Wenn der SUV zur Waffe wird

Berlin – Das Hupen ist sehr laut. Daran erinnert sich David B. noch genau. Er läuft gerade mit seiner Freundin durch einen verkehrsberuhigten Bereich in Charlottenburg. Da ist eine Kirche und direkt daneben ist am Sonnabend immer ein Wochenmarkt, so auch an diesem Tag. B. ist mit seiner Freundin in Richtung Schlosspark unterwegs. Sie wollten nicht durch die Menschenmenge des Markts laufen. Es ist April 2021, die wenigsten Berliner sind zu diesem Zeitpunkt geimpft. Als es hinter ihm hupt, erschrickt er.

§ 16 Abs. 1 StVO: Schall- und Leuchtzeichen darf nur geben, wer außerhalb geschlossener Ortschaften überholt oder wer sich oder andere gefährdet sieht.

„Ich habe mich umgedreht, und da sitzt dieser Mann, Mitte 40, in einem silbernen SUV und schaut mich wütend an“, erzählt David B. der Berliner Zeitung am Wochenende. „Wir sind da völlig regelkonform gelaufen, es war wie gesagt verkehrsberuhigt, und außerdem war neben uns viel Platz, so dass er hätte ausweichen können, wenn er es eilig hat.“ Doch die Beifahrerin habe ihr Fenster geöffnet und laut gerufen: „Runter von der Straße, Spinner!“ Wieder das Hupen. Die Leute auf dem Markt drehen nach den Streitenden um. David B.: „Wir stehen, er steht.“ Dann fährt der SUV langsam auf den Mann und die Frau zu, berührt seinen Oberarm.

Der 37-jährige TU-Professor für Informatik hat diesen Vorfall selbst auf Twitter in dieser Woche bekannt gemacht, es ist eine jener Geschichten, die in Berlin auf einen großen Resonanzboden fallen: Fußgänger gegen Fahrräder gegen E-Scooter gegen Autos gegen Laster. Fast tausendmal wurden die elf Tweets, in denen er die Geschichte zusammenfasst, geteilt. Gelesen haben es noch viel mehr und in Blogs weitergetragen. Obwohl das Erlebnis fast ein Jahr zurückliegt, schreibt er jetzt darüber, weil B. den Fahrer angezeigt und das Gericht über den Fall vorläufig entschieden hat.

Es ist eine Geschichte darüber, was passieren kann in dieser Stadt, wenn ein Fahrer eines zweieinhalb Tonnen schweren Autos denkt, er habe Macht über einen Fußgänger, und Regeln ihm egal sind. Es ist auch eine Geschichte über eine bestimmte Stimmung in der Stadt, die viele Berliner derzeit erleben. Nur aus dieser Woche: die wütende Lichthupe eines Autos, weil die Grünphase verpasst wurde (Mittwoch, Torstraße). Ein Radfahrer, der einen anderen Radfahrer anbrüllt: „Dann überhol mich doch, du Vollidiot!“ (Mittwochmorgen vor dem Kanzleramt am Tiergarten). Ein Radfahrer, der einem Autofahrer im Vorbeifahren einen Mittelfinger zeigt, einfach so. (Dienstag, Eberswalder Straße). Jeder Berliner kann solche Geschichten derzeit erzählen.

David B. zog im Jahr 2014 von Karlsruhe nach Berlin. „Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mich hier eingelebt habe“, sagt der Informatik-Professor. Als Fahrradfahrer habe er immer wieder Dinge erlebt, die ihn schockieren und ärgern. Außerdem kennt er die Zahlen: 39 Fahrradfahrer und Fußgänger im Berliner Straßenverkehr gestorben. „Deswegen habe ich irgendwann die Straßenverkehrsordnung mehrfach komplett gelesen.“ Er wollte, dass er sich sicher sein kann, dass er die Regeln kennt, wenn er anderen Fehlverhalten vorwirft. Er betreut gleichzeitig ein Projekt, bei dem Fahrradfahrer in ganz Berlin gefährliche Gegenden in eine App eintragen können. B. möchte sein Verkehrsprojekt aber nicht mit diesem Erlebnis bewerben, das würde den falschen Eindruck erwecken.

