut W. „Warum muss man jetzt Putin verteufeln, weil alle das gerade tun.“ Sie ist der Meinung, dass man doch recht lange auf Handel mit Russland gesetzt habe, weil da beide etwas davon haben. „Und warum ist Putinversteher plötzlich ein Schimpfwort?“, fragt sie. Solange man versuche, einander zu verstehen, könne das nicht schlecht sein. Außerdem gelte natürlich der Ukraine als angegriffenem Land ihre Solidarität.

Auch sie ist nicht mit allem einverstanden, was durch das Mikrofon auf den Platz schallt. Zum Beispiel die Stelle, als Christiane Reimann von der Linken sagt, dass der ukrainische Botschafter, Andrej Melnyk, „Hass und Propaganda verbreite“. Danach deutet Reimann in ihrer Rede immer wieder an, die Ukraine sei selbst Schuld an der aktuellen Situation. „Hätte sie das Angebot von Putin angenommen, wäre Europa jetzt nicht in dieser Situation“, sagt sie. Vereinzelt ist dabei Kopfschütteln zu sehen.

Zum Beispiel bei Max M. aus Dahlem. „Die Rede war kacke“, sagt er, „während literallygenau in diesem Moment Überschallraketen auf ein Land fallen, kann man das dem Land doch nicht vorwerfen. Das ist schon mehr als weird.“ Der 26-Jährige ist mit zwei Freunden zum Oranienplatz gekommen, weil sie gehört hatten, dass es hier um Frieden gehe. „Aber ein bisschen komisch ist die Mischung hier schon“, sagt Max und meint die Impfgegner und Russland-Freunde, die durch Plakate auf sich aufmerksam machen.

Von den Parteien sind nur Marxisten (MLDP), die DKP, die Linke und die SPD vor Ort. Die Grünen werden nur auf Plakaten erwähnt: „Ampeln zu Pflugscharen“ oder „Liebe Grüne, wollt ihr den totalen Krieg?“. Ein Flyer von „Spartacist“ ruft die Ukrainer auf Deutsch auf, ihre Gewehre gegen die eigenen Herrscher zu richten. Eine Zeitschrift „Solidarität“ wird verteilt, mit der Bitte um 1 Euro: „Nur für die Druckkosten.“ Darin gibt es einen Text über den „wahren Selenskyj“, wo er als „Feind der Arbeiter“ bezeichnet wird. Kostenlos wird die linke Tageszeitung „Junge Welt“ verteilt, deren Titelgeschichte die Nato als Kriegstreiber bezeichnet. Vielleicht wird hier am deutlichsten, warum es in Zeiten des Krieges zwei Friedensdemonstrationen gibt.

Ein paar Kilometer nördlich könnte die Stimmung nicht anders sein. Rund 500 Menschen laufen an der russischen Botschaft vorbei und rufen: „Buuh“, gefolgt von „Stop Russian War!“. Viele von Ihnen tragen ukrainische Farben oder die Flagge mit sich. Während in Kreuzberg der Altersdurchschnitt eher bei 60 lag, sind die Menschen, die sich am Bebelplatz getroffen haben und Richtung Brandenburger Tor ziehen, deutlich jünger.

Die Ukrainerin Ganna Boitsova lebt seit zwölf Jahren in Berlin. Vom Ostermarsch in Kreuzberg hat sie gehört, aber wäre da nicht hingegangen. „Wir brauchen keine Flower-Power“, sagt sie. „Wir brauchen Waffen.“ Sie wirft den Friedensbewegten vor, dass das Blut der Toten auch an ihren Händen klebt, wenn sie weiter gegen Waffenlieferungen demonstrieren. Sie habe gehört, dass Linke dem ukrainischen Präsidenten vorwerfen, dass er den Krieg vorantreibe. „Das kenne ich als Frau, dass man den Opfern die Schuld gibt“, sagt sie, „das wundert mich nicht, aber es ärgert mich trotzdem.“ Ihr Land sei angegriffen worden, und wenn die Ukraine sich nicht verteidige, ist bald das nächste Land dran, da ist sie sich sicher.

Es ist deutlich lauter in Berlin-Mitte als in Kreuzberg. Dort am Oranienplatz wurde mehr Klezmer-Musik gespielt und es tanzte ein älteres Paar im Kreis und sang Hava Nagila. Hier auf dem Boulevard bleiben die Touristen fast erschrocken stehen, weil die Stimmen der Demonstranten so wütend klingen: „Kein Handel mit Russland!“ und „Slava Ukraini“. Die Plakate am Bebelplatz sprechen ebenfalls für sich: „Es ist Genozid“, „Embargo für russisches Gas – Jetzt!“, „Putin = Killer“.

Eine, die früher auf die Demonstration am Oranienplatz gegangen wäre und jetzt mit den Ukrainern in Mitte demonstriert, ist Juliane Fischer. Die 70-Jährige bezeichnet sich selbst als friedensbewegt. „Das war in den 80er-Jahren aber etwas anderes“, sagt sie. „Jetzt, mit der aktuellen Entwicklung, kann ich doch nicht die Augen verschließen, wer hier der Aggressor ist.“ Militärische Übergriffe auf andere Länder müssen vermieden werden, aber es sei zynisch, keine Waffen zu liefern. „Frieden wollen alle, aber für uns ist es doch bequem hier aus Berlin zu sagen: Keine Waffen — unser Leben steht ja gerade nicht auf dem Spiel.“ Dieses Mal sei es anders, es müsse mehr passieren, auch von unserer Seite.

Alle, die für diesen Text befragt wurden, beantworteten am Ende der Gespräche noch die Frage, ob sie gerade Angst haben.
Juliane Fischer: „Angst nein, aber ich bin beunruhigt, wenn es einen Flächenbrand gibt.“
Ganna Baitsova: „Ja, nach der Ukraine sind wir hier dran.“
Max M.: „Angst? Vorm Krieg? Nö! Eher vor der Spaltung, wir waren doch dabei, zusammen in den Weltraum zu fliegen, zum Beispiel.“
Almut W.: „Selbstverständlich habe ich Angst, aber mehr um meine Kinder und meine Enkelkinder.“
Heiko Gaekel: „Ich hab meiner Tochter schon gesagt, wenn es eng wird, gehen wir nach Australien, ich war noch nie, aber dort ist es sicher.“

Wenn der SUV zur Waffe wird

Berlin – Das Hupen ist sehr laut. Daran erinnert sich David B. noch genau. Er läuft gerade mit seiner Freundin durch einen verkehrsberuhigten Bereich in Charlottenburg. Da ist eine Kirche und direkt daneben ist am Sonnabend immer ein Wochenmarkt, so auch an diesem Tag. B. ist mit seiner Freundin in Richtung Schlosspark unterwegs. Sie wollten nicht durch die Menschenmenge des Markts laufen. Es ist April 2021, die wenigsten Berliner sind zu diesem Zeitpunkt geimpft. Als es hinter ihm hupt, erschrickt er.

§ 16 Abs. 1 StVO: Schall- und Leuchtzeichen darf nur geben, wer außerhalb geschlossener Ortschaften überholt oder wer sich oder andere gefährdet sieht.

„Ich habe mich umgedreht, und da sitzt dieser Mann, Mitte 40, in einem silbernen SUV und schaut mich wütend an“, erzählt David B. der Berliner Zeitung am Wochenende. „Wir sind da völlig regelkonform gelaufen, es war wie gesagt verkehrsberuhigt, und außerdem war neben uns viel Platz, so dass er hätte ausweichen können, wenn er es eilig hat.“ Doch die Beifahrerin habe ihr Fenster geöffnet und laut gerufen: „Runter von der Straße, Spinner!“ Wieder das Hupen. Die Leute auf dem Markt drehen nach den Streitenden um. David B.: „Wir stehen, er steht.“ Dann fährt der SUV langsam auf den Mann und die Frau zu, berührt seinen Oberarm.

Der 37-jährige TU-Professor für Informatik hat diesen Vorfall selbst auf Twitter in dieser Woche bekannt gemacht, es ist eine jener Geschichten, die in Berlin auf einen großen Resonanzboden fallen: Fußgänger gegen Fahrräder gegen E-Scooter gegen Autos gegen Laster. Fast tausendmal wurden die elf Tweets, in denen er die Geschichte zusammenfasst, geteilt. Gelesen haben es noch viel mehr und in Blogs weitergetragen. Obwohl das Erlebnis fast ein Jahr zurückliegt, schreibt er jetzt darüber, weil B. den Fahrer angezeigt und das Gericht über den Fall vorläufig entschieden hat.

Es ist eine Geschichte darüber, was passieren kann in dieser Stadt, wenn ein Fahrer eines zweieinhalb Tonnen schweren Autos denkt, er habe Macht über einen Fußgänger, und Regeln ihm egal sind. Es ist auch eine Geschichte über eine bestimmte Stimmung in der Stadt, die viele Berliner derzeit erleben. Nur aus dieser Woche: die wütende Lichthupe eines Autos, weil die Grünphase verpasst wurde (Mittwoch, Torstraße). Ein Radfahrer, der einen anderen Radfahrer anbrüllt: „Dann überhol mich doch, du Vollidiot!“ (Mittwochmorgen vor dem Kanzleramt am Tiergarten). Ein Radfahrer, der einem Autofahrer im Vorbeifahren einen Mittelfinger zeigt, einfach so. (Dienstag, Eberswalder Straße). Jeder Berliner kann solche Geschichten derzeit erzählen.

David B. zog im Jahr 2014 von Karlsruhe nach Berlin. „Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mich hier eingelebt habe“, sagt der Informatik-Professor. Als Fahrradfahrer habe er immer wieder Dinge erlebt, die ihn schockieren und ärgern. Außerdem kennt er die Zahlen: 39 Fahrradfahrer und Fußgänger im Berliner Straßenverkehr gestorben. „Deswegen habe ich irgendwann die Straßenverkehrsordnung mehrfach komplett gelesen.“ Er wollte, dass er sich sicher sein kann, dass er die Regeln kennt, wenn er anderen Fehlverhalten vorwirft. Er betreut gleichzeitig ein Projekt, bei dem Fahrradfahrer in ganz Berlin gefährliche Gegenden in eine App eintragen können. B. möchte sein Verkehrsprojekt aber nicht mit diesem Erlebnis bewerben, das würde den falschen Eindruck erwecken.

§ 42 Abs. 4 StVO: In einem verkehrsberuhigten Bereich (darf) nur mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden. Jegliche Behinderung oder gar Gefährdung von Fußgängern (…) muss verhindert werden.

David B. weicht zurück, als die Kühlerhaube des SUV ihn berührt, das Auto rollt weiter und berührt ihn erneut. Fahrer, seine Beifahrerin und Fußgänger schreien einander an. B. zückt sein Mobiltelefon und beginnt, das Auto zu fotografieren: das Nummernschild, die Beifahrerin, den Fahrer, die ganze Szene. Dann ruft er dem Fahrer zu: „Ich rufe jetzt die Polizei!“ Plötzlich setzt der Fahrer zurück und rast an ihm vorbei in Richtung Hauptstraße.

