Rattenplage in Kreuzberg

Seyhan F. ist eigentlich Tierliebhaberin, das ist wichtig, weil das bei ihr für alle Tiere gilt. Sie hat ein Vogelhaus auf einer Stelze stehen, ein weiteres hängt an der Wand, gleich neben einem Insektenhotel.

Im ersten Hof nistet manchmal ein Kauz, sagt sie, das kann man hören. Im Garten hat sie schon Habichte, Waschbären und Erdhummeln gesehen und sich immer gefreut über so viel Stadtnatur. Und als die Nachbarin einmal von Mäusen in der Wohnung berichtete, da war es Seyhan, die ihr anbot, die Tiere mit einer Lebendfalle zu fangen und sie ins Grüne zu tragen.

„Ich hab sie in Brandenburg freigelassen“, sagt sie. Auch gegen Tauben hat Seyhan F. nichts. Sie kann im Garten genau die Stelle im Baum zeigen, wo sich gerade eine Ringeltaube eingenistet hat. „So ungeschickt, das Tier, sie stolpert regelmäßig auf dem Weg zum Nest.“ Gerade als sie vom Vogel spricht, kommt er angeflogen und klettert ohne zu stolpern in sein Nest. Aber Ratten? „Ratten in dieser Menge ekeln mich dann doch, wenn ich nur eine bei uns in der Wohnung gesehen hätte, wären wir ausgezogen.“

Die Kreuzbergerin wohnt seit fast vier Jahren im Bergmannkiez, die Wohnung hat zwei Etagen, oben das Schlafzimmer, unten das Wohnzimmer mit Esstisch und dem Zugang zum Garten. Der ist groß, es gibt Blumen und Beete, eine Sitzecke. Sie pflanzt gerade zwei Sorten Klee und Gras an, damit sich der Boden erholen kann. „Gründünger“ heißt das bei Gärtnern.

Doch das Erlebnis mit dem Rattenturm im Mai des vergangenen Jahres hat das Verhältnis zu dieser Wohnung und vor allem zum Garten nachhaltig verändert. Die Ratten im Garten wurden zu einer Herausforderung, die ihren Mann und sie den ganzen Sommer über beschäftigte. Bis heute prägt sie diese Erfahrung. Das einzig Positive: Sie hat dadurch Kontakt zur neuen Nachbarin bekommen, die sich als ein Hollywoodstar entpuppte.

Das Rattenthema begann auf der Hochzeitsreise. Seyhan F. und ihr Mann hatten mitten in der Corona-Krise im sehr kleinen Kreis geheiratet. Im Mai vor einem Jahr flogen sie dann nach Finnland und bekamen dort ein Video geschickt. Im Hinterhof, ein oder zwei Häuser weiter, wurde eine sehr alte Mauer abgerissen. Ihre neuen Nachbarn hatten das gefilmt. Wenn man ganz genau hinschaut, bewegt sich auf dem Video in dem Schutthaufen etwas. Oder ist das nur der Staub?

Das Paar kam zurück und setzte sich im Juni 2021 abends wieder öfter auf den Hof. „Immer wieder raschelte es abends“, sagt sie. „Als dann auch lautes Quieken dazu kam, wurde es mir doch unheimlich.“ Sie seien dann lieber in die Wohnung gegangen. Am nächsten Tag erzählte eine Nachbarin, die immer ihren Biomüll auf das Fensterbrett stellte, dass der umgeworfen war. „Sie hatte einen Schatten gesehen, aber trotzdem das Fenster offen gelassen.“ Katze, Waschbär, Marder. Alles schon im Hof gesehen.

Dann kam der Abend, an dem Seyhan F. vom lauten Rascheln im Hof aus ihrem Schlaf aufschreckte, in den Garten blickte und den Weg nicht mehr sah: Alles war schwarz vor Ratten. Sie fragte bei den Nachbarn nach, die ihr das Video geschickt hatten. Sie stellten sich vor, sagten, dass sie selten in der Wohnung seien. Sie drehten gerade in Potsdam-Babelsberg einen Kinofilm. Aber ja, das mit den Ratten hätten sie auch mitbekommen. Aber sie hätten einen Hund, und der halte die Ratten weitgehend fern. Was Seyhan F. in dem Augenblick dachte: Er hält sie fern, und dadurch kommen alle zu uns.

Es ist generell so, dass Ratten in der Öffentlichkeit sofort gemeldet werden sollten. Niemand weiß genau, wie viele von den Nagetieren in Berlin leben. Zwischen zwei und zehn Millionen, sagen Schätzungen. Die Tiere sind aber so scheu, dass man sie selten sieht. Wenn doch, dann sind es offenbar zu viele. So wie am Oranienplatz bei den Mülltonnen, in der Gegend zwischen Jannowitzbrücke und Ostbahnhof oder im Waldeckpark. Die Ufer von Spree und Landwehrkanal schaffen mit vielen Grünflächen ideale Voraussetzungen für Rattenbefall. Manche Spielplätze in Berlin können wochenlang nicht betreten werden, weil Giftköder ausgelegt wurden.

Seyhan F. aber wollte genau das nicht: die Giftkeule. Zusammen mit den berühmten Nachbarn überlegte sie, wie man dem Problem ohne Gift bekommen könne. Der Hund der Hollywood-Stars sollte ja nicht aus Versehen mitvergiftet werden. Doch nach dem Besuch des Kammerjägers war klar: Etwas anderes wird nicht funktionieren. Die Hausverwaltung hatte ihn geschickt, sein Urteil war eindeutig. Es seien bereits so viele Höhlen gegraben, man könne dem Problem nur mit Gift Herr werden.

Denn die Zeit laufe ihnen davon: Ratten können pro Jahr zwischen vier und sieben Mal Nachwuchs gebären. Pro Wurf können acht oder neun neue Ratten hinzukommen. Manche Tiere bekommen auch 22 Babys auf einmal. Nach drei Monaten sind die Nachkommen geschlechtsreif. Sie sind Allesfresser, zu ihren Speisen gehören auch Seife und Kerzenwachs. Sie übertragen rund 70 Krankheiten und über den Rattenfloh die Pest.

Seyhan F. kennt diese Geschichten, sie hat sich belesen im vergangenen Sommer. Sie weiß auch, dass die Ratten, die im Brandenburger Umland bei ihren Eltern leben, eine Art Wanderratte sind. „Ich war einmal dort, aber die sind bei weitem nicht so groß“, sagt sie, „außerdem sind sie nicht so sehr eine Plage, weil sie mehr Platz haben.“

Die Berliner Wanderratte muss sich oft in einem sehr ungesunden Umfeld behaupten, in der Kanalisation zum Beispiel, während die Wanderratten zum großen Teil in ihrem natürlichen Habitat in Wäldern leben. „Wir haben uns dann doch für das Gift entschieden.“ Sie wollten den Garten zurück, wieder Vögel füttern.

Sie weiß noch, dass sie den ganzen Sommer über den Garten nicht benutzt haben. Der Kammerjäger kam an einem Tag Ende August. Er schüttete das Gift in die Löcher in den Büschen und in die verschiedenen Ecken des Gartens. Er brachte auch überall die roten Schilder („Achtung, Rattengift!“) an, im Vorderhaus, im Hausflur. Spätestens jetzt wussten alle im Haus, was los war. Der Hollywood-Star war etwas ungehalten, das zeigten die SMS, weil er Angst um den Hund hatte. Aber er war überstimmt.

Das Ende der Ratten, für Seyhan F. war es kein schöner Tag, eher ein traumatischer. „Ich war im Wohnzimmer und hörte plötzlich lautes Fiepen.“ Sie sah Dutzende Ratten im Hof, wie am ersten Tag, aber irgendwas stimmte nicht. „Sie wirkten wie im Todeskampf.“ Sie hatte gedacht, Ratten verenden einfach, mit diesem Drama hatte sie nicht gerechnet. Und auch nicht mit diesem Gefühl: Mitleid.

Sie werde in diesem Sommer noch ein paar Mal daran denken, sagt sie. Und obwohl es schon ein paar warme Tage gab, war sie bisher noch nicht einmal im Garten, um sich zu erholen. „Wir müssen ihn uns neu erobern.“

Besuch bei zwei Ostermärschen in Berlin

Heiko Gaekel will, dass das Sterben aufhört, er will für den Frieden demonstrieren, aber gerade weiß er nicht, ob er hier am Oranienplatz richtig ist. „Das ist doch verrückt“, sagt er, „Tausende Tote, ein zerstörtes Land, niemand kann das wollen.“ Der 65-Jährige ist deshalb zum Oranienplatz gekommen, weil hier eine Friedensdemonstration angekündigt war, der traditionelle Ostermarsch der Friedensbewegung. „Aber ich bin gerade angesprochen worden, ob ich denke, ich sei hier richtig.“ Der Grund: Gaekel trägt eine Gelbe Jacke über einem blauen Hoodie. Und auf seinem Schild steht: „Frieden für Ukraine – Putin go home“.

Im besten Sinne vielfältig sind die Meinungen auf dem Platz. Geladen hatte zum Ostermarsch die Friedenskoordination, ein Zusammenschluss aus „friedenspolitisch Interessierten“. Laut Polizeisprecher waren es zu Beginn rund 400 Menschen, die sich trafen und anschließend zu einem Zug durch den Bezirk verabredet hatten. Später sollen nach Polizeiangaben bis 1200 Menschen bei dem Marsch dabei gewesen sein. Sie halten Schilder in die Luft, auf denen steht:„Desertiert alle!“, „Keine Waffen für Ukraine!“, „Klimaschutz statt Rüstung!“, „Hände weg von Russland!“, „Für ein vereintes Eurasien!“.
Als kurz nach 12 Uhr die Reden auf dem Podium beginnen, wird noch einmal deutlich, wie unterschiedlich das Publikum ist, dass hier zusammengekommen ist.

Almut W. gehört wohl zum Kernpublikum. Die 65-Jährige kommt fast jedes Jahr hierher, heute hält sie ein Schild in die Höhe: „Kein Krieg. Nirgends“. „Ich bin zunächst einmal froh, dass in diesem Jahr ein paar Menschen gekommen sind.“ Sie finde es schlimm, dass im Moment alles so polarisiert sei, sagt Almut W. „Warum muss man jetzt Putin verteufeln, weil alle das gerade tun.“ Sie ist der Meinung, dass man doch recht lange auf Handel mit Russland gesetzt habe, weil da beide etwas davon haben. „Und warum ist Putinversteher plötzlich ein Schimpfwort?“, fragt sie. Solange man versuche, einander zu verstehen, könne das nicht schlecht sein. Außerdem gelte natürlich der Ukraine als angegriffenem Land ihre Solidarität.

Auch sie ist nicht mit allem einverstanden, was durch das Mikrofon auf den Platz schallt. Zum Beispiel die Stelle, als Christiane Reimann von der Linken sagt, dass der ukrainische Botschafter, Andrej Melnyk, „Hass und Propaganda verbreite“. Danach deutet Reimann in ihrer Rede immer wieder an, die Ukraine sei selbst Schuld an der aktuellen Situation. „Hätte sie das Angebot von Putin angenommen, wäre Europa jetzt nicht in dieser Situation“, sagt sie. Vereinzelt ist dabei Kopfschütteln zu sehen.

Zum Beispiel bei Max M. aus Dahlem. „Die Rede war kacke“, sagt er, „während literallygenau in diesem Moment Überschallraketen auf ein Land fallen, kann man das dem Land doch nicht vorwerfen. Das ist schon mehr als weird.“ Der 26-Jährige ist mit zwei Freunden zum Oranienplatz gekommen, weil sie gehört hatten, dass es hier um Frieden gehe. „Aber ein bisschen komisch ist die Mischung hier schon“, sagt Max und meint die Impfgegner und Russland-Freunde, die durch Plakate auf sich aufmerksam machen.

Von den Parteien sind nur Marxisten (MLDP), die DKP, die Linke und die SPD vor Ort. Die Grünen werden nur auf Plakaten erwähnt: „Ampeln zu Pflugscharen“ oder „Liebe Grüne, wollt ihr den totalen Krieg?“. Ein Flyer von „Spartacist“ ruft die Ukrainer auf Deutsch auf, ihre Gewehre gegen die eigenen Herrscher zu richten. Eine Zeitschrift „Solidarität“ wird verteilt, mit der Bitte um 1 Euro: „Nur für die Druckkosten.“ Darin gibt es einen Text über den „wahren Selenskyj“, wo er als „Feind der Arbeiter“ bezeichnet wird. Kostenlos wird die linke Tageszeitung „Junge Welt“ verteilt, deren Titelgeschichte die Nato als Kriegstreiber bezeichnet. Vielleicht wird hier am deutlichsten, warum es in Zeiten des Krieges zwei Friedensdemonstrationen gibt.