§ 42 Abs. 4 StVO: In einem verkehrsberuhigten Bereich (darf) nur mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden. Jegliche Behinderung oder gar Gefährdung von Fußgängern (…) muss verhindert werden.

David B. weicht zurück, als die Kühlerhaube des SUV ihn berührt, das Auto rollt weiter und berührt ihn erneut. Fahrer, seine Beifahrerin und Fußgänger schreien einander an. B. zückt sein Mobiltelefon und beginnt, das Auto zu fotografieren: das Nummernschild, die Beifahrerin, den Fahrer, die ganze Szene. Dann ruft er dem Fahrer zu: „Ich rufe jetzt die Polizei!“ Plötzlich setzt der Fahrer zurück und rast an ihm vorbei in Richtung Hauptstraße.

Die Polizei kommt kurz darauf und nimmt die Anzeige auf, spricht mit Zeugen, die allerdings laut David B. erst später dazugekommen sind. Er glaubt zu dem Zeitpunkt, dass für den Fahrer zumindest ein Bußgeld fällig wird. Weil niemand zu Schaden gekommen sei, trifft „Fahrerflucht“ nicht zu, sagen ihm die Beamten, aber sie werden den Fahrer des SUVs kontaktieren und sich anschließend bei ihm melden. Zumindest Nötigung im Straßenverkehr könnte eine Begründung für die Strafe sein.

Der Begriff der „Nötigung“ kommt nicht in der StVO vor, aber im Strafgesetzbuch. Niemand soll lauf Paragraf 240 durch Gewalt zu einer Handlung gedrängt werden. Im Internet sind Beispiele für diesen Umstand angegeben, auch in den Kommentaren zu B.s Tweets sind derartige Geschichten erzählt: Wie Autofahrer Fahrradfahrer anfahren, weil sie nicht vorbeikommen, wie sie Fahrradfahrer zur Seite drängen bis zum Umfallen. In den Kommentaren wird auch deutlich, wie verhasst SUV-Fahrer in Berlin sind.

Erst im Februar dieses Jahres war ein SUV-Fahrer zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil er an der Invalidenstraße vier Menschen getötet hatte. Er hatte die Kontrolle über sein Auto verloren, weil er einen epileptischen Anfall erlitten hatte. Diese schweren, großen „Sport Utility Vehicles“ sind eine Mischung aus Limousine und Geländewagen, über zwei Millionen sind in Deutschland zugelassen. Der Vierradantrieb ist für den Betrieb in der Stadt im Grunde unwichtig, aber viele – meist ältere – Fahrer schätzen an diesem Auto, dass sie einsteigen können, ohne sich nach unten beugen zu müssen.

Nach ein paar Schriftwechseln zu diesem Vorfall kommt im Januar dieses Jahres ein Brief bei David B. an. Darin steht nur ein Satz: Gemäß Paragraph 153 Abs. 2 StPO wird das Verfahren gegen den Fahrer des SUVs eingestellt. B. schlägt in der Strafprozessordnung nach und erfährt dort, dass dieser Paragraf greift, wenn geringe Schuld oder kein öffentliches Interesse vorliege. Er ärgert sich: „Das bedeutet für den Fahrer, dass nichts passiert sei und er weiter so handeln kann, wie er es getan hat.“

Mona Lorenz von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat sich auf Anfrage noch einmal sämtliche Akten zu dem Fall zukommen lassen. Sie sagt, dass kein Schaden entstanden sei, dass der Tatverdächtige nicht vorbestraft sei und spricht außerdem von einem „tatprovozierendem Verhalten des Geschädigten“, das „nicht ausgeschlossen werden könne“. Am Ende ihres Berichts zum Fall noch ein interessantes Detail: Die Amtsanwaltschaft hat zugestimmt, dass das Verfahren eingestellt wird, unter der Bedingung, dass der Beklagte die Kosten seines Anwalts selbst trägt.