Die Polizei kommt kurz darauf und nimmt die Anzeige auf, spricht mit Zeugen, die allerdings laut David B. erst später dazugekommen sind. Er glaubt zu dem Zeitpunkt, dass für den Fahrer zumindest ein Bußgeld fällig wird. Weil niemand zu Schaden gekommen sei, trifft „Fahrerflucht“ nicht zu, sagen ihm die Beamten, aber sie werden den Fahrer des SUVs kontaktieren und sich anschließend bei ihm melden. Zumindest Nötigung im Straßenverkehr könnte eine Begründung für die Strafe sein.

Der Begriff der „Nötigung“ kommt nicht in der StVO vor, aber im Strafgesetzbuch. Niemand soll lauf Paragraf 240 durch Gewalt zu einer Handlung gedrängt werden. Im Internet sind Beispiele für diesen Umstand angegeben, auch in den Kommentaren zu B.s Tweets sind derartige Geschichten erzählt: Wie Autofahrer Fahrradfahrer anfahren, weil sie nicht vorbeikommen, wie sie Fahrradfahrer zur Seite drängen bis zum Umfallen. In den Kommentaren wird auch deutlich, wie verhasst SUV-Fahrer in Berlin sind.

Erst im Februar dieses Jahres war ein SUV-Fahrer zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil er an der Invalidenstraße vier Menschen getötet hatte. Er hatte die Kontrolle über sein Auto verloren, weil er einen epileptischen Anfall erlitten hatte. Diese schweren, großen „Sport Utility Vehicles“ sind eine Mischung aus Limousine und Geländewagen, über zwei Millionen sind in Deutschland zugelassen. Der Vierradantrieb ist für den Betrieb in der Stadt im Grunde unwichtig, aber viele – meist ältere – Fahrer schätzen an diesem Auto, dass sie einsteigen können, ohne sich nach unten beugen zu müssen.

Nach ein paar Schriftwechseln zu diesem Vorfall kommt im Januar dieses Jahres ein Brief bei David B. an. Darin steht nur ein Satz: Gemäß Paragraph 153 Abs. 2 StPO wird das Verfahren gegen den Fahrer des SUVs eingestellt. B. schlägt in der Strafprozessordnung nach und erfährt dort, dass dieser Paragraf greift, wenn geringe Schuld oder kein öffentliches Interesse vorliege. Er ärgert sich: „Das bedeutet für den Fahrer, dass nichts passiert sei und er weiter so handeln kann, wie er es getan hat.“

Mona Lorenz von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat sich auf Anfrage noch einmal sämtliche Akten zu dem Fall zukommen lassen. Sie sagt, dass kein Schaden entstanden sei, dass der Tatverdächtige nicht vorbestraft sei und spricht außerdem von einem „tatprovozierendem Verhalten des Geschädigten“, das „nicht ausgeschlossen werden könne“. Am Ende ihres Berichts zum Fall noch ein interessantes Detail: Die Amtsanwaltschaft hat zugestimmt, dass das Verfahren eingestellt wird, unter der Bedingung, dass der Beklagte die Kosten seines Anwalts selbst trägt.

David B. will trotzdem eine Beschwerde einreichen. Er wundert sich, dass die beiden Insassen des Autos offenbar leugnen, ihn mit dem Auto berührt zu haben – und damit durchkommen. „Warum wurden wir nie mit den Aussagen konfrontiert?“ Seine Freundin hätte schließlich den gesamten Vorfall ebenfalls bezeugen können. Die anderen Zeugen waren 20 bis 30 Meter weiter weg. Am Ende sagt B. einen versöhnlichen Satz: „Ich weiß, dass nur ein Bruchteil der SUV-Fahrer sich so verhält, aber sie müssen sich bewusst sein, dass sie mit einer Waffe agieren.“

§ 1 Abs. 1 StVO: Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.

Escape Room: Ausbruch aus dem Stasi-Knast

Berlin – Ein Bett, ein Klo und ein kleiner Tisch zum Hochklappen. An der Wand klebt ein Kalender aus dem Jahr 1963 (mit Hammer, Sichel und Lenin) und daneben ein altmodisches Werbeplakat für einen Urlaub im FDGB-Ferienheim. „Die Errungenschaften unserer Arbeiter- und Bauernmacht.“ Durch die Wand sind undeutlich weitere Häftlinge zu hören. „Hallo?“, ruft einer, „Hört ihr uns?“. Das Kratzen des Lautsprechers wird lauter, eine weibliche Stimme sagt streng: „Zellenkontrolle in einer Stunde!“

Das Thema „Flucht aus dem DDR-Gefängnis“ ist ein beliebtes für Bücher, für Thriller und seit neuestem auch für Escape Rooms. Diese Räume sind in den vergangenen zehn Jahren in fast allen Berliner Stadtteilen entstanden und haben offenbar sogar die Pandemie überlebt. Rund 16 Firmen gibt es aktuell in der Stadt, jede mit mindestens vier Räumen im Angebot, und in allen von ihnen ist das Prinzip das gleiche: Eine Gruppe zwischen zwei und sechs Menschen zahlt rund 100 Euro, um sich in einen Raum einsperren zu lassen. Sie können diesen Raum nur verlassen, wenn sie innerhalb von 60 Minuten alle Rätsel lösen. Sonst ist das Spiel vorbei und sie haben verloren.

Die Themen sind vielfältig: Südsee, Raumfahrt, Inka-Tempel, Zombie-Apokalypse, Zeitreise, Flugzeugabsturz oder eben Stasi-Knast. Auch der Ausbruch durch einen Tunnel von Ostberlin nach Westberlin kann nachgespielt werden, ebenfalls an Originalschauplätzen in alten Tunnelanlagen mitten in Berlin. Die meisten Escape-Rooms bieten die Spiele in Englisch oder Deutsch an. Das Stasi-Gefängnis, um das es hier geht, liegt an der Prenzlauer Allee, direkt neben einer ehemaligen „DDR-Speisegaststätte“.

Empfangen wird man von einer jungen Frau Anfang 20, Sophia, die erst einen roten Knopf in die Höhe hält. „Diesen Knopf könnt ihr immer drücken, wenn euch danach ist“, sagt sie, „dann aber ist das Spiel zu Ende und wir brechen ab.“ Wenn man nur auf Toilette müsse, solle man einfach Bescheid sagen. Das ließe sich immer einrichten. Als es losgeht, wird die freundliche Sophia zur Gefängniswärterin. Sehr laut sagt sie wortwörtlich diesen Satz: „Ihr habt Schande über euren Staat gebracht und müsst dafür jetzt ins Gefängnis!“ Dann teilt sie die vier Spieler auf zwei Zellen auf.

Es gilt als unschön, den Inhalt der einzelnen Spiele zu verraten, aber vielleicht soviel: Es geht darum, zusammenzuarbeiten, sich gegenseitig hektisch Dinge zuzurufen und Codes herauszufinden, Nippel durch Laschen zu ziehen, ohne zu wissen, ob es in die richtige Richtung führt. Aus Schachfiguren werden Schlüssel, oder war es umgekehrt? Und dass ein Spiegel nicht das ist, was er scheint, war nun wirklich jedem klar, oder?

Das besondere dieses Genres fällt auch bei diesem Escape Room auf: Es hat sich stark verändert in den vergangenen Jahren. Begann es zunächst als einfaches „Ich muss einen Raum verlassen“ (Escape Room 1.0), wurden die Räume immer größer, komplexer und bestanden schließlich aus mehreren Zimmern (2.0). Inzwischen gibt es schon Escape Rooms, in denen Schauspieler arbeiten, die die Spieler erschrecken oder ihnen Hinweise geben, wenn sie sich richtig verhalten. Das sind die sogenannten Räume der dritten Generation.

Der Stasi-Raum ist noch einer der zweiten Generation. Man kriecht und klettert, um diesen engen Gefängnisraum zu verlassen, und wird dabei die ganze Zeit beobachtet. „Zellenkontrolle in 30 Minuten!“ schallt es in dem Augenblick, als alle langsam verstehen, was sie tun müssen, um herauszukommen. Die Rätsel erinnern stark an die Point-and-Click-Adventure aus der Computerspielezeit der 90er-Jahre. „Benutze Löffel mit Falltür“ konnte man dort dem Helden auftragen, eben Dinge zu Werkzeugen zu machen, die vorher keine waren. Bei den Spielen war jedes neue Zimmer ein neuer Escape Room.

Diese Gemeinsamkeit weist auch auf die Herkunft dieser Räume hin. Die ersten Escape Rooms gab es tatsächlich in den Nullerjahren in Japan und Bulgarien – allerdings noch als Computerspiele. Die Aufgabe war, einen Raum zu verlassen und dabei auf dem Weg alle Schubladen zu durchsuchen und kleinere Rätsel zu lösen. Den ersten echten Escape Room konstruierte angeblich ein Schweizer Lehrer im Jahr 2012. Er wollte seine Schüler herausfordern. Kurz nachdem Zeitungen darüber berichteten, startete die erste Firma mit professionellen „Zimmern“ und ist bis heute Marktführer in der Schweiz.

Im Stasi-Knast kriechen alle durch ein Loch in der Wand in einen Hohlraum. Dort ist es dunkel, und der Lichtschalter muss erst einmal gefunden werden. Es kommt ein Tipp aus dem Lautsprecher von einem weiteren „Häftling“. Die Spielleiterin kann die ganze Zeit zuschauen und hat auch die Zeit im Blick. Sie sagt zum Beispiel: „Ich glaube man muss mehr um die Ecke denken.“ Nach ein paar Minuten stehen wir in einem Raum, der an eine Werkstatt erinnert, mit Spind, DDR-Radio (aus dem Geräusche kommen) und mehreren blauen Kitteln aus dem Kunststoff Dederon. Alle rufen durcheinander. Aus dem Lautsprecher schrillt: „Zellenkontrolle in 10 Minuten!“

Das besondere bei Escape Rooms ist wohl, dass man nicht gegeneinander, sondern zusammen gegen einen gemeinsamen Feind spielt. Offenbar liegt das im Trend: Im Vorraum werden auch die Escape-Brettspiele verkauft, die während der Pandemie einen wahren Boom erlebt haben: 2020 stieg ihr Marktanteil um 11 Prozent, 2021 noch einmal um 4 Prozent. Bei der Spielwarenmesse in Nürnberg gewann vor einer Woche ein Escape-Spiel von Ravensburger den „Toy Award“ – natürlich eines, das nur mit Spielkarten und einer App funktioniert. Dabei kann man die meisten Spiele nur einmal spielen, denn die Lösungen der Rätsel vergisst keiner so schnell – und die meisten Materialien sind nach einem Gebrauch auch zerstört. Die bayrische Firma Homunculus verschickt seit 2020 ihre Escape-Spiele sogar per Brief und hat so eine Online-Community erschaffen, die sich über soziale Netzwerke austauscht und zum Teil auch gegenseitig beim Rätseln hilft.

Die besten echten Escape Rooms werden jedes Jahr von einer internationalen Jury ausgezeichnet, die bisher über 170.000 Räume weltweit bewertet hat. Platz 1 geht in der aktuellen Wertung an einen Raum in Spanien, Platz 2 und 3 gehen in die Niederlande. Deutschland taucht erst auf Platz 22 auf – und zwar der „Geisterjäger Brandon Darkmoor“ von „The Room“ in Berlin-Lichtenberg. Deutschlands bester Escape Room liegt also außerhalb des S-Bahn-Rings, nur ein paar Hundert Meter nördlich vom ehemaligen Hauptquartier der Stasi.