Ein paar Kilometer nördlich könnte die Stimmung nicht anders sein. Rund 500 Menschen laufen an der russischen Botschaft vorbei und rufen: „Buuh“, gefolgt von „Stop Russian War!“. Viele von Ihnen tragen ukrainische Farben oder die Flagge mit sich. Während in Kreuzberg der Altersdurchschnitt eher bei 60 lag, sind die Menschen, die sich am Bebelplatz getroffen haben und Richtung Brandenburger Tor ziehen, deutlich jünger.

Die Ukrainerin Ganna Boitsova lebt seit zwölf Jahren in Berlin. Vom Ostermarsch in Kreuzberg hat sie gehört, aber wäre da nicht hingegangen. „Wir brauchen keine Flower-Power“, sagt sie. „Wir brauchen Waffen.“ Sie wirft den Friedensbewegten vor, dass das Blut der Toten auch an ihren Händen klebt, wenn sie weiter gegen Waffenlieferungen demonstrieren. Sie habe gehört, dass Linke dem ukrainischen Präsidenten vorwerfen, dass er den Krieg vorantreibe. „Das kenne ich als Frau, dass man den Opfern die Schuld gibt“, sagt sie, „das wundert mich nicht, aber es ärgert mich trotzdem.“ Ihr Land sei angegriffen worden, und wenn die Ukraine sich nicht verteidige, ist bald das nächste Land dran, da ist sie sich sicher.

Es ist deutlich lauter in Berlin-Mitte als in Kreuzberg. Dort am Oranienplatz wurde mehr Klezmer-Musik gespielt und es tanzte ein älteres Paar im Kreis und sang Hava Nagila. Hier auf dem Boulevard bleiben die Touristen fast erschrocken stehen, weil die Stimmen der Demonstranten so wütend klingen: „Kein Handel mit Russland!“ und „Slava Ukraini“. Die Plakate am Bebelplatz sprechen ebenfalls für sich: „Es ist Genozid“, „Embargo für russisches Gas – Jetzt!“, „Putin = Killer“.

Eine, die früher auf die Demonstration am Oranienplatz gegangen wäre und jetzt mit den Ukrainern in Mitte demonstriert, ist Juliane Fischer. Die 70-Jährige bezeichnet sich selbst als friedensbewegt. „Das war in den 80er-Jahren aber etwas anderes“, sagt sie. „Jetzt, mit der aktuellen Entwicklung, kann ich doch nicht die Augen verschließen, wer hier der Aggressor ist.“ Militärische Übergriffe auf andere Länder müssen vermieden werden, aber es sei zynisch, keine Waffen zu liefern. „Frieden wollen alle, aber für uns ist es doch bequem hier aus Berlin zu sagen: Keine Waffen — unser Leben steht ja gerade nicht auf dem Spiel.“ Dieses Mal sei es anders, es müsse mehr passieren, auch von unserer Seite.

Alle, die für diesen Text befragt wurden, beantworteten am Ende der Gespräche noch die Frage, ob sie gerade Angst haben.
Juliane Fischer: „Angst nein, aber ich bin beunruhigt, wenn es einen Flächenbrand gibt.“
Ganna Baitsova: „Ja, nach der Ukraine sind wir hier dran.“
Max M.: „Angst? Vorm Krieg? Nö! Eher vor der Spaltung, wir waren doch dabei, zusammen in den Weltraum zu fliegen, zum Beispiel.“
Almut W.: „Selbstverständlich habe ich Angst, aber mehr um meine Kinder und meine Enkelkinder.“
Heiko Gaekel: „Ich hab meiner Tochter schon gesagt, wenn es eng wird, gehen wir nach Australien, ich war noch nie, aber dort ist es sicher.“

Steven K., Bushido ehemals bester Kumpel

Berlin – Irgendwann kamen abends Anis und Anna-Maria Ferchichi mit einer braunen Nike-Plastiktüte voller 500er-Scheine zu Steven K. und seiner Freundin. Sie sagten: „Kannst du uns helfen, das Geld zu zählen?“ K. hatte noch nie so viel Geld auf einmal gesehen. Anis Ferchichi erklärte ihm, das sei Schwarzgeld unter anderem von Konzerten. 40.000 Euro pro Konzert. „Ich dachte damals“, sagt Steven K., „das ist ja mehr als ich im ganzen Jahr verdiene.“ Beeindruckt habe ihn das alles. Zwei Stunden lang haben sie gezählt, in einem Mehrzweckkeller in einem Mietshaus. Viermal kamen sie auf die Zahl von 975.000 Euro. Dann hat Anis ein Bündel Scheine herausgenommen. Davon sollten wohl Autos gekauft werden. Die Plastiktüte wurde dann im Keller abgestellt.

Diese Welt von Drogen, Versicherungsbetrug, Prostitution und Schwarzgeld im Keller – das ist keine Netflix-Serie über Geldwäsche wie „Ozark“, sondern das war Alltag für Steven K., der zwischen 2015 und 2017 zum Freundeskreis von Bushido gehörte. Das ist jener berühmte Deutsch-Rapper, der bürgerlich Anis Ferchichi heißt und seit eineinhalb Jahren Nebenkläger in einem Prozess am Berliner Landgericht ist gegen vier Brüder aus der Abou-Chaker-Familie. Der mutmaßliche Bandenchef Arafat Abou-Chaker war zwischen 2004 und 2018 Bushidos bester Freund und Manager. Als diese Freundschaft aber endete, sollen die vier Brüder den Rapper geschlagen, beleidigt, genötigt, bedroht und eingesperrt haben.

Bushido allerdings hat an 23 Prozesstagen ausgesagt über diese Freundschaft, die sich für ihn wie eine „Zwangsehe“ anfühlte und ab dem Januar 2018 lebensbedrohlich erschien. Vor Gericht hat er geweint und auch von der Todesangst gesprochen, die er um seine Familie hatte. Immerhin lebt Bushido seit der Trennung von Arafat unter Polizeischutz, tritt auch vor Gericht im Sicherheitssaal in Moabit immer begleitet von vermummten Beamten auf. Abou-Chakers Verteidigung hat immer wieder deutlich gemacht, dass sie dieser Darstellung widerspricht. Bisher aber schweigen sie zu den Vorwürfen.

Der erste Zeuge, den die Verteidigung am Mittwoch in den Zeugenstand ruft, ist nun Steven K. Der 37-Jährige soll zeigen, wie es ist, mit Bushido befreundet zu sein. Er war 2015 Stammkunde in Bushidos Zierfisch-Geschäft am Hindenburgdamm, „Into the Blue“. Über die Fische haben sich beide dann angefreundet, sie gingen zusammen angeln, und als sich dann ihre beiden Freundinnen auch verstanden, wurden sie alle gute Freunde.

Fast den ganzen Tag habe sich Steven K. um die Belange seines neuen besten Freundes gekümmert, über Jahre. Das ist schon deshalb interessant, weil Bushido häufiger gesagt hat, dass er „keine Freunde habe“, mit denen er Probleme, wie die mit Arafat, besprechen könne.

Steven K. kommt am Mittwoch in einem Pullover, auf dem „Fish Buddy“ steht. Schon in der ersten Stunde im Zeugenstand sagt oder ruft er einen Satz über Bushido, der der Verteidigung sehr gefallen muss: „Er ist ein Schauspieler!“ Als Beispiel führt K. eine Flugreise an, eine der vielen Reisen, die er mit Bushido gemacht hat: Malediven, Kanada, New York. Sie seien zwar Business Class geflogen, aber kurz nach der Landung habe Anis Ferchichi am Telefon seine Frau Anna-Maria angerufen und sich beschwert, dass wegen der Economy Class sein Nacken ganz verspannt sei. „Sie hat ihn dann drei Stunden massiert“, sagt K. Er habe auch miterlebt, wie Bushido seine Frau betrogen habe auf diesen Reisen, mindestens einmal mit einer Prostituierten. „Ich habe dann unten an der Hotelbar gewartet, weil wir uns ein Zimmer geteilt hatten.“

Diese Art von Freundschaft wird in einer amerikanischen TV-Serie dargestellt, die in den frühen 2000ern bekannt war: Entourage. Sie erzählt vom Schauspieler Vincent, der aus New York kommt und sich in Hollywood erst zurecht finden muss. Dabei helfen ihm Freunde, die immer da sind, mit ihm Zeit verbringen, ihn an Termine erinnern, ihn beraten bei Rollen — und finanziell von ihm abhängig sind. Inspiriert war sie vom Leben des Schauspielers Mark Wahlberg, der auch der Produzent dieser Serie war. Sie erzählt auch von den Problemen, wenn Geld sich mit Freundschaft vermischt, wenn die Entourage plötzlich Zeit ohne den Star verbringen will.

Steven K. hatte genau diese Probleme, aber er erlebte auch eine rauschende Dauerparty: Die ersten Jahre zumindest, so sagt es Steven K. im Zeugenstand, habe er durchaus profitiert. Er hat im Zierfischladen gearbeitet („Netto waren das 1300 Euro im Monat“). Zu Weihnachten 2015 hat er eine Rolex für rund 9000 Euro geschenkt bekommen („Das war immer ein Traum von mir“).

Er ist sogar in die Wohnung neben Bushido gezogen, auch wenn diese dann nicht mietfrei war, wie es ihm versprochen worden war. Häufig trafen sie sich abends dort zum „Stammtisch bei K.“, wie sie diese Abende nannten, zusammen mit anderen Rappern wie zum Beispiel Samra. Sie spielten Brettspiele, schauten YouTube-Videos und rauchten Joints. „Anis hat nie mitgeraucht, aber er hat sie immer gern gedreht.“ Wenn K. aber mal keine Lust auf Gäste hatte, sagte Bushido: „Ach komm, du schaffst das schon.“

Steven K. erzählt im Zeugenstand all diese Details mit Wut im Bauch. Nichts mehr wolle er mit den Ferchichis zu tun haben. Dazu hat auch beigetragen, dass er immer mehr von den Schattenseiten der Welt des Rappers mitbekam. Als Anis Ferchichi 2016 wegen Versicherungsbetrugs in Höhe von 360.000 Euro angeklagt wurde, sollte K. für den Freund aussagen, das heißt: lügen. K. tat ihm den Gefallen, weil der Rapper ihm im Gegenzug versprach, dessen Schulden von 14.000 Euro für die Beerdigung des Vaters zu bezahlen. Er tat das jedoch nie. Dafür habe sich Arafat Abou-Chaker immer um seine Probleme gekümmert. Ist deshalb seine Erinnerung an den Bandenchef letztlich so freundlich?

Zum eigentlichen Verfahren – der Freundschaft zwischen Abou-Chaker und Bushido – kann K. nur wenig sagen. Er war zwar oft dabei, wenn sie sich stritten, auch im Spätsommer 2017, als es um den Zaun auf dem gemeinsamen Grundstück in Kleinmachnow ging. Doch K. hielt sich stets zurück, hörte sich den Streit nur an, ergriff nicht Partei. Dass es auch gefährlich werden konnte, hatte er kurz zuvor erfahren. Im Mai 2017 hatte ihm Bushido vorgeworfen, Geld aus der Kasse des Zierfischladens genommen zu haben. Bushido habe ihn gewarnt: „Wenn ich das Arafat sage, bricht er dir die Knochen.“ K. schwor, dass er kein Geld gestohlen habe, doch zur Sicherheit versuchte er, es bei seiner Familie zu leihen. Bei der Erinnerung an diese Krise verliert er vor Gericht noch einmal die Fassung. Zitternd trägt er vor, dass ihn diese ungerechte Beschuldigung sehr geschockt habe.