David B. will trotzdem eine Beschwerde einreichen. Er wundert sich, dass die beiden Insassen des Autos offenbar leugnen, ihn mit dem Auto berührt zu haben – und damit durchkommen. „Warum wurden wir nie mit den Aussagen konfrontiert?“ Seine Freundin hätte schließlich den gesamten Vorfall ebenfalls bezeugen können. Die anderen Zeugen waren 20 bis 30 Meter weiter weg. Am Ende sagt B. einen versöhnlichen Satz: „Ich weiß, dass nur ein Bruchteil der SUV-Fahrer sich so verhält, aber sie müssen sich bewusst sein, dass sie mit einer Waffe agieren.“

§ 1 Abs. 1 StVO: Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.

Die Endgegnerin

Berlin – Es ist vor dem EM-Achtelfinale, Deutschland ist noch nicht rausgeflogen, als der Verteidiger in Richtung Richterpult fragt: „Pfeifen Sie ab oder darf ich noch eine Frage stellen?“ Er darf und so geht es noch einmal an diesem heißen Sommertag um Anrufe und Chat-Nachrichten zwischen Bandenchef Arafat Abou-Chaker und Anna-Maria Ferchichi. Der Anwalt ihres Mannes Bushido gibt ihr deutlich zu verstehen, dass sie gar nichts sagen müsse. Aber sie beschwichtigt: „Nein, ich kann etwas dazu sagen, kein Problem!“ Dann legt sie los: dass Arafat nicht „100 Prozent Schuld“ an ihrer Trennung habe („eher 80 Prozent“), dass ihr Mann in jener Zeit eben ein „Riesenarschloch“ gewesen sei und Arafat ein „totaler Kontrollfreak“ – und am Ende der Aussage kommt noch dieser Satz, etwas überraschend: „Mein Mann und ich hatten auch Sex, wenn wir uns gestritten haben.“

Das hatte gar niemand so genau wissen wollen, und an dieser Stelle pfeift der Vorsitzende Richter Martin Mrosk dann doch ab. Ein weiterer Tag in diesem seltsamen, wunderbaren und irgendwie historischen Prozess über das Ende einer Freundschaft, die vielleicht nie eine war. Seit zehn Monaten versucht die Berliner Justiz, Licht in eine Halbwelt aus Musik, Drogen, Macht und sehr viel Geld zu bringen. Rapper Bushido hat diese Welt nicht nur in seinen Liedern immer wieder besungen, sondern bis zu einem gewissen Grad gelebt. Immer dabei: sein Kumpel und Freund Arafat Abou-Chaker. 13 Jahre lang war er der Mann hinter Bushido, begleitete ihn auf Tour, bestimmte, wer zu ihm durfte und wer nicht. „Ari“, wie Bushido ihn damals nannte, beanspruchte dafür einen großen Anteil der Einnahmen für sich. Fast zehn Millionen Euro soll er über die Jahre von Bushido bekommen haben.

Als Anis „Bushido“ Ferchichi im Januar 2018 dieses Verhältnis beenden will, kommt es zu dem, was schließlich die Grundlage für diesen Prozess ist: Arafat und seine drei Brüder Nasser, Yasser und Rommel sollen den Sänger beleidigt, bedroht, bedrängt und geschlagen haben. Arafat gehört zur kriminellen Großfamilie der Abou-Chakers. Er habe um sein Leben und das seiner Familie gefürchtet und tue das bis heute, sagte er. Der Prozess gegen die vier Brüder findet unter Polizeischutz statt, jene Maßnahme, unter der auch sein Familienleben stattfindet seit der Trennung von Abou-Chaker. Arafat und seine Brüder verweigern ihre Aussage bisher. Bushido ist Nebenkläger in dem Fall und hat an 25 Prozesstagen gesprochen, geplant waren acht. Seit zwei Wochen spricht jetzt seine Frau, und wird das nach der nun folgenden Sommerpause weiter tun – wenn ihr Körper es erlaubt. Sie ist im fünften Monat schwanger, mit Drillingen.

