Finally ФУЗИОН

Berlin – Artem hat Bärchen-Öhrchen auf dem Kopf und erzählt ganz begeistert vom Rebound-Effekt. „Den gibt es ja nicht nur in Beziehungen“, sagt er ein bisschen zu altklug für jemanden Mitte 20, „sondern auch in der Wissenschaft.“ Am besten erkläre er es mittels Glühbirnen. „Wenn du also alle Glühbirnen zu Hause in Energiesparlampen umwandelst“, sagt Artem, „dann sparst du ja erst einmal Strom, aber wenn du dir dann angewöhnst, sie immer brennen zu lassen, dann verbrauchst du eben mehr Energie.“ Dieser Effekt – Anstieg des Verbrauchs trotz gesteigerter Effizienz –, das sei der Rebound-Effekt. „Kannst du auf Autos anwenden oder Flugpreise, funktioniert überall.“ Dann fragt er etwas unvermittelt: „Hast du eigentlich Drogen dabei?“

Als ich verneine, stellt Artem keine weiteren Fragen, aber erzählt munter weiter. Ich will gerade auch nur zuhören, will nicht von Berlin erzählen oder von irgendwas anderem, vor dem ich doch hier gerade fliehe. Also höre ich das Thema seiner Masterarbeit in Umweltwissenschaften (klar, der Rebound-Effekt), ich lerne, woher er kommt (München) und „woher eigentlich“ (aus Russland) und wo er wohnt (Wedding). Als dann jemand sich umdreht und sagt „Bist auch aus Wedding!“, hab ich meinen Gesprächspartner kurzzeitig verloren.

Wir stehen in der Schlange, um unser Stoffbändchen abzuholen, unsere Eintrittskarte zum Festivalgelände. Es ist Sonnabend, drei Uhr morgens, rund 100 Kilometer nördlich von Berlin. Bisher haben wir nur ein vorläufiges Papierbändchen mit QR-Code, das mit unserem PCR-Test verbunden ist, den ich bei meiner Ankunft gemacht habe („Mund auf, bitte ein tiefes A sagen“). Mit Papierbändchen darf ich nur zum Zeltplatz und dort mit Freunden auf mein Testergebnis warten. Meine Freunde haben Wein besorgt, Artems Freunde offenbar etwas anderes, sie haben ihm auch die Bärchen-Öhrchen ins Haar gesteckt und den Glitzer ins Gesicht gepustet. Das sollte seine Laune bessern.

Als ich per App erfahre, mein Test sei negativ, laufe ich zur Schlange, meine Freunde gehen schon einmal aufs Fest. So richtig gelöst ist die Stimmung noch nicht. Menschen schauen sorgenvoll auf die Wetter-App. Es soll Regen geben. Außerdem sind die Schilder überall irgendwie einschüchternd: „Nur mit PCR Test!“ Schon am Eingang musste man seinen Personalausweis vorzeigen, die Tickets sind streng personalisiert. Auf einem Fake-Wahlplakat am Zaun steht: „Alle reden vom Klima. Wir ruinieren es. CDU.“ Darunter hat jemand mit Filzstift geschrieben: „Ich auch, sorry.“

pastedGraphic.pngDas passt nicht ganz zu den Ganzkörper-Hasenkostümen, zu den Astronauten-Anzügen, den Flamingo-Hüten und diesem bunten Regenschirm mit Lichterketten, der an eine Qualle erinnert. Diese Dinge kann ich schon in der Schlange mitbekommen. Der Bass ist schon jetzt so laut, dass wir ihn bis hierher hören. Die Schlange macht einen Bogen, und plötzlich sehe ich drei Freunde von mir aus Berlin nur fünf Meter entfernt, ich könnte sie leicht erreichen. Doch genau da höre ich hinter mir diesen Dialog: „Kommt ihr mit vor?“ – „Nein, hier drängelt man sich nicht vor.“ – „Come on, das machen doch alle, wir sind zu viert, das fällt gar nicht auf.“ – „Nein wirklich, wir bleiben hier, das macht man hier nicht. Das ist Un-Fusion-haft.“

Da hörte ich ihn zum ersten Mal, den Namen, den das Festival doch eigentlich nicht haben will. Überall auf der Website versuchen die Macher den Namen „Planet C“ durchzusetzen, aber alle nennen es „Fusion“. Oder besser: ФУЗИОН.