Kurz darauf wird der Zierfischladen geschlossen. Er habe ohnehin nicht genug Geld abgeworfen, Anis kam nur vorbei, um Anträge zu unterschreiben und World of Warcraft zu spielen. K. beschreibt ihn als „geldgeil“. Die Freundschaft zwischen beiden war deutlich abgekühlt, vorbei die Zeit, als sie im Hotel die Betten zusammenschoben, wie er erzählt. K. war am Ende zu einer Art Hausmeister und Mädchen für alles geworden: Holte die Kinder ab, baute Schaukeln auf, reparierte kaputte Lampen. Auf Reisen war er noch dabei, Bushido sagte ihm, er könne ihn „bei der Steuer absetzen“.

Das Ende der Freundschaft kam dann ganz abrupt am 23. Dezember 2017. Am Abend zuvor hatte Steven K.s Freundin nicht mit Bushidos Frau „feiern gehen“ wollen. Bushido rief ihn zu sich und sagte ihm, dass er ausziehen müsse. „Ich sei ihm zu teuer geworden“, ist ein Satz, den er noch weiß. Und: „Du kannst dich bei deiner Frau bedanken.“

Steven K. wohnte dann noch einen Monat in seiner Wohnung neben den Ferchichis. Er ließ meistens die Jalousien unten, ging nur auf die Straße, wenn es nötig war, versuchte den Kontakt zu vermeiden. Einmal aber, erzählt er, kam Anis Ferchichi gerade mit einem Auto herangefahren. Sie haben sich nicht mehr in die Augen gesehen, sondern Anis habe nur verächtlich zur Seite geblickt.

Steven K. hat sich wieder bei seinen alten Freunden gemeldet. Die hatte er lange Zeit vernachlässigt. Und er hat wieder ein geregeltes Einkommen. Er arbeitet jetzt bei der Berliner Stadtreinigung.

Porträt der Redaktion der “Jungen Welt”

Berlin – Am Mittwoch, nur Stunden vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, hat die Redaktion der Berliner Zeitung am Wochenende die Kollegen der Jungen Welt (JW) zu einer Art „Gesinnungstest“ gebeten. Anhand bestimmter Begriffe und Schlagworte sollte so die Einstellung der Redaktion zu Dingen wie Kapitalismus und Klimawandel herausgearbeitet werden, aber auch zu den Präsidenten Putin und Maduro. Hier im Text finden sich Auszüge aus diesem Gespräch mit den drei Mitarbeitern Stefan Huth (Chefredakteur), Dietmar Koschmieder (Geschäftsführer) und Peter Borak (dessen Stellvertreter). Das Gespräch dauerte rund zwei Stunden. Es drehte sich um Europa, Geopolitik, Wirtschaftstheorie – und, ab wann ein Text als verfassungsfeindlich eingeordnet werden kann.

Klimawandel? Huth: „Der Kampf gegen die Umweltzerstörung hat mich in den 1980er-Jahren politisiert.“ Protest mit festgeklebten Händen? Huth: „Wenn man sich selbst körperlich schädigt, kann das keine gute Protestform sein.“ Wiedervereinigung? „Sie meinen den Anschluss der DDR?“ Huth lächelt und fragt, was denn damals wiedervereinigt worden sei? Er sagt, dass die Redaktion das Wort nicht benutze, es gebe für sowas eine informelle Liste. Weitere Begriffe darauf seien: internationale Gemeinschaft, innerdeutsche Grenze („Es waren zwei Staaten“) und: Arbeitgeber. „Man müsste von Arbeitskraftaneigner sprechen, das drückt doch eher aus, was wirklich passiert. Bei uns ist die Rede von Unternehmern oder eben von Ausbeutern.“

Huth, Koschmieder und Borak sitzen nebeneinander im sechsten Stock in den Redaktionsräumen ihrer Zeitung, an den Bürowänden hängen eine Mini-Flagge von Kuba, ein russischer Wimpel und ein Aufkleber mit Hammer, Sichel sowie arabischen Schriftzeichen. Am Fenster steht eine hölzerne Statue, die Peter Borak von Zuhause mitgebracht hat: Es ist der russische Soldat vom sowjetischen Ehrendenkmal im Treptower Park. Er ist aus Holz und trägt ein Kind im Arm. Daneben steht das Leipziger Messemännchen: der Kopf eine Weltkugel, im Mund eine Pfeife. Wer ostdeutsche Wurzeln hat, findet viele Bekannte hier im Büro.

Vor den Redakteuren auf dem Tisch liegt die aktuelle Junge-Welt-Ausgabe vom Mittwoch, auf deren Titel stehen drei rätselhafte Wörter, die man auch nach längerem Anschauen nicht ganz versteht: „Putin erzwingt Frieden“. Huth und seine Kollegen wollen über die Ausrichtung ihrer Zeitung sprechen, weil sie sich falsch verstanden fühlen. Seit 24 Jahren werden sie vom Verfassungsschutz beobachtet. Die Bundesbehörde schreibt dort jedes Jahr, das Blatt sei ein „bedeutendes Printmedium im linksextremistischen Bereich“. Die Zeitung pflege eine „traditionskommunistische Ausrichtung“ und wolle eine „sozialistische Gesellschaft errichten“. Gewalt gelte in den Texten der JW als anerkanntes Mittel gegen Kapitalismus und Imperialismus. So der Vorwurf und so die Gründe für die Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Die putinfreundliche Ausrichtung wird nicht helfen. Jetzt erst recht nicht.

Trotzdem. Die Macher der Zeitung sehen sich schikaniert. Die Redaktion habe das viel zu lange ertragen, sagt Geschäftsführer Koschmieder. „Früher hatten wir weder Kraft, Zeit noch Mittel, dagegen juristisch vorzugehen“, sagt er, „wir kämpften schlicht um unser Überleben.“ Aber inzwischen sei die verkaufte Auflage recht stabil, sie liege an manchen Tagen bei über 24.000 Exemplaren. „Aber weil wir die einzige Tageszeitung sind, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, entstehen uns eine Reihe von Nachteilen, die mittlerweile unsere Existenz bedrohen.“ So dürfe man an deutschen Bahnhöfen nicht auf Großplakaten werben, Druckereien oder Bildagenturen verweigern die Zusammenarbeit, Autoren oder Interviewpartner wollen nicht in der Zeitung abgedruckt werden – immer mit Hinweis auf die Nennung im Verfassungsschutzbericht. „Erst diese Woche wurde uns die Werbung für eine Probeabokampagne im öffentlichen Nahverkehr unter anderem von Hamburg,  Köln, Leipzig verweigert.“

In nächster Zeit entscheidet das Berliner Verwaltungsgericht über den Erlass einer einstweiligen Verfügung, die zumindest die aktuelle Beobachtung aus dem Verfassungsschutzbericht nehmen könnte. Derzeit ist noch völlig offen, wie das Gericht entscheidet. Folgt es aber den Anwälten der JW, dann stünden der Zeitung wieder Werbekunden zur Verfügung, die mit dem Verweis auf die „Verfassungsfeindlichkeit“ bisher vor einer Zusammenarbeit zurückgeschreckt sind. In Zeiten steigender Papierpreise und dem generellen Rückgang von Zeitungsauflagen wäre das eine sehr gute Nachricht für die Redaktion.

Die JW eröffnete den Kampf gegen den Verfassungsschutz mit einem Offenen Brief, den die Redaktion im März 2021 an alle Bundestagsfraktionen schickte. Als Reaktion darauf stellte Die Linke kurz darauf eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung. Sie wolle die Gründe erfahren, die eine geheimdienstliche Beobachtung der Zeitung nötig machen. Die schließe immerhin auch telefonische Überwachung und sonstige erkennungsdienstliche Mittel ein. Die Antwort der Bundesregierung liegt der Berliner Zeitung am Wochenende vor. Das Bild, das die Vielzahl der aufgeführten Beispiele zeichnet, lässt jedoch vor allem den Verdacht aufkommen, dass der Redaktion etwas Verfassungsgefährdendes nachgesagt werden soll, um ihre Beobachtung weiter aufrechthalten zu können. Der erste Eindruck: Die JW-Texte mögen eine extrem streitbare Haltung zeigen. Doch eine staatsgefährdende Tendenz lassen sich aus den erwähnten Beispiele nicht herauslesen.

So wurde in einem Text am 2. März 2020 über einen Parteitag der DKP berichtet und in dem Zusammenhang aus einer Rede zitiert: „Kapitalismus ist Gewalt – er zerstört Menschlichkeit, er ist Gewalt.“ Laut der Akte gehe es in diesem Text nicht nur um die Berichterstattung, sondern auch darum, den Thesen des Politikers „ein Forum zu bieten“. Das allerdings tun alle Texte über Parteitage. Auch folgendes Zitat aus demselben Text ist dem Verfassungsschutz einen Eintrag wert: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Man mag dem vielleicht nicht zustimmen, aber bildet dieser Satz eine ernsthafte Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung? Will die Tageszeitung das Grundgesetz abschaffen? Mitnichten.

Der Verfassungsschützer zitieren immer wieder Stellen, die beweisen sollen, dass die JW den „Kapitalismus überwinden“ wolle. Dafür durchforsteten sie das Archiv der Tageszeitung und stellten Beispiele aus dem Jahr 2005 direkt neben Artikel von 2020. Sie markieren Texte, in denen Autoren das „System in Frage stellen“. Diese kurzen Passagen sind häufig aus dem Zusammenhang gerissen, und es findet sich in ihnen nichts, was der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Deutschlands widerspricht, womöglich aber der politischen Haltung des Verfassungsschutzes.

Auch in unserem kurzen „Gesinnungsgespräch“ benutzen die drei Redakteure regelmäßig solche Begriffe. Klassengesellschaft? Borak: „Selbst linker Positionen unverdächtige Personen wie der Großinvestor Warren Buffett sprechen davon, dass es einen Krieg der Klassen gibt.“ Huth: „Das ist eine legitime Kategorie, mit der man Wirklichkeit beschreibt, der Begriff kommt genauso im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb vor, und daran stört sich niemand.“ Marxismus? Koschmieder: „Unsere Zeitung ist marxistisch orientiert, weil wir davon ausgehen, dass alle gesellschaftlichen Sphären von sich widersprechenden Klasseninteressen geprägt sind. Auch bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler haben übrigens ihren Marx gelesen.“ Kapitalismus? Huth: „Ein vorübergehendes Stadium.“ Borak: „Nicht das Ende der Geschichte.“ Koschmieder: „Wir gehen davon aus, dass der Kapitalismus in seiner absteigenden Phase zur verschärften Ausbeutung führt und nur den Interessen weniger Menschen nützt. “

Aus dem Jahr 2009 zitiert der Verfassungsschutz diese Passage: „Jetzt Waffen und Kriegsgerät zerstören: Das kann jeder und sollte sogar jeder vernünftige Mensch machen.“ Und weiter: „Um menschenverachtendes Kriegsgerät unbrauchbar zu machen, haben wir es einfach angezündet.“ Was sich als martialischer Aufruf zur Gewalt lesen könnte, ist allerdings ein Zitat, das in der Rubrik „Abgeschrieben“ auftaucht. Eine kurze Google-Recherche zeigt, dass diese Sätze aus einem Bekennerschreiben stammen und wortgleich vom Münchner Merkur, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Sächsischen Zeitung und dem Focus zitiert wurden. Außerdem ist die Rubrik „Abgeschrieben“ schon kraft ihres Titels ein Ort, an dem andere Medien zitiert werden. Diese Rubrik taucht häufig in den Argumenten der Verfassungsschützer auf.

Der Verfassungsrechtler Benjamin Rusteberg ist von den Argumenten für die Überwachung der JW nicht überzeugt:  „Eine kapitalismuskritische oder ablehnende Sichtweise ist nicht per se verfassungsfeindlich“, sagt er der Berliner Zeitung am Wochenende. „Der Kapitalismus ist kein Teil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.“ Welches Wirtschaftssystem Deutschland habe, sei im Grundgesetz bewusst offen gelassen worden. „Das vergisst der Verfassungsschutz vielleicht manchmal.“ Es sei nicht dessen Aufgabe, bloße Meinungen zu überwachen. „Was die Beamten bräuchten, wären klare Beweise, dass die Redaktion der JW sich aktiv gegen unser Grundgesetz wendet.“ Man müsse also belegen, dass die Junge Welt eine Art zweite DDR errichten, mithin das bestehende System stürzen wolle. Das verneint die Redaktion der Jungen Welt. Auch die Belege des Verfassungsschutzes lassen so eine Schlussfolgerung nicht zu.