Hatte der Prozess zuletzt an Fahrt verloren, entblättert sich im Laufe der vergangenen zwei Wochen im Saal 500 des Landgerichts Moabit an der Turmstraße einmal mehr ein Sittengemälde, ein dichter Einblick in diese toxische Dreiecksbeziehung zwischen Anis, Arafat und Anna-Maria. Das vierte Wort mit A, das unbedingt dazu gehört, ist „Angst“. Doch diese Frau geht in Begleitung des vermummten Polizeischutzes durch die Gänge des Hauses, ihre Turnschuhe sind schneeweiß, die Jeans eng, sie stellt ihre Wasserflasche auf den Tisch, nimmt ihren Mund-Nasen-Schutz ab und beantwortet selbstsicher jede Frage des Vorsitzenden Richters, der Staatsanwältin und die der Anwälte der Abou-Chakers. Außerdem kämpft sie an der Seite ihres Mannes auch außerhalb des Gerichtssaals. Denn im Jahr 2021 gibt es Videos auf Portalen wie Twitch und gibt es Chat-Nachrichten, die zehn Jahre später noch einmal ganz neu verhandelt werden.

Wie Anna-Maria Ferchichi Bushidos Leben betreten hat, ist in der Klatschpresse gut dokumentiert. Es ist die Nacht zum 2. Februar 2011, sie ist seit drei Monaten von Nationalspieler Mesut Özil getrennt, für den sie zum Islam übergetreten war. Ihr muslimischer Name lautet „Melek“, Engel. Sie wollte „keine Spielerfrau“ sein, sagte sie damals. Bei einer Promi-Nacht in Köln wird sie dabei beobachtet, wie sie kurz vor 3 Uhr morgens mit Bushido in dessen Hotel geht. Am nächsten Morgen stolpert sie auf die Straße, trägt noch das T-Shirt, das ihr der Rapper geliehen hat. Kurz darauf wird er sie anrufen und er wird „so niedlich klingen“, dass sie ihn wiedersehen will. Das sagt sie gegenüber RTL vor ein paar Tagen bei einer Homestory. Bei der Bambi-Verleihung 2011 bekommt Bushido den Integrations-Bambi, Anna-Maria steht mit ihm auf dem roten Teppich, ein halbes Jahr später ist sie schwanger. Hochzeit im Mai 2012.

Um diese Hochzeit geht es auch vor Gericht. „Arafat wollte uns verbieten, Alkohol an unsere Gäste auszuschenken“, sagt Anna-Maria Ferchichi. „Ich war ja damals auch schwanger, aber ich wollte meinen Gästen das Trinken nicht verbieten.“ Arafat habe schon damals begonnen, immer religiöser zu leben. Aber dass er ihr in die Planung der Hochzeit hineinreden wollte, empfand sie als übergriffig. „Mein Mann ist eigentlich sehr dominant“, sagt sie, „aber gegenüber Arafat war er sehr devot.“ Als sie Bushido sagte, dass sie Arafats Verhalten respektlos empfinde, war seine Antwort: „Mach keinen Stress.“ Auf die Frage, ob es Alkohol gab, sagt sie knapp, mit ein bisschen Triumph in der Stimme: „Es gab Alkohol.“ Auch in den Jahren danach habe Arafat immer wieder versucht ihr Leben zu kontrollieren. Wenn sie sich wehrte, nannte er sie „Hurentochter“ oder „Hure“. Anna-Maria: „Es war so lächerlich.“

Schon an solchen Bemerkungen in Richtung des Angeklagten Arafat wird klar, was Ferchichis Rolle ist. Sie fordert das von Arafat ein, was Arafat von Bushido einfordert, und Bushido von der ganzen Welt: Respekt. Je mehr die Ehefrau mitbekommt von der illegalen Welt, von der Gangsterrap nun einmal handelt, umso mehr musste Bushido beide Welten voreinander schützen. Er selbst kannte die Grundregel: „Keine Polizei.“ Probleme regeln wir unter uns. Seine Frau aber sieht bis heute nicht ein, warum es im Leben ihres Mannes anders zu zugehen sollte, als – zum Beispiel in der Welt ihrer Schwester Sarah Connor.