Bis zur Pandemie galt die Fusion als Deutschlands bestes Festival. Seit 1997 treffen sich Berliner auf dem ehemaligen Militärflugplatz in Lärz in der Mecklenburger Seenplatte und feiern fünf Tage und vier Nächte, also bis vor kurzem ein typisches Berliner Touristenwochenende: Donnerstagmorgen bis Montagabend. Planet C soll nur von Freitag bis Sonntag dauern. Kaum zu glauben, dass vor 25 Jahren rund 300 Berliner für fünf D-Mark hier feiern durften und 2019 ein Woodstock-ähnliches Massentanzfest im Schlamm mit rund 70.000 Menschen daraus wurde. Alle Angereisten mussten Zelte aufbauen, duschen, essen, trinken und tanzen. Und 2020? Keine Fusion.

Trauriger Mann mit Kulleraugen-Bärchengesicht

Und jetzt also Planet C. Passend zur Pandemie gibt es drei Festivals: Alpha, Beta im August und die Gamma-Version Mitte September. Alle Tickets wurden verlost. Doch schon auf der allerersten Website verbreiteten die Festival-Macher nicht nur gute Laune, sondern eher auch schlecht gelaunten Friedrichshain-Tacheles: „Dummheit, Ignoranz und Profilierungsgeilheit haben in vergangenen Jahren zu immensen Schäden geführt“, steht dort zum Beispiel. Gemeint sind illegale Graffitis auf Dixi-Klos. Auch: „Verstopft nicht unser DRK-Zelt wegen Aspirin.“ Offenbar hatten zu viele Gäste Kopfschmerzen. Und wer beim Abfeuern von Feuerwerk erwischt wird, stellen die Veranstalter klar, „muss das Feuerwehrauto waschen!“

Artem sagt, er sei noch nie auf der Fusion gewesen. Er wird nervös, so langsam kommen wir in die Nähe des Eingangs. Er zeigt mir sein Handy und macht ein trauriges Kulleraugen-Bärchengesicht. Er meint, seine Freunde hätten extra einen Gruppenchat eingerichtet. Doch während der bis vor zwei Stunden noch gut funktionierte, ist er seit einer Weile der Einzige, der noch schreibt. Untereinander stehen kleine Sprechblasen: „Hey, bin in der Schlange.“ – „Na, feiert ihr?“ – „Wo seid ihr?“ – „Treffen wir uns?“ – „…“ – „Hallo?“ – „Leute!!!“ – „Huhu?“

Artem hat bisher immer nur diese Geschichten gehört, vom Festival: von aufwendigen Lichtinstallationen; von Feuerbällen über der Tanzfläche, von Buden mit veganem Burger; von einem Mann, der immer viel zu laut „Dinnele“ ruf; von Barkeepern, die fünf Flaschen Bier über die Theke reichen und etwas unsicher „zehn Euro?“ fragen; von Diskussionsrunden zum Klimawandel; von Filmabenden zum Thema „Wie das Antropozän den Planeten zerstört“; von fast nackten Akrobaten; von ganz nackten Tänzern auf der Tanzfläche; von einer echten Giraffe („Ich schwör’s, ich hab eine Giraffe gesehen“); vom leichten Wummern, das bis zu den Zeltplätzen zu hören ist; von Menschen, die seit Stunden im Regen tanzen; von dem Gefühl, wenn man die Schuhe einfach in den Müll wirft; von dem Bild einer übervollen Dixi-Toilette, das man nie wieder aus dem Kopf bekommt; von dem kalten Gefühl, wenn man morgens um 8 Uhr nach dem Tanzen kurz in den See springt, der auf dem Festivalgelände ist. Und vor allem: dass man am besten Ort zur richtigen Zeit ist.

