Porträt des Schauspielers Max Mauff

Berlin – Metin weiß, dass er nicht mehr lange durchhalten wird. Er hat eine Erkältung, sein kleines Baby ist gesund, aber es gibt niemanden, der sich um dieses Baby kümmern kann. Er hat noch die Nachbarin um Hilfe gebeten, aber weil er sie vorher mal als „Nazi“ beschimpft hat, schlägt sie ihm die Tür zu. Seine Mutter will er aus Stolz nicht fragen, seine Schwester war schon früher keine Hilfe, als sie ihn zum Koksen verführen wollte. Und was ist mit seiner Freundin, der Mutter des Babys? Die ist vor einem halben Jahr ganz plötzlich gestorben. Im Erdgeschoss wird Metin schwindelig. Und dann liegt er einfach auf den kalten Fliesen.

Als die Serie „MaPa“ im April 2020 auf Joyn anlief, waren viele verwundert, was der Streaming-Ableger von ProSieben mit diesen sechs Folgen beweisen will. Ein alleinerziehender Witwer in Berlin zwischen Trauer und Babybrei? Die Kritik war überwiegend positiv, aber auch irgendwie verwirrt, weil „MaPa“ eben sehr quer steht zum sonstigen Unterhaltungsprogramm des Senders. Im vergangenen Jahr hat ProSieben immer wieder durch Aktionen zu beweisen versucht, dass der Sender nicht mehr sklavisch auf die Quoten schaut – nicht zuletzt in dieser Woche durch die sieben Stunden dauernde Live-Reportage aus einem Krankenhaus von Joko & Klaas. In der kommenden Woche läuft „MaPa“ zum ersten Mal auch im RBB.

Max Mauff ist das Gesicht dieser Serie, er spielt Metin, der in jeder Folge irgendwann überfordert ist von allem. „Diese Serie löst nicht viel Freude aus“, sagt er, „das ist mir klar.“ Er meint die Trauer um die tote Freundin, die Metin in jeder Szene im Gesicht abzulesen ist. Aber die Zusammenarbeit mit dem Team, die habe ihn wirklich glücklich gemacht. „Ich hatte das Gefühl, ich bin in der Zukunft angekommen.“ Solch eine Rolle sei doch vor zehn Jahren noch überhaupt nicht denkbar gewesen: Ein junger Mann mit einem nichtdeutschen Namen, der nicht zum Helden wird, sondern einfach scheitert und ohne Hilfe von Frauen zusammenbricht. „Wenn man so etwas erzählt, provoziert man auch.“

Mauff ist 34 Jahre alt und läuft durch den Treptower Park, als er das sagt. Das ist kein Zufall, er hat sich diese Gegend ausgesucht, um über Männerbilder zu sprechen. Seine Beziehung zum Park rührt nicht nur daher, dass er in der Charité in Ost-Berlin geboren wurde und in Friedrichshain aufgewachsen ist. Er mag auch diese große Statue im Zentrum des Parks, das Sowjetische Ehrenmal. Ein 30 Meter hoher Mann mit einem Schwert und einem Mädchen im Arm. Die Statue erinnert an die 80.000 russischen Soldaten, die im Kampf um Berlin während des Zweiten Weltkrieges gefallen sind.

Er war oft im Treptower Park als Jugendlicher, hat sich mit seinen Freunden hier getroffen. Die Initialen von einigen von ihnen sind in seinem Knöchel eingeritzt. „Das haben wir uns damals mit 18 einfallen lassen“, sagt er, „weil wir dachten, wir würden unser Leben zusammen verbringen.“ Irgendwie seien die Wege dann aber doch auseinandergegangen, in den vergangenen zehn Jahren.

Der Osten ist für Mauff immer ein Thema geblieben. Er weiß genau, wo die Schauspieler seiner Generation herkommen: Ludwig Trepte (Ost), Florian Bartolomäi (West), Tom Schilling (Ost) und so weiter. Seine erste Hauptrolle hatte Mauff mit 15 in einem Jugendfilm – dann kamen in den Nullerjahren die ersten großen Kinofilme: „Die Welle“, „Der Vorleser“, „Berlin Calling“. In den 2010ern wurde er vielen durch seine Rollen in den Serien „Stromberg“ und „Sense8“ bekannt sowie in dem One-Shot-Film „Victoria“.

Mit jeder Rolle wurde Mauffs schmales Gesicht mit den charakteristischen großen Augen bekannter. Aber das ist eigentlich gar keine Kategorie für ihn. „Ich arbeite für meine Biografie“, sagt er. Das mache er ähnlich wie andere Schauspieler. „Ich möchte, dass irgendwann die Menschen auf meine Filmografie blicken und sich fragen, warum ich diese oder jene Rolle übernommen habe.“ Wenn ihn doch jemand auf der Straße erkenne, findet es Mauff interessant, aus welchem Projekt. „Ob sie jetzt ‚Sense8‘ oder ‚Stromberg‘ gesehen haben, das sagt ja mehr über den Zuschauer aus, als über mich.“ Wenn es gut laufe irgendwann, sagt er, dann schauen sich vielleicht die Menschen „Sense8“ an, weil ihnen „Victoria“ gefallen habe.

Die vielen Drehs, die er in den vergangenen Jahren hatte, kamen mit Corona zu einem abrupten Stopp. Mauff konnte glücklicherweise an Hörspielen weiterarbeiten, aber ansonsten war auch er gezwungen, seine Zeit anders zu verbringen. Neben viel Zeit mit seiner Tochter, die aktuell den „Traumzauberbaum“ hört, verbringt er seine Tage seit einigen Wochen auch auf seinem 250 Quadratmeter großen Kleingarten. Umgraben, pflanzen, wässern – und warten. Ein Kleingarten, das sei einer der wenigen Dinge, wo Geduld sich auszahle, sagt Mauff.

Inzwischen haben wir das Ehrenmal im Treptower Park erreicht. Obwohl die Sonne an diesem Vorfrühlingstag sehr stark scheint, ist fast niemand unterwegs in diesem Park. Auf dem Gelände um die Statue herum stehen nur einige bunt gekleidete Brasilianer, die laut auf Portugiesisch von eins bis vier zählen und jedes Mal einen anderen Tanzschritt vollführen: „Um, dois, três, quatro.“ Es ist eine seltsame Szene, die sich so fast deckungsgleich in „MaPa“ abspielen könnte. In der Serie geht Metin zu Ikea, alle um ihn herum sprechen nur „Blabla“. Die Welt aus der Sicht eines Depressiven kann eben manchmal auch sehr lustig sein.

„Darauf kommt es doch an“, sagt Mauff, „auf das Müh an Verrücktheit.“ Auch wenn die Geschichte von „MaPa“ traurig ist, solle es schließlich kein „Misery Porn“ werden. Deshalb sei die Beziehung von Metin mit seiner Freundin, die in Rückblenden erzählt wird, eben keine idealisierte romantische Zeit voller Glück. „Wir wissen doch alle, dass junge Eltern Schlafprobleme haben und nicht die ganze Zeit nur im Glück schweben“, sagt er. Das Gute am Drehbuch sei, dass die Mutterfigur auch Fehler haben darf und dennoch noch überraschende Wendungen und Twists bereithält. Damit schaffe man sich aber auch Gegner.

Schließlich ist auch Mauff mit einem Bild von Männern und Frauen aufgewachsen, das sich innerhalb recht starrer Grenzen bewegt. Väter kamen da nur als ständig arbeitende Ackerer vor und Mütter meist als idealisierte Heldinnen. Mauffs Mutter bekam den Job, das Kind und die Zeit im Ruderverein irgendwie alleinerziehend hin. Und wenn Mauff die Abende beim Großvater verbrachte, schauten sie dort zusammen Western. Für ihn waren das Bilder einer großen Welt, in die er eintauchen konnte. Das war zwar einerseits eine schöne Zeit, doch sie prägte auch ein Bild, das man wohl heute als „toxische Männlichkeit“ bezeichnen muss: Männer, die einen Raum betreten und sich der Frauen und anderer Kulturen „bemächtigen“ – ohne dass das jemals hinterfragt wird.

„MaPa“ ist das glatte Gegenteil davon. Die Serie war für den Grimme-Preis nominiert und dennoch hat ProSieben sich vorerst gegen eine zweite Staffel entscheiden. Max Mauff findet das schade, zumal viel von der zweiten Staffel schon feststand. Es sollte um Heldenbilder gehen und jetzt kommt diese Statue ins Spiel, hinter ihm, dieser Koloss mit Kind im Arm. „Ich hätte gern eine Szene hier gedreht“, sagt er. „Denn das sind schließlich die Heldenbilder, gegen die wir uns mit Figuren wie Metin auflehnen.“ Es könne nicht darum gehen, zum Helden des Alltags zu werden. „Ich selbst muss meine Anforderungen auch ständig anpassen als Vater.“ Aber er finde es beruhigend, dass er in einer Zeit lebt, wo diese Bilder nicht mehr so ungefragt übernommen werden wie früher.