„Meine Schwester ist ja berühmt“, sagt Ferchichi, „und ich habe da gesehen, wie das Musikbusiness funktioniert.“ Niemals habe sie gehört, dass ein Manager 50 Prozent von den Einnahmen eines Künstlers bekam. Arafat ruft feixend in den Saal: „Ich schon.“ Vor Gericht wird diskutiert, ob er überhaupt diese Management-Funktion in Bushidos Leben ausgefüllt habe. „Immer musste mein Mann antanzen, wenn Arafat ihn irgendwelchen Freunden vorführen wollte.“ Dabei sei es egal gewesen, ob eines der Kinder eine Schulaufführung hatte, mit Lungenentzündung im Krankenhaus lag oder Bushido selbst Geburtstag hatte. „Wie ein Maskottchen“ habe Abou-Chaker ihren Mann behandelt. „Er hat alles bestimmt in unserem Leben.“ Wenn sie ein Handy zur Reparatur geben wollte, fragte sie Arafat. „Ich durfte noch nicht mal den Reifen meines Autos wechseln lassen, ohne mit Arafat vorher Kontakt zu haben.“

Der Richter Mrosk baut bei ihren Auftritten ein paar mehr Pausen ein als bei ihrem Mann. Das fällt auf. „Das wird Ihnen ihr Mann erzählt haben“, sagt er, „dass so ein Prozess auch oft aus Warten besteht.“ Er unterbricht auch dann, wenn Anna-Maria sagt: „Ich brauche keine Pause.“ Er sorgt für eine lockere, menschliche Atmosphäre bei Gericht, auch wenn bei anderen die Nerven längst blank liegen. Als der Chatverlauf zwischen Abou-Chaker und Anna-Maria Ferchichi verlesen werden soll, spricht er die Rolle des Bandenchefs. Das sorgt für Erheiterung im Saal. Und als am Mittwoch einer der Verteidiger sagt, dass es nach Marihuana rieche im Saal, da bestätigt er „mit der langjährigen Erfahrung aus dem Drogendezernat“ den Geruch als: „eindeutig Kiff“. Es ist einer dieser Momente, in denen der Richter den Saal räumen lässt, auch: aus Respekt.

Nach über 40 Verhandlungstagen ist jedoch noch immer nicht klar, wie dieser Prozess enden wird. Zwischen Freispruch und Haftstrafe ist alles möglich. Draußen an der Tür hängt die Liste der geplanten Prozesstage, sie reicht bis Ende des Jahres. Es sollen noch mehrere Zeugen vernommen werden. Doch einer der Zeugen aus dem Umfeld der Abou-Chakers wurde inzwischen abgeschoben. Ob er aus Istanbul für den Prozess nach Berlin kommt, ist offen.

Umso interessanter ist deshalb jeder Tag, an dem diese Welten aufeinanderprallen, deren einzige Gemeinsamkeit ist, dass alle im Saal während der Corona-Monate an Gewicht zugelegt haben. Auffällig auch, dass sich Arafat so lange geweigert hat, eine Maske zu tragen, doch jetzt, wo es diese in Schwarz gibt, trägt er sie, wenn auch oft unterhalb der Nase. Obwohl die Folgen der Pandemie auch hier im Saal spürbar waren: Arafats Mutter starb an Corona, Bushido selbst hatte Covid-19. Die Zuschauerzahl und die Sitze der Presse sind stark begrenzt. Und so entwickelt sich an guten Tagen trotz der finsteren Blicke der Polizisten eine Stimmung wie auf Klassenfahrt.