Als wir ganz vorn an der Reihe sind, lächelt uns eine Frau in einem großen roten Hut an. Sie sagt etwas zu laut, wie der Conférencier am Eingang zu einem Ball: „Willkommen auf Planet C!“ Ich muss hineinschlüpfen in das Bändchen, dann zurrt sie es fest und schaut mir tief in die Augen, als sie sagt: „Rein mit dir.“ Dann darf ich die Maske abziehen und sehe 10.000 Menschen ohne Maske, drei Tage lang. Ein Experiment. Artem ist längst in der Masse verschwunden. Als ich das Papierbändchen wegwerfen will, zeigt jemand auf den Mülleimer: „Da hinein, wir sind ein sauberes Festival.“ Für alles andere gilt: What happens at Fusion, stays at Fusion.

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 12.9.2021

Corona-Tagebuch: Teil 1

Berlin. Ich habe in dieser Woche den Fehler gemacht, den Roman „Die Pest“ von Albert Camus zu lesen. Es ist ein alarmierendes Buch aus dem Jahr 1947 über das Versagen der Behörden angesichts der Epidemie in einer Stadt in den 1940ern. Erst sterben die Ratten, dann die Menschen. Es ist furchtbar. Die Zeitungen der Stadt versuchen, eine Panik in der Bevölkerung zu verhindern. Im ersten Teil des Buches heißt es: „Die Ratten sterben eben auf der Straße, die Menschen in den Häusern. Zeitungen befassen sich nur mit der Straße.“

Natürlich ist Camus’ Roman eine fiktive Geschichte, die mehr über die Gesellschaft kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erzählt als über das Gesundheitssystem einer Stadt. In Frankreich ist „Die Pest“ Schulliteratur, aber derzeit ist das Buch auch in Italien vergriffen. Die Parallelen zum gegenwärtig kursierenden Virus Sars-CoV-2 drängen sich auf. Es gibt kein Heilmittel, die Symptome gleichen einer Grippe. In China gab es über 3000 Tote, und auch die Übertragung verläuft ähnlich leicht. Es reicht, jemandem die Hand zu geben. Die Infektion kann innerhalb von Millisekunden stattfinden.

Seit dieser Woche gibt es Infizierte in Berlin. Oder besser: Seit dieser Woche gibt es positiv auf das Coronavirus getestete Patienten, die es in sich tragen und möglicherweise in den Tagen davor verbreitet haben, in der U-Bahn, im Bus, beim Bäcker. Was ist in dieser Woche mit Berlin passiert? Was sagen Berliner, die gerade aus China zurückgekehrt sind? Und wie bleiben wir gesund? Das Protokoll einer Woche, in der irgendwie die ganze Stadt unter erhöhter Temperatur litt.

Corona-Tagebuch: Teil 2

In dieser Woche habe ich sehr oft „Happy Birthday“ gesungen. Eigentlich fast jedes Mal, wenn ich mir die Hände gewaschen habe. Es heißt ja, dass man den Refrain – gibt es eigentlich Strophen? – zweimal beim Hände waschen singen soll. Dann sind ungefähr 20 Sekunden um, und man kann mit dem Abtrocknen (Papierhandtücher!) beginnen.

Es wurde eine sehr turbulente Woche, wahrscheinlich für sehr viele Menschen in dieser Stadt. Während in der vergangenen Woche am Montag der erste Corona-Infizierte in Berlin gemeldet worden war, ist es in dieser Woche das erste deutsche Todesopfer, das an Covid-19 starb. Die Kurve der Infizierten ist genauso exponentiell gestiegen wie unsere Lernkurve: die meiner Schwägerin, meines Arztes, meines Chefs und meine sowieso. Jeden Tag erfahren auch die Wissenschaftler mehr über das Virus. Und je mehr wir wissen, umso geringer – so zumindest ist es bei mir – wird meine Angst.