Ein weiterer Film, der gegen diese Bilder angeht, ist Terrence Malicks „Ein verborgenes Leben“. Darin spielt August Diehl einen Österreicher, der nicht mitmachen will beim Zweiten Weltkrieg. Es ist ein Film über einen Mann, dessen Nein zur Gewalt ihn schließlich in den Tod führt. Max Mauff bewunderte Malick schon lang und wollte unbedingt mitspielen, selbst wenn es nur eine kleine Rolle war.

Als er jedoch zu keinem Vorspiel eingeladen wurde, machte er sich auf eine Wanderung. „Ich ging in die Alpen“, sagt er, „ich wollte für mich sein und zehn Tage in den Bergen die Natur anschauen.“ Als er am Tag acht in Südtirol in einer Hütte ankam, erreichte ihn der Anruf von Malicks Regieassistenten, ob er ein Foto von sich schicken könnte, Sie brauchten einen verwahrlosten Typen für die Rolle eines Deserteurs, der n einem Halbsatz im Briefwechsel zwischen Jägerstätter und seiner Frau erwähnt ist und sich in den Bergen vor der Armee versteckt, sagt Mauff. Ich kniete mich in den nächstbesten Bach und schickte Ihm Fotos von mir.  Ein paar Stunden später hatte er die Rolle des Sterz. Die Dreharbeiten fanden in den Südtiroler Bergen statt. Nur ein paar Stunden entfernt von dem Ort, wo Mauff gerade telefonierte. Er erarbeitete sich diese Rolle, die übrigens mit dem Metin aus „MaPa“ rein gar nichts zu tun hat.

Porträt der koreanischen Autorin Bae Suah

Bae Suah sitzt in Mecklenburg-Vorpommern in einem Haus, allein, mit Blick auf die Seenplatte und das Grün und Rot und Grau der Landschaft im Herbst. Sie denkt nach über Seoul, die Hauptstadt ihrer Heimat Südkorea, über Geister und über Menschen, die Schmerzen aushalten. Es ist Spätherbst an der deutschen Küste, aber Bae denkt an die Hitze im koreanischen Hochsommer, die sich in jede Pore des Körpers bohrt und dazu führt, dass über den Betten von schlafenden Menschen kleine Dampfsäulen entstehen. So ungefähr schreibt sie das dann auch auf: „Die hochsommerliche Metropole glich einem Tempel der betäubenden Mattigkeit, der vor Tausenden Jahren von einem lange verschollenen, dem Hitzekult frönenden Volk errichtet worden war.“

Die südkoreanische Autorin hat mit dem Buch „Weiße Nacht“ dieses Jahr einen Überraschungshit gelandet. Es ist ein absurd-schöner Roman über eine Frau, die unabhängig leben will und dabei doch immer wieder an ihre Wurzeln erinnert wird. Sie trifft auf Schriftsteller, auf ein altes Ehepaar, bei dem es sich vielleicht um ihre Eltern handelt, und schließlich auf einen Mann, der ihr Freund sein könnte. Und während all das geschieht, führt die Hitze des Sommers dazu, dass nicht nur die Gedanken sich auflösen, sondern auch die Grenzen zwischen den Menschen verschwimmen. Halt gibt der Wetterbericht, der wie klare Halterungen im Halbrealen ihren Text umgibt.

Darauf angesprochen sagt die 55-Jährige Autorin erst mal nichts. Sie sieht so aus, als erinnert sie sich an das Schreiben vor rund zehn Jahren. „Ich weiß gar nicht mehr, ob es ein Hörspiel war oder ein wirklicher Wetterbericht“, sagt sie, „aber es klang sehr abgehackt und dadurch so theatralisch oder: musikalisch.“ Dann erzählt sie vom Entstehungsprozess ihres Buches: „Zunächst muss ich gestehen, dass ich das Buch weder in Korea noch in Sommer geschrieben habe.“ Sie habe vielmehr im Winter in einem Häuschen in Mecklenburg-Vorpommern gesessen, vi

Bae spricht leise, in einem schönen Deutsch, das sorgfältig zwischen Dativ und Genetiv unterscheidet und jedes Wort einzeln betont. Bae Suah will Auskunft geben über ihr Schreiben, ihr Werk und Leben. 25 Menschen sind in das Koreanisches Kulturzentrum geladen, als sie über ihr Buch „Weiße Nacht“ spricht. Mehr sind aufgrund der strengen Corona-Regeln nicht zugelassen, es ist wenige Tage bevor die ganze Welt wegen „Squid Game“ einmal mehr auf Südkorea blickt.

Doch schon vor ihrem Roman, der in den deutschen Feuilletons euphorisch besprochen wird, haben südkoreanische Autorinnen wie Han Kang („Die Vegetarierin“) und Cho Nam-Joo („Kim Jiyoung, born 1982“) für Aufsehen auf dem deutschen Buchmarkt gesorgt, der in diesen Tagen trotz Corona sein wichtigstes Fest begeht: die Frankfurter Buchmesse.

Bae Suah aber sind diese Vergleiche eher unangenehm. „Ich schreibe seit mehr als 20 Jahren“, sagt sie, „aber ich lag nie im Trend, wie man so sagt, und ich glaube, ich möchte das auch nicht.“ Ihre Romane sind in Korea in kleinerer Auflage erschienen als dieses Buch in Deutschland. „Das kann daran liegen, dass koreanische Leser vielleicht gerne Geschichte mit einer klaren Story und Inhalt lesen möchten.“ Sie aber möge gerade Bücher, die sie verwirren. Sie erzähle in „Weiße Nacht“ mehr in Bildern, von Assoziationen und Fantasien, wie Szenen in einem surrealen Film. „Beim Schreiben sehe ich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht getrennt, ich sehe alles zugleich“, sagt Bae Suah und fährt nach einer Pause fort: „Ich möchte nicht für jeden schreiben.“

Begonnen hat sie mit dem Schreiben eher zufällig. Als sie mit 23 Jahren als Beamtin am Flughafen in Seoul arbeitete, schrieb sie ihre erste Kurzgeschichte für einen Wettbewerb – sie wollte sich selbst das Zehnfingersystem beibringen. Koreanisch ist eine Alphabet-Schrift. Diese Geschichte hieß „Dunkles Zimmer“ und gewann den Hauptpreis bei dem Wettbewerb. Seitdem sind viele Bücher entstanden, die häufig sehr rätselhafte Namen tragen: „Landstraße mit grünen Äpfeln“, „Club der roten Hände“ oder „Windpuppe“.

Obwohl sie im Jahr 2001 nach Deutschland ging und schließlich sogar dauerhaft Zeit hier verbrachte und die Sprache perfekt spricht, ist es ihr erstes Buch auf Deutsch. Sie hat sich mit der Sprache vor allem als Übersetzerin beschäftigt: Sie hat berühmte Autoren ins Koreanische übersetzt – Franz Kafka, W.G. Sebald, Jenny Erpenbeck, Christian Kracht.

„Ich bin keine Wissenschaftlerin“, sagt Bae Suah. „Ich arbeite sehr intuitiv, auch als Übersetzerin.“ Wörter wie Geister und Seele würden in Korea definitiv anders verstanden, sagt sie. „Aber es sind manchmal auch einfache Wörter wie ‚Mutter‘, ‚Sterne‘ oder ‚Liebe‘, die ganz anders verstanden werden in anderen Sprachen.“ Sie habe den Glauben, dass es eine perfekte Übersetzung nicht gebe. „Ich will nicht ewig forschen oder überlegen, sondern es muss sich richtig anfühlen.“ Sie war einmal auf der Buchmesse bei einem Treffen von Übersetzern von Christian Kracht. Dort ging es lange um das Wort „levantinisch“. „Manche konnten das ganz leicht übersetzen, andere, wie ich, haben dafür lange gebraucht.“

In ihrem Buch, zumindest in der deutschen Übersetzung, ist die Sprache sehr klar, doch häufig verändert sich mitten im Absatz plötzlich die beschriebene Realität und alles steht Kopf: „Als die junge Ayami eine Straße entlangging, entdeckte sie einen bläulichen Stein auf dem Boden und hob ihn auf. Unter dem Stein tat sich ein tiefes Loch auf, es führte zur Welt auf der anderen Seite des Spiegels, die parallel zur hiesigen existierte …“ Immer wieder kommt ihre Hauptperson an solch eine Stelle, wie ein DJ mixt Bae Suah dabei einige Texte in fast identischer Form immer wieder ein. Eines dieser Bilder ist der Kopf mit einem Nagel drin, ein sehr brutales Bild.