Die JW veröffentlicht immer wieder Texte, die in anderen Zeitungen so sicherlich nie stehen würden. Selbst in Filmkritiken zu Berlinale-Filmen schreiben die Autoren vom Klassenkampf, bei Berichterstattung über Sportereignisse wie Olympia gibt es Verweise auf Chinas Politik oder frühere DDR-Erfolge. Manchmal ist es, gerade in dieser Woche, auch schwer erträglich, immer wieder die Sicht des Kremls, jene von russischen Kommunisten oder schlicht die Wortwahl eines Wladimir Putin auf den Seiten der JW wiederzufinden. Beispiele: Die Spannungen in der Ukraine seien „vom Westen angeheizt“, der amerikanische Geheimdienst CIA sei schuld an der Eskalation. Am Freitag veröffentlichte die Zeitung einen Text über den russischen Angriff, der schon im ersten Satz die Leser subtil auf die russische Seite zieht: „Der Vormarsch russischer Truppen auf die ukrainische Hauptstadt Kiew verläuft offenbar mühsamer als erwartet.“

Auch druckte die Zeitung in dieser Woche einen Text über Slobodan Milosevic unter der Überschrift „Unbequemer Sündenbock“. Ein Porträt, das all seine Kriegsverbrechen außen vor lässt. Und immer wieder sind auch Interviews mit ehemaligen RAF-Mitgliedern erschienen – was allerdings auch andere Zeitungen getan haben, ohne deswegen vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden. Ist das Wort „Aufstandsversuch“ für die Taten der RAF schon eine Verharmlosung? Anfang dieser Woche war sogar die komplette Rede Wladimir Putins über die Ukraine auf zwei Doppelseiten in der JW abgedruckt. Doch auch das haben andere Medien (Tagesspiegel Online, Deutschlandfunk, Berliner Zeitung Online) getan – zur Dokumentation. Reicht das aus, um, wie es der Verfassungsschutz tut, Dossiers über einzelne Autoren der Zeitung anzulegen und in diesen Kurzbiografien die Mitgliedschaft in der DKP als verfassungsfeindlich auszulegen? Eine „linksextreme Gesinnung“ lässt sich so jedenfalls nicht belegen.

Der Rechtswissenschaftler Benjamin Rusteberg erklärt zum Thema RAF, dass jede Zeitung ihre Gesprächspartner selbst aussuchen könne. „Sie haben ihre Haft verbüßt und können sich äußern, wenn sie das wollen.“ Die Junge Welt müsse schon eine zweite DDR herbeischreiben wollen, um als verfassungsfeindlich zu gelten, sagt er. „Die Meinung der Bundesregierung kann kein Maßstab sein für die Autoren einer Zeitung.“ Es komme schließlich auch zu Menschenrechtsverletzungen in Ländern, mit denen die Bundesregierung eng zusammenarbeite. Sein Fazit: „Ich sehe nicht, dass die Argumente ausreichen, um eine Beobachtung zu rechtfertigen.“

Für die tägliche Arbeit jedenfalls habe die Beobachtung schon seit langem Konsequenzen, sagt Chefredakteur Stefan Huth. „Eine Schere im Kopf gibt es auf jeden Fall. Ich frage mich immer wieder, ob eine bestimmte Zeile, ein bestimmter Satz vom Amt als Argument gegen uns angeführt werden könnte. Und mitunter natürlich auch, ob er einer medial formierten Öffentlichkeit zuzumuten ist.“ Als ehemaliger Studienrat kenne er das „Zwangssystem“, wie er es nennt, auch von der anderen Seite. „Aber ich bin zur JW gekommen, weil ich hier mein politisches Denken unzensiert entfalten kann.“ Der Arbeitsdruck sei für alle hoch, die Bezahlung eher schlecht, deshalb gehe es ihm dann besonders nahe, wenn er sehen muss, wie Beamte versuchen, ihn als Verfassungsfeind zu diskreditieren. „Manchmal höre ich das berühmte Knacken in der Leitung“, sagt Huth, „mal belauscht jemand in der Kneipe am Nachbartisch ein Gespräch.“ Aber er wolle auch keine Paranoia entwickeln.

Das Bundesverfassungsgericht ist auf der Seite der Jungen Welt

Ein weiterer, immer wieder auftauchender Vorwurf der Verfassungsschützer sind die „häufigen positiven Bezugnahmen auf kommunistische Vordenker“: Liebknecht, Luxemburg, Marx, Engels, Lenin. Die Zeitung nutzte diesen Vorwurf humorvoll und baute in eine Werbekampagne ein Bild von Karl Marx ein, der über seinen Augen einen roten Balken trägt mit dem Wort „Verfassungsfeind?“ Darunter rief die Redaktion dazu auf, die JW zu abonnieren. Der Slogan war: „1000 Abos für die Pressefreiheit.“ Laut Geschäftsführer Koschmieder war die Aktion sehr erfolgreich und konnte dieses Ziel schon nach wenigen Wochen erreichen.

Ein Punkt, der für die JW-Redaktion spricht, ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Jahr 2005: Die Richter nennen die Eintragung eines Presseorgans im Bundesverfassungsschutzbericht als  „mittelbar belastende negative Sanktion“ und werten dies klar als einen Eingriff in die Pressefreiheit. So schränke das Abhören von Telefonen massiv den Quellenschutz ein und gefährde die Institution Presse. In dem Urteil bezogen sich die Richter auf die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit. Sie stellten außerdem ausdrücklich fest, dass selbst eine „Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ebenso erlaubt ist wie die Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ändern“. Kurz gesagt: Eine Demokratie müsse aushalten, dass über ihre Grundfesten öffentlich diskutiert werde.

Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) muss sich derzeit aus genau diesem Grund ebenfalls wehren: Ihr wird vorgeworfen, vor einem Jahr einen Text in einer Zeitschrift „Antifa“ der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ veröffentlicht zu haben. Die Vereinigung wird vom bayerischen Verfassungsschutz als „bundesweit größte linksextremistisch beeinflusste Organisation im Bereich des Antifaschismus“ bezeichnet. In dem Text ging es um rechtsextreme Drohbriefe. Die Ministerin würde ihn wohl heute „nicht mehr so schreiben“, dabei geht es nicht um den Inhalt sondern den Ort der Veröffentlichung. Sie wollte sich zu dem Verfahren und dem der JW aber nicht äußern. Übrigens genauso wenig wie der Verfassungsschutz, den die Berliner Zeitung am Wochenende ebenfalls kontaktierte.

Genau dieser Ansicht ist auch die Vorsitzende der Linken, Janine Wissler. „Im Grundgesetz ist keine Wirtschaftsordnung festgeschrieben“, sagt sie der Berliner Zeitung am Wochenende. Das Grundgesetz lasse das offen. „Ich halte es für absurd, dass die Junge Welt als verfassungsfeindlich eingestuft wird, weil sie marxistisch orientiert ist.“ Ohne den Namen Hans-Georg Maaßen konkret zu nennen, sieht sie dahinter jedoch ein System. Wörtlich sagt sie: „Der Verfassungsschutz verlässt sich bei seiner Informationsbeschaffung zu sehr auf V-Leute in der rechten Szene.“

Jacobia Dahm

Der Blick vom 6. Stock auf Berlin ist immer schön: Von hier gibt es einen guten Blick auf Mitte.

Der Raum im sechsten Stock ist inzwischen in orangefarbenes Licht getaucht, vor dem Fenster geht die Sonne unter, der Blick fällt auf die Volksbühne, das Büro der Linken Partei, den Fernsehturm und auf den Rosa-Luxemburg-Platz. Die Redakteure erzählen, dass während der Berlinale schon Paparazzi fragten, ob sie sich auf dem Dach der JW aufbauen dürften. Von dort ist der Blick in die Hotelzimmer des Soho House, dem früheren Hauptsitz der Hitlerjugend, nämlich besonders gut. Ein Redakteur zeigt auf ein Fenster gegenüber und sagt: „Dort, wo Licht brennt, da wohnte Bertold Brecht.“ Von dort habe er gesehen, wie hier am Platz Kommunisten verprügelt wurden. „Das hat er ihn endgültig zum Kommunisten gemacht.“

Die Redaktion der JW hat soeben, am 12. Februar, ihr 75. Jubiläum gefeiert. Die Geschichte dieses Blattes kann als turbulent beschrieben werden. Einer ihrer Autoren, Jürgen Elsässer, verließ vor einigen Jahren die Redaktion im Streit. Ein Text von Elsässer wurde nicht veröffentlicht, andere wurden zurückgezogen, Elsässer gründete schließlich eine Zeitschrift: Compact, inzwischen das Blatt für Impfgegner und Pegida-Anhänger – es wird auch vom Verfassungsschutz beobachtet.

Maduro? Huth: „Kein Sozialist, hat aber unsere Sympathie, weil er sich auf Hugo Chávez beruft, der eine große antikolonialistische Bewegung anführte.“ Kuba? Huth: „Großes leuchtendes Vorbild, solange es da ist. Leuchtturm des Anti-Kolonialismus, Vorbild der internationalen Solidarität.“ Nordkorea? Huth: „Schwierig, da gibt es interne Debatten und die Forderung von Lesern, dass wir sie, wie offiziell, Demokratische Volksrepublik nennen.“ Putin? „Seit er Ende 1999 Präsident der russischen Föderation wurde, hat er sich um sein Land enorm verdient gemacht. Russland war auf dem Weg, zu einem Rohstofflager für den Westen herabzusinken, aber er hat es zurück auf die Weltbühne geholt. Bei aller notwendigen Kritik an seinen imperialen Ambitionen, an denen der Westen eine Rolle hat, setzt sich Putin auch seit Jahren für eine multipolare Weltordnung ein.“ Giffey? Huth: „Für Berlin reicht’s.“

Wenn der SUV zur Waffe wird

Berlin – Das Hupen ist sehr laut. Daran erinnert sich David B. noch genau. Er läuft gerade mit seiner Freundin durch einen verkehrsberuhigten Bereich in Charlottenburg. Da ist eine Kirche und direkt daneben ist am Sonnabend immer ein Wochenmarkt, so auch an diesem Tag. B. ist mit seiner Freundin in Richtung Schlosspark unterwegs. Sie wollten nicht durch die Menschenmenge des Markts laufen. Es ist April 2021, die wenigsten Berliner sind zu diesem Zeitpunkt geimpft. Als es hinter ihm hupt, erschrickt er.

§ 16 Abs. 1 StVO: Schall- und Leuchtzeichen darf nur geben, wer außerhalb geschlossener Ortschaften überholt oder wer sich oder andere gefährdet sieht.

„Ich habe mich umgedreht, und da sitzt dieser Mann, Mitte 40, in einem silbernen SUV und schaut mich wütend an“, erzählt David B. der Berliner Zeitung am Wochenende. „Wir sind da völlig regelkonform gelaufen, es war wie gesagt verkehrsberuhigt, und außerdem war neben uns viel Platz, so dass er hätte ausweichen können, wenn er es eilig hat.“ Doch die Beifahrerin habe ihr Fenster geöffnet und laut gerufen: „Runter von der Straße, Spinner!“ Wieder das Hupen. Die Leute auf dem Markt drehen nach den Streitenden um. David B.: „Wir stehen, er steht.“ Dann fährt der SUV langsam auf den Mann und die Frau zu, berührt seinen Oberarm.

Der 37-jährige TU-Professor für Informatik hat diesen Vorfall selbst auf Twitter in dieser Woche bekannt gemacht, es ist eine jener Geschichten, die in Berlin auf einen großen Resonanzboden fallen: Fußgänger gegen Fahrräder gegen E-Scooter gegen Autos gegen Laster. Fast tausendmal wurden die elf Tweets, in denen er die Geschichte zusammenfasst, geteilt. Gelesen haben es noch viel mehr und in Blogs weitergetragen. Obwohl das Erlebnis fast ein Jahr zurückliegt, schreibt er jetzt darüber, weil B. den Fahrer angezeigt und das Gericht über den Fall vorläufig entschieden hat.

Es ist eine Geschichte darüber, was passieren kann in dieser Stadt, wenn ein Fahrer eines zweieinhalb Tonnen schweren Autos denkt, er habe Macht über einen Fußgänger, und Regeln ihm egal sind. Es ist auch eine Geschichte über eine bestimmte Stimmung in der Stadt, die viele Berliner derzeit erleben. Nur aus dieser Woche: die wütende Lichthupe eines Autos, weil die Grünphase verpasst wurde (Mittwoch, Torstraße). Ein Radfahrer, der einen anderen Radfahrer anbrüllt: „Dann überhol mich doch, du Vollidiot!“ (Mittwochmorgen vor dem Kanzleramt am Tiergarten). Ein Radfahrer, der einem Autofahrer im Vorbeifahren einen Mittelfinger zeigt, einfach so. (Dienstag, Eberswalder Straße). Jeder Berliner kann solche Geschichten derzeit erzählen.