Ein Freund schrieb am Ende dieser Woche, dass er keine Lust mehr habe, irgendetwas über Corona zu lesen. Mir geht es zum Glück genau anders herum, ich möchte möglichst alles wissen, auch die Details. So finde ich es faszinierend, wenn Musikhochschulen die ersten Flügel komplett renovieren müssen, weil übereifrige Musikstudenten die Klaviertasten permanent mit Desinfektionsspray eingesprüht haben. Doch das hatte ich erst Sonnabend erfahren, bei meinem Klavierlehrer. Also der Reihe nach.

Corona-Tagebuch: Teil 3

Berlin. In dieser Woche ist mir das Lachen über Klopapierwitze vergangen. Zum einen, weil wir am Ende der Woche den ersten Toten in Berlin zu verzeichnen hatten, die Einschläge kommen wirklich näher. Zum anderen, weil ich einfach zu viele Witze gesehen habe. Natürlich verstehe ich, dass Humor diese bleierne Zeit überhaupt erst erträglich macht. Zum dritten ist mir aufgefallen, dass ich automatisch weniger lache, wenn ich den ganzen Tag allein zu Hause verbringe. Auch lachen ist eine soziale Handlung, die allein irgendwie keinen Spaß macht.

Das ist so ein Nebeneffekt vom Homeoffice, den man erst kennenlernt, wenn man ihn wirklich erlebt. Dieses ständige Alles-mit-sich-selbst-ausmachen. Hat man früher wegen einer Schreibweise schnell mal zu einem Kollegen hinübergerufen („Wie schreiben wir Homeoffice, zusammen oder gekoppelt?“), frage ich jetzt meine „Homie“-Gruppe auf Whatsapp. Zum Glück gibt es diese und die Telefonkonferenzen, die darüber hinwegtrösten und für einen Moment das Gefühl der Gemeinschaft und Gleichzeitigkeit erzeugen. Das ist wichtig, wenn man sich in einer Art kollektivem Alptraum befindet.

Montag. Die Woche beginnt damit, dass die Telefonkonferenz nicht funktioniert. Irgendwas ist mit der Leitung schief gelaufen, und alle mussten sich über E-Mail behelfen. Für einen Moment ist es kein „Wunder“ mehr, dass die Technik für über 60 Mitarbeiter so schnell ein Homeoffice ermöglicht hatte, sondern ich merke, dass es wirklich harte Arbeit ist, das alles am Laufen zu halten.

Als die Aufgaben verteilt sind, müsste ich eigentlich los, in die Restaurants Berlins und sie befragen, wie sie mit der Krise umgehen. Aber ich kann mich nicht loseisen vom Nachrichtenstrom: Trump, Johnson, Merkel, Drosten, Steingart und Anne Will. Auf allen Kanälen gibt es Corona-Nachrichten, und ich will alles lesen. Ständig passiert etwas bei Twitter, Facebook, Instagram, das ich vorher nicht wusste.

Dann sehe ich, wie eine sehr gute Freundin um Hilfe ruft. Sie sitzt in New York fest und will so schnell wie möglich nach Kanada. Trump schüttelt weiterhin überall die Hände. Die Infektionszahlen schießen in die Höhe. Sie kommt ursprünglich aus Königs Wusterhausen und hat große Teile ihrer Kindheit in einer Lungenklinik am Wannsee verbracht. Ich habe sie während des Studiums dort besucht, weil sie einen Rückfall hatte und wir zusammen einen Vortrag ausarbeiten sollten. Sie sieht sich völlig zurecht als Risikopatientin und fürchtet um ihr Leben. Ich fürchte mit.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 22. 3. 2020

Corona-Tagebuch: Teil 4

Berlin. Seit dieser Woche bin ich nicht mehr so sicher, ob ich zu Hause arbeite oder auf der Arbeit wohne. Alles, was passiert, hat irgendwie mit dem Virus zu tun. Ich merkte, dass ich gesünder lebe, mir etwas koche (Kartoffeln mit Quark, hallo!), aber mehr Müll produziere als in normalen Wochen. Ich richte mich ein in dieser neuen Welt. Die wohl wichtigste Maßnahme ist, dass ich mir Corona-freie Stunden eingerichtet habe. Stunden, in denen ich etwas komplett anderes tue, mich mit etwas beschäftige aus einer Welt vor dem Virus. Das hilft.