Der Spiel-Stasi-Knast in Prenzlauer Berg muss kriechend verlassen werden. Mehr darf man wohl nicht verraten. Es blieben noch 27 Sekunden bis zur Zellinspektion. Sophia hat auch bald Feierabend, aber erzählt noch selbst von all den Escape Rooms, die sie in Berlin schon besucht hat. Die junge Frau wundert sich nicht über das Stasi-Thema. Neulich musste sie eine Oma von ihrem Enkel trennen, steckte beide in die Stasi-Zellen und fühlte sich ein bisschen schlecht dabei. Doch der 11-Jährige löste die Rätsel schnell und befreite seine Oma. „Nur einmal war es etwas unangenehm“, sagt Sophia, „da war ein älterer Mann, der schimpfte, dass es im Stasiknast doch ganz anders ausgesehen habe.“ Sie hat ihn nie wieder gesehen.

Das vertauschte Baby

Berlin – Julia R. wollte diese Geschichte eigentlich nicht auf dieser Seite sehen. Einerseits ist das viel zu groß: eine ganze Seite für ein Ereignis, das nach 24 Stunden wieder vorbei war, das im Grunde doch gut ausging, sie will sich nicht so wichtig machen. Andererseits ist eine Seite in einer Zeitung auch viel zu klein, weil dieser Moment so viel ausgelöst hat bei ihr, bei ihrer Familie, dass das gar nicht ausreicht, um zu beschreiben, wie weit es für sie ging und im Grunde bis heute geht.

Vielleicht ist „Brutal Berlin“ auch nicht die richtige Rubrik für diesen Text oder Weihnachten nicht der richtige Moment, um sie zu erzählen. Vielleicht passt es aber auch perfekt. Was ihr auf jeden Fall am Wichtigsten ist: Wenn diese Geschichte an Weihnachten erzählt wird, dann nicht als Partygag oder als Dinnertable-Smalltalk. Sie möchte, dass Ärzte sie lesen und Krankenschwestern, die mit jungen Müttern zu tun haben. Sie möchte vor allem, dass das, was ihr passiert ist, nie wieder jemandem passiert.

Nur zur Entbindung ins Krankenhaus

Sie selbst beginnt die Erzählung mit dem Moment, in dem alles gut war, kurz nach der Geburt, als sie ihr Baby stillt. „Es war ja mein erstes Kind und ich habe mich so aufs Stillen gefreut“, sagt sie. Noch dazu wird in Frauenzeitschriften und Babybüchern über das Stillen so viel erzählt, dass junge Mütter ganz nervös werden, ob es wirklich klappt. Dann sagt sie: „Noch während mein Kind trank, legte meine Hebamme dem Baby das Bändchen um das Ärmchen.“ Normalerweise mache sie das nicht bei ambulanten Geburten, aber die Hebamme wird später sagen: Sie habe so ein Gefühl gehabt.

Julia R. wollte eigentlich nur zur Entbindung im Krankenhaus sein, danach gleich nach Hause. Die extra gekaufte Babyschale stand bereit. Doch weil sie kurz nach der Geburt einen Schwächeanfall hatte, entschieden sich die Ärzte, sie über Nacht in der Klinik zu behalten. Als hätte sie das vorausgesehen, hatte sie sich dieses Berliner Krankenhaus im Nordosten der Stadt ausgesucht. Sie wollte nämlich unbedingt eines, bei dem „Rooming-in“ möglich war.

Rooming-in, das war damals noch nicht in allen Krankenhäusern Standard. Anfang der 2000er galt die Vorstellung, die Mutter würde besser schlafen, wenn das Kind in einem anderen Raum von „Profis“ bewacht werde. Inzwischen haben wissenschaftliche Studien belegt, dass Mütter besser schlafen, wenn das Kind im gleichen Zimmer liegt. Mütter achten nach der Geburt instinktiv auf jedes Geräusch und schlafen unruhig, wenn sie nicht ihr Kind, das neun Monate in ihrem Bauch war, spüren. Heute ist Rooming-in fast überall Standard.

Als Julia R. nach einem Erschöpfungsschlaf aufwachte, sah sie trotzdem, wie eine Krankenschwester das Kind im Bettchen aus ihrem Zimmer schob. Die ältere Kollegin sagte so etwas wie: „So, da haben Sie Ihre Ruhe. Noch einmal schön eine Nacht durchschlafen.“ Sie habe noch gerufen, dass sie ihr Baby lieber hierbehalten wolle, aber das habe die Schwester nicht gehört.

Das Kind, das am nächsten Morgen in den Raum geschoben wurde, erkannte sie jedoch nicht wieder. „Ich schaute das Kind an und dachte: Das sieht doch total anders aus. Als ich die Nachtschwester darauf ansprach, sagte sie in dem gleichen Ton wie am Abend: ‚Ach, die sind nach der Geburt so verknittert, dann erkennen die eigenen Eltern ihr Kind nicht wieder.‘“

Kind wollte nicht gestillt werden

Als dann der Vater kam und er das gleiche Gefühl hatte, konnte er sich sogar an ein Detail erinnern: „Sein Ohr hatte doch gestern Abend so einen Knick.“ Die Mutter wusste genau, was er meinte. Andere in der Familie haben den gleichen Knick im Ohr. Die Schwester nur kühl: „Die Ohren verändern sich, wenn sie durchblutet werden.“

Dann fiel dem Paar das Bändchen ein. Sie sagten der Schwester, dass dieses Kind ein kleines Bändchen hatte. Damals waren sie noch hellblau für Jungen und rosa für Mädchen. Sie suchten zu dritt das Bettchen nach dem Bändchen und fanden nichts. Die Schwester sagte: „Dann ist es eben weg.“ Und das war’s dann. Sie nahmen das Kind mit nach Hause.

Wenn Julia R. von diesem Tag erzählt, der darauf folgte, gehen die Zeiten ineinander. Mal fühlt er sich ganz lang an, manchmal nur ganz kurz. „Aber auf jeden Fall war es die Hölle“, sagt sie. Sie habe die ganze Zeit versucht, ein Kind zu beruhigen, das immer aufgeregter wurde. Sie wiederum konnte mit dem Kind nicht viel anfangen, fühlte eine Fremdheit, ein Unbehagen aufsteigen und merkte gleichzeitig, wie dieses Gefühl sie zu einer schlechten Mutter machte. Biologie und Erwartungen. Liebe und Glück und Angst und Abneigung. Ihr Freund versuchte, beide zu beruhigen, es gelang ihm immer schlechter.

Auch das Kind wollte sich nicht auf die Eltern einlassen. Es war unruhig und es wollte nicht gestillt werden, obwohl es danach verlangte. Am Abend hörte sie das Telefon klingeln, ging aber nicht an den Hörer. Damals gab es noch Festnetztelefone, bei denen der Anrufbeantworter laut sich selbst anstellt. Dann hörte die junge Mutter die Stimme der Hebamme: „Da ist etwas passiert im Krankenhaus, ihr müsst noch mal hin. Und bringt das Baby mit!“ Sie rief sofort zurück, und erst, als sie immer wieder nachfragte, sagte die Hebamme: „Sie haben dir wahrscheinlich das falsche Kind mit nach Hause gegeben.“

Es passiert in Deutschland selten, dass Kinder vertauscht werden. Im Jahr 2008 hat die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe eine Untersuchung bei 481 Kliniken durchgeführt. Demnach habe es in dem Jahr zwölf Verwechslungen gegeben, die jedoch alle noch im Krankenhaus behoben wurden. Im Saarland wurde eine Verwechslung erst nach sechs Monaten erkannt. Und in den USA kam es kürzlich zu einer vertauschten Verteilung der Embryonen, sodass zwei Mütter die Kinder eines jeweils anderen Paares austrugen – und sich anschließend ebenfalls für den Tausch entschieden.

Doch wenig ist bekannt, was in diesen Fällen mit den Müttern und Vätern passiert, die eine Zeit lang versuchten, ihren Instinkten und Gerüchen willentlich zu misstrauen. Julia R. sagt heute, dass dieser Tag lange nachgewirkt habe, er hat überschattet, wie sie die Geburt ihres zweiten Kindes erlebt hat, und sie hat sich viele Jahre Vorwürfe gemacht. „Schließlich habe ich ja zugelassen“, sagt sie, „dass mein Kind für einen Tag nicht bei mir war.“ Dass das allerdings niemals ihre Schuld war, für diese Erkenntnis hat sie Jahre gebraucht.

Sie brachte das Kind jedenfalls noch am Abend zurück in die Klinik. Der Arzt sah sie im Vorraum sitzen. Es war der Arzt, der bei der Geburt dabei war. Er versuchte ein Lächeln: „Jetzt schauen Sie doch nicht wie Häufchen Elend“, sagte er, „ist doch noch mal alles gut gegangen.“ Der Leiter der Klinik schickte ihr später eine Kiste Wein, um sich zu entschuldigen für die Umstände.

„Sind Sie die andere Mutter?“

Und das ist etwas, was sie noch immer wütend macht, auch 18 Jahre nach dem Ereignis: Dieses Unverständnis eines Gynäkologen und einer Krankenschwester ihrem Bedürfnis gegenüber. Warum schickt irgendjemand einer stillenden Mutter Alkohol? Und warum stand die Schwester nicht sofort am Klinikeingang und gab ihr das Kind? Warum musste sie überhaupt noch in einem Raum warten?

Während sie dort saß, kam eine andere Frau im Kliniknachthemd herein. Sie fragte ganz leise: „Sind Sie die andere Mutter?“ Sie hatte nach einem Kaiserschnitt unter Vollnarkose nur geschlafen, sie hatte gar nicht mitbekommen, was passiert war. Sie sagte, ihr Mann habe das Bändchen bei dem anderen Kind gesehen und daran die Verwechslung erkannt.

Direkt danach wurde Julia R. in einen anderen Raum geführt. Dort sah sie ihr Kind, davor die Krankenschwester, die sofort meinte, man müsse sich noch gedulden. „Die Blutuntersuchungen, wir wollen ganz sicher gehen.“ Julia R. wunderte sich, dass auch von ihr noch keine Entschuldigung kam, das sie nicht merken wollte, was sie alle angerichtet hatten. Auch: dass sie nicht sofort ihr das Kind gab. Sie sagte zur Schwester: „Die Blutuntersuchungen brauchen wir nicht. Ich sehe, dass dies hier mein Kind ist und ich möchte es jetzt gern halten!“ Sie habe es an diesem Abend nicht mehr losgelassen. Dann, erzählt sie, saß sie in einem Wartezimmer unter Neonlicht, mitten in der Nacht, und stillte ihren Sohn.