Bae Suah erzählt, dass sie mit dieser Erwähnung ein Trauma ihrer Kindheit verarbeitet. „Eine Schuldfreundin hat mir einst ein Geheimnis anvertraut“, sagt sie, „dass ich hier aufgeschrieben habe.“ Es habe einmal einen Onkel gegeben, der plötzlich verschwunden sei. „In seinem Abschiedsbrief stand, dass er den Weltschmerz nicht ertrage und in die Berge gegangen sei.“ Der Mann war Apotheker, hatte eine junge Frau und einen Assistenten. „Im Dorf erzählte man sich, dass der Leichnam unter dem Dach der Apotheke versteckt sei, weil der Assistent die Frau des Apothekers liebte.“ Der Assistent habe ihn ermordet, mit einem Nagel im Kopf. „Doch die Polizei fand die Leiche nie, und so blieb es ein Gerücht.“ Die Apotheke wurde geschlossen und der Assistent zog mit der Frau in eine andere Stadt.

Das Lesen von „Weiße Nacht“ führt subtil in solch grausige Welten. Inspiriert, sagt sie, sei sie von dem iranischen Autor Sadegh Hedayat. Dessen Buch „Die blinde Eule“ wolle sie einmal ins Koreanische übersetzen. Es wird in „Weiße Nacht“ mehrfach erwähnt, Bae glaubt, dass es in Korea viele Leser finden könnte. Das liegt vielleicht auch an der gemeinsamen Erfahrung von Iran und Korea mit dem Krieg. „Als ich Kind war, war es noch wie ein Alptraum, immer hat man von Kriegsgefahr gehört.“

Sie habe unter großer Angst gelitten. „Bis heute hat sich diese Lage nicht sehr geändert, die Angst bleibt immer im Hinterkopf, weil Korea eben getrennt wurde und bis heute getrennt ist.“ Auch darüber wollte sie schreiben, von diesem Alptraum aller Koreaner – von ihrem Häuschen im wiedervereinten Deutschland aus.

Interview with Vladimir Malakhov, Ballet Legend

Berlin –  Vladimir Malakhov (53) opens the door of his apartment in Mitte wearing a colourful kimono over sportswear. He has just finished his daily Instagram ballet class. His smile is broad and he offers a slice of “bird milk” cake, a traditional Russian snack he usually buys at a supermarket in Lichtenberg. He makes some tea, sits down and lights a cigarette.

Berliner Zeitung am Wochenende: Mr Malakhov, do you still smoke?

Vladimir Malakhov: Yes, I never really stopped. It was a very strange time last year. I usually never spend so much time in my apartment. I was stuck here. Normally, you know, I come in, change my clothes, stay two or three days, pack my bags again, and – ciao cacao!

Where were you when lockdown started?

I was just in Croatia to do a revival of Swan Lake. And then I went to St. Petersburg to visit my friends, then a competition in Kyiv. And then lockdown.

Is Berlin still home for you?

It is my base: wherever I go, I always come back to Berlin. I always look forward to this wonderful city. I stayed in Zagreb for three months to do Swan Lake there. But I missed my home, my plants and my friends. I get my energy from everything here. Look, I planted some tomatoes!

You look very healthy. What’s your secret? How did you stay so perfectly fit and in shape?

That is thanks to my niece. “Maybe you can do something on social media,” she said to me. Like a Facebook Live or something on Instagram. At first, I didn’t want that at all. But she insisted: please, people must know that you’re still alive. And I said, OK, open Instagram for me, please. And then she opened an account for me.

Why do you do it?

It’s like a present for people–and also to myself. Sometimes 200 people watch, sometimes 700. It helps me stay fit! All the training facilities were closed and there were also no performances. So these Instagram sessions became important to me.

Did you do one today?

Of course. Friday is a little easier than the rest of the week. Monday is like a warm-up, Tuesday is more complicated, something for the memory, some combinations. Wednesday and Thursday are very hard, I have to push, and today, Friday, is a little bit more for relaxation.

Do you miss the interaction with the audience?

Well, I do get in touch with my audience and they also ask questions sometimes. But after all, you know, we don’t talk so much. It’s ballet, we talk with the body, we don’t talk with the mouth.

Can you still sit on juries for dance competitions around the world?

Yes, but all of that is now digital. I work on the iPad and watch auditions. But it is not the same feeling when you watch it all on-screen.

What is missing?

All the different nuances, all the details. Yes, you can meet people–you sit, you watch, you see the sweat and hear the sound of the feet. But dance is a celebration of life. You need the dress, the perfume, the reality of it all.

What has changed in the dancing world since you retired as a dancer?

Of course they do more tricks now. But you know, if I want to see tricks I go to the circus. If I want to see gymnastics I go to the Olympics. Because first all, it must be beautiful. It’s art, after all! The same goes for pirouettes.

What do you mean, exactly?

Well, people start to turn and turn around like crazy! When I began my career, two or three pirouettes were normal. Now they do 10 or 15! And fast! It’s hard. But technique has improved so much, so it is possible!

Do you like it?

If it’s done beautifully, yeah, I like it. But it is not the quantity that counts, it’s the quality.

Would you say dance and politics can overlap?

I studied in Russia. I danced in Russia. I was born in Ukraine and, at that time, it was all one country. But I’m an artist and don’t talk about political issues.

But everything is political nowadays. I mean, the whole debate around black dancers… Would you have cast a black dancer for Swan Lake?

Of course. I don’t have a problem with a black dancer! I worked a lot with black dancers. All of them are my friends. But to bring the full-blown racial debate to ballet did not help.

In Berlin, it was controversial to expel a dancer while she was on sick leave.

But that is very common. If a director steps down and the next director doesn’t like a dancer – sorry, you are finished! But please don’t go and play the race card. These things have nothing to do with the decision. If you’re a good dancer, you can stay. And if you are not – ciao cacao!

Was she a good dancer?

No, nothing special, maybe a good group dancer. The ballet in New York has an African American ballerina who became a principal dancer – Misty Copeland. She is beautiful and she deserves her title.

Are you in contact with the ballet?

Not much, but of course I still have friends there. Some say this is the worst year the ballet has had, ever. But I don’t know lots of details because I’m not there. I just hear from people. They surely dance and do classes. But rehearsals are not really there.

So you still have good friends at the Berlin ballet?

Well, of course I do. When I built the company, I wanted to build a family, and I think I actually did. I danced with Nadja for many years. And I brought Dino into the company when he was 17 years old. And now he’s married to another dancer and they are expecting a baby.

How do you see your legacy as director of the company?

Every single thing I promised, I delivered. I brought the company to an international level. I brought in some new choreographers. The house was always full. I made it the most successful part of the Berlin operas. People were travelling a long way just to see us, from Japan, from the United States, from Russia.

So what’s next?

I am going to Saint Petersburg. It’s breathtaking. I love the city. Beautiful churches, beautiful theatres. And now everything is open and especially compared to our life here in Germany, it is so different! Restaurants, theatres, and museums have already been open for a long time.

Is the curfew a problem for you?

Not in Berlin. But when I was working in Slovakia, I was filming and we forgot about the curfew. When I left through the stage door there was a police car in front of me. I was so afraid, but we had permission to film.

Will you get vaccinated?

Of course. I decided I want to get the Pfizer vaccine, no matter what other people say. And I did. My first shot is on 25 April.

The interview was conducted by Sören Kittel.

Guter Park, böser Park

Berlin – Der Mitteplatz heißt eigentlich nicht Mitteplatz. Aber die Anwohner nennen ihn so. Es ist einfach der Platz westlich der U-Bahnstation Gleisdreieck. An diesem Platz müssen alle vorbei, die von Ost nach West oder von Nord nach Süd wollen, von Schöneberg nach Kreuzberg, vom Potsdamer Platz zur Yorckstraße. Der Mitteplatz ist der Punkt, der mit einer rosafarbenen 1 eingezeichnet ist auf der Orientierungskarte, die überall im Park aufgestellt ist. In der Legende steht unter „1“: „Sport & Spiel“. Der gesamte Park wird auf der Karte ernsthaft „Oase“ genannt.

Vormittags um 11 Uhr: Drei Frauen schieben drei unterschiedlich große Kinderwagen vor sich her. Daneben machen vier Männer Burpees, eine Liegestütz-Luftsprung-Kombination. Ein weiterer steht daneben, hat die Hand in die nackten Hüften gestemmt, schaut schwitzend in den blauen Himmel. Ein Mittdreißiger in Baggyjeans fährt Longboard und zieht dabei einen Rollkoffer hinter sich her. Er findet das selbst so crazy, dass er mit der anderen Hand ein Selfie-Video dreht.

Zwölf Stunden später am selben Tag: Drei Jugendliche hören laut Rap-Musik. Sie singen jede Zeile mit und das einzige Wort, das sie deutlich gemeinsam rufen, ist „Nutte“. Immer sehr laut. Zwei Endzwanziger, Frau und Mann, in seltsam stylischen Klamotten drehen derweil ihre Runden mit ihrem Skateboard auf der Tartanbahn. Die Art, wie sie einander umkreisen, wirkt vertraut, sie sprechen nicht. Ein Polizeiauto fährt um 23.14 Uhr am Mitteplatz vorbei. Die Musik verstummt.