Denn ich habe begonnen – und bin nicht der einzige, habe ich festgestellt – von Corona zu träumen. Eine Freundin erzählte mir, dass ihre Kinder „Corona spielen“, sie sagen dann: „Du hast Corona!“ und rennen dann lachend voreinander weg. So ähnlich rennen die Gedanken nachts in meinem Kopf: Meist geht es dann um Plätze, die nicht mehr die gleichen sind, weil sie komplett menschenleer sind. Oder ich träume von Plastik, das sich zwischen mir und Dinge des täglichen Bedarfs schiebt. Wer hat denn wirklich vor Corona die Plastikhandschuhe im Supermarkt benutzt, um sich ein Brötchen zu nehmen? Oder sie haben mit Bildern zu tun, die ich in den Nachrichten gesehen hatte, die ich jetzt aber nicht wiederholen will.

Montag. Der Tag beginnt mit der Meldung von einem zweiten Berliner Todesopfer. Ich denke an Zahlen und die Kurven. Streng genommen haben sich die Zahlen damit jetzt nach drei Tagen verdoppelt. Meine Schwägerin schreibt, dass ein Kollege positiv getestet wurde, sie ist schon seit fast zwei Wochen auf Kurzarbeit, ihre Firma will 90 Prozent Kurzarbeitsgeld zahlen, solange es geht.

Gegen halb zehn benutze ich meine Yogamatte, die irgendwann jemand im Hausflur abgestellt hatte mit dem Zettel „Keine Lust mehr!“. Ich finde auf Youtube einen tätowierten Yogalehrer, der an irgendeinem Strand dieser Welt ein- und ausatmet. Während die Wellen in meinen Ohren immer lauter werden, mache ich seine Übungen nach. Nach zehn Minuten, ich stehe gerade in der „Krieger“-Position, ruft eine Freundin an.

Sie hat gerade ihre drei Kinder beschäftigt und sagt lachend, dass sie nicht versteht, wie Lehrer das aushalten. Wir erzählen uns die neuesten Corona-Witze („Kommt kein Mann in eine Bar…“) und reden über Spielplätze („Diese anderen Eltern, die mich ungefragt maßregeln“). Schließlich erzählt sie, dass sie fast kein Klopapier mehr habe. Jetzt sei es zu spät und im Laden um die Ecke alles weg. „Ich hab mir welches im Internet bestellt – 35 Euro für 60 Rollen, mit Lieferung.“

Abends treffe ich einen Freund für einen Wein. Vielleicht waren es auch drei. Wir sitzen in seiner Wohnung in drei Meter Entfernung, zwischen uns ein Laptop, auf dem die Musik von „United we Stream“ läuft, einer Sendung auf Arte, die das Discofeeling nach Hause tragen soll. Es ist ein bisschen wie einen Zweig anzuzünden, ihn dann zuhause in den Kamin zu legen und darauf zu hoffen, dass ein Buschfeuer-Gefühl entsteht. Auf dem Heimweg mit dem Fahrrad treffe ich niemanden, wirklich überhaupt niemanden. Nur ein Krankenwagen fährt still vorbei.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 29. 3. 2020.

Corona-Tagebuch: Teil 5

Berlin.  In dieser Woche habe ich gelernt, was es heißt, Angst um einen Freund zu haben. Am Wochenende hatte ich erfahren, dass ein Freund von mir wegen des Coronavirus auf der Intensivstation liegt. Ich habe seiner Frau versprochen, keine Details darüber zu schreiben. Sie ist zu Hause, ihr Test war negativ. Sie telefoniert mit Ärzten und Freunden und Kollegen und ich versuche, nicht zu oft nachzufragen. Aber natürlich ist das jeden Tag der erste Gedanke: die Schläuche, die Geräte, die Ärzte in Masken oder Schutzanzügen. Wenn man einmal diese Intensivstationen in Italien gesehen hat, kriegt man das nicht mehr aus dem Kopf.