Moni Zhang, Comedian aus Wuhan

Berlin – Moni Zhang hat als Treffpunkt ein Café in Friedrichshain ausgesucht, das etwas von einer gemütlichen Hippie-Höhle hat: Kerzen, Kachelofen, Möbel aus zweiter Hand. Alles wie in den 90ern, nur mit WLAN. Mitarbeiter müssen erst ihr Gespräch beenden, bevor sie eine Bestellung aufnehmen und kontrollieren irgendwann etwas nachlässig die Corona-Nachweise. Überall liegt irgendetwas rum. An jedem Tisch sitzen zwischen 20 und 30 Menschen, die an Projekten arbeiten oder sich an ihre Tassen klammern.

„Ich bin hier gern“, sagt Moni Zhang über diesen Ort und kuschelt sich in ihr Nest aus Pullover, Jacke und Schal, das sie sich auf der Couch aufgebaut hat. „Es repräsentiert, warum mir Berlin so gut tut.“ Zhang kommt recht schnell und offen auf ihre Depression zu sprechen. „Ich habe meinen Frieden mit meinen Problemen gemacht.“ Sie sei inzwischen von ihrem Psychologen „graduiert“ – auch wenn das klinge, als sei es ein Kurs, den man auf der Universität des Lebens abschließen muss. „Aber so ist das auch mit geistiger Gesundheit“, sagt sie. „Sich damit auseinanderzusetzen, wird für mich immer eine Reise sein.“

Zuschauer können jetzt an dieser Reise teilnehmen. Am 28. Januar hat Moni Zhangs neues englisches Programm „Child from Wuhan“ Premiere im Friedrichshainer Comedy Club „The Wall“, und sie wird es dann immer wieder in Berlin aufführen. Es wird ein ernstes Programm, das das Publikum gleichzeitig zum Lachen bringen soll. Bei Testdurchläufen haben Leute geweint und sind anschließend zu ihr gekommen, um von sich zu erzählen. Ihr Programm, das sei wie eine Therapie, sagt sie.

Es handelt grob: von ihr. Wie sie als Chinesin nach Europa kam, um in Rotterdam einen Abschluss in Buchhaltung zu machen. Wie sie dann eher durch Zufall nach Berlin zog und erst hier auf die Idee kam, Stand-up-Comedian zu werden. Sie wird auch davon erzählen, wie sie den ersten Preis in einem Berliner Newcomer-Wettbewerb gewann, als sie noch nicht einmal ein Jahr dabei war. Sie wird auch von ihrer Depression reden, von ihrer schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter und sicherlich auch von ihrer Katze, die Panda heißt.

Doch eines macht sie klar: Obwohl sie aus Wuhan stammt und auch ihr Programm nach der Stadt benannt hat, spricht Moni Zhang kaum über China. Einer ihrer wenigen Auftritte vom Jahr 2020 in Berlin ist noch immer im Internet zu sehen. Er beginnt mit dem Satz: „Ich komme aus einer Stadt, die zwar 14 Millionen Einwohner hat, aber bisher…“, sie hustet demonstrativ ins Mikrofon, „niemand kannte.“ Das Lachen im Publikum klingt ein wenig schüchtern, es war Anfang 2020, es gab noch nicht viele Witze über Corona. Zhang sagt weiter: „Mein Land ist mit der Krise sehr gut umgegangen.“ Sie macht eine lange Pause und sagt: „Mehr werde ich dazu nicht sagen, es sei denn, ich bekomme einen deutschen Pass.“

Auch im Gespräch im Café möchte sie nicht über China reden. Sie sei nicht Ai Weiwei, der alle Brücken zu seiner Heimat abgebrochen hat. „Ich komme auch nicht aus einem reichen Elternhaus, wie viele meiner chinesischen Freunde in Europa oder aus der Schulzeit.“ Diese könnten noch immer nicht verstehen, warum sie nicht längst eine Wohnung in Deutschland gekauft habe. „Das machen doch jetzt alle, sagen diese Freunde.“ Sie sei stattdessen schon froh, wenn sie eine Wohnung in Friedrichshain gefunden hat, die unter 1000 Euro im Monat kostet, auch wenn sie keine Küche hat.

Moni Zhang wurde inspiriert zu ihrer Karriere von Besuchen in Comedy Clubs in Berlin. Noch vor zehn Jahren fand vielleicht ein englischer Abend statt. Inzwischen gibt es vier englischsprachige Clubs, die Stand-up vor allem auf Englisch anbieten. Die Menschen auf der Bühne erzählen von ihrem Leben mit der Ausländerbehörde, von Dinner-Abenden mit Deutschen. Das Leben in Berlin bietet viele lustige Angriffsstellen. Im Publikum sitzen viele Deutsche, aber auch ein Mix aus anderen Ländern. Ihr gefalle das.

„Berlin ist perfekt für Leute wie mich“, sagt sie. „Ich kann hier sehr viel ausprobieren, ohne einen großen Druck.“ Die meisten Witze müsse man eben vor Publikum ausprobieren, um zu sehen, ob sie funktionieren. „In New York oder London würde ich niemals so viel Bühnenzeit bekommen.“ Dort müsse man auch Geld bezahlen, um auf die Bühne zu gelangen. „In Berlin ist das Publikum ehrlich, aber nicht unhöflich“, sagt sie, „und sie haben kein Problem damit, dass sich jemand über sie lustig macht.“

Sie wolle dieses Jahr mindestens 31 Auftritte bestreiten. Nur so könne sie besser werden. Dabei hilft hier, dass sie mitten in der Pandemie ein eigenes Festival gegründet hat: Das Berlin Mental Health Festival (BMHF). Es fand im Jahr 2021 zum ersten Mal statt und ließ Künstler, Comedians und Psychologen zusammenkommen – und über ihre Erfahrungen reden. Die Non-Profit-Organisation spendet alle Überschüsse an die Depressionshilfe. Es geht vor allem darum, Aufmerksamkeit auf psychische Probleme zu lenken.

„Es ist bisher immer noch ein Tabu, über geistige Gesundheit zu sprechen“, sagt Zhang. Das sei natürlich nicht immer leicht und am Anfang fühlt es sich auch noch etwas ungewohnt an. „Aber das ist sowieso ein Klischee, dass Comedians immer selbstsichere Menschen seien“, sagt sie. „Die meisten sind wie ich eher zurückhalten und benutzen die Stand-up wie eine Rüstung, wie eine Rolle, in der sie alles einmal aussprechen können.“ Das öffne manchmal alte Wunden, aber sie bekomme eben auch viel zurück.

Sie hat deshalb auch einen Podcast gestartet und spricht dort einmal wöchentlich mit anderen Comedians über deren psychische Probleme. In den bisherigen 25 Folgen von „It’s Mental“ berichtet unter anderem der ostdeutsche Comedian Richard Schäfer von seiner Pornosucht. Die Sängerin Lucy Straathof erzählt von ihrem Burnout. Andere berichten von Selbstmordgedanken, Anti-Depressiva, Drogen, Alkohol und wie sie es aus ihrem Loch herausgeschafft haben – oftmals mit Hilfe der Bühne und der Zuhörer.

„Comedy hat mir soviel gegeben in meinem Leben“, sagt Moni Zhang. Berlin habe ihr die Möglichkeit geboten, das auszudrücken. „Mein Therapeut ist Chinese“, erzählt sie und fragt: „Wo kann man das so leicht finden in der Welt?“ Trotzdem möchte sie als nächstes gern Deutsch lernen. Ihr Ziel ist es, bis Ende des Jahres auf dem Niveau B2 angelangt zu sein. „Mein Akzent wird bleiben“, sagt sie, „aber der ist doch ganz hübsch, nein?“

Fünf Jahre nach dem Attentat auf dem Breitscheidplatz

Berlin – Da gibt es diese Frau, die lieber anonym bleiben möchte. Sie stand nur wenige Meter entfernt von der Stelle, wo der Lastwagen in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt fuhr. 19. Dezember 2016, Breitscheidplatz. Neben dieser Frau starben Menschen, sie selbst war unter Schock, aber sie weiß noch, dass sie sich zu Schwerverletzten beugte, ihnen Wasser gab, sie beruhigte, bis die Notfallmediziner vor Ort waren. Sie streichelte Köpfe, redete.

Fünf Jahre später ist ihr Status als „Ersthelferin“ nicht anerkannt. Vielleicht wird das kommendes Jahr passieren, das kann Rainer Rothe so genau nicht sagen. Er ist Psychologe für Traumapatienten und betreut viele Opfer vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz. 13 Menschenleben hat das Attentat gefordert, das letzte Opfer ist erst vor wenigen Wochen an den Folgen gestorben. Doch darüber hinaus gibt es viele Opfer mit psychischen Schäden. Rothe hat für sie in dieser Woche einen offenen Brief an den Bundespräsidenten geschrieben, darin flossen die Erfahrungen aus Gesprächen mit 18 Betroffenen des Terrorattentats ein.

Rothes Bilanz ist katastrophal. „Es gibt Patienten, da hat es vier Jahre gedauert, bis die Reha bewilligt wurde“, sagt er der Berliner Zeitung am Wochenende. „Andere Patienten haben mehr als ein Jahr gewartet, bis sich überhaupt jemand um sie gekümmert hat.“ Ihn habe die langsame Reaktion der Behörden zum Teil sprachlos gemacht. „Erst vor drei Wochen kam die Angehörige eines Opfers zu mir in die Praxis und weinte noch einmal, weil sie das immer noch so mitnehme.“ Viele Opfer haben sich inzwischen rechtlichen Beistand genommen und klagen für ihre Entschädigung.

In seinem Brief schreibt Rothe an Frank-Walter Steinmeier, dass viele Opfer des Attentats sich eher verhört fühlen als befragt. „Mütter, Väter, Kinder, Partner, Großeltern, die einen geliebten Menschen verloren haben, müssen sich sagen lassen“, schreibt er, „dass sie nicht betroffen sind, weil sie nicht vor Ort waren.“ Eines seiner betreuten Opfer habe sich von einem Sachbearbeiter anhören müssen: „Menschen sterben nun einmal an Krankheiten oder Unfällen.“ Er müsse als Therapeut mit ansehen, wie Menschen „systematisch ohne Empathie zermürbt werden“.

Silvia Kostner vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) sagt, dass sie grundsätzlich die Frustration verstehen kann. Selbstverständlich werden die Mitarbeiter im sensiblen Umgang mit den Opfern geschult. „Aber wir müssen den Bedarf bei jedem Fall einzeln prüfen“, sagt sie. Jeder Fall unterscheide sich stark von dem nächsten, hinzu kommen runde Tische und Absprachen mit anderen Ämtern. „Die Arbeit an diesen Fällen ist zum Teil sehr aufwendig und wird sich bei einigen auch noch Jahre hinziehen, weil einige Rentenzalungen lebenslang gezahlt werden.“

Kostner weist aber darauf hin, dass auch viel erreicht worden sei in den vergangenen fünf Jahren. Das Lageso habe nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) von fast 200 Anträgen 150 positiv bescheiden können. Nur 14 Anträge wurden abgelehnt. Die Schwere der Verletzungen und der jeweils gesundheitlichen Schäden ist bei Betroffenen sehr unterschiedlich. So gebe es Menschen, die nur kurzfristig beeinträchtigt sind, bei anderen seien die Verletzungen so schwer, dass ihnen neben einer Grundrente auch eine Zulage für Schwerstbeschädigte zustehe. Das sei vom jeweiligen Grad der Schädigung (GdS) abhängig.