David B. zog im Jahr 2014 von Karlsruhe nach Berlin. „Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mich hier eingelebt habe“, sagt der Informatik-Professor. Als Fahrradfahrer habe er immer wieder Dinge erlebt, die ihn schockieren und ärgern. Außerdem kennt er die Zahlen: 39 Fahrradfahrer und Fußgänger im Berliner Straßenverkehr gestorben. „Deswegen habe ich irgendwann die Straßenverkehrsordnung mehrfach komplett gelesen.“ Er wollte, dass er sich sicher sein kann, dass er die Regeln kennt, wenn er anderen Fehlverhalten vorwirft. Er betreut gleichzeitig ein Projekt, bei dem Fahrradfahrer in ganz Berlin gefährliche Gegenden in eine App eintragen können. B. möchte sein Verkehrsprojekt aber nicht mit diesem Erlebnis bewerben, das würde den falschen Eindruck erwecken.

§ 42 Abs. 4 StVO: In einem verkehrsberuhigten Bereich (darf) nur mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden. Jegliche Behinderung oder gar Gefährdung von Fußgängern (…) muss verhindert werden.

David B. weicht zurück, als die Kühlerhaube des SUV ihn berührt, das Auto rollt weiter und berührt ihn erneut. Fahrer, seine Beifahrerin und Fußgänger schreien einander an. B. zückt sein Mobiltelefon und beginnt, das Auto zu fotografieren: das Nummernschild, die Beifahrerin, den Fahrer, die ganze Szene. Dann ruft er dem Fahrer zu: „Ich rufe jetzt die Polizei!“ Plötzlich setzt der Fahrer zurück und rast an ihm vorbei in Richtung Hauptstraße.

Die Polizei kommt kurz darauf und nimmt die Anzeige auf, spricht mit Zeugen, die allerdings laut David B. erst später dazugekommen sind. Er glaubt zu dem Zeitpunkt, dass für den Fahrer zumindest ein Bußgeld fällig wird. Weil niemand zu Schaden gekommen sei, trifft „Fahrerflucht“ nicht zu, sagen ihm die Beamten, aber sie werden den Fahrer des SUVs kontaktieren und sich anschließend bei ihm melden. Zumindest Nötigung im Straßenverkehr könnte eine Begründung für die Strafe sein.

Der Begriff der „Nötigung“ kommt nicht in der StVO vor, aber im Strafgesetzbuch. Niemand soll lauf Paragraf 240 durch Gewalt zu einer Handlung gedrängt werden. Im Internet sind Beispiele für diesen Umstand angegeben, auch in den Kommentaren zu B.s Tweets sind derartige Geschichten erzählt: Wie Autofahrer Fahrradfahrer anfahren, weil sie nicht vorbeikommen, wie sie Fahrradfahrer zur Seite drängen bis zum Umfallen. In den Kommentaren wird auch deutlich, wie verhasst SUV-Fahrer in Berlin sind.

Erst im Februar dieses Jahres war ein SUV-Fahrer zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil er an der Invalidenstraße vier Menschen getötet hatte. Er hatte die Kontrolle über sein Auto verloren, weil er einen epileptischen Anfall erlitten hatte. Diese schweren, großen „Sport Utility Vehicles“ sind eine Mischung aus Limousine und Geländewagen, über zwei Millionen sind in Deutschland zugelassen. Der Vierradantrieb ist für den Betrieb in der Stadt im Grunde unwichtig, aber viele – meist ältere – Fahrer schätzen an diesem Auto, dass sie einsteigen können, ohne sich nach unten beugen zu müssen.

Nach ein paar Schriftwechseln zu diesem Vorfall kommt im Januar dieses Jahres ein Brief bei David B. an. Darin steht nur ein Satz: Gemäß Paragraph 153 Abs. 2 StPO wird das Verfahren gegen den Fahrer des SUVs eingestellt. B. schlägt in der Strafprozessordnung nach und erfährt dort, dass dieser Paragraf greift, wenn geringe Schuld oder kein öffentliches Interesse vorliege. Er ärgert sich: „Das bedeutet für den Fahrer, dass nichts passiert sei und er weiter so handeln kann, wie er es getan hat.“

Mona Lorenz von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat sich auf Anfrage noch einmal sämtliche Akten zu dem Fall zukommen lassen. Sie sagt, dass kein Schaden entstanden sei, dass der Tatverdächtige nicht vorbestraft sei und spricht außerdem von einem „tatprovozierendem Verhalten des Geschädigten“, das „nicht ausgeschlossen werden könne“. Am Ende ihres Berichts zum Fall noch ein interessantes Detail: Die Amtsanwaltschaft hat zugestimmt, dass das Verfahren eingestellt wird, unter der Bedingung, dass der Beklagte die Kosten seines Anwalts selbst trägt.

David B. will trotzdem eine Beschwerde einreichen. Er wundert sich, dass die beiden Insassen des Autos offenbar leugnen, ihn mit dem Auto berührt zu haben – und damit durchkommen. „Warum wurden wir nie mit den Aussagen konfrontiert?“ Seine Freundin hätte schließlich den gesamten Vorfall ebenfalls bezeugen können. Die anderen Zeugen waren 20 bis 30 Meter weiter weg. Am Ende sagt B. einen versöhnlichen Satz: „Ich weiß, dass nur ein Bruchteil der SUV-Fahrer sich so verhält, aber sie müssen sich bewusst sein, dass sie mit einer Waffe agieren.“

§ 1 Abs. 1 StVO: Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.

Escape Room: Ausbruch aus dem Stasi-Knast

Berlin – Ein Bett, ein Klo und ein kleiner Tisch zum Hochklappen. An der Wand klebt ein Kalender aus dem Jahr 1963 (mit Hammer, Sichel und Lenin) und daneben ein altmodisches Werbeplakat für einen Urlaub im FDGB-Ferienheim. „Die Errungenschaften unserer Arbeiter- und Bauernmacht.“ Durch die Wand sind undeutlich weitere Häftlinge zu hören. „Hallo?“, ruft einer, „Hört ihr uns?“. Das Kratzen des Lautsprechers wird lauter, eine weibliche Stimme sagt streng: „Zellenkontrolle in einer Stunde!“

Das Thema „Flucht aus dem DDR-Gefängnis“ ist ein beliebtes für Bücher, für Thriller und seit neuestem auch für Escape Rooms. Diese Räume sind in den vergangenen zehn Jahren in fast allen Berliner Stadtteilen entstanden und haben offenbar sogar die Pandemie überlebt. Rund 16 Firmen gibt es aktuell in der Stadt, jede mit mindestens vier Räumen im Angebot, und in allen von ihnen ist das Prinzip das gleiche: Eine Gruppe zwischen zwei und sechs Menschen zahlt rund 100 Euro, um sich in einen Raum einsperren zu lassen. Sie können diesen Raum nur verlassen, wenn sie innerhalb von 60 Minuten alle Rätsel lösen. Sonst ist das Spiel vorbei und sie haben verloren.

Die Themen sind vielfältig: Südsee, Raumfahrt, Inka-Tempel, Zombie-Apokalypse, Zeitreise, Flugzeugabsturz oder eben Stasi-Knast. Auch der Ausbruch durch einen Tunnel von Ostberlin nach Westberlin kann nachgespielt werden, ebenfalls an Originalschauplätzen in alten Tunnelanlagen mitten in Berlin. Die meisten Escape-Rooms bieten die Spiele in Englisch oder Deutsch an. Das Stasi-Gefängnis, um das es hier geht, liegt an der Prenzlauer Allee, direkt neben einer ehemaligen „DDR-Speisegaststätte“.

Empfangen wird man von einer jungen Frau Anfang 20, Sophia, die erst einen roten Knopf in die Höhe hält. „Diesen Knopf könnt ihr immer drücken, wenn euch danach ist“, sagt sie, „dann aber ist das Spiel zu Ende und wir brechen ab.“ Wenn man nur auf Toilette müsse, solle man einfach Bescheid sagen. Das ließe sich immer einrichten. Als es losgeht, wird die freundliche Sophia zur Gefängniswärterin. Sehr laut sagt sie wortwörtlich diesen Satz: „Ihr habt Schande über euren Staat gebracht und müsst dafür jetzt ins Gefängnis!“ Dann teilt sie die vier Spieler auf zwei Zellen auf.

Es gilt als unschön, den Inhalt der einzelnen Spiele zu verraten, aber vielleicht soviel: Es geht darum, zusammenzuarbeiten, sich gegenseitig hektisch Dinge zuzurufen und Codes herauszufinden, Nippel durch Laschen zu ziehen, ohne zu wissen, ob es in die richtige Richtung führt. Aus Schachfiguren werden Schlüssel, oder war es umgekehrt? Und dass ein Spiegel nicht das ist, was er scheint, war nun wirklich jedem klar, oder?

Das besondere dieses Genres fällt auch bei diesem Escape Room auf: Es hat sich stark verändert in den vergangenen Jahren. Begann es zunächst als einfaches „Ich muss einen Raum verlassen“ (Escape Room 1.0), wurden die Räume immer größer, komplexer und bestanden schließlich aus mehreren Zimmern (2.0). Inzwischen gibt es schon Escape Rooms, in denen Schauspieler arbeiten, die die Spieler erschrecken oder ihnen Hinweise geben, wenn sie sich richtig verhalten. Das sind die sogenannten Räume der dritten Generation.

Der Stasi-Raum ist noch einer der zweiten Generation. Man kriecht und klettert, um diesen engen Gefängnisraum zu verlassen, und wird dabei die ganze Zeit beobachtet. „Zellenkontrolle in 30 Minuten!“ schallt es in dem Augenblick, als alle langsam verstehen, was sie tun müssen, um herauszukommen. Die Rätsel erinnern stark an die Point-and-Click-Adventure aus der Computerspielezeit der 90er-Jahre. „Benutze Löffel mit Falltür“ konnte man dort dem Helden auftragen, eben Dinge zu Werkzeugen zu machen, die vorher keine waren. Bei den Spielen war jedes neue Zimmer ein neuer Escape Room.

Diese Gemeinsamkeit weist auch auf die Herkunft dieser Räume hin. Die ersten Escape Rooms gab es tatsächlich in den Nullerjahren in Japan und Bulgarien – allerdings noch als Computerspiele. Die Aufgabe war, einen Raum zu verlassen und dabei auf dem Weg alle Schubladen zu durchsuchen und kleinere Rätsel zu lösen. Den ersten echten Escape Room konstruierte angeblich ein Schweizer Lehrer im Jahr 2012. Er wollte seine Schüler herausfordern. Kurz nachdem Zeitungen darüber berichteten, startete die erste Firma mit professionellen „Zimmern“ und ist bis heute Marktführer in der Schweiz.

Im Stasi-Knast kriechen alle durch ein Loch in der Wand in einen Hohlraum. Dort ist es dunkel, und der Lichtschalter muss erst einmal gefunden werden. Es kommt ein Tipp aus dem Lautsprecher von einem weiteren „Häftling“. Die Spielleiterin kann die ganze Zeit zuschauen und hat auch die Zeit im Blick. Sie sagt zum Beispiel: „Ich glaube man muss mehr um die Ecke denken.“ Nach ein paar Minuten stehen wir in einem Raum, der an eine Werkstatt erinnert, mit Spind, DDR-Radio (aus dem Geräusche kommen) und mehreren blauen Kitteln aus dem Kunststoff Dederon. Alle rufen durcheinander. Aus dem Lautsprecher schrillt: „Zellenkontrolle in 10 Minuten!“

Das besondere bei Escape Rooms ist wohl, dass man nicht gegeneinander, sondern zusammen gegen einen gemeinsamen Feind spielt. Offenbar liegt das im Trend: Im Vorraum werden auch die Escape-Brettspiele verkauft, die während der Pandemie einen wahren Boom erlebt haben: 2020 stieg ihr Marktanteil um 11 Prozent, 2021 noch einmal um 4 Prozent. Bei der Spielwarenmesse in Nürnberg gewann vor einer Woche ein Escape-Spiel von Ravensburger den „Toy Award“ – natürlich eines, das nur mit Spielkarten und einer App funktioniert. Dabei kann man die meisten Spiele nur einmal spielen, denn die Lösungen der Rätsel vergisst keiner so schnell – und die meisten Materialien sind nach einem Gebrauch auch zerstört. Die bayrische Firma Homunculus verschickt seit 2020 ihre Escape-Spiele sogar per Brief und hat so eine Online-Community erschaffen, die sich über soziale Netzwerke austauscht und zum Teil auch gegenseitig beim Rätseln hilft.