Erst in dieser Woche wieder steht Arafat direkt neben den Journalisten, spricht mit der Kollegin der BILD über seine Schuhe, Marke Gucci, er sagt „Gucki“. Niemand lacht. Mit dem Richter kumpelt er am Eingang zum Saal über die Niederlage der Nationalelf im Achtelfinale. „Sind wir jetzt alle für die Schweiz?“ Und Bushidos Anwalt fragt er, ob er mal „gepumpt“ habe, also Gewichte gestemmt. „Nee, echt jetzt, sieht so aus.“

Hatte man in den ersten Gerichtstagen manchmal das Gefühl, Arafats Augen sind ein bisschen zu glasig für die Tageszeit, wirkt er im Laufe der Monate immer beherrschter. Seine Demonstration von Macht findet außerhalb des Gerichtsgebäudes statt. Genauer: Schon am Treppenabsatz. Wenn Arafat den wuchtigen Bau verlässt, wird er manchmal von TV-Journalisten empfangen, die ihm zur Begrüßung den Arm um die Schultern legen. Es heißt, genau wie die Ferchichis bereitet auch er eine Dokumentation vor, die sicherlich pünktlich nach Prozess-Ende erscheinen wird.

Anna-Maria Ferchichi macht deutlich, dass sie nie von Arafat oder von dessen Entourage beeindruckt war. „Wenn du für diese Männer ins Gefängnis gehst, werde ich dich verlassen“, habe sie damals zu Bushido gesagt. Parallel habe sie sich mit den Frauen der Abou-Chaker-Brüder, inzwischen Ex-Frauen, angefreundet. Die Kinder tauschten Kuscheltiere. Man fuhr gemeinsam in Urlaube, ihr Mann wollte da schon lieber zuhause bleiben. Dabei bereitete man damals im Jahr 2017 den Einzug auf ein gemeinsames Grundstück in Kleinmachnow vor. „Wäre das nicht passiert, säße ich nicht hier.“ Alles wollte wieder Arafat bestimmen. „Es gab noch nicht einmal Platz für meine drei Autos“, sagt sie vor Gericht. Sie wollte einen Zaun anders ziehen als Arafat, wieder gibt es Geschrei mit sehr expliziten Kraftausdrücken. Arafat habe behauptet, ihr seien „Eier gewachsen“.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass es auch außerhalb des Gerichtssaals vor der Sommerpause hoch her ging. Während sich Arafat vor Gericht weiterhin weigert auszusagen, sich aber indirekt doch immer wieder äußert, war es in der vergangenen Woche das Medium Twitch, das die Aufmerksamkeit der Prozessbeteiligten band. Auf diesem unter Jugendlichen beliebten Portal veröffentlichte jemand anonym ein Video, das Bushido im Jahr 2005 zeigt, eng umschlungen mit einem Mädchen. Bushido in Boxershorts.

In dem aufgezeichneten Gespräch im Video wird deutlich, dass Bushido nicht weiß, wie alt das Mädchen ist. Das 16 Jahre alte Video soll den Rapper beschädigen. Bushido selbst antwortet mit einem 90-minütigem Twitch-Video und geht das Video in voller Länge fast sekundengenau durch. Man merkt ihm an, dass er Erfahrungen als Zeuge gesammelt hat. Souverän versucht er, den Vorwurf der Verführung Minderjähriger auszuräumen. Niemals seien Minderjährige in den Backstage-Bereich gelassen worden. Es gab da vom Veranstalter ganz klare Regel. Jetzt – als Familienvater – sei er trotzdem nicht stolz auf diese Szenen. Gleichzeitig empfängt seine Frau den Sender RTL für eine Homestory und hier ist es passend, dass sie erzählt, wie oft sie Sex hat mit ihrem Mann („fast täglich“). Sie zeigt auch stolz ihr Ehebett.