Zudem, darauf weist das Amt hin, können sich die Mitarbeiter „sehr gut in die Situation der Opfer hineinversetzen“. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung seien Menschen, die den „Terroranschlag in unserer Stadt als beängstigendes Ereignis miterleben mussten“. Es war in diesem Fall auch für die Opfer nicht einfach zu verstehen, wer bei welcher Behörde Ansprüche stellen kann, sondern auch für die Zuständigen in den Ämtern. Alle Behörden mussten sich untereinander absprechen, um die Leistungen zu koordinieren. „Wenn uns die Opfer um Rat gefragt haben, waren wir bemüht so gut wie möglich zu helfen.“

GdS und OEG – für Mitarbeiter in diesen Ämtern sind das ganz normale Begriffe, auch wenn zum Teil harte Schicksale dahinterstecken. Beim Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz kommt noch hinzu, dass kurz danach nicht klar war, ob überhaupt das OEG greifen würde. Schließlich sei ein Auto keine klassische Waffe, mit der Terroristen töten. Vor fünf Jahren war diese Art des Anschlags noch neu, erst ein halbes Jahr vorher war es an der Promenade von Nizza zu einem ähnlichen Attentat gekommen, mit 86 Toten.

Silvia Kostner sagt, dass die Kollegen der Abteilungen sofort alles dafür taten, dass das OEG hier greift. „Wir haben damals sofort eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich bis heute über die Fälle mit anderen Abteilungen wie der Verkehrsopferhilfe, Traumaambulanzen, Versicherungen und anderen Bundesämtern auseinandersetzt.“ Diese Vernetzungen seien wichtig, damit die sehr individuellen Fälle auch die entsprechende Hilfe bekommen. „Das hat im Einzelfall gedauert“, sagt sie, „aber gemessen an der Menge an Fällen kann das den Mitarbeitenden nicht zum Vorwurf gemacht werden.“ Extrembeispiele, wie Rothe sie nennt, gebe es zudem auf allen Seiten und nennt Beispiele von überzogenen Forderungen. „Noch mal: Jeder Antrag wird einzeln geprüft.“

Rainer Rothe weist am Telefon aber noch auf etwas anderes hin. Er sagt, dass Studien bewiesen haben, dass die Folgekosten von nicht behandelten psychischen Erkrankungen für die Gesellschaft sehr hoch sind. In den USA wurden Kriegsveteranen begleitet, deren Traumata nicht behandelt worden waren. Ein Großteil dieser Männer erprobte die typischen Bewältigungsstrategien an sich selbst: Drogen, Alkohol, Glücksspiel. Diese Mittel schaffen kurzfristig Entlastung, aber auf lange Sicht wirken sie destruktiv für die Menschen. Rothe sieht diese Folgen auch auf die Angehörigen der Opfer des Breitscheidplatzes zukommen.

„Ich finde, man sollte pro Opfer den Faktor zehn anwenden“, sagt er. „Jeder der Toten hat Familie, Freunde, deren Leben durch das Attentat eine neue Richtung genommen hat.“ Der Psychologe geht davon aus, dass da noch viele unerkannte Traumapatienten auf uns zukommen. Einige von ihnen meiden den Platz rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Andere wiederum gehen dort regelmäßig hin, vor allem, seitdem dort ein Denkmal steht.

Seit dem 19. Dezember 2017 ist es eröffnet. Es zeigt einen goldenen Riss, der durch die Treppe vor der Kirche führt und bis zur Straße ausläuft. Es wird auch an diesem Sonntag wieder ein Treffpunkt für Angehörige sein und für Menschen, die nur durch Zufall in der Nähe waren und ebenfalls mit den Bildern der Tat in ihrem Kopf leben müssen. Neben den Namen der Opfer und ihren Herkunftsländern steht dort noch ein Satz: „Für ein friedliches Miteinander aller Menschen.“

Vieles hat sich in der Vergangenheit geändert: Das Land Berlin und der Bund haben für den Fall eines Terroranschlags eine Verwaltungsvereinbarung über ein gemeinsames Beratungstelefon geschlossen. Die Bundesregierung hat einen Opferbeauftragten und seine Geschäftsstelle eingerichtet.

Rainer Rothe wünscht sich neben einer sensiblen Aufarbeitung der Opferansprüche noch mehr. „Ich wünschte, dass auch in den Schulen die Gewaltprävention einen größeren Anteil bekommt“, sagt er. Auch einen Kongress über Traumafolgen regt er in Berlin an. „Denn nur so lassen sich in Zukunft solche Ereignisse vermeiden.“ Außerdem wünscht er sich einen weiteren Ort der Trauer. „Berlin braucht ein Denkmal gegen Terror“, sagt Rothe. Die Treppe gefalle ihm, aber sie sei zu spezifisch. Ihm habe die Beschäftigung mit den Betroffenen gezeigt, dass Menschen auf viele Arten beeinflusst werden durch diese Taten. Egal, ob sie auf Bali, in Brüssel, Paris, Nizza oder in Berlin passieren.

Porträt des Schauspielers Max Mauff

Berlin – Metin weiß, dass er nicht mehr lange durchhalten wird. Er hat eine Erkältung, sein kleines Baby ist gesund, aber es gibt niemanden, der sich um dieses Baby kümmern kann. Er hat noch die Nachbarin um Hilfe gebeten, aber weil er sie vorher mal als „Nazi“ beschimpft hat, schlägt sie ihm die Tür zu. Seine Mutter will er aus Stolz nicht fragen, seine Schwester war schon früher keine Hilfe, als sie ihn zum Koksen verführen wollte. Und was ist mit seiner Freundin, der Mutter des Babys? Die ist vor einem halben Jahr ganz plötzlich gestorben. Im Erdgeschoss wird Metin schwindelig. Und dann liegt er einfach auf den kalten Fliesen.

Als die Serie „MaPa“ im April 2020 auf Joyn anlief, waren viele verwundert, was der Streaming-Ableger von ProSieben mit diesen sechs Folgen beweisen will. Ein alleinerziehender Witwer in Berlin zwischen Trauer und Babybrei? Die Kritik war überwiegend positiv, aber auch irgendwie verwirrt, weil „MaPa“ eben sehr quer steht zum sonstigen Unterhaltungsprogramm des Senders. Im vergangenen Jahr hat ProSieben immer wieder durch Aktionen zu beweisen versucht, dass der Sender nicht mehr sklavisch auf die Quoten schaut – nicht zuletzt in dieser Woche durch die sieben Stunden dauernde Live-Reportage aus einem Krankenhaus von Joko & Klaas. In der kommenden Woche läuft „MaPa“ zum ersten Mal auch im RBB.

Max Mauff ist das Gesicht dieser Serie, er spielt Metin, der in jeder Folge irgendwann überfordert ist von allem. „Diese Serie löst nicht viel Freude aus“, sagt er, „das ist mir klar.“ Er meint die Trauer um die tote Freundin, die Metin in jeder Szene im Gesicht abzulesen ist. Aber die Zusammenarbeit mit dem Team, die habe ihn wirklich glücklich gemacht. „Ich hatte das Gefühl, ich bin in der Zukunft angekommen.“ Solch eine Rolle sei doch vor zehn Jahren noch überhaupt nicht denkbar gewesen: Ein junger Mann mit einem nichtdeutschen Namen, der nicht zum Helden wird, sondern einfach scheitert und ohne Hilfe von Frauen zusammenbricht. „Wenn man so etwas erzählt, provoziert man auch.“

Mauff ist 34 Jahre alt und läuft durch den Treptower Park, als er das sagt. Das ist kein Zufall, er hat sich diese Gegend ausgesucht, um über Männerbilder zu sprechen. Seine Beziehung zum Park rührt nicht nur daher, dass er in der Charité in Ost-Berlin geboren wurde und in Friedrichshain aufgewachsen ist. Er mag auch diese große Statue im Zentrum des Parks, das Sowjetische Ehrenmal. Ein 30 Meter hoher Mann mit einem Schwert und einem Mädchen im Arm. Die Statue erinnert an die 80.000 russischen Soldaten, die im Kampf um Berlin während des Zweiten Weltkrieges gefallen sind.

Er war oft im Treptower Park als Jugendlicher, hat sich mit seinen Freunden hier getroffen. Die Initialen von einigen von ihnen sind in seinem Knöchel eingeritzt. „Das haben wir uns damals mit 18 einfallen lassen“, sagt er, „weil wir dachten, wir würden unser Leben zusammen verbringen.“ Irgendwie seien die Wege dann aber doch auseinandergegangen, in den vergangenen zehn Jahren.

Der Osten ist für Mauff immer ein Thema geblieben. Er weiß genau, wo die Schauspieler seiner Generation herkommen: Ludwig Trepte (Ost), Florian Bartolomäi (West), Tom Schilling (Ost) und so weiter. Seine erste Hauptrolle hatte Mauff mit 15 in einem Jugendfilm – dann kamen in den Nullerjahren die ersten großen Kinofilme: „Die Welle“, „Der Vorleser“, „Berlin Calling“. In den 2010ern wurde er vielen durch seine Rollen in den Serien „Stromberg“ und „Sense8“ bekannt sowie in dem One-Shot-Film „Victoria“.

Mit jeder Rolle wurde Mauffs schmales Gesicht mit den charakteristischen großen Augen bekannter. Aber das ist eigentlich gar keine Kategorie für ihn. „Ich arbeite für meine Biografie“, sagt er. Das mache er ähnlich wie andere Schauspieler. „Ich möchte, dass irgendwann die Menschen auf meine Filmografie blicken und sich fragen, warum ich diese oder jene Rolle übernommen habe.“ Wenn ihn doch jemand auf der Straße erkenne, findet es Mauff interessant, aus welchem Projekt. „Ob sie jetzt ‚Sense8‘ oder ‚Stromberg‘ gesehen haben, das sagt ja mehr über den Zuschauer aus, als über mich.“ Wenn es gut laufe irgendwann, sagt er, dann schauen sich vielleicht die Menschen „Sense8“ an, weil ihnen „Victoria“ gefallen habe.

Die vielen Drehs, die er in den vergangenen Jahren hatte, kamen mit Corona zu einem abrupten Stopp. Mauff konnte glücklicherweise an Hörspielen weiterarbeiten, aber ansonsten war auch er gezwungen, seine Zeit anders zu verbringen. Neben viel Zeit mit seiner Tochter, die aktuell den „Traumzauberbaum“ hört, verbringt er seine Tage seit einigen Wochen auch auf seinem 250 Quadratmeter großen Kleingarten. Umgraben, pflanzen, wässern – und warten. Ein Kleingarten, das sei einer der wenigen Dinge, wo Geduld sich auszahle, sagt Mauff.

Inzwischen haben wir das Ehrenmal im Treptower Park erreicht. Obwohl die Sonne an diesem Vorfrühlingstag sehr stark scheint, ist fast niemand unterwegs in diesem Park. Auf dem Gelände um die Statue herum stehen nur einige bunt gekleidete Brasilianer, die laut auf Portugiesisch von eins bis vier zählen und jedes Mal einen anderen Tanzschritt vollführen: „Um, dois, três, quatro.“ Es ist eine seltsame Szene, die sich so fast deckungsgleich in „MaPa“ abspielen könnte. In der Serie geht Metin zu Ikea, alle um ihn herum sprechen nur „Blabla“. Die Welt aus der Sicht eines Depressiven kann eben manchmal auch sehr lustig sein.