Die besten echten Escape Rooms werden jedes Jahr von einer internationalen Jury ausgezeichnet, die bisher über 170.000 Räume weltweit bewertet hat. Platz 1 geht in der aktuellen Wertung an einen Raum in Spanien, Platz 2 und 3 gehen in die Niederlande. Deutschland taucht erst auf Platz 22 auf – und zwar der „Geisterjäger Brandon Darkmoor“ von „The Room“ in Berlin-Lichtenberg. Deutschlands bester Escape Room liegt also außerhalb des S-Bahn-Rings, nur ein paar Hundert Meter nördlich vom ehemaligen Hauptquartier der Stasi.

Der Spiel-Stasi-Knast in Prenzlauer Berg muss kriechend verlassen werden. Mehr darf man wohl nicht verraten. Es blieben noch 27 Sekunden bis zur Zellinspektion. Sophia hat auch bald Feierabend, aber erzählt noch selbst von all den Escape Rooms, die sie in Berlin schon besucht hat. Die junge Frau wundert sich nicht über das Stasi-Thema. Neulich musste sie eine Oma von ihrem Enkel trennen, steckte beide in die Stasi-Zellen und fühlte sich ein bisschen schlecht dabei. Doch der 11-Jährige löste die Rätsel schnell und befreite seine Oma. „Nur einmal war es etwas unangenehm“, sagt Sophia, „da war ein älterer Mann, der schimpfte, dass es im Stasiknast doch ganz anders ausgesehen habe.“ Sie hat ihn nie wieder gesehen.

Das vertauschte Baby

Berlin – Julia R. wollte diese Geschichte eigentlich nicht auf dieser Seite sehen. Einerseits ist das viel zu groß: eine ganze Seite für ein Ereignis, das nach 24 Stunden wieder vorbei war, das im Grunde doch gut ausging, sie will sich nicht so wichtig machen. Andererseits ist eine Seite in einer Zeitung auch viel zu klein, weil dieser Moment so viel ausgelöst hat bei ihr, bei ihrer Familie, dass das gar nicht ausreicht, um zu beschreiben, wie weit es für sie ging und im Grunde bis heute geht.

Vielleicht ist „Brutal Berlin“ auch nicht die richtige Rubrik für diesen Text oder Weihnachten nicht der richtige Moment, um sie zu erzählen. Vielleicht passt es aber auch perfekt. Was ihr auf jeden Fall am Wichtigsten ist: Wenn diese Geschichte an Weihnachten erzählt wird, dann nicht als Partygag oder als Dinnertable-Smalltalk. Sie möchte, dass Ärzte sie lesen und Krankenschwestern, die mit jungen Müttern zu tun haben. Sie möchte vor allem, dass das, was ihr passiert ist, nie wieder jemandem passiert.

Nur zur Entbindung ins Krankenhaus

Sie selbst beginnt die Erzählung mit dem Moment, in dem alles gut war, kurz nach der Geburt, als sie ihr Baby stillt. „Es war ja mein erstes Kind und ich habe mich so aufs Stillen gefreut“, sagt sie. Noch dazu wird in Frauenzeitschriften und Babybüchern über das Stillen so viel erzählt, dass junge Mütter ganz nervös werden, ob es wirklich klappt. Dann sagt sie: „Noch während mein Kind trank, legte meine Hebamme dem Baby das Bändchen um das Ärmchen.“ Normalerweise mache sie das nicht bei ambulanten Geburten, aber die Hebamme wird später sagen: Sie habe so ein Gefühl gehabt.

Julia R. wollte eigentlich nur zur Entbindung im Krankenhaus sein, danach gleich nach Hause. Die extra gekaufte Babyschale stand bereit. Doch weil sie kurz nach der Geburt einen Schwächeanfall hatte, entschieden sich die Ärzte, sie über Nacht in der Klinik zu behalten. Als hätte sie das vorausgesehen, hatte sie sich dieses Berliner Krankenhaus im Nordosten der Stadt ausgesucht. Sie wollte nämlich unbedingt eines, bei dem „Rooming-in“ möglich war.

Rooming-in, das war damals noch nicht in allen Krankenhäusern Standard. Anfang der 2000er galt die Vorstellung, die Mutter würde besser schlafen, wenn das Kind in einem anderen Raum von „Profis“ bewacht werde. Inzwischen haben wissenschaftliche Studien belegt, dass Mütter besser schlafen, wenn das Kind im gleichen Zimmer liegt. Mütter achten nach der Geburt instinktiv auf jedes Geräusch und schlafen unruhig, wenn sie nicht ihr Kind, das neun Monate in ihrem Bauch war, spüren. Heute ist Rooming-in fast überall Standard.

Als Julia R. nach einem Erschöpfungsschlaf aufwachte, sah sie trotzdem, wie eine Krankenschwester das Kind im Bettchen aus ihrem Zimmer schob. Die ältere Kollegin sagte so etwas wie: „So, da haben Sie Ihre Ruhe. Noch einmal schön eine Nacht durchschlafen.“ Sie habe noch gerufen, dass sie ihr Baby lieber hierbehalten wolle, aber das habe die Schwester nicht gehört.

Das Kind, das am nächsten Morgen in den Raum geschoben wurde, erkannte sie jedoch nicht wieder. „Ich schaute das Kind an und dachte: Das sieht doch total anders aus. Als ich die Nachtschwester darauf ansprach, sagte sie in dem gleichen Ton wie am Abend: ‚Ach, die sind nach der Geburt so verknittert, dann erkennen die eigenen Eltern ihr Kind nicht wieder.‘“

Kind wollte nicht gestillt werden

Als dann der Vater kam und er das gleiche Gefühl hatte, konnte er sich sogar an ein Detail erinnern: „Sein Ohr hatte doch gestern Abend so einen Knick.“ Die Mutter wusste genau, was er meinte. Andere in der Familie haben den gleichen Knick im Ohr. Die Schwester nur kühl: „Die Ohren verändern sich, wenn sie durchblutet werden.“

Dann fiel dem Paar das Bändchen ein. Sie sagten der Schwester, dass dieses Kind ein kleines Bändchen hatte. Damals waren sie noch hellblau für Jungen und rosa für Mädchen. Sie suchten zu dritt das Bettchen nach dem Bändchen und fanden nichts. Die Schwester sagte: „Dann ist es eben weg.“ Und das war’s dann. Sie nahmen das Kind mit nach Hause.

Wenn Julia R. von diesem Tag erzählt, der darauf folgte, gehen die Zeiten ineinander. Mal fühlt er sich ganz lang an, manchmal nur ganz kurz. „Aber auf jeden Fall war es die Hölle“, sagt sie. Sie habe die ganze Zeit versucht, ein Kind zu beruhigen, das immer aufgeregter wurde. Sie wiederum konnte mit dem Kind nicht viel anfangen, fühlte eine Fremdheit, ein Unbehagen aufsteigen und merkte gleichzeitig, wie dieses Gefühl sie zu einer schlechten Mutter machte. Biologie und Erwartungen. Liebe und Glück und Angst und Abneigung. Ihr Freund versuchte, beide zu beruhigen, es gelang ihm immer schlechter.

Auch das Kind wollte sich nicht auf die Eltern einlassen. Es war unruhig und es wollte nicht gestillt werden, obwohl es danach verlangte. Am Abend hörte sie das Telefon klingeln, ging aber nicht an den Hörer. Damals gab es noch Festnetztelefone, bei denen der Anrufbeantworter laut sich selbst anstellt. Dann hörte die junge Mutter die Stimme der Hebamme: „Da ist etwas passiert im Krankenhaus, ihr müsst noch mal hin. Und bringt das Baby mit!“ Sie rief sofort zurück, und erst, als sie immer wieder nachfragte, sagte die Hebamme: „Sie haben dir wahrscheinlich das falsche Kind mit nach Hause gegeben.“

Es passiert in Deutschland selten, dass Kinder vertauscht werden. Im Jahr 2008 hat die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe eine Untersuchung bei 481 Kliniken durchgeführt. Demnach habe es in dem Jahr zwölf Verwechslungen gegeben, die jedoch alle noch im Krankenhaus behoben wurden. Im Saarland wurde eine Verwechslung erst nach sechs Monaten erkannt. Und in den USA kam es kürzlich zu einer vertauschten Verteilung der Embryonen, sodass zwei Mütter die Kinder eines jeweils anderen Paares austrugen – und sich anschließend ebenfalls für den Tausch entschieden.

Doch wenig ist bekannt, was in diesen Fällen mit den Müttern und Vätern passiert, die eine Zeit lang versuchten, ihren Instinkten und Gerüchen willentlich zu misstrauen. Julia R. sagt heute, dass dieser Tag lange nachgewirkt habe, er hat überschattet, wie sie die Geburt ihres zweiten Kindes erlebt hat, und sie hat sich viele Jahre Vorwürfe gemacht. „Schließlich habe ich ja zugelassen“, sagt sie, „dass mein Kind für einen Tag nicht bei mir war.“ Dass das allerdings niemals ihre Schuld war, für diese Erkenntnis hat sie Jahre gebraucht.

Sie brachte das Kind jedenfalls noch am Abend zurück in die Klinik. Der Arzt sah sie im Vorraum sitzen. Es war der Arzt, der bei der Geburt dabei war. Er versuchte ein Lächeln: „Jetzt schauen Sie doch nicht wie Häufchen Elend“, sagte er, „ist doch noch mal alles gut gegangen.“ Der Leiter der Klinik schickte ihr später eine Kiste Wein, um sich zu entschuldigen für die Umstände.

„Sind Sie die andere Mutter?“

Und das ist etwas, was sie noch immer wütend macht, auch 18 Jahre nach dem Ereignis: Dieses Unverständnis eines Gynäkologen und einer Krankenschwester ihrem Bedürfnis gegenüber. Warum schickt irgendjemand einer stillenden Mutter Alkohol? Und warum stand die Schwester nicht sofort am Klinikeingang und gab ihr das Kind? Warum musste sie überhaupt noch in einem Raum warten?

Während sie dort saß, kam eine andere Frau im Kliniknachthemd herein. Sie fragte ganz leise: „Sind Sie die andere Mutter?“ Sie hatte nach einem Kaiserschnitt unter Vollnarkose nur geschlafen, sie hatte gar nicht mitbekommen, was passiert war. Sie sagte, ihr Mann habe das Bändchen bei dem anderen Kind gesehen und daran die Verwechslung erkannt.

Direkt danach wurde Julia R. in einen anderen Raum geführt. Dort sah sie ihr Kind, davor die Krankenschwester, die sofort meinte, man müsse sich noch gedulden. „Die Blutuntersuchungen, wir wollen ganz sicher gehen.“ Julia R. wunderte sich, dass auch von ihr noch keine Entschuldigung kam, das sie nicht merken wollte, was sie alle angerichtet hatten. Auch: dass sie nicht sofort ihr das Kind gab. Sie sagte zur Schwester: „Die Blutuntersuchungen brauchen wir nicht. Ich sehe, dass dies hier mein Kind ist und ich möchte es jetzt gern halten!“ Sie habe es an diesem Abend nicht mehr losgelassen. Dann, erzählt sie, saß sie in einem Wartezimmer unter Neonlicht, mitten in der Nacht, und stillte ihren Sohn.

Moni Zhang, Comedian aus Wuhan

Berlin – Moni Zhang hat als Treffpunkt ein Café in Friedrichshain ausgesucht, das etwas von einer gemütlichen Hippie-Höhle hat: Kerzen, Kachelofen, Möbel aus zweiter Hand. Alles wie in den 90ern, nur mit WLAN. Mitarbeiter müssen erst ihr Gespräch beenden, bevor sie eine Bestellung aufnehmen und kontrollieren irgendwann etwas nachlässig die Corona-Nachweise. Überall liegt irgendetwas rum. An jedem Tisch sitzen zwischen 20 und 30 Menschen, die an Projekten arbeiten oder sich an ihre Tassen klammern.