„Der Park am Gleisdreieck ist ein Kompromiss“, sagt Matthias Bauer. „Dieser Platz hier ist es auch.“ Mitteplatz, den Namen haben sich die Leute angewöhnt, die rings um den Park wohnen. Eben weil der Platz in der Parkmitte liegt. „Es ist ja auch schön, dass man den Namen selber entwickelt und dass der nicht irgendwo einfach dran steht.“ Die Wege haben hier auch keinen Namen. Über das „Sport & Spiel“ auf der Karte muss Matthias Bauer lachen. Es klingt etwas verbittert. Er zeigt auf einen der E-Scooter, die am Rand des Parks stehen. „Mit denen haben sie Jagd auf Fußgänger gemacht.“ Inzwischen haben die Betreiber wohl etwas unternommen gegen den Missbrauch der E-Roller. Ein paar Tage später dann: die Aktion mit den Feuerlöschern.

Bauer begann im Jahr 2009 das „Gleisdreieck-Blog“ zu betreiben. Darin werden Themen rund um die Entwicklung der inzwischen 35 Hektar großen Grünfläche besprochen. Wer im Blog liest, bekommt schnell das Gefühl, dass diese Gegend wie keine zweite Berlins Probleme und Trends zusammenführt: die Verdrängung von Alteingesessenen durch Neureiche, die Kämpfe der Fahrradfahrer gegen die Fußgänger und umgekehrt, die fehlende Rücksichtnahme älteren Leuten gegenüber, die kaum im Park zu sehen sind. Der Dreck, die Kulturunterschiede, das Bildungsproblem, die Flüchtlinge, der Fitnesswahn, die geschlossenen Schulen in der Pandemie, die verdammten Drogen. Auf alles das knallt gerade die Sommersonne und lässt es hier am Gleisdreieck umso greller erscheinen.

Aber zurück zu den Feuerlöschern. Anwohner sagen, Jugendliche hätten sie aus den Parkhäusern in der Nähe gestohlen. Im Internet gibt es Videos, die zeigen, wie jemand die Feuerlöscher auf Menschen richtet und unter Johlen „abdrückt“. „Gleisdreieck030“ hält es stolz für Instagram fest. Anfang April wurden so auch Polizisten angegriffen und in die Flucht geschlagen. Als Anwohner ein paar Tage danach die Polizei anriefen und sich wegen des Lärms beschweren wollten, dauerte es vier Stunden, bis die Beamten vom Abschnitt 52 am Platz waren. Später sagte ein Sprecher, dass sie erst eine Hundertschaft zusammenbekommen mussten, denn zwei Polizeistreifen beeindrucken niemandem am Gleisdreieck.

Fast 250-mal mussten die Polizisten des Abschnitts zu Einsätzen allein in diesem Jahr zum Gleisdreieck ausrücken, jeder fünfte Einsatz war wegen Lärmbelästigung. Immer wieder entdeckt die Polizei verbotene „Corona-Partys“. Ein sogenannter kriminalitätsbelasteter Ort, also eine Gegend mit einer besonderen Häufung an Straftaten, ist der Park dennoch nicht, sagt eine Polizeisprecherin. Neben der Lärmbelästigung und der damit verbundenen erhöhten Jugendkriminalität komme es im Park vor allem zu verschiedenen Raub- und sogenannten Rohheitsdelikten, also Körperverletzungen oder Nötigungen, auch: Vergewaltigungen.

Die Liste wird länger, je nachdem, mit wem man spricht. Da ist etwa Beate K. Seiferth, die seit 24 Jahren in diesem Kiez wohnt und vor ein paar Monaten eine Bürgerinitiative gegründet hat. Da ist Matthias Bauer, der in den 80er-Jahren gegen das hier geplante Autobahnkreuz demonstriert hat, dann Architektur studierte und sich seit Jahrzehnten mit diesem Park beschäftigt, um den sich jemand kümmern muss. Und da ist Kristiana Elig. Sie leitet ein Café am Rande des Parks, das so heißt wie jenes nachtaktive Tier, das den Kopf um 270 Grad drehen kann: Eule.

Das Café Eule liegt südlich vom Mitteplatz, inmitten einer kleinen Gruppe von Kleingärten. Am Rand stehen zwölf Rosenbüsche. Kristiana Elig hat jedes Mal einen gepflanzt, wenn ihr Café zerstört, in Brand gesetzt oder alle Stühle kaputt geschlagen wurden. „Klar hätte ich zumachen können“, sagt sie. „Aber dann hätten sie gewonnen.“ Sie, das sind diejenigen, die Koksspuren auf den Tischen hinterlassen, Uringestank in den Sträuchern oder wie neulich eine Blutlache. Fast 30-mal wurde eingebrochen in den neun Jahren, die es das Café Eule gibt. „Erst Anfang der Woche hat wieder jemand versucht, das Schloss aufzubrechen.“ Aber das hat Frau Elig inzwischen verstärken lassen, es gibt eine Alarmanlage. Was sie nicht sein will: ein Opfer.

Die 48-Jährige hat zwei Kinder und bis vor ein paar Jahren Reportagen für das ZDF gedreht. Dann kam die Idee für das Café im Park, der noch nicht mal fertig war. Im Herbst 2011 wurde der Ostteil des Parks eröffnet, drei Jahre später der Westteil. Damals galt der Park als der einzige Park Berlins ohne Dealer. Es dauerte, bis sich Menschen auf den Wiesen niederließen, zu neu wirkte alles. Die Stadt fremdelte eine Weile mit dieser seltsamen Fläche, die aus der Luft betrachtet aussieht wie jener gezackte Pfeil, der auf Stromkästen vor Hochspannung warnt. Dann kam das erste Graffiti, die erste zersprungene Flasche, die erste Spritze im Sandkasten.

Matthias Bauer ist schon durch den Park gelaufen, als der noch umzäuntes Bahngelände war. „In den 70er-Jahren war hier ein Autobahnkreuz geplant“, sagt er, „das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.“ Aber damals stand die Mauer noch und das hier war eine Brache. Heute treffen sich im Park die Bezirke Mitte, Schöneberg und Kreuzberg, das macht die Frage der Zuständigkeit nicht einfacher. Bauer zeigt auf die neuen Gebäude, die gerade neben dem Mitteplatz gebaut werden. „Im FNP ist diese Fläche noch als Grünfläche markiert.“ FNP steht für Flächennutzungsplan. Jetzt entsteht hier ein S-förmiges Gebäude. „Und warum diese Form?“, fragt er und antwortet gleich selbst: „Damit für noch mehr Wohnungen das Argument Parkblick gelten kann.“

Bauer hat nichts gegen Neubauten. Aber er findet es problematisch, dass hier falsche Erwartungen geweckt werden. So ist es schon am Mauerpark in Prenzlauer Berg oder an den Luxusbauten am Friedrichshain oder am Teutoburger Platz gewesen. Da kosten 70 Quadratmeter so viel wie eine kleine Stadtvilla an der Stadtgrenze zu Brandenburg – und manche bezahlen es trotzdem. Und dann wundern sich die Erstbezügler, dass der nahe gelegene U-Bahnhof Yorckstraße ausgerechnet der hässlichste der Stadt ist und dass gleich neben dem Park etwas beginnt, das die Alteingesessenen ganz nonchalant „Babystrich“ nennen und dann schnell das Thema wechseln.

Beate K. Seiferth ist vor einem Vierteljahrhundert in eine der Sozialwohnungen am Park gezogen. Wenn sie auf einer Skala von 1 bis 10 beschreiben soll, wie sich die gefühlte Bedrohungslage verändert habe in ihrem Wohnviertel, sagt sie: „Als der Park eröffnet wurde, war es ganz klar eine Null — und aktuell ist es eindeutig eine 15.“ Sie sagt, die Partys gehen am Wochenende teilweise bis 7 Uhr morgens, Technomusik, Rap, dunkle Bässe. „Am Anfang bin ich noch selbst hin und hab‘ um Ruhe gebeten“, sagt die 60-Jährige. „Aber bis ich bei meiner Wohnung ankam, war es schon wieder laut.“ Neulich wurde sie mit einer Bierflasche bedroht, als sie um Ruhe bat. Seitdem ruft sie nur noch die Polizei. „Vor ein paar Tagen kam noch eine Vergewaltigung hinzu“, sagt sie, „und jedes Wochenende macht dieser Park einer Müllkippe Konkurrenz.“

Im Spät-Frühsommer 2020 wurde es Seiferth zu viel. Sie druckte A4-Flyer, auf denen dreimal groß stand: „Schluss mit Ballermann am Gleisdreieckpark!!!“ Wobei Ballermann es nicht richtig trifft. Wer an Ballermann denkt, dem fallen nicht Kot und Ratten auf Spielplätzen ein, oder Spritzen, die in Baumstämmen stecken, benutzte Tampons und Kondome in den Büschen. Plus der entsprechende Geruch. Diese Streifen-Flyer klebte sie an Türen im Kiez und forderte einen runden Tisch. Rund 40 bis 50 Menschen trafen sich zu einem ersten Treffen auf den Plastikstühlen im Café Eule, alle hatten eine Horrorgeschichte parat. Ein paar Wochen später gründete sich die Bürgerinitiative Gemeinsam fürs Grüne Gleisdreieck.