„Darauf kommt es doch an“, sagt Mauff, „auf das Müh an Verrücktheit.“ Auch wenn die Geschichte von „MaPa“ traurig ist, solle es schließlich kein „Misery Porn“ werden. Deshalb sei die Beziehung von Metin mit seiner Freundin, die in Rückblenden erzählt wird, eben keine idealisierte romantische Zeit voller Glück. „Wir wissen doch alle, dass junge Eltern Schlafprobleme haben und nicht die ganze Zeit nur im Glück schweben“, sagt er. Das Gute am Drehbuch sei, dass die Mutterfigur auch Fehler haben darf und dennoch noch überraschende Wendungen und Twists bereithält. Damit schaffe man sich aber auch Gegner.

Schließlich ist auch Mauff mit einem Bild von Männern und Frauen aufgewachsen, das sich innerhalb recht starrer Grenzen bewegt. Väter kamen da nur als ständig arbeitende Ackerer vor und Mütter meist als idealisierte Heldinnen. Mauffs Mutter bekam den Job, das Kind und die Zeit im Ruderverein irgendwie alleinerziehend hin. Und wenn Mauff die Abende beim Großvater verbrachte, schauten sie dort zusammen Western. Für ihn waren das Bilder einer großen Welt, in die er eintauchen konnte. Das war zwar einerseits eine schöne Zeit, doch sie prägte auch ein Bild, das man wohl heute als „toxische Männlichkeit“ bezeichnen muss: Männer, die einen Raum betreten und sich der Frauen und anderer Kulturen „bemächtigen“ – ohne dass das jemals hinterfragt wird.

„MaPa“ ist das glatte Gegenteil davon. Die Serie war für den Grimme-Preis nominiert und dennoch hat ProSieben sich vorerst gegen eine zweite Staffel entscheiden. Max Mauff findet das schade, zumal viel von der zweiten Staffel schon feststand. Es sollte um Heldenbilder gehen und jetzt kommt diese Statue ins Spiel, hinter ihm, dieser Koloss mit Kind im Arm. „Ich hätte gern eine Szene hier gedreht“, sagt er. „Denn das sind schließlich die Heldenbilder, gegen die wir uns mit Figuren wie Metin auflehnen.“ Es könne nicht darum gehen, zum Helden des Alltags zu werden. „Ich selbst muss meine Anforderungen auch ständig anpassen als Vater.“ Aber er finde es beruhigend, dass er in einer Zeit lebt, wo diese Bilder nicht mehr so ungefragt übernommen werden wie früher.

Ein weiterer Film, der gegen diese Bilder angeht, ist Terrence Malicks „Ein verborgenes Leben“. Darin spielt August Diehl einen Österreicher, der nicht mitmachen will beim Zweiten Weltkrieg. Es ist ein Film über einen Mann, dessen Nein zur Gewalt ihn schließlich in den Tod führt. Max Mauff bewunderte Malick schon lang und wollte unbedingt mitspielen, selbst wenn es nur eine kleine Rolle war.

Als er jedoch zu keinem Vorspiel eingeladen wurde, machte er sich auf eine Wanderung. „Ich ging in die Alpen“, sagt er, „ich wollte für mich sein und zehn Tage in den Bergen die Natur anschauen.“ Als er am Tag acht in Südtirol in einer Hütte ankam, erreichte ihn der Anruf von Malicks Regieassistenten, ob er ein Foto von sich schicken könnte, Sie brauchten einen verwahrlosten Typen für die Rolle eines Deserteurs, der n einem Halbsatz im Briefwechsel zwischen Jägerstätter und seiner Frau erwähnt ist und sich in den Bergen vor der Armee versteckt, sagt Mauff. Ich kniete mich in den nächstbesten Bach und schickte Ihm Fotos von mir.  Ein paar Stunden später hatte er die Rolle des Sterz. Die Dreharbeiten fanden in den Südtiroler Bergen statt. Nur ein paar Stunden entfernt von dem Ort, wo Mauff gerade telefonierte. Er erarbeitete sich diese Rolle, die übrigens mit dem Metin aus „MaPa“ rein gar nichts zu tun hat.

Porträt der koreanischen Autorin Bae Suah

Bae Suah sitzt in Mecklenburg-Vorpommern in einem Haus, allein, mit Blick auf die Seenplatte und das Grün und Rot und Grau der Landschaft im Herbst. Sie denkt nach über Seoul, die Hauptstadt ihrer Heimat Südkorea, über Geister und über Menschen, die Schmerzen aushalten. Es ist Spätherbst an der deutschen Küste, aber Bae denkt an die Hitze im koreanischen Hochsommer, die sich in jede Pore des Körpers bohrt und dazu führt, dass über den Betten von schlafenden Menschen kleine Dampfsäulen entstehen. So ungefähr schreibt sie das dann auch auf: „Die hochsommerliche Metropole glich einem Tempel der betäubenden Mattigkeit, der vor Tausenden Jahren von einem lange verschollenen, dem Hitzekult frönenden Volk errichtet worden war.“

Die südkoreanische Autorin hat mit dem Buch „Weiße Nacht“ dieses Jahr einen Überraschungshit gelandet. Es ist ein absurd-schöner Roman über eine Frau, die unabhängig leben will und dabei doch immer wieder an ihre Wurzeln erinnert wird. Sie trifft auf Schriftsteller, auf ein altes Ehepaar, bei dem es sich vielleicht um ihre Eltern handelt, und schließlich auf einen Mann, der ihr Freund sein könnte. Und während all das geschieht, führt die Hitze des Sommers dazu, dass nicht nur die Gedanken sich auflösen, sondern auch die Grenzen zwischen den Menschen verschwimmen. Halt gibt der Wetterbericht, der wie klare Halterungen im Halbrealen ihren Text umgibt.

Darauf angesprochen sagt die 55-Jährige Autorin erst mal nichts. Sie sieht so aus, als erinnert sie sich an das Schreiben vor rund zehn Jahren. „Ich weiß gar nicht mehr, ob es ein Hörspiel war oder ein wirklicher Wetterbericht“, sagt sie, „aber es klang sehr abgehackt und dadurch so theatralisch oder: musikalisch.“ Dann erzählt sie vom Entstehungsprozess ihres Buches: „Zunächst muss ich gestehen, dass ich das Buch weder in Korea noch in Sommer geschrieben habe.“ Sie habe vielmehr im Winter in einem Häuschen in Mecklenburg-Vorpommern gesessen, vi

Bae spricht leise, in einem schönen Deutsch, das sorgfältig zwischen Dativ und Genetiv unterscheidet und jedes Wort einzeln betont. Bae Suah will Auskunft geben über ihr Schreiben, ihr Werk und Leben. 25 Menschen sind in das Koreanisches Kulturzentrum geladen, als sie über ihr Buch „Weiße Nacht“ spricht. Mehr sind aufgrund der strengen Corona-Regeln nicht zugelassen, es ist wenige Tage bevor die ganze Welt wegen „Squid Game“ einmal mehr auf Südkorea blickt.

Doch schon vor ihrem Roman, der in den deutschen Feuilletons euphorisch besprochen wird, haben südkoreanische Autorinnen wie Han Kang („Die Vegetarierin“) und Cho Nam-Joo („Kim Jiyoung, born 1982“) für Aufsehen auf dem deutschen Buchmarkt gesorgt, der in diesen Tagen trotz Corona sein wichtigstes Fest begeht: die Frankfurter Buchmesse.

Bae Suah aber sind diese Vergleiche eher unangenehm. „Ich schreibe seit mehr als 20 Jahren“, sagt sie, „aber ich lag nie im Trend, wie man so sagt, und ich glaube, ich möchte das auch nicht.“ Ihre Romane sind in Korea in kleinerer Auflage erschienen als dieses Buch in Deutschland. „Das kann daran liegen, dass koreanische Leser vielleicht gerne Geschichte mit einer klaren Story und Inhalt lesen möchten.“ Sie aber möge gerade Bücher, die sie verwirren. Sie erzähle in „Weiße Nacht“ mehr in Bildern, von Assoziationen und Fantasien, wie Szenen in einem surrealen Film. „Beim Schreiben sehe ich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht getrennt, ich sehe alles zugleich“, sagt Bae Suah und fährt nach einer Pause fort: „Ich möchte nicht für jeden schreiben.“

Begonnen hat sie mit dem Schreiben eher zufällig. Als sie mit 23 Jahren als Beamtin am Flughafen in Seoul arbeitete, schrieb sie ihre erste Kurzgeschichte für einen Wettbewerb – sie wollte sich selbst das Zehnfingersystem beibringen. Koreanisch ist eine Alphabet-Schrift. Diese Geschichte hieß „Dunkles Zimmer“ und gewann den Hauptpreis bei dem Wettbewerb. Seitdem sind viele Bücher entstanden, die häufig sehr rätselhafte Namen tragen: „Landstraße mit grünen Äpfeln“, „Club der roten Hände“ oder „Windpuppe“.

Obwohl sie im Jahr 2001 nach Deutschland ging und schließlich sogar dauerhaft Zeit hier verbrachte und die Sprache perfekt spricht, ist es ihr erstes Buch auf Deutsch. Sie hat sich mit der Sprache vor allem als Übersetzerin beschäftigt: Sie hat berühmte Autoren ins Koreanische übersetzt – Franz Kafka, W.G. Sebald, Jenny Erpenbeck, Christian Kracht.

„Ich bin keine Wissenschaftlerin“, sagt Bae Suah. „Ich arbeite sehr intuitiv, auch als Übersetzerin.“ Wörter wie Geister und Seele würden in Korea definitiv anders verstanden, sagt sie. „Aber es sind manchmal auch einfache Wörter wie ‚Mutter‘, ‚Sterne‘ oder ‚Liebe‘, die ganz anders verstanden werden in anderen Sprachen.“ Sie habe den Glauben, dass es eine perfekte Übersetzung nicht gebe. „Ich will nicht ewig forschen oder überlegen, sondern es muss sich richtig anfühlen.“ Sie war einmal auf der Buchmesse bei einem Treffen von Übersetzern von Christian Kracht. Dort ging es lange um das Wort „levantinisch“. „Manche konnten das ganz leicht übersetzen, andere, wie ich, haben dafür lange gebraucht.“

In ihrem Buch, zumindest in der deutschen Übersetzung, ist die Sprache sehr klar, doch häufig verändert sich mitten im Absatz plötzlich die beschriebene Realität und alles steht Kopf: „Als die junge Ayami eine Straße entlangging, entdeckte sie einen bläulichen Stein auf dem Boden und hob ihn auf. Unter dem Stein tat sich ein tiefes Loch auf, es führte zur Welt auf der anderen Seite des Spiegels, die parallel zur hiesigen existierte …“ Immer wieder kommt ihre Hauptperson an solch eine Stelle, wie ein DJ mixt Bae Suah dabei einige Texte in fast identischer Form immer wieder ein. Eines dieser Bilder ist der Kopf mit einem Nagel drin, ein sehr brutales Bild.

