Seyhan F. ist eigentlich Tierliebhaberin, das ist wichtig, weil das bei ihr für alle Tiere gilt. Sie hat ein Vogelhaus auf einer Stelze stehen, ein weiteres hängt an der Wand, gleich neben einem Insektenhotel.

Im ersten Hof nistet manchmal ein Kauz, sagt sie, das kann man hören. Im Garten hat sie schon Habichte, Waschbären und Erdhummeln gesehen und sich immer gefreut über so viel Stadtnatur. Und als die Nachbarin einmal von Mäusen in der Wohnung berichtete, da war es Seyhan, die ihr anbot, die Tiere mit einer Lebendfalle zu fangen und sie ins Grüne zu tragen.

„Ich hab sie in Brandenburg freigelassen“, sagt sie. Auch gegen Tauben hat Seyhan F. nichts. Sie kann im Garten genau die Stelle im Baum zeigen, wo sich gerade eine Ringeltaube eingenistet hat. „So ungeschickt, das Tier, sie stolpert regelmäßig auf dem Weg zum Nest.“ Gerade als sie vom Vogel spricht, kommt er angeflogen und klettert ohne zu stolpern in sein Nest. Aber Ratten? „Ratten in dieser Menge ekeln mich dann doch, wenn ich nur eine bei uns in der Wohnung gesehen hätte, wären wir ausgezogen.“

Die Kreuzbergerin wohnt seit fast vier Jahren im Bergmannkiez, die Wohnung hat zwei Etagen, oben das Schlafzimmer, unten das Wohnzimmer mit Esstisch und dem Zugang zum Garten. Der ist groß, es gibt Blumen und Beete, eine Sitzecke. Sie pflanzt gerade zwei Sorten Klee und Gras an, damit sich der Boden erholen kann. „Gründünger“ heißt das bei Gärtnern.

Doch das Erlebnis mit dem Rattenturm im Mai des vergangenen Jahres hat das Verhältnis zu dieser Wohnung und vor allem zum Garten nachhaltig verändert. Die Ratten im Garten wurden zu einer Herausforderung, die ihren Mann und sie den ganzen Sommer über beschäftigte. Bis heute prägt sie diese Erfahrung. Das einzig Positive: Sie hat dadurch Kontakt zur neuen Nachbarin bekommen, die sich als ein Hollywoodstar entpuppte.

Das Rattenthema begann auf der Hochzeitsreise. Seyhan F. und ihr Mann hatten mitten in der Corona-Krise im sehr kleinen Kreis geheiratet. Im Mai vor einem Jahr flogen sie dann nach Finnland und bekamen dort ein Video geschickt. Im Hinterhof, ein oder zwei Häuser weiter, wurde eine sehr alte Mauer abgerissen. Ihre neuen Nachbarn hatten das gefilmt. Wenn man ganz genau hinschaut, bewegt sich auf dem Video in dem Schutthaufen etwas. Oder ist das nur der Staub?

Das Paar kam zurück und setzte sich im Juni 2021 abends wieder öfter auf den Hof. „Immer wieder raschelte es abends“, sagt sie. „Als dann auch lautes Quieken dazu kam, wurde es mir doch unheimlich.“ Sie seien dann lieber in die Wohnung gegangen. Am nächsten Tag erzählte eine Nachbarin, die immer ihren Biomüll auf das Fensterbrett stellte, dass der umgeworfen war. „Sie hatte einen Schatten gesehen, aber trotzdem das Fenster offen gelassen.“ Katze, Waschbär, Marder. Alles schon im Hof gesehen.

Dann kam der Abend, an dem Seyhan F. vom lauten Rascheln im Hof aus ihrem Schlaf aufschreckte, in den Garten blickte und den Weg nicht mehr sah: Alles war schwarz vor Ratten. Sie fragte bei den Nachbarn nach, die ihr das Video geschickt hatten. Sie stellten sich vor, sagten, dass sie selten in der Wohnung seien. Sie drehten gerade in Potsdam-Babelsberg einen Kinofilm. Aber ja, das mit den Ratten hätten sie auch mitbekommen. Aber sie hätten einen Hund, und der halte die Ratten weitgehend fern. Was Seyhan F. in dem Augenblick dachte: Er hält sie fern, und dadurch kommen alle zu uns.