Zum Beispiel die Geschichte, die Beate K. Seiferth erlebt hat: „Da gehe ich den Weg durch den Westteil des Parks zwischen U1 und U2 vorbei, dort stehen mehrere Jugendliche, die ganz aufgeregt sind, weil einer von ihnen am Boden liegt. Sie bitten mich inständig, die Polizei zu rufen. Sie hätten kein Handy. Als doch eines aus der Tasche eines der Jungs herausschaut, werde ich misstrauisch. Offenbar wollten sie unsere Handys abziehen. Zum Glück war ich nicht allein, wir sind weiter, der Junge am Boden stand längst wieder auf, sie warteten auf das nächste Opfer.“

Aus dem ersten Anwohnertreffen hätte eine große Bürgerbewegung werden können, wären Demonstrationen, vielleicht ein gemeinsames Sit-in im Park gefolgt. Aber weil die Stadt, das Land und der Planet von einem Virus heimgesucht wurden, kann Beate K. Seiferth sich an fünf Zoom-Sitzungen erinnern. „Herausgekommen ist“, sagt sie, „dass es jetzt zwei große Mülleimer im Park gibt.“

Die von den Architekten für diesen Park designten Mülleimer haben nur kleine Löcher, da passen keine Pizzakartons hinein. Sonst änderte sich wenig. Und dann ging eben im Frühjahr 2021 die Sache mit den E-Scootern und den Feuerlöschern los. Wieder trafen sich die Bürger und beratschlagten. „Ich hätte nie gedacht“, sagt Beate Seiferth, „dass ich einmal mehr Polizeipräsenz möchte.“ Aber es gehe nicht anders.

Matthias Bauer weiß um diese Probleme und er moderiert Streitgespräche dazu in seinem Blog. Neulich wurde eine Mauer im Park aufgebaut. Die BVG hat unter dem Viadukt Absperrungen errichten lassen. „Der Bau steht unter Denkmalschutz“, sagt Bauer, „und ist über 100 Jahre alt.“ Er soll irgendwann erneuert werden, aber wahrscheinlich gehe es auch darum, sagt er, mit der Sanierung schon mal offiziell zu beginnen, bevor sie durch andere Neubauten kompliziert wird. Für Graffitikünstler ist das eine willkommene Aufforderung. „Aber es ist auch ein Freiraum weniger für das Auge“, sagt Bauer. „Andererseits weiß man im Park am Gleisdreieck immer, dass man in einer Großstadt ist.“

Im östlichen Teil des Parks, der im Herbst zehnjähriges Jubiläum feiert, sind die Probleme ähnlich. Gesäubert wird der Park so gut es geht von der Firma Grün Berlin, aber im Jahr 2020 erhöhten sich die Kosten für die Reinigung von rund 230.000 Euro um rund die Hälfte. Zu häufig war es zu mutwilliger Zerstörung gekommen. Auf Anfrage sagt eine Sprecherin von Grün Berlin: „Wir beseitigen die Müllberge täglich – jeden Morgen.“ An einigen Orten der Parkanlage wurden zusätzliche Abfallbehälter installiert. „Die werden bisher gut angenommen, jedoch auch für die Entsorgung von Haus- und Sperrmüll genutzt.“ Weitere Behälter sollen folgen.

Wer diesen Park im Juni 2021 besucht, der trifft ähnlich wie im Westteil viele Sportler, ein paar Hip-Hop-Tänzer, und hört den Satz: „Wo wollen wir es machen?“ Und die passende Antwort: „Warte, hier schauen zu viele zu.“ Dieser ungelenke Dialog zwischen Dealer und Käufer ist auch am Tag zu hören. Abends dann Jugendliche in Gruppen, die um eine kleine USB-Box sitzen. Einer macht ein Foto von seinen Schuhen im Gras. Dann zoomt er ganz nah ran: noch ein Foto. Dann gibt sein Nachbar ihm den Joint.

„Am Wochenende“, sagt Joye, 20, „sind es zehnmal so viele.“ Der gebürtige Berliner wohnt in Wedding, studiert Politik an der Freien Universität und „hängt hier oft ab“, wie er sagt. Er hat gerade Besuch aus Frankreich. „Wo sollen wir sonst hin?“ Die Clubs haben zwar gerade wieder aufgemacht, aber er sagt voraus, dass es noch eine Weile dauern wird – weil diese Art des Feierns auch günstiger sei. Bier oder Sekt vom Späti – und viele andere im gleichen Alter. „Da lohnt sich die Herfahrt.“

Das ist ein Satz, den man oft hört von jungen Erwachsenen, die außerhalb des Rings wohnen, in Pankow, in Friedenau, aber hier feiern oder Volleyball spielen. Sport & Spiel eben. Dann eine Zigarette rauchen und sie fallen lassen.

Grün Berlin hat im Ostteil des Parks einen riesigen Zigarettenstummel aufgestellt. Der soll die Parkbesucher daran erinnern, dass sie ihren Müll wieder mitnehmen. Funktioniert hat das bisher nicht. Sobald es dunkel wird, ist nicht mehr genau auszumachen, ob der Schatten, der sich gerade im Busch bewegt hat, ein Fuchs, ein Kaninchen oder eine Ratte ist. Nicht alle Scherben kann Grün Berlin von der Wiese aufsammeln. Auf die Frage, ob sie überfordert sind, antwortet die Sprecherin: „Wir erfüllen unsere Aufgaben in der Bewirtschaftung und Pflege der Anlagen vollumfänglich.“ Und selbst die kritischsten Anwohner sagen: Ab acht Uhr ist es meistens sauber.

Doch langsam bewegt sich auch einiges auf politischer Seite. Mehrere Anträge sind in die BVV eingegangen und werden wohl noch diesen Sommer umgesetzt: Die FDP will Parknutzer mit Flyern über ihre Pflichten informieren. Vier Toilettenanlagen sollen installiert werden. Die liberale Partei bringt auch eine Umzäunung ins Spiel. Nach 22 Uhr wäre dann Schluss im Park. Klaus Lederer (Linke) hatte dagegen verkünden lassen, dass er einen „Sommer der Ermöglichung“ möchte, in dem Menschen einander begegnen.

Und die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) sagt: „Ich wünsche mir für alle Grünorte, ob Parks oder Spielplätze, dass sie wieder Orte mit positiver Aufenthaltsqualität werden. Und ich wünsche mir, dass die Menschen endlich ihre Verantwortung für die Gemeinwesenflächen übernehmen und dieser unerträgliche Egoismus aufhört.“ Fernab solcher Worte möchte sie durchsetzen, dass tagsüber und abends Ordnungskräfte vor Ort sind. So sollen Situationen erst gar nicht entstehen, die eine polizeiliche Unterstützung nötig machen.

Kristiana Elig vom Café Eule würde sich zumindest über mehr Engagement von politischer Seite freuen. Sie hat am Montag dem Innensenator Andreas Geisel eine E-Mail geschrieben. Seitdem ist es spürbar ruhiger. „Bei mir ist sowieso Scooter-Verbot“, sagt sie, „das darf ich durchsetzen, ich hab das Hausrecht.“ Wie das Wochenende wird, wagt sie nicht vorauszusagen. Sie bleibt dabei: „Der Park ist übernutzt.“

Beate K. Seiferth wird sich weiter einsetzen für mehr Ruhe, weniger Vandalismus und Abfall im Park. „Es gibt manchmal total nette Momente im Park“, sagt sie. Tagsüber hat sie einen schönen Blick in die Baumkronen. „Schon ein großer Luxus.“ Neulich hat ihr einer der Partypeople, wie sie die Feiernden nennt, zugerufen: „Was ziehst du auch an einen Park. Dann zieh doch weg.“ Sie hat gesagt: „Ich war hier, als es den Park noch gar nicht gab.“

Migranten engagieren sich leider selten in Initiativen

Und Matthias Bauer hat ein neues Thema gefunden, um das er sich kümmert. Am Rande des Westparks, auf einem 500 Meter langen Grundstück,  planen Investoren sieben Hochhäuser, zwischen 60 und 90 Meter hoch. „Urbane Mitte“ heißt das. Aber Bauer hat gemerkt, dass sich sein Engagement gelohnt hat. Ohne Menschen wie ihn sähe es jetzt anders aus an diesem Park. Dann hätten die Stadtdesigner, die „Sport & Spiel“, „Strand & Sitztribüne“ sowie „Naturerfahrungsraum“ als ein ernsthaftes Freizeitangebot für Berliner Jugendliche verstehen, vielleicht gewonnen. „Denn das war doch das besondere hier, an diesem Park“, sagt Bauer, „dass die Natur sich den Platz zurückerobert hatte.“

Er findet das erhaltenswert, weil sich nur so Stadtgeschichte erklären lässt. Dieser Park, der bis zum Zweiten Weltkrieg nur ein Güterbahnhof war und in dem dann ein Fußballplatz nach Fifa-Regeln entstehen sollte. Bauer: „Wurde dann zum Glück nicht gebaut.“ Gegen die geplanten Hochhäuser am Gleisdreieck formierten sich inzwischen elf Initiativen. Bauer fiel dabei etwas auf: „Es waren kaum Migranten und kaum junge Menschen unter denen, die sich engagierten.“ Er hofft, das ändert sich. Denn das war ja mal seine Idee, der Park für alle.