Bae Suah erzählt, dass sie mit dieser Erwähnung ein Trauma ihrer Kindheit verarbeitet. „Eine Schuldfreundin hat mir einst ein Geheimnis anvertraut“, sagt sie, „dass ich hier aufgeschrieben habe.“ Es habe einmal einen Onkel gegeben, der plötzlich verschwunden sei. „In seinem Abschiedsbrief stand, dass er den Weltschmerz nicht ertrage und in die Berge gegangen sei.“ Der Mann war Apotheker, hatte eine junge Frau und einen Assistenten. „Im Dorf erzählte man sich, dass der Leichnam unter dem Dach der Apotheke versteckt sei, weil der Assistent die Frau des Apothekers liebte.“ Der Assistent habe ihn ermordet, mit einem Nagel im Kopf. „Doch die Polizei fand die Leiche nie, und so blieb es ein Gerücht.“ Die Apotheke wurde geschlossen und der Assistent zog mit der Frau in eine andere Stadt.

Das Lesen von „Weiße Nacht“ führt subtil in solch grausige Welten. Inspiriert, sagt sie, sei sie von dem iranischen Autor Sadegh Hedayat. Dessen Buch „Die blinde Eule“ wolle sie einmal ins Koreanische übersetzen. Es wird in „Weiße Nacht“ mehrfach erwähnt, Bae glaubt, dass es in Korea viele Leser finden könnte. Das liegt vielleicht auch an der gemeinsamen Erfahrung von Iran und Korea mit dem Krieg. „Als ich Kind war, war es noch wie ein Alptraum, immer hat man von Kriegsgefahr gehört.“

Sie habe unter großer Angst gelitten. „Bis heute hat sich diese Lage nicht sehr geändert, die Angst bleibt immer im Hinterkopf, weil Korea eben getrennt wurde und bis heute getrennt ist.“ Auch darüber wollte sie schreiben, von diesem Alptraum aller Koreaner – von ihrem Häuschen im wiedervereinten Deutschland aus.

Guter Park, böser Park

Berlin – Der Mitteplatz heißt eigentlich nicht Mitteplatz. Aber die Anwohner nennen ihn so. Es ist einfach der Platz westlich der U-Bahnstation Gleisdreieck. An diesem Platz müssen alle vorbei, die von Ost nach West oder von Nord nach Süd wollen, von Schöneberg nach Kreuzberg, vom Potsdamer Platz zur Yorckstraße. Der Mitteplatz ist der Punkt, der mit einer rosafarbenen 1 eingezeichnet ist auf der Orientierungskarte, die überall im Park aufgestellt ist. In der Legende steht unter „1“: „Sport & Spiel“. Der gesamte Park wird auf der Karte ernsthaft „Oase“ genannt.

Vormittags um 11 Uhr: Drei Frauen schieben drei unterschiedlich große Kinderwagen vor sich her. Daneben machen vier Männer Burpees, eine Liegestütz-Luftsprung-Kombination. Ein weiterer steht daneben, hat die Hand in die nackten Hüften gestemmt, schaut schwitzend in den blauen Himmel. Ein Mittdreißiger in Baggyjeans fährt Longboard und zieht dabei einen Rollkoffer hinter sich her. Er findet das selbst so crazy, dass er mit der anderen Hand ein Selfie-Video dreht.

Zwölf Stunden später am selben Tag: Drei Jugendliche hören laut Rap-Musik. Sie singen jede Zeile mit und das einzige Wort, das sie deutlich gemeinsam rufen, ist „Nutte“. Immer sehr laut. Zwei Endzwanziger, Frau und Mann, in seltsam stylischen Klamotten drehen derweil ihre Runden mit ihrem Skateboard auf der Tartanbahn. Die Art, wie sie einander umkreisen, wirkt vertraut, sie sprechen nicht. Ein Polizeiauto fährt um 23.14 Uhr am Mitteplatz vorbei. Die Musik verstummt.

„Der Park am Gleisdreieck ist ein Kompromiss“, sagt Matthias Bauer. „Dieser Platz hier ist es auch.“ Mitteplatz, den Namen haben sich die Leute angewöhnt, die rings um den Park wohnen. Eben weil der Platz in der Parkmitte liegt. „Es ist ja auch schön, dass man den Namen selber entwickelt und dass der nicht irgendwo einfach dran steht.“ Die Wege haben hier auch keinen Namen. Über das „Sport & Spiel“ auf der Karte muss Matthias Bauer lachen. Es klingt etwas verbittert. Er zeigt auf einen der E-Scooter, die am Rand des Parks stehen. „Mit denen haben sie Jagd auf Fußgänger gemacht.“ Inzwischen haben die Betreiber wohl etwas unternommen gegen den Missbrauch der E-Roller. Ein paar Tage später dann: die Aktion mit den Feuerlöschern.

Bauer begann im Jahr 2009 das „Gleisdreieck-Blog“ zu betreiben. Darin werden Themen rund um die Entwicklung der inzwischen 35 Hektar großen Grünfläche besprochen. Wer im Blog liest, bekommt schnell das Gefühl, dass diese Gegend wie keine zweite Berlins Probleme und Trends zusammenführt: die Verdrängung von Alteingesessenen durch Neureiche, die Kämpfe der Fahrradfahrer gegen die Fußgänger und umgekehrt, die fehlende Rücksichtnahme älteren Leuten gegenüber, die kaum im Park zu sehen sind. Der Dreck, die Kulturunterschiede, das Bildungsproblem, die Flüchtlinge, der Fitnesswahn, die geschlossenen Schulen in der Pandemie, die verdammten Drogen. Auf alles das knallt gerade die Sommersonne und lässt es hier am Gleisdreieck umso greller erscheinen.

Aber zurück zu den Feuerlöschern. Anwohner sagen, Jugendliche hätten sie aus den Parkhäusern in der Nähe gestohlen. Im Internet gibt es Videos, die zeigen, wie jemand die Feuerlöscher auf Menschen richtet und unter Johlen „abdrückt“. „Gleisdreieck030“ hält es stolz für Instagram fest. Anfang April wurden so auch Polizisten angegriffen und in die Flucht geschlagen. Als Anwohner ein paar Tage danach die Polizei anriefen und sich wegen des Lärms beschweren wollten, dauerte es vier Stunden, bis die Beamten vom Abschnitt 52 am Platz waren. Später sagte ein Sprecher, dass sie erst eine Hundertschaft zusammenbekommen mussten, denn zwei Polizeistreifen beeindrucken niemandem am Gleisdreieck.

Fast 250-mal mussten die Polizisten des Abschnitts zu Einsätzen allein in diesem Jahr zum Gleisdreieck ausrücken, jeder fünfte Einsatz war wegen Lärmbelästigung. Immer wieder entdeckt die Polizei verbotene „Corona-Partys“. Ein sogenannter kriminalitätsbelasteter Ort, also eine Gegend mit einer besonderen Häufung an Straftaten, ist der Park dennoch nicht, sagt eine Polizeisprecherin. Neben der Lärmbelästigung und der damit verbundenen erhöhten Jugendkriminalität komme es im Park vor allem zu verschiedenen Raub- und sogenannten Rohheitsdelikten, also Körperverletzungen oder Nötigungen, auch: Vergewaltigungen.

Die Liste wird länger, je nachdem, mit wem man spricht. Da ist etwa Beate K. Seiferth, die seit 24 Jahren in diesem Kiez wohnt und vor ein paar Monaten eine Bürgerinitiative gegründet hat. Da ist Matthias Bauer, der in den 80er-Jahren gegen das hier geplante Autobahnkreuz demonstriert hat, dann Architektur studierte und sich seit Jahrzehnten mit diesem Park beschäftigt, um den sich jemand kümmern muss. Und da ist Kristiana Elig. Sie leitet ein Café am Rande des Parks, das so heißt wie jenes nachtaktive Tier, das den Kopf um 270 Grad drehen kann: Eule.

Das Café Eule liegt südlich vom Mitteplatz, inmitten einer kleinen Gruppe von Kleingärten. Am Rand stehen zwölf Rosenbüsche. Kristiana Elig hat jedes Mal einen gepflanzt, wenn ihr Café zerstört, in Brand gesetzt oder alle Stühle kaputt geschlagen wurden. „Klar hätte ich zumachen können“, sagt sie. „Aber dann hätten sie gewonnen.“ Sie, das sind diejenigen, die Koksspuren auf den Tischen hinterlassen, Uringestank in den Sträuchern oder wie neulich eine Blutlache. Fast 30-mal wurde eingebrochen in den neun Jahren, die es das Café Eule gibt. „Erst Anfang der Woche hat wieder jemand versucht, das Schloss aufzubrechen.“ Aber das hat Frau Elig inzwischen verstärken lassen, es gibt eine Alarmanlage. Was sie nicht sein will: ein Opfer.

Die 48-Jährige hat zwei Kinder und bis vor ein paar Jahren Reportagen für das ZDF gedreht. Dann kam die Idee für das Café im Park, der noch nicht mal fertig war. Im Herbst 2011 wurde der Ostteil des Parks eröffnet, drei Jahre später der Westteil. Damals galt der Park als der einzige Park Berlins ohne Dealer. Es dauerte, bis sich Menschen auf den Wiesen niederließen, zu neu wirkte alles. Die Stadt fremdelte eine Weile mit dieser seltsamen Fläche, die aus der Luft betrachtet aussieht wie jener gezackte Pfeil, der auf Stromkästen vor Hochspannung warnt. Dann kam das erste Graffiti, die erste zersprungene Flasche, die erste Spritze im Sandkasten.

Matthias Bauer ist schon durch den Park gelaufen, als der noch umzäuntes Bahngelände war. „In den 70er-Jahren war hier ein Autobahnkreuz geplant“, sagt er, „das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.“ Aber damals stand die Mauer noch und das hier war eine Brache. Heute treffen sich im Park die Bezirke Mitte, Schöneberg und Kreuzberg, das macht die Frage der Zuständigkeit nicht einfacher. Bauer zeigt auf die neuen Gebäude, die gerade neben dem Mitteplatz gebaut werden. „Im FNP ist diese Fläche noch als Grünfläche markiert.“ FNP steht für Flächennutzungsplan. Jetzt entsteht hier ein S-förmiges Gebäude. „Und warum diese Form?“, fragt er und antwortet gleich selbst: „Damit für noch mehr Wohnungen das Argument Parkblick gelten kann.“

Bauer hat nichts gegen Neubauten. Aber er findet es problematisch, dass hier falsche Erwartungen geweckt werden. So ist es schon am Mauerpark in Prenzlauer Berg oder an den Luxusbauten am Friedrichshain oder am Teutoburger Platz gewesen. Da kosten 70 Quadratmeter so viel wie eine kleine Stadtvilla an der Stadtgrenze zu Brandenburg – und manche bezahlen es trotzdem. Und dann wundern sich die Erstbezügler, dass der nahe gelegene U-Bahnhof Yorckstraße ausgerechnet der hässlichste der Stadt ist und dass gleich neben dem Park etwas beginnt, das die Alteingesessenen ganz nonchalant „Babystrich“ nennen und dann schnell das Thema wechseln.