Es ist generell so, dass Ratten in der Öffentlichkeit sofort gemeldet werden sollten. Niemand weiß genau, wie viele von den Nagetieren in Berlin leben. Zwischen zwei und zehn Millionen, sagen Schätzungen. Die Tiere sind aber so scheu, dass man sie selten sieht. Wenn doch, dann sind es offenbar zu viele. So wie am Oranienplatz bei den Mülltonnen, in der Gegend zwischen Jannowitzbrücke und Ostbahnhof oder im Waldeckpark. Die Ufer von Spree und Landwehrkanal schaffen mit vielen Grünflächen ideale Voraussetzungen für Rattenbefall. Manche Spielplätze in Berlin können wochenlang nicht betreten werden, weil Giftköder ausgelegt wurden.

Seyhan F. aber wollte genau das nicht: die Giftkeule. Zusammen mit den berühmten Nachbarn überlegte sie, wie man dem Problem ohne Gift bekommen könne. Der Hund der Hollywood-Stars sollte ja nicht aus Versehen mitvergiftet werden. Doch nach dem Besuch des Kammerjägers war klar: Etwas anderes wird nicht funktionieren. Die Hausverwaltung hatte ihn geschickt, sein Urteil war eindeutig. Es seien bereits so viele Höhlen gegraben, man könne dem Problem nur mit Gift Herr werden.

Denn die Zeit laufe ihnen davon: Ratten können pro Jahr zwischen vier und sieben Mal Nachwuchs gebären. Pro Wurf können acht oder neun neue Ratten hinzukommen. Manche Tiere bekommen auch 22 Babys auf einmal. Nach drei Monaten sind die Nachkommen geschlechtsreif. Sie sind Allesfresser, zu ihren Speisen gehören auch Seife und Kerzenwachs. Sie übertragen rund 70 Krankheiten und über den Rattenfloh die Pest.

Seyhan F. kennt diese Geschichten, sie hat sich belesen im vergangenen Sommer. Sie weiß auch, dass die Ratten, die im Brandenburger Umland bei ihren Eltern leben, eine Art Wanderratte sind. „Ich war einmal dort, aber die sind bei weitem nicht so groß“, sagt sie, „außerdem sind sie nicht so sehr eine Plage, weil sie mehr Platz haben.“

Die Berliner Wanderratte muss sich oft in einem sehr ungesunden Umfeld behaupten, in der Kanalisation zum Beispiel, während die Wanderratten zum großen Teil in ihrem natürlichen Habitat in Wäldern leben. „Wir haben uns dann doch für das Gift entschieden.“ Sie wollten den Garten zurück, wieder Vögel füttern.

Sie weiß noch, dass sie den ganzen Sommer über den Garten nicht benutzt haben. Der Kammerjäger kam an einem Tag Ende August. Er schüttete das Gift in die Löcher in den Büschen und in die verschiedenen Ecken des Gartens. Er brachte auch überall die roten Schilder („Achtung, Rattengift!“) an, im Vorderhaus, im Hausflur. Spätestens jetzt wussten alle im Haus, was los war. Der Hollywood-Star war etwas ungehalten, das zeigten die SMS, weil er Angst um den Hund hatte. Aber er war überstimmt.

Das Ende der Ratten, für Seyhan F. war es kein schöner Tag, eher ein traumatischer. „Ich war im Wohnzimmer und hörte plötzlich lautes Fiepen.“ Sie sah Dutzende Ratten im Hof, wie am ersten Tag, aber irgendwas stimmte nicht. „Sie wirkten wie im Todeskampf.“ Sie hatte gedacht, Ratten verenden einfach, mit diesem Drama hatte sie nicht gerechnet. Und auch nicht mit diesem Gefühl: Mitleid.

Sie werde in diesem Sommer noch ein paar Mal daran denken, sagt sie. Und obwohl es schon ein paar warme Tage gab, war sie bisher noch nicht einmal im Garten, um sich zu erholen. „Wir müssen ihn uns neu erobern.“