„Ich bin hier gern“, sagt Moni Zhang über diesen Ort und kuschelt sich in ihr Nest aus Pullover, Jacke und Schal, das sie sich auf der Couch aufgebaut hat. „Es repräsentiert, warum mir Berlin so gut tut.“ Zhang kommt recht schnell und offen auf ihre Depression zu sprechen. „Ich habe meinen Frieden mit meinen Problemen gemacht.“ Sie sei inzwischen von ihrem Psychologen „graduiert“ – auch wenn das klinge, als sei es ein Kurs, den man auf der Universität des Lebens abschließen muss. „Aber so ist das auch mit geistiger Gesundheit“, sagt sie. „Sich damit auseinanderzusetzen, wird für mich immer eine Reise sein.“

Zuschauer können jetzt an dieser Reise teilnehmen. Am 28. Januar hat Moni Zhangs neues englisches Programm „Child from Wuhan“ Premiere im Friedrichshainer Comedy Club „The Wall“, und sie wird es dann immer wieder in Berlin aufführen. Es wird ein ernstes Programm, das das Publikum gleichzeitig zum Lachen bringen soll. Bei Testdurchläufen haben Leute geweint und sind anschließend zu ihr gekommen, um von sich zu erzählen. Ihr Programm, das sei wie eine Therapie, sagt sie.

Es handelt grob: von ihr. Wie sie als Chinesin nach Europa kam, um in Rotterdam einen Abschluss in Buchhaltung zu machen. Wie sie dann eher durch Zufall nach Berlin zog und erst hier auf die Idee kam, Stand-up-Comedian zu werden. Sie wird auch davon erzählen, wie sie den ersten Preis in einem Berliner Newcomer-Wettbewerb gewann, als sie noch nicht einmal ein Jahr dabei war. Sie wird auch von ihrer Depression reden, von ihrer schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter und sicherlich auch von ihrer Katze, die Panda heißt.

Doch eines macht sie klar: Obwohl sie aus Wuhan stammt und auch ihr Programm nach der Stadt benannt hat, spricht Moni Zhang kaum über China. Einer ihrer wenigen Auftritte vom Jahr 2020 in Berlin ist noch immer im Internet zu sehen. Er beginnt mit dem Satz: „Ich komme aus einer Stadt, die zwar 14 Millionen Einwohner hat, aber bisher…“, sie hustet demonstrativ ins Mikrofon, „niemand kannte.“ Das Lachen im Publikum klingt ein wenig schüchtern, es war Anfang 2020, es gab noch nicht viele Witze über Corona. Zhang sagt weiter: „Mein Land ist mit der Krise sehr gut umgegangen.“ Sie macht eine lange Pause und sagt: „Mehr werde ich dazu nicht sagen, es sei denn, ich bekomme einen deutschen Pass.“

Auch im Gespräch im Café möchte sie nicht über China reden. Sie sei nicht Ai Weiwei, der alle Brücken zu seiner Heimat abgebrochen hat. „Ich komme auch nicht aus einem reichen Elternhaus, wie viele meiner chinesischen Freunde in Europa oder aus der Schulzeit.“ Diese könnten noch immer nicht verstehen, warum sie nicht längst eine Wohnung in Deutschland gekauft habe. „Das machen doch jetzt alle, sagen diese Freunde.“ Sie sei stattdessen schon froh, wenn sie eine Wohnung in Friedrichshain gefunden hat, die unter 1000 Euro im Monat kostet, auch wenn sie keine Küche hat.

Moni Zhang wurde inspiriert zu ihrer Karriere von Besuchen in Comedy Clubs in Berlin. Noch vor zehn Jahren fand vielleicht ein englischer Abend statt. Inzwischen gibt es vier englischsprachige Clubs, die Stand-up vor allem auf Englisch anbieten. Die Menschen auf der Bühne erzählen von ihrem Leben mit der Ausländerbehörde, von Dinner-Abenden mit Deutschen. Das Leben in Berlin bietet viele lustige Angriffsstellen. Im Publikum sitzen viele Deutsche, aber auch ein Mix aus anderen Ländern. Ihr gefalle das.

„Berlin ist perfekt für Leute wie mich“, sagt sie. „Ich kann hier sehr viel ausprobieren, ohne einen großen Druck.“ Die meisten Witze müsse man eben vor Publikum ausprobieren, um zu sehen, ob sie funktionieren. „In New York oder London würde ich niemals so viel Bühnenzeit bekommen.“ Dort müsse man auch Geld bezahlen, um auf die Bühne zu gelangen. „In Berlin ist das Publikum ehrlich, aber nicht unhöflich“, sagt sie, „und sie haben kein Problem damit, dass sich jemand über sie lustig macht.“

Sie wolle dieses Jahr mindestens 31 Auftritte bestreiten. Nur so könne sie besser werden. Dabei hilft hier, dass sie mitten in der Pandemie ein eigenes Festival gegründet hat: Das Berlin Mental Health Festival (BMHF). Es fand im Jahr 2021 zum ersten Mal statt und ließ Künstler, Comedians und Psychologen zusammenkommen – und über ihre Erfahrungen reden. Die Non-Profit-Organisation spendet alle Überschüsse an die Depressionshilfe. Es geht vor allem darum, Aufmerksamkeit auf psychische Probleme zu lenken.

„Es ist bisher immer noch ein Tabu, über geistige Gesundheit zu sprechen“, sagt Zhang. Das sei natürlich nicht immer leicht und am Anfang fühlt es sich auch noch etwas ungewohnt an. „Aber das ist sowieso ein Klischee, dass Comedians immer selbstsichere Menschen seien“, sagt sie. „Die meisten sind wie ich eher zurückhalten und benutzen die Stand-up wie eine Rüstung, wie eine Rolle, in der sie alles einmal aussprechen können.“ Das öffne manchmal alte Wunden, aber sie bekomme eben auch viel zurück.

Sie hat deshalb auch einen Podcast gestartet und spricht dort einmal wöchentlich mit anderen Comedians über deren psychische Probleme. In den bisherigen 25 Folgen von „It’s Mental“ berichtet unter anderem der ostdeutsche Comedian Richard Schäfer von seiner Pornosucht. Die Sängerin Lucy Straathof erzählt von ihrem Burnout. Andere berichten von Selbstmordgedanken, Anti-Depressiva, Drogen, Alkohol und wie sie es aus ihrem Loch herausgeschafft haben – oftmals mit Hilfe der Bühne und der Zuhörer.

„Comedy hat mir soviel gegeben in meinem Leben“, sagt Moni Zhang. Berlin habe ihr die Möglichkeit geboten, das auszudrücken. „Mein Therapeut ist Chinese“, erzählt sie und fragt: „Wo kann man das so leicht finden in der Welt?“ Trotzdem möchte sie als nächstes gern Deutsch lernen. Ihr Ziel ist es, bis Ende des Jahres auf dem Niveau B2 angelangt zu sein. „Mein Akzent wird bleiben“, sagt sie, „aber der ist doch ganz hübsch, nein?“

Fünf Jahre nach dem Attentat auf dem Breitscheidplatz

Berlin – Da gibt es diese Frau, die lieber anonym bleiben möchte. Sie stand nur wenige Meter entfernt von der Stelle, wo der Lastwagen in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt fuhr. 19. Dezember 2016, Breitscheidplatz. Neben dieser Frau starben Menschen, sie selbst war unter Schock, aber sie weiß noch, dass sie sich zu Schwerverletzten beugte, ihnen Wasser gab, sie beruhigte, bis die Notfallmediziner vor Ort waren. Sie streichelte Köpfe, redete.

Fünf Jahre später ist ihr Status als „Ersthelferin“ nicht anerkannt. Vielleicht wird das kommendes Jahr passieren, das kann Rainer Rothe so genau nicht sagen. Er ist Psychologe für Traumapatienten und betreut viele Opfer vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz. 13 Menschenleben hat das Attentat gefordert, das letzte Opfer ist erst vor wenigen Wochen an den Folgen gestorben. Doch darüber hinaus gibt es viele Opfer mit psychischen Schäden. Rothe hat für sie in dieser Woche einen offenen Brief an den Bundespräsidenten geschrieben, darin flossen die Erfahrungen aus Gesprächen mit 18 Betroffenen des Terrorattentats ein.

Rothes Bilanz ist katastrophal. „Es gibt Patienten, da hat es vier Jahre gedauert, bis die Reha bewilligt wurde“, sagt er der Berliner Zeitung am Wochenende. „Andere Patienten haben mehr als ein Jahr gewartet, bis sich überhaupt jemand um sie gekümmert hat.“ Ihn habe die langsame Reaktion der Behörden zum Teil sprachlos gemacht. „Erst vor drei Wochen kam die Angehörige eines Opfers zu mir in die Praxis und weinte noch einmal, weil sie das immer noch so mitnehme.“ Viele Opfer haben sich inzwischen rechtlichen Beistand genommen und klagen für ihre Entschädigung.

In seinem Brief schreibt Rothe an Frank-Walter Steinmeier, dass viele Opfer des Attentats sich eher verhört fühlen als befragt. „Mütter, Väter, Kinder, Partner, Großeltern, die einen geliebten Menschen verloren haben, müssen sich sagen lassen“, schreibt er, „dass sie nicht betroffen sind, weil sie nicht vor Ort waren.“ Eines seiner betreuten Opfer habe sich von einem Sachbearbeiter anhören müssen: „Menschen sterben nun einmal an Krankheiten oder Unfällen.“ Er müsse als Therapeut mit ansehen, wie Menschen „systematisch ohne Empathie zermürbt werden“.

Silvia Kostner vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) sagt, dass sie grundsätzlich die Frustration verstehen kann. Selbstverständlich werden die Mitarbeiter im sensiblen Umgang mit den Opfern geschult. „Aber wir müssen den Bedarf bei jedem Fall einzeln prüfen“, sagt sie. Jeder Fall unterscheide sich stark von dem nächsten, hinzu kommen runde Tische und Absprachen mit anderen Ämtern. „Die Arbeit an diesen Fällen ist zum Teil sehr aufwendig und wird sich bei einigen auch noch Jahre hinziehen, weil einige Rentenzalungen lebenslang gezahlt werden.“

Kostner weist aber darauf hin, dass auch viel erreicht worden sei in den vergangenen fünf Jahren. Das Lageso habe nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) von fast 200 Anträgen 150 positiv bescheiden können. Nur 14 Anträge wurden abgelehnt. Die Schwere der Verletzungen und der jeweils gesundheitlichen Schäden ist bei Betroffenen sehr unterschiedlich. So gebe es Menschen, die nur kurzfristig beeinträchtigt sind, bei anderen seien die Verletzungen so schwer, dass ihnen neben einer Grundrente auch eine Zulage für Schwerstbeschädigte zustehe. Das sei vom jeweiligen Grad der Schädigung (GdS) abhängig.

Zudem, darauf weist das Amt hin, können sich die Mitarbeiter „sehr gut in die Situation der Opfer hineinversetzen“. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung seien Menschen, die den „Terroranschlag in unserer Stadt als beängstigendes Ereignis miterleben mussten“. Es war in diesem Fall auch für die Opfer nicht einfach zu verstehen, wer bei welcher Behörde Ansprüche stellen kann, sondern auch für die Zuständigen in den Ämtern. Alle Behörden mussten sich untereinander absprechen, um die Leistungen zu koordinieren. „Wenn uns die Opfer um Rat gefragt haben, waren wir bemüht so gut wie möglich zu helfen.“

GdS und OEG – für Mitarbeiter in diesen Ämtern sind das ganz normale Begriffe, auch wenn zum Teil harte Schicksale dahinterstecken. Beim Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz kommt noch hinzu, dass kurz danach nicht klar war, ob überhaupt das OEG greifen würde. Schließlich sei ein Auto keine klassische Waffe, mit der Terroristen töten. Vor fünf Jahren war diese Art des Anschlags noch neu, erst ein halbes Jahr vorher war es an der Promenade von Nizza zu einem ähnlichen Attentat gekommen, mit 86 Toten.