Mitarbeit: Maxi Beigang

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 19.6.2021.

Die Endgegnerin

Berlin – Es ist vor dem EM-Achtelfinale, Deutschland ist noch nicht rausgeflogen, als der Verteidiger in Richtung Richterpult fragt: „Pfeifen Sie ab oder darf ich noch eine Frage stellen?“ Er darf und so geht es noch einmal an diesem heißen Sommertag um Anrufe und Chat-Nachrichten zwischen Bandenchef Arafat Abou-Chaker und Anna-Maria Ferchichi. Der Anwalt ihres Mannes Bushido gibt ihr deutlich zu verstehen, dass sie gar nichts sagen müsse. Aber sie beschwichtigt: „Nein, ich kann etwas dazu sagen, kein Problem!“ Dann legt sie los: dass Arafat nicht „100 Prozent Schuld“ an ihrer Trennung habe („eher 80 Prozent“), dass ihr Mann in jener Zeit eben ein „Riesenarschloch“ gewesen sei und Arafat ein „totaler Kontrollfreak“ – und am Ende der Aussage kommt noch dieser Satz, etwas überraschend: „Mein Mann und ich hatten auch Sex, wenn wir uns gestritten haben.“

Das hatte gar niemand so genau wissen wollen, und an dieser Stelle pfeift der Vorsitzende Richter Martin Mrosk dann doch ab. Ein weiterer Tag in diesem seltsamen, wunderbaren und irgendwie historischen Prozess über das Ende einer Freundschaft, die vielleicht nie eine war. Seit zehn Monaten versucht die Berliner Justiz, Licht in eine Halbwelt aus Musik, Drogen, Macht und sehr viel Geld zu bringen. Rapper Bushido hat diese Welt nicht nur in seinen Liedern immer wieder besungen, sondern bis zu einem gewissen Grad gelebt. Immer dabei: sein Kumpel und Freund Arafat Abou-Chaker. 13 Jahre lang war er der Mann hinter Bushido, begleitete ihn auf Tour, bestimmte, wer zu ihm durfte und wer nicht. „Ari“, wie Bushido ihn damals nannte, beanspruchte dafür einen großen Anteil der Einnahmen für sich. Fast zehn Millionen Euro soll er über die Jahre von Bushido bekommen haben.

Als Anis „Bushido“ Ferchichi im Januar 2018 dieses Verhältnis beenden will, kommt es zu dem, was schließlich die Grundlage für diesen Prozess ist: Arafat und seine drei Brüder Nasser, Yasser und Rommel sollen den Sänger beleidigt, bedroht, bedrängt und geschlagen haben. Arafat gehört zur kriminellen Großfamilie der Abou-Chakers. Er habe um sein Leben und das seiner Familie gefürchtet und tue das bis heute, sagte er. Der Prozess gegen die vier Brüder findet unter Polizeischutz statt, jene Maßnahme, unter der auch sein Familienleben stattfindet seit der Trennung von Abou-Chaker. Arafat und seine Brüder verweigern ihre Aussage bisher. Bushido ist Nebenkläger in dem Fall und hat an 25 Prozesstagen gesprochen, geplant waren acht. Seit zwei Wochen spricht jetzt seine Frau, und wird das nach der nun folgenden Sommerpause weiter tun – wenn ihr Körper es erlaubt. Sie ist im fünften Monat schwanger, mit Drillingen.

Hatte der Prozess zuletzt an Fahrt verloren, entblättert sich im Laufe der vergangenen zwei Wochen im Saal 500 des Landgerichts Moabit an der Turmstraße einmal mehr ein Sittengemälde, ein dichter Einblick in diese toxische Dreiecksbeziehung zwischen Anis, Arafat und Anna-Maria. Das vierte Wort mit A, das unbedingt dazu gehört, ist „Angst“. Doch diese Frau geht in Begleitung des vermummten Polizeischutzes durch die Gänge des Hauses, ihre Turnschuhe sind schneeweiß, die Jeans eng, sie stellt ihre Wasserflasche auf den Tisch, nimmt ihren Mund-Nasen-Schutz ab und beantwortet selbstsicher jede Frage des Vorsitzenden Richters, der Staatsanwältin und die der Anwälte der Abou-Chakers. Außerdem kämpft sie an der Seite ihres Mannes auch außerhalb des Gerichtssaals. Denn im Jahr 2021 gibt es Videos auf Portalen wie Twitch und gibt es Chat-Nachrichten, die zehn Jahre später noch einmal ganz neu verhandelt werden.

Wie Anna-Maria Ferchichi Bushidos Leben betreten hat, ist in der Klatschpresse gut dokumentiert. Es ist die Nacht zum 2. Februar 2011, sie ist seit drei Monaten von Nationalspieler Mesut Özil getrennt, für den sie zum Islam übergetreten war. Ihr muslimischer Name lautet „Melek“, Engel. Sie wollte „keine Spielerfrau“ sein, sagte sie damals. Bei einer Promi-Nacht in Köln wird sie dabei beobachtet, wie sie kurz vor 3 Uhr morgens mit Bushido in dessen Hotel geht. Am nächsten Morgen stolpert sie auf die Straße, trägt noch das T-Shirt, das ihr der Rapper geliehen hat. Kurz darauf wird er sie anrufen und er wird „so niedlich klingen“, dass sie ihn wiedersehen will. Das sagt sie gegenüber RTL vor ein paar Tagen bei einer Homestory. Bei der Bambi-Verleihung 2011 bekommt Bushido den Integrations-Bambi, Anna-Maria steht mit ihm auf dem roten Teppich, ein halbes Jahr später ist sie schwanger. Hochzeit im Mai 2012.

Um diese Hochzeit geht es auch vor Gericht. „Arafat wollte uns verbieten, Alkohol an unsere Gäste auszuschenken“, sagt Anna-Maria Ferchichi. „Ich war ja damals auch schwanger, aber ich wollte meinen Gästen das Trinken nicht verbieten.“ Arafat habe schon damals begonnen, immer religiöser zu leben. Aber dass er ihr in die Planung der Hochzeit hineinreden wollte, empfand sie als übergriffig. „Mein Mann ist eigentlich sehr dominant“, sagt sie, „aber gegenüber Arafat war er sehr devot.“ Als sie Bushido sagte, dass sie Arafats Verhalten respektlos empfinde, war seine Antwort: „Mach keinen Stress.“ Auf die Frage, ob es Alkohol gab, sagt sie knapp, mit ein bisschen Triumph in der Stimme: „Es gab Alkohol.“ Auch in den Jahren danach habe Arafat immer wieder versucht ihr Leben zu kontrollieren. Wenn sie sich wehrte, nannte er sie „Hurentochter“ oder „Hure“. Anna-Maria: „Es war so lächerlich.“

Schon an solchen Bemerkungen in Richtung des Angeklagten Arafat wird klar, was Ferchichis Rolle ist. Sie fordert das von Arafat ein, was Arafat von Bushido einfordert, und Bushido von der ganzen Welt: Respekt. Je mehr die Ehefrau mitbekommt von der illegalen Welt, von der Gangsterrap nun einmal handelt, umso mehr musste Bushido beide Welten voreinander schützen. Er selbst kannte die Grundregel: „Keine Polizei.“ Probleme regeln wir unter uns. Seine Frau aber sieht bis heute nicht ein, warum es im Leben ihres Mannes anders zu zugehen sollte, als – zum Beispiel in der Welt ihrer Schwester Sarah Connor.