All diese Nebenschauplätze haben offenbar die Nerven der Anwälte beider Seiten aufgerieben. Als deutlich wird, das Anna-Maria Ferchichi von den Chat-Verläufen, die von der Verteidigung eingebracht werden, erfahren hat, vermutet Arafats Verteidiger, Bushidos Anwalt habe sie informiert, obwohl er nicht ihr Anwalt ist. Der verneint, und als der Verteidiger mit schneidender Stimme dabei bleibt, reagiert er wütend: „Sie müssen mir nicht vorschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe!“ Der Verteidiger: „Muss ich nicht, aber ich tue es.“ Kurz darauf beginnen beide zu schreien. Fast wirkt es so, als identifizieren sich beide Anwälte zu sehr mit ihren Mandanten. Anna-Maria Ferchichi bleibt jedoch bis auf wenige Tränenausbrüche beherrscht. Bushido hatte einmal über sie gesagt: „Sie ist der Grund, warum ich irgendwann meinen Scheiß-Mut zusammengenommen habe.“

Von diesem Moment erzählt sie zuletzt, kurz vor der „Sommerpause“ für diese Show im Saal 500. Im Januar 2018 ist es soweit, Bushido habe versucht, sich endgültig von Arafat loszusagen, liege anschließend geprügelt in den Armen seiner Frau, erzähle, dass Arafat ihm gedroht habe, seine ganze Familie zu „ficken“. Diese Drohung kann in der Welt des Gangsterrap vieles bedeuten: von Gewalt über Mord bis hin zur Vergewaltigung. „Das war keine Freundschaft“, sagt Anna-Maria Ferchichi, „das war völlige Überwachung und Kontrolle.“ Die Wut über diesen Tag hat sich bis heute bei ihr gehalten. „Ich sage Ihnen, es war gut, dass mein Mann mir damals nicht alles erzählt hat“, sagt sie. „Ich wäre Amok gelaufen.“

In den Wochen nach diesem Tag aber habe sie in manchen Momenten eine gewisse Freiheit verspürt. „Hey, schon eine Woche“, habe Bushido gesagt, „und noch nichts von Arafat gehört!“ Kurz darauf: „Schon zehn Tage“. Sie zeigt auf die Sicherheitsbeamten und sagt, niemand solle sich eine Illusion machen, dass ihr Leben angenehm sei unter Polizeischutz. Das sei es nicht. Ihr sei das bewusst gewesen, sagt sie, als sie das LKA anrief. Sie weiß noch genau, wie sie in das Nebenzimmer ging und diese Entscheidung fällte. Für ihren Mann, für ihre Kinder. Aus Respekt vor sich selbst. Am Mittwoch kam sie nicht ins Gericht, wegen Komplikationen in der Schwangerschaft. Der Verteidiger verlangte sofort mit Nachdruck ein Attest. Die Kinder in ihrem Bauch, es werden drei Mädchen.

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 3.7.2021.

Bushido vs. Arafat: Wie sie in Kontakt kamen

Berlin. Als Bushido an einen Seiteneingang vom Club Matrix in Friedrichshain kommt, steht da auf einmal Arafat A.-Ch. „Ich war vorher noch nie in dem Club“, sagt Bushido. „Und Arafat hatte ich bis dahin auch nie getroffen.“ Er hatte vom Clan der A.-Ch. gehört, aber gesehen hatte er bis dato keinen. Es war dieser Abend im Juni 2004, als Arafat und Bushido zum ersten Mal Hände schüttelten. Auch das beschreibt Bushido vor Gericht im Detail. Und dann kam das: „Er nahm mein Kinn zwischen seine Finger und drehte meinen Kopf zur Seite.“ Er habe sich das Tattoo genau ansehen wollen.

Es wirkt, als habe ein Käufer seine Ware begutachtet. So beschreibt es zumindest Bushido im Sitzungssaal 500 des Landgerichts Berlin. Der Rap-Sänger weiß genau, wie er berichten muss, so dass es wirkt, als wohne man der Nacherzählung eines Kinofilms bei. Er habe seine Finanzen nicht gut im Blick gehabt, sagt er zum Beispiel an einer Stelle in seinem Bericht. Er habe ein „Knax-Konto“ bei der Sparkasse. Dabei wird im Laufe des Nachmittags in diesem Hochsicherheitssaal deutlich werden, was durch diese Begegnung der beiden Männer in Gang gesetzt wurde und wie es schließlich dazu kam, dass sie sich erst lange als beste Freunde bezeichneten und einander jetzt als Nebenkläger und Angeklagter gegenübersitzen.