Silvia Kostner sagt, dass die Kollegen der Abteilungen sofort alles dafür taten, dass das OEG hier greift. „Wir haben damals sofort eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich bis heute über die Fälle mit anderen Abteilungen wie der Verkehrsopferhilfe, Traumaambulanzen, Versicherungen und anderen Bundesämtern auseinandersetzt.“ Diese Vernetzungen seien wichtig, damit die sehr individuellen Fälle auch die entsprechende Hilfe bekommen. „Das hat im Einzelfall gedauert“, sagt sie, „aber gemessen an der Menge an Fällen kann das den Mitarbeitenden nicht zum Vorwurf gemacht werden.“ Extrembeispiele, wie Rothe sie nennt, gebe es zudem auf allen Seiten und nennt Beispiele von überzogenen Forderungen. „Noch mal: Jeder Antrag wird einzeln geprüft.“

Rainer Rothe weist am Telefon aber noch auf etwas anderes hin. Er sagt, dass Studien bewiesen haben, dass die Folgekosten von nicht behandelten psychischen Erkrankungen für die Gesellschaft sehr hoch sind. In den USA wurden Kriegsveteranen begleitet, deren Traumata nicht behandelt worden waren. Ein Großteil dieser Männer erprobte die typischen Bewältigungsstrategien an sich selbst: Drogen, Alkohol, Glücksspiel. Diese Mittel schaffen kurzfristig Entlastung, aber auf lange Sicht wirken sie destruktiv für die Menschen. Rothe sieht diese Folgen auch auf die Angehörigen der Opfer des Breitscheidplatzes zukommen.

„Ich finde, man sollte pro Opfer den Faktor zehn anwenden“, sagt er. „Jeder der Toten hat Familie, Freunde, deren Leben durch das Attentat eine neue Richtung genommen hat.“ Der Psychologe geht davon aus, dass da noch viele unerkannte Traumapatienten auf uns zukommen. Einige von ihnen meiden den Platz rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Andere wiederum gehen dort regelmäßig hin, vor allem, seitdem dort ein Denkmal steht.

Seit dem 19. Dezember 2017 ist es eröffnet. Es zeigt einen goldenen Riss, der durch die Treppe vor der Kirche führt und bis zur Straße ausläuft. Es wird auch an diesem Sonntag wieder ein Treffpunkt für Angehörige sein und für Menschen, die nur durch Zufall in der Nähe waren und ebenfalls mit den Bildern der Tat in ihrem Kopf leben müssen. Neben den Namen der Opfer und ihren Herkunftsländern steht dort noch ein Satz: „Für ein friedliches Miteinander aller Menschen.“

Vieles hat sich in der Vergangenheit geändert: Das Land Berlin und der Bund haben für den Fall eines Terroranschlags eine Verwaltungsvereinbarung über ein gemeinsames Beratungstelefon geschlossen. Die Bundesregierung hat einen Opferbeauftragten und seine Geschäftsstelle eingerichtet.

Rainer Rothe wünscht sich neben einer sensiblen Aufarbeitung der Opferansprüche noch mehr. „Ich wünschte, dass auch in den Schulen die Gewaltprävention einen größeren Anteil bekommt“, sagt er. Auch einen Kongress über Traumafolgen regt er in Berlin an. „Denn nur so lassen sich in Zukunft solche Ereignisse vermeiden.“ Außerdem wünscht er sich einen weiteren Ort der Trauer. „Berlin braucht ein Denkmal gegen Terror“, sagt Rothe. Die Treppe gefalle ihm, aber sie sei zu spezifisch. Ihm habe die Beschäftigung mit den Betroffenen gezeigt, dass Menschen auf viele Arten beeinflusst werden durch diese Taten. Egal, ob sie auf Bali, in Brüssel, Paris, Nizza oder in Berlin passieren.

Porträt Julian Reichelt, Ex-Chef der BILD

Kommt ein Chefredakteur in ein Großraumbüro voller Mitarbeiter, an seiner Hand die Tochter, fünf Jahre alt. Sie schaut zu ihrem Vater hoch und fragt: „Du, Papa, was machst du jetzt?“ Der Chefredakteur antwortet laut hörbar für alle: „Jetzt schreie ich jemanden zusammen – und weißt du, was? Du kannst dir jetzt aussuchen, wen Papa zusammenschreit.“ Die Pause, die dann folgt, beschreiben Mitarbeiter aus der Redaktion als absurd lang. Das Kind schaut in die Gesichter von Journalisten, die zum Teil seit Jahrzehnten für die Bild-Zeitung arbeiten – bis irgendwann der Chefredakteur sagt: „War nur Spaß, komm, wir gehen in mein Büro.“

Geschichten wie diese gibt es viele über Julian Reichelt, einen Chefredakteur, der wie kein zweiter die Redaktion und das Land spaltete. Mit nur 41 Jahren kann er auf fast fünf Jahre an der Spitze der größten deutschen Boulevardzeitung zurückblicken. Er hat zwar den Rückgang der Printauflage nicht aufhalten können, aber er hat die Transformation der Marke zum Online- und TV-Medium durchgesetzt. Im August hatte Bild 24 Millionen Online-Nutzer, seit acht Jahren gibt es Bild-Plus, das unter Reichelt die Abozahlen steigern konnte – und er hat den Start des Senders Bild TV begleitet und damit einen Traum des Verlagsgründers Axel Springer vollendet.

Zu Beginn dieser Woche wurde der Bild-Chefredakteur jedoch aller Aufgaben entbunden, weil er offenbar den Vorstand des Verlags Axel Springer belogen hatte über seine privaten Beziehungen zu Mitarbeiterinnen. Da in einem Compliance-Verfahren vor rund einem halben Jahr bereits Vorwürfe von Machtmissbrauch gegenüber Frauen laut geworden waren, zog der Verlag jetzt die Reißleine. Damit endet vorerst die Karriere eines Journalisten, den selbst ärgste Gegner immer als einen Mann mit Instinkt und großem Einsatzwillen einschätzten.

Sein Büro sei immer offen gewesen, sagt ein männlicher Kollege über ihn, der bis vor kurzem gern mit ihm zusammengearbeitet hat. „Er hat sich immer erinnert, wenn man vor Jahren einmal eine Wette mit ihm abgeschlossen hatte und einen dann mit einem Kasten Bier überrascht.“ Auch viele ehemalige Mitarbeiterinnen äußern sich positiv über ihn, erzählen, dass sie nie das Gefühl hatten, von Reichelt nach ihrer „Fuckability“ bewertet zu werden, wie es in dieser Woche im Spiegel zu lesen war. Aber ja, viele hätten das Geraune mitbekommen, dass es immer wieder Frauen gab, die enger mit Reichelt in Kontakt waren und dann versetzt wurden, in andere Teile des Springer-Konzerns oder der Bild.

Das allerdings hat, wie die New York Times es in ihrem Sittengemälde vom vergangenen Wochenende nachzeichnet, im Verlag Tradition. Springer ließ Frauen mit dem Helikopter nach Sylt fliegen und schickte ihnen vorgedruckte Briefe mit seiner Unterschrift, in denen er ihnen für die Nacht dankte. Wer durch die Verlagsgeschichte des Hauses geht, wird immer wieder auf leitende Redakteure treffen, die ihre Frauen verließen, um junge Kolleginnen zu heiraten oder mit ihnen Kinder zu zeugen. Und wer ehrlich ist, weiß, dass da der Springer-Verlag keine Ausnahme macht, wenn es auch in einem Boulevard-Umfeld vielleicht länger dauert, bis die derbe Sprache auffällt.

Begonnen hat Julian Reichelt seine Karriere beim Haus Axel Springer im Jahr 2000, als er die gleichnamige Journalistenschule besuchte. Seine Mitschüler aus der Zeit haben noch den Journalisten Reichelt kennengelernt, den man als „besessen“ beschreiben kann. „Er wurde angehimmelt“, sagt einer. Reichelt hatte ihnen erzählt, dass er immer zur Bild wollte, dass er den Boulevardjournalismus für den einzig echten Journalismus hielt. Also die Welt allen zugänglich zu machen, dem Bauarbeiter und der Friseurin. Als der Volo-Kurs Besuch vom Betriebsrat bekam, „bombardierte ihn Reichelt derart mit Fragen“, sagt ein Kollege, „die ihn als Feind des Unternehmens entlarven sollten“.

Die Jahre als Kriegsreporter, so sagte er selbst in Interviews, waren für Reichelt die „formative years“, die prägendste Zeit. Da wurde er zu dem, was ihn ausmacht. Er berichtet von Müttern, die ihre Babys begraben. Von Menschen, die nicht nur ihr Zuhause hinter sich lassen müssen, sondern ihr Leben, von Soldaten, die am Krieg zerbrechen. Er schreibt darüber ein Buch bei Bastei Lübbe mit dem bezeichnenden Titel „Ich will von den Menschen erzählen“. In einem Interview über diese Zeit sagt er: „Es fällt schwer, in einem Krieg, bei dem immer wieder gegen die eigenen Werte verstoßen wird, objektiv zu bleiben.“ Er glaube auch nicht, dass das überhaupt möglich sei, denn es gebe auch keine „neutralen Schicksale“. Reichelt weiter: „Das Ziel ist es, wahrhaftig zu bleiben.“

Die Kriegsmetaphern, sie tauchen auch wieder auf in der Amazon-Dokumentation, die vor einem Jahr erschien und in sieben Folgen den Alltag der Redaktion erstaunlich offenherzig zeigte. Da wurde einmal das Nasenspray auf dem Tisch des Chefredakteurs in Szene gesetzt, da werden die Kollegen laut kritisiert, und als der „Wirrologe“ (O-Ton Reichelt) die Handynummer eines Bild-Mitarbeiters twittert, sagt er in die Kamera: „Das ist das Kriegsbeil.“ Man kann diesen Satz auch so lesen: Reichelt setzt sich für seine Mitarbeiter ein. In dieser Amazon-Doku bezeichnete er seinen Beruf als „first row seat in history“ — in der ersten Reihe sitzen und die Weltgeschichte beschreiben. Kleiner ging’s nicht.

Vor rund einem Jahr sollte ein Mitarbeiter einen Fotografen mit in den Bundestag nehmen, um einen Abgeordneten mit einer Aussage zu konfrontieren. Der Mitarbeiter verstand das falsch und fragte Bild-Live an, die jedoch nicht schnell genug antworteten. Solche Ablauffehler wurden in der Redaktion immer wieder festgestellt. Aber Reichelt platzte der Kragen, er ließ gegen Mittag die gesamte Redaktion antreten. Er stellte sich an das Panoramafenster und zeigte auf den Bundestag . „Wenn wir nicht in der Lage sind, innerhalb von vier Stunden einen Bild-Reporter dorthin zu bekommen“, schrie er, „dann können wir dichtmachen!“

Sein Büro beschrieben Besucher als eine Imitation vom Deutschland der 80er-Jahre. Ein großer Schreibtisch, voller Akten und Papiere, der Aschenbecher, in dem immer eine Zigarette glomm, die zerrissene amerikanische Flagge im Rahmen, das rote Sofa und das berühmte und seit dieser Woche berüchtigte Feldbett. „Es sah eher aus wie ein Feldbett, das sich Manufaktum ausgedacht hatte“, sagt ein Besucher.

Doch selbst die kritischsten Kritiker kommen nicht umhin, den Fleiß, den Willen zur großen Schlagzeile, zum politischen Mitmischen bei Reichelt zu sehen. Er sei hart gewesen, gegen sich und andere. Er konnte einstecken, wenn man ihn kritisierte, ja, er schien Menschen erst dann wirklich wahrzunehmen, wenn sie ihn kritisierten. Nicht umsonst gilt sein bester Freund Paul Ronzheimer auch als sein schärfster Kritiker. Er soll Texte verhindert haben, die Reichelts Ansehen noch mehr geschadet hätten. Als Pinky und Brain bezeichneten sich die beiden einst in einem Interview.

Zuletzt waren es wohl zu viele Gegner geworden, die sich in Gesprächen immer weniger zurückhielten mit Geschichten aus dieser Redaktion der Angst. So stand einer dieser Mitarbeiter neben Friede Springer, als sie ein kleines Fest im Journalistenclub im 18. Stock des Springer-Verlages eröffnen sollte. Alle waren da, nur Julian Reichelt fehlte noch. Als Mathias Döpfner sie bat, noch kurz auf Reichelt zu warten, soll sie gesagt haben: „Ach der …“ Sie winkte ab und sagte: „Wir fangen an!“