„Meine Schwester ist ja berühmt“, sagt Ferchichi, „und ich habe da gesehen, wie das Musikbusiness funktioniert.“ Niemals habe sie gehört, dass ein Manager 50 Prozent von den Einnahmen eines Künstlers bekam. Arafat ruft feixend in den Saal: „Ich schon.“ Vor Gericht wird diskutiert, ob er überhaupt diese Management-Funktion in Bushidos Leben ausgefüllt habe. „Immer musste mein Mann antanzen, wenn Arafat ihn irgendwelchen Freunden vorführen wollte.“ Dabei sei es egal gewesen, ob eines der Kinder eine Schulaufführung hatte, mit Lungenentzündung im Krankenhaus lag oder Bushido selbst Geburtstag hatte. „Wie ein Maskottchen“ habe Abou-Chaker ihren Mann behandelt. „Er hat alles bestimmt in unserem Leben.“ Wenn sie ein Handy zur Reparatur geben wollte, fragte sie Arafat. „Ich durfte noch nicht mal den Reifen meines Autos wechseln lassen, ohne mit Arafat vorher Kontakt zu haben.“

Der Richter Mrosk baut bei ihren Auftritten ein paar mehr Pausen ein als bei ihrem Mann. Das fällt auf. „Das wird Ihnen ihr Mann erzählt haben“, sagt er, „dass so ein Prozess auch oft aus Warten besteht.“ Er unterbricht auch dann, wenn Anna-Maria sagt: „Ich brauche keine Pause.“ Er sorgt für eine lockere, menschliche Atmosphäre bei Gericht, auch wenn bei anderen die Nerven längst blank liegen. Als der Chatverlauf zwischen Abou-Chaker und Anna-Maria Ferchichi verlesen werden soll, spricht er die Rolle des Bandenchefs. Das sorgt für Erheiterung im Saal. Und als am Mittwoch einer der Verteidiger sagt, dass es nach Marihuana rieche im Saal, da bestätigt er „mit der langjährigen Erfahrung aus dem Drogendezernat“ den Geruch als: „eindeutig Kiff“. Es ist einer dieser Momente, in denen der Richter den Saal räumen lässt, auch: aus Respekt.

Nach über 40 Verhandlungstagen ist jedoch noch immer nicht klar, wie dieser Prozess enden wird. Zwischen Freispruch und Haftstrafe ist alles möglich. Draußen an der Tür hängt die Liste der geplanten Prozesstage, sie reicht bis Ende des Jahres. Es sollen noch mehrere Zeugen vernommen werden. Doch einer der Zeugen aus dem Umfeld der Abou-Chakers wurde inzwischen abgeschoben. Ob er aus Istanbul für den Prozess nach Berlin kommt, ist offen.

Umso interessanter ist deshalb jeder Tag, an dem diese Welten aufeinanderprallen, deren einzige Gemeinsamkeit ist, dass alle im Saal während der Corona-Monate an Gewicht zugelegt haben. Auffällig auch, dass sich Arafat so lange geweigert hat, eine Maske zu tragen, doch jetzt, wo es diese in Schwarz gibt, trägt er sie, wenn auch oft unterhalb der Nase. Obwohl die Folgen der Pandemie auch hier im Saal spürbar waren: Arafats Mutter starb an Corona, Bushido selbst hatte Covid-19. Die Zuschauerzahl und die Sitze der Presse sind stark begrenzt. Und so entwickelt sich an guten Tagen trotz der finsteren Blicke der Polizisten eine Stimmung wie auf Klassenfahrt.

Erst in dieser Woche wieder steht Arafat direkt neben den Journalisten, spricht mit der Kollegin der BILD über seine Schuhe, Marke Gucci, er sagt „Gucki“. Niemand lacht. Mit dem Richter kumpelt er am Eingang zum Saal über die Niederlage der Nationalelf im Achtelfinale. „Sind wir jetzt alle für die Schweiz?“ Und Bushidos Anwalt fragt er, ob er mal „gepumpt“ habe, also Gewichte gestemmt. „Nee, echt jetzt, sieht so aus.“

Hatte man in den ersten Gerichtstagen manchmal das Gefühl, Arafats Augen sind ein bisschen zu glasig für die Tageszeit, wirkt er im Laufe der Monate immer beherrschter. Seine Demonstration von Macht findet außerhalb des Gerichtsgebäudes statt. Genauer: Schon am Treppenabsatz. Wenn Arafat den wuchtigen Bau verlässt, wird er manchmal von TV-Journalisten empfangen, die ihm zur Begrüßung den Arm um die Schultern legen. Es heißt, genau wie die Ferchichis bereitet auch er eine Dokumentation vor, die sicherlich pünktlich nach Prozess-Ende erscheinen wird.

Anna-Maria Ferchichi macht deutlich, dass sie nie von Arafat oder von dessen Entourage beeindruckt war. „Wenn du für diese Männer ins Gefängnis gehst, werde ich dich verlassen“, habe sie damals zu Bushido gesagt. Parallel habe sie sich mit den Frauen der Abou-Chaker-Brüder, inzwischen Ex-Frauen, angefreundet. Die Kinder tauschten Kuscheltiere. Man fuhr gemeinsam in Urlaube, ihr Mann wollte da schon lieber zuhause bleiben. Dabei bereitete man damals im Jahr 2017 den Einzug auf ein gemeinsames Grundstück in Kleinmachnow vor. „Wäre das nicht passiert, säße ich nicht hier.“ Alles wollte wieder Arafat bestimmen. „Es gab noch nicht einmal Platz für meine drei Autos“, sagt sie vor Gericht. Sie wollte einen Zaun anders ziehen als Arafat, wieder gibt es Geschrei mit sehr expliziten Kraftausdrücken. Arafat habe behauptet, ihr seien „Eier gewachsen“.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass es auch außerhalb des Gerichtssaals vor der Sommerpause hoch her ging. Während sich Arafat vor Gericht weiterhin weigert auszusagen, sich aber indirekt doch immer wieder äußert, war es in der vergangenen Woche das Medium Twitch, das die Aufmerksamkeit der Prozessbeteiligten band. Auf diesem unter Jugendlichen beliebten Portal veröffentlichte jemand anonym ein Video, das Bushido im Jahr 2005 zeigt, eng umschlungen mit einem Mädchen. Bushido in Boxershorts.

In dem aufgezeichneten Gespräch im Video wird deutlich, dass Bushido nicht weiß, wie alt das Mädchen ist. Das 16 Jahre alte Video soll den Rapper beschädigen. Bushido selbst antwortet mit einem 90-minütigem Twitch-Video und geht das Video in voller Länge fast sekundengenau durch. Man merkt ihm an, dass er Erfahrungen als Zeuge gesammelt hat. Souverän versucht er, den Vorwurf der Verführung Minderjähriger auszuräumen. Niemals seien Minderjährige in den Backstage-Bereich gelassen worden. Es gab da vom Veranstalter ganz klare Regel. Jetzt – als Familienvater – sei er trotzdem nicht stolz auf diese Szenen. Gleichzeitig empfängt seine Frau den Sender RTL für eine Homestory und hier ist es passend, dass sie erzählt, wie oft sie Sex hat mit ihrem Mann („fast täglich“). Sie zeigt auch stolz ihr Ehebett.

All diese Nebenschauplätze haben offenbar die Nerven der Anwälte beider Seiten aufgerieben. Als deutlich wird, das Anna-Maria Ferchichi von den Chat-Verläufen, die von der Verteidigung eingebracht werden, erfahren hat, vermutet Arafats Verteidiger, Bushidos Anwalt habe sie informiert, obwohl er nicht ihr Anwalt ist. Der verneint, und als der Verteidiger mit schneidender Stimme dabei bleibt, reagiert er wütend: „Sie müssen mir nicht vorschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe!“ Der Verteidiger: „Muss ich nicht, aber ich tue es.“ Kurz darauf beginnen beide zu schreien. Fast wirkt es so, als identifizieren sich beide Anwälte zu sehr mit ihren Mandanten. Anna-Maria Ferchichi bleibt jedoch bis auf wenige Tränenausbrüche beherrscht. Bushido hatte einmal über sie gesagt: „Sie ist der Grund, warum ich irgendwann meinen Scheiß-Mut zusammengenommen habe.“

Von diesem Moment erzählt sie zuletzt, kurz vor der „Sommerpause“ für diese Show im Saal 500. Im Januar 2018 ist es soweit, Bushido habe versucht, sich endgültig von Arafat loszusagen, liege anschließend geprügelt in den Armen seiner Frau, erzähle, dass Arafat ihm gedroht habe, seine ganze Familie zu „ficken“. Diese Drohung kann in der Welt des Gangsterrap vieles bedeuten: von Gewalt über Mord bis hin zur Vergewaltigung. „Das war keine Freundschaft“, sagt Anna-Maria Ferchichi, „das war völlige Überwachung und Kontrolle.“ Die Wut über diesen Tag hat sich bis heute bei ihr gehalten. „Ich sage Ihnen, es war gut, dass mein Mann mir damals nicht alles erzählt hat“, sagt sie. „Ich wäre Amok gelaufen.“

In den Wochen nach diesem Tag aber habe sie in manchen Momenten eine gewisse Freiheit verspürt. „Hey, schon eine Woche“, habe Bushido gesagt, „und noch nichts von Arafat gehört!“ Kurz darauf: „Schon zehn Tage“. Sie zeigt auf die Sicherheitsbeamten und sagt, niemand solle sich eine Illusion machen, dass ihr Leben angenehm sei unter Polizeischutz. Das sei es nicht. Ihr sei das bewusst gewesen, sagt sie, als sie das LKA anrief. Sie weiß noch genau, wie sie in das Nebenzimmer ging und diese Entscheidung fällte. Für ihren Mann, für ihre Kinder. Aus Respekt vor sich selbst. Am Mittwoch kam sie nicht ins Gericht, wegen Komplikationen in der Schwangerschaft. Der Verteidiger verlangte sofort mit Nachdruck ein Attest. Die Kinder in ihrem Bauch, es werden drei Mädchen.