Beate K. Seiferth ist vor einem Vierteljahrhundert in eine der Sozialwohnungen am Park gezogen. Wenn sie auf einer Skala von 1 bis 10 beschreiben soll, wie sich die gefühlte Bedrohungslage verändert habe in ihrem Wohnviertel, sagt sie: „Als der Park eröffnet wurde, war es ganz klar eine Null — und aktuell ist es eindeutig eine 15.“ Sie sagt, die Partys gehen am Wochenende teilweise bis 7 Uhr morgens, Technomusik, Rap, dunkle Bässe. „Am Anfang bin ich noch selbst hin und hab‘ um Ruhe gebeten“, sagt die 60-Jährige. „Aber bis ich bei meiner Wohnung ankam, war es schon wieder laut.“ Neulich wurde sie mit einer Bierflasche bedroht, als sie um Ruhe bat. Seitdem ruft sie nur noch die Polizei. „Vor ein paar Tagen kam noch eine Vergewaltigung hinzu“, sagt sie, „und jedes Wochenende macht dieser Park einer Müllkippe Konkurrenz.“

Im Spät-Frühsommer 2020 wurde es Seiferth zu viel. Sie druckte A4-Flyer, auf denen dreimal groß stand: „Schluss mit Ballermann am Gleisdreieckpark!!!“ Wobei Ballermann es nicht richtig trifft. Wer an Ballermann denkt, dem fallen nicht Kot und Ratten auf Spielplätzen ein, oder Spritzen, die in Baumstämmen stecken, benutzte Tampons und Kondome in den Büschen. Plus der entsprechende Geruch. Diese Streifen-Flyer klebte sie an Türen im Kiez und forderte einen runden Tisch. Rund 40 bis 50 Menschen trafen sich zu einem ersten Treffen auf den Plastikstühlen im Café Eule, alle hatten eine Horrorgeschichte parat. Ein paar Wochen später gründete sich die Bürgerinitiative Gemeinsam fürs Grüne Gleisdreieck.

Zum Beispiel die Geschichte, die Beate K. Seiferth erlebt hat: „Da gehe ich den Weg durch den Westteil des Parks zwischen U1 und U2 vorbei, dort stehen mehrere Jugendliche, die ganz aufgeregt sind, weil einer von ihnen am Boden liegt. Sie bitten mich inständig, die Polizei zu rufen. Sie hätten kein Handy. Als doch eines aus der Tasche eines der Jungs herausschaut, werde ich misstrauisch. Offenbar wollten sie unsere Handys abziehen. Zum Glück war ich nicht allein, wir sind weiter, der Junge am Boden stand längst wieder auf, sie warteten auf das nächste Opfer.“

Aus dem ersten Anwohnertreffen hätte eine große Bürgerbewegung werden können, wären Demonstrationen, vielleicht ein gemeinsames Sit-in im Park gefolgt. Aber weil die Stadt, das Land und der Planet von einem Virus heimgesucht wurden, kann Beate K. Seiferth sich an fünf Zoom-Sitzungen erinnern. „Herausgekommen ist“, sagt sie, „dass es jetzt zwei große Mülleimer im Park gibt.“

Die von den Architekten für diesen Park designten Mülleimer haben nur kleine Löcher, da passen keine Pizzakartons hinein. Sonst änderte sich wenig. Und dann ging eben im Frühjahr 2021 die Sache mit den E-Scootern und den Feuerlöschern los. Wieder trafen sich die Bürger und beratschlagten. „Ich hätte nie gedacht“, sagt Beate Seiferth, „dass ich einmal mehr Polizeipräsenz möchte.“ Aber es gehe nicht anders.

Matthias Bauer weiß um diese Probleme und er moderiert Streitgespräche dazu in seinem Blog. Neulich wurde eine Mauer im Park aufgebaut. Die BVG hat unter dem Viadukt Absperrungen errichten lassen. „Der Bau steht unter Denkmalschutz“, sagt Bauer, „und ist über 100 Jahre alt.“ Er soll irgendwann erneuert werden, aber wahrscheinlich gehe es auch darum, sagt er, mit der Sanierung schon mal offiziell zu beginnen, bevor sie durch andere Neubauten kompliziert wird. Für Graffitikünstler ist das eine willkommene Aufforderung. „Aber es ist auch ein Freiraum weniger für das Auge“, sagt Bauer. „Andererseits weiß man im Park am Gleisdreieck immer, dass man in einer Großstadt ist.“

Im östlichen Teil des Parks, der im Herbst zehnjähriges Jubiläum feiert, sind die Probleme ähnlich. Gesäubert wird der Park so gut es geht von der Firma Grün Berlin, aber im Jahr 2020 erhöhten sich die Kosten für die Reinigung von rund 230.000 Euro um rund die Hälfte. Zu häufig war es zu mutwilliger Zerstörung gekommen. Auf Anfrage sagt eine Sprecherin von Grün Berlin: „Wir beseitigen die Müllberge täglich – jeden Morgen.“ An einigen Orten der Parkanlage wurden zusätzliche Abfallbehälter installiert. „Die werden bisher gut angenommen, jedoch auch für die Entsorgung von Haus- und Sperrmüll genutzt.“ Weitere Behälter sollen folgen.

Wer diesen Park im Juni 2021 besucht, der trifft ähnlich wie im Westteil viele Sportler, ein paar Hip-Hop-Tänzer, und hört den Satz: „Wo wollen wir es machen?“ Und die passende Antwort: „Warte, hier schauen zu viele zu.“ Dieser ungelenke Dialog zwischen Dealer und Käufer ist auch am Tag zu hören. Abends dann Jugendliche in Gruppen, die um eine kleine USB-Box sitzen. Einer macht ein Foto von seinen Schuhen im Gras. Dann zoomt er ganz nah ran: noch ein Foto. Dann gibt sein Nachbar ihm den Joint.

„Am Wochenende“, sagt Joye, 20, „sind es zehnmal so viele.“ Der gebürtige Berliner wohnt in Wedding, studiert Politik an der Freien Universität und „hängt hier oft ab“, wie er sagt. Er hat gerade Besuch aus Frankreich. „Wo sollen wir sonst hin?“ Die Clubs haben zwar gerade wieder aufgemacht, aber er sagt voraus, dass es noch eine Weile dauern wird – weil diese Art des Feierns auch günstiger sei. Bier oder Sekt vom Späti – und viele andere im gleichen Alter. „Da lohnt sich die Herfahrt.“

Das ist ein Satz, den man oft hört von jungen Erwachsenen, die außerhalb des Rings wohnen, in Pankow, in Friedenau, aber hier feiern oder Volleyball spielen. Sport & Spiel eben. Dann eine Zigarette rauchen und sie fallen lassen.

Grün Berlin hat im Ostteil des Parks einen riesigen Zigarettenstummel aufgestellt. Der soll die Parkbesucher daran erinnern, dass sie ihren Müll wieder mitnehmen. Funktioniert hat das bisher nicht. Sobald es dunkel wird, ist nicht mehr genau auszumachen, ob der Schatten, der sich gerade im Busch bewegt hat, ein Fuchs, ein Kaninchen oder eine Ratte ist. Nicht alle Scherben kann Grün Berlin von der Wiese aufsammeln. Auf die Frage, ob sie überfordert sind, antwortet die Sprecherin: „Wir erfüllen unsere Aufgaben in der Bewirtschaftung und Pflege der Anlagen vollumfänglich.“ Und selbst die kritischsten Anwohner sagen: Ab acht Uhr ist es meistens sauber.

Doch langsam bewegt sich auch einiges auf politischer Seite. Mehrere Anträge sind in die BVV eingegangen und werden wohl noch diesen Sommer umgesetzt: Die FDP will Parknutzer mit Flyern über ihre Pflichten informieren. Vier Toilettenanlagen sollen installiert werden. Die liberale Partei bringt auch eine Umzäunung ins Spiel. Nach 22 Uhr wäre dann Schluss im Park. Klaus Lederer (Linke) hatte dagegen verkünden lassen, dass er einen „Sommer der Ermöglichung“ möchte, in dem Menschen einander begegnen.

Und die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) sagt: „Ich wünsche mir für alle Grünorte, ob Parks oder Spielplätze, dass sie wieder Orte mit positiver Aufenthaltsqualität werden. Und ich wünsche mir, dass die Menschen endlich ihre Verantwortung für die Gemeinwesenflächen übernehmen und dieser unerträgliche Egoismus aufhört.“ Fernab solcher Worte möchte sie durchsetzen, dass tagsüber und abends Ordnungskräfte vor Ort sind. So sollen Situationen erst gar nicht entstehen, die eine polizeiliche Unterstützung nötig machen.

Kristiana Elig vom Café Eule würde sich zumindest über mehr Engagement von politischer Seite freuen. Sie hat am Montag dem Innensenator Andreas Geisel eine E-Mail geschrieben. Seitdem ist es spürbar ruhiger. „Bei mir ist sowieso Scooter-Verbot“, sagt sie, „das darf ich durchsetzen, ich hab das Hausrecht.“ Wie das Wochenende wird, wagt sie nicht vorauszusagen. Sie bleibt dabei: „Der Park ist übernutzt.“

Beate K. Seiferth wird sich weiter einsetzen für mehr Ruhe, weniger Vandalismus und Abfall im Park. „Es gibt manchmal total nette Momente im Park“, sagt sie. Tagsüber hat sie einen schönen Blick in die Baumkronen. „Schon ein großer Luxus.“ Neulich hat ihr einer der Partypeople, wie sie die Feiernden nennt, zugerufen: „Was ziehst du auch an einen Park. Dann zieh doch weg.“ Sie hat gesagt: „Ich war hier, als es den Park noch gar nicht gab.“

Migranten engagieren sich leider selten in Initiativen

Und Matthias Bauer hat ein neues Thema gefunden, um das er sich kümmert. Am Rande des Westparks, auf einem 500 Meter langen Grundstück,  planen Investoren sieben Hochhäuser, zwischen 60 und 90 Meter hoch. „Urbane Mitte“ heißt das. Aber Bauer hat gemerkt, dass sich sein Engagement gelohnt hat. Ohne Menschen wie ihn sähe es jetzt anders aus an diesem Park. Dann hätten die Stadtdesigner, die „Sport & Spiel“, „Strand & Sitztribüne“ sowie „Naturerfahrungsraum“ als ein ernsthaftes Freizeitangebot für Berliner Jugendliche verstehen, vielleicht gewonnen. „Denn das war doch das besondere hier, an diesem Park“, sagt Bauer, „dass die Natur sich den Platz zurückerobert hatte.“

Er findet das erhaltenswert, weil sich nur so Stadtgeschichte erklären lässt. Dieser Park, der bis zum Zweiten Weltkrieg nur ein Güterbahnhof war und in dem dann ein Fußballplatz nach Fifa-Regeln entstehen sollte. Bauer: „Wurde dann zum Glück nicht gebaut.“ Gegen die geplanten Hochhäuser am Gleisdreieck formierten sich inzwischen elf Initiativen. Bauer fiel dabei etwas auf: „Es waren kaum Migranten und kaum junge Menschen unter denen, die sich engagierten.“ Er hofft, das ändert sich. Denn das war ja mal seine Idee, der Park für alle.

Mitarbeit: Maxi Beigang

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 19.6.2021.