Die Anklage gegen den 41-jährigen Clanchef Arafat A.-Ch. lautet unter anderem auf schwere räuberische Erpressung, Freiheitsberaubung und gefährliche Körperverletzung. Auf diese Art habe er im Jahr 2017 Bushido, ebenfalls 41 Jahre alt, dazu zwingen wollen, die geschäftlichen Beziehungen nicht aufzulösen. Arafat habe von Bushido unberechtigt eine Millionen-Zahlung sowie die Beteiligung an dessen Musikgeschäften für 15 Jahre gefordert. Der Rapper sei bedroht, eingesperrt und verletzt worden und tritt deshalb auch als Nebenkläger auf. Die Brüder Yasser, Rommel und Nasser im Alter von 39, 42 und 49 Jahren sind als Gehilfen oder Mittäter angeklagt.

Das Gericht nimmt die Gefährdung des Lebens des Rappers offenbar sehr ernst, immerhin wird er von mehreren Sicherheitsbeamten mit Sturmmasken bewacht. Er selbst tritt locker in Sporthose, Sneakers und T-Shirt auf – und hat in den vergangenen Verhandlungstagen offenbar hinzugelernt. Deutlich spricht er ins Mikrofon und baut immer wieder Pointen ein, die das Publikum – auch dort sitzen Clanmitglieder in der letzten Reihe – mitnehmen auf die Reise in die Zeit des Beginns dieser Freundschaft.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 1. 9. 2020.

 

Bushido: “Ich will kein Gangster sein”

Berlin. Nachbarschaftsstreit vor dem Landgericht Moabit: Am Mittwoch lernten die Zuhörer, dass die Freundschaft zwischen Bushido und Abou-Chaker wegen eines Zauns endete, der zwischen ihren Häusern in Kleinmachnow gebaut werden sollte. Im Sommer 2017 habe Bushido mit seiner Frau das Grundstück abtrennen wollen, Abou-Chaker war dagegen. Es ging um eine geplante Grillstelle, den Hund, der frei herumlaufen sollte, und Sichtschutz, weil seine Frau im Bikini am Pool sitzen wollte. Daran entzündete sich ein lauter Streit, bei dem Bushido zu seiner Frau hielt. Als der Clanchef zu Bushido sagte, er habe sich verändert, entgegnete Bushido: „Wann hast du mich eigentlich das letzte Mal angerufen, nur um zu wissen, wie es mir so geht?“

Seite Mitte August wird bereits im Landgericht Moabit darüber verhandelt, welche Beziehung Clanchef Arafat Abou-Chaker mit dem bekannten Rapper über 14 Jahre lang verband. Waren sie Freunde, Geschäftspartner oder war es eine „Zwangsehe“, wie es Bushido darstellt? Als Bushido diese Beziehung, die ihn seiner Aussage nach bis zu neun Millionen Euro gekostet habe, auflösen wollte, kam es laut der Anklage zu versuchter schwerer räuberischer Erpressung, zu Freiheitsberaubung, Nötigung, Beleidigung – und auch zu Fällen von Untreue. Mitangeklagt sind Arafats Brüder Yasser, Rommel und Nasser Abou-Chaker.

Der Prozess wurde in den vergangenen Wochen mehrfach unterbrochen, unter anderem weil die Mutter der Brüder an Covid-19 erkrankte und starb – und vor zwei Wochen wurde Bushido, Nebenkläger im Verfahren, selbst positiv auf Corona getestet. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht“, sagt Richter Martin Mrosk nun, und Bushido entgegnet knapp: „Das glaube ich nicht.“ Er sei symptomfrei und fühle sich auch wieder fit. Im Gerichtssaal, der zu Beginn des Prozesses noch voll war und vor dessen Eingang damals Fans morgens um 6 Uhr anstanden, ist es am Mittwoch halbleer.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 12. 11. 2020