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 3.7.2021.

Finally ФУЗИОН

Berlin – Artem hat Bärchen-Öhrchen auf dem Kopf und erzählt ganz begeistert vom Rebound-Effekt. „Den gibt es ja nicht nur in Beziehungen“, sagt er ein bisschen zu altklug für jemanden Mitte 20, „sondern auch in der Wissenschaft.“ Am besten erkläre er es mittels Glühbirnen. „Wenn du also alle Glühbirnen zu Hause in Energiesparlampen umwandelst“, sagt Artem, „dann sparst du ja erst einmal Strom, aber wenn du dir dann angewöhnst, sie immer brennen zu lassen, dann verbrauchst du eben mehr Energie.“ Dieser Effekt – Anstieg des Verbrauchs trotz gesteigerter Effizienz –, das sei der Rebound-Effekt. „Kannst du auf Autos anwenden oder Flugpreise, funktioniert überall.“ Dann fragt er etwas unvermittelt: „Hast du eigentlich Drogen dabei?“

Als ich verneine, stellt Artem keine weiteren Fragen, aber erzählt munter weiter. Ich will gerade auch nur zuhören, will nicht von Berlin erzählen oder von irgendwas anderem, vor dem ich doch hier gerade fliehe. Also höre ich das Thema seiner Masterarbeit in Umweltwissenschaften (klar, der Rebound-Effekt), ich lerne, woher er kommt (München) und „woher eigentlich“ (aus Russland) und wo er wohnt (Wedding). Als dann jemand sich umdreht und sagt „Bist auch aus Wedding!“, hab ich meinen Gesprächspartner kurzzeitig verloren.

Wir stehen in der Schlange, um unser Stoffbändchen abzuholen, unsere Eintrittskarte zum Festivalgelände. Es ist Sonnabend, drei Uhr morgens, rund 100 Kilometer nördlich von Berlin. Bisher haben wir nur ein vorläufiges Papierbändchen mit QR-Code, das mit unserem PCR-Test verbunden ist, den ich bei meiner Ankunft gemacht habe („Mund auf, bitte ein tiefes A sagen“). Mit Papierbändchen darf ich nur zum Zeltplatz und dort mit Freunden auf mein Testergebnis warten. Meine Freunde haben Wein besorgt, Artems Freunde offenbar etwas anderes, sie haben ihm auch die Bärchen-Öhrchen ins Haar gesteckt und den Glitzer ins Gesicht gepustet. Das sollte seine Laune bessern.

Als ich per App erfahre, mein Test sei negativ, laufe ich zur Schlange, meine Freunde gehen schon einmal aufs Fest. So richtig gelöst ist die Stimmung noch nicht. Menschen schauen sorgenvoll auf die Wetter-App. Es soll Regen geben. Außerdem sind die Schilder überall irgendwie einschüchternd: „Nur mit PCR Test!“ Schon am Eingang musste man seinen Personalausweis vorzeigen, die Tickets sind streng personalisiert. Auf einem Fake-Wahlplakat am Zaun steht: „Alle reden vom Klima. Wir ruinieren es. CDU.“ Darunter hat jemand mit Filzstift geschrieben: „Ich auch, sorry.“

pastedGraphic.pngDas passt nicht ganz zu den Ganzkörper-Hasenkostümen, zu den Astronauten-Anzügen, den Flamingo-Hüten und diesem bunten Regenschirm mit Lichterketten, der an eine Qualle erinnert. Diese Dinge kann ich schon in der Schlange mitbekommen. Der Bass ist schon jetzt so laut, dass wir ihn bis hierher hören. Die Schlange macht einen Bogen, und plötzlich sehe ich drei Freunde von mir aus Berlin nur fünf Meter entfernt, ich könnte sie leicht erreichen. Doch genau da höre ich hinter mir diesen Dialog: „Kommt ihr mit vor?“ – „Nein, hier drängelt man sich nicht vor.“ – „Come on, das machen doch alle, wir sind zu viert, das fällt gar nicht auf.“ – „Nein wirklich, wir bleiben hier, das macht man hier nicht. Das ist Un-Fusion-haft.“

Da hörte ich ihn zum ersten Mal, den Namen, den das Festival doch eigentlich nicht haben will. Überall auf der Website versuchen die Macher den Namen „Planet C“ durchzusetzen, aber alle nennen es „Fusion“. Oder besser: ФУЗИОН.

Bis zur Pandemie galt die Fusion als Deutschlands bestes Festival. Seit 1997 treffen sich Berliner auf dem ehemaligen Militärflugplatz in Lärz in der Mecklenburger Seenplatte und feiern fünf Tage und vier Nächte, also bis vor kurzem ein typisches Berliner Touristenwochenende: Donnerstagmorgen bis Montagabend. Planet C soll nur von Freitag bis Sonntag dauern. Kaum zu glauben, dass vor 25 Jahren rund 300 Berliner für fünf D-Mark hier feiern durften und 2019 ein Woodstock-ähnliches Massentanzfest im Schlamm mit rund 70.000 Menschen daraus wurde. Alle Angereisten mussten Zelte aufbauen, duschen, essen, trinken und tanzen. Und 2020? Keine Fusion.

Trauriger Mann mit Kulleraugen-Bärchengesicht

Und jetzt also Planet C. Passend zur Pandemie gibt es drei Festivals: Alpha, Beta im August und die Gamma-Version Mitte September. Alle Tickets wurden verlost. Doch schon auf der allerersten Website verbreiteten die Festival-Macher nicht nur gute Laune, sondern eher auch schlecht gelaunten Friedrichshain-Tacheles: „Dummheit, Ignoranz und Profilierungsgeilheit haben in vergangenen Jahren zu immensen Schäden geführt“, steht dort zum Beispiel. Gemeint sind illegale Graffitis auf Dixi-Klos. Auch: „Verstopft nicht unser DRK-Zelt wegen Aspirin.“ Offenbar hatten zu viele Gäste Kopfschmerzen. Und wer beim Abfeuern von Feuerwerk erwischt wird, stellen die Veranstalter klar, „muss das Feuerwehrauto waschen!“

Artem sagt, er sei noch nie auf der Fusion gewesen. Er wird nervös, so langsam kommen wir in die Nähe des Eingangs. Er zeigt mir sein Handy und macht ein trauriges Kulleraugen-Bärchengesicht. Er meint, seine Freunde hätten extra einen Gruppenchat eingerichtet. Doch während der bis vor zwei Stunden noch gut funktionierte, ist er seit einer Weile der Einzige, der noch schreibt. Untereinander stehen kleine Sprechblasen: „Hey, bin in der Schlange.“ – „Na, feiert ihr?“ – „Wo seid ihr?“ – „Treffen wir uns?“ – „…“ – „Hallo?“ – „Leute!!!“ – „Huhu?“

Artem hat bisher immer nur diese Geschichten gehört, vom Festival: von aufwendigen Lichtinstallationen; von Feuerbällen über der Tanzfläche, von Buden mit veganem Burger; von einem Mann, der immer viel zu laut „Dinnele“ ruf; von Barkeepern, die fünf Flaschen Bier über die Theke reichen und etwas unsicher „zehn Euro?“ fragen; von Diskussionsrunden zum Klimawandel; von Filmabenden zum Thema „Wie das Antropozän den Planeten zerstört“; von fast nackten Akrobaten; von ganz nackten Tänzern auf der Tanzfläche; von einer echten Giraffe („Ich schwör’s, ich hab eine Giraffe gesehen“); vom leichten Wummern, das bis zu den Zeltplätzen zu hören ist; von Menschen, die seit Stunden im Regen tanzen; von dem Gefühl, wenn man die Schuhe einfach in den Müll wirft; von dem Bild einer übervollen Dixi-Toilette, das man nie wieder aus dem Kopf bekommt; von dem kalten Gefühl, wenn man morgens um 8 Uhr nach dem Tanzen kurz in den See springt, der auf dem Festivalgelände ist. Und vor allem: dass man am besten Ort zur richtigen Zeit ist.

Als wir ganz vorn an der Reihe sind, lächelt uns eine Frau in einem großen roten Hut an. Sie sagt etwas zu laut, wie der Conférencier am Eingang zu einem Ball: „Willkommen auf Planet C!“ Ich muss hineinschlüpfen in das Bändchen, dann zurrt sie es fest und schaut mir tief in die Augen, als sie sagt: „Rein mit dir.“ Dann darf ich die Maske abziehen und sehe 10.000 Menschen ohne Maske, drei Tage lang. Ein Experiment. Artem ist längst in der Masse verschwunden. Als ich das Papierbändchen wegwerfen will, zeigt jemand auf den Mülleimer: „Da hinein, wir sind ein sauberes Festival.“ Für alles andere gilt: What happens at Fusion, stays at Fusion.

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 12.9.2021