Im Vergleich dazu ist alles, was ich erlebe, ganz klein. Denn die fünfte Woche dieser Krise ist vor allem eine Woche der Stagnation. Jemand sagte neulich: „Wir erleben gerade den Teil eines Films, der normalerweise in der Rückblende zusammengeschnitten wird.“ Genauso fühlt es sich an. Es tut sich einfach wenig. In den Wochen zuvor habe ich viele alte Freunde angerufen. Soll ich sie einfach noch einmal anrufen? Auch die Anrufe bei meinen Eltern werden weniger oder kürzer. Das ist nicht schlimm, es ist wohl der Alltag im Nicht-Alltag, die schlichte Ereignislosigkeit, die Einzug hält. Der Dienstag ist der Donnerstag ist der Montag. Na ja, fast. Die Zahlen steigen stetig, und seit dieser Woche macht auch ein kleiner Anstieg schon ein sehr schlechtes Gefühl.

Montag. Morgens lese ich eine Meldung aus Indonesien, dort ist es schon abends. Den letzten Sommer habe ich in Indonesien verbracht. 30 Inseln in vier Monaten. Es fühlt sich jetzt an wie die gute alte Zeit. Der schönste Ort war eine Insel namens Arborek, mitten im Pazifik. Sie ist 600 Meter lang und 200 Meter breit, umgeben von Korallen. Es gibt keine Autos, im Dorfzentrum steht eine kleine blau angestrichene Kirche, in der sich das gesamte Dorf am Sonntag trifft. Man darf nicht unter Palmen entlanglaufen, wegen der Kokosnüsse. Logisch.

Githa war meine Tauchlehrerin auf Arborek. Wir saßen abends manchmal am Strand, also, alles ist ja Strand auf Arborek. Sie schreibt mir, dass ihre Insel in Quarantäne sei. Die 200 Bewohner von Arborek halten sich quasi an die gleichen Regeln wie die Menschen in Berlin. Das heißt in ihrem Fall, sie bekommen nur ab und zu Nahrung und Trinkwasser per Boot geliefert. Githa hat gehört, dass es in Berlin gerade schwierig sei, dieses Drinbleiben. Sie schreibt, dass ihr Neffe für ein paar Wochen zu ihr gezogen sei. Es sei sicherer auf der kleinen Insel. Sie hat ihn mit zu den Korallen genommen. Als sie wieder im Schiff waren, sagte er: „Die Fische sehen so glücklich und frei aus.“ Githa habe weinen müssen, schreibt sie. Sie sendet liebe Grüße.

Corona-Tagebuch: Teil 6

Montag. Ich habe einen Krieg gewonnen. Mit solch martialischen Metaphern ist man ja heute schnell dabei in diesen „Zeiten der Ansteckung“ (Paolo Giordano), wenn die Polizei langsam die Straßen entlangfährt und ab und an ein Hubschrauber am Fenster vorbeiknattert, um zu sehen, ob wir auch alle zu Hause bleiben. In München, so schrieb ein Freund, benutzen die Behörden sogar Drohnen. Sie schweben plötzlich über einer Menschenmenge und fordern die Gruppe per Lautsprecher auf, „sich unverzüglich nach Hause zu begeben“.

Aber der Krieg, den ich gewonnen habe, ist leider ein anderer. Er ist mir auch etwas peinlich: Irgendwann vor zwei, drei Wochen tauchte so eine kleine Lebensmittelmotte auf. Ich konnte mir nicht vorstellen, wo die herkommt. Aber die Biester sind so langsam, dass mein kindlicher Jagdreflex angefacht wurde und ich sie schnell neutralisieren konnte. Das Hände-Waschen danach habe ich nicht vergessen. Doch es wurden natürlich mehr. Ich kaufte ohne Anstehen bei der Drogerie zwei Fallen, legte sie in die Ecken und vergaß das Problem. Dann plötzlich waren es drei am Tag, dann fünf. Die Falle war voller kleiner Motten. Ich öffnete jede Müsli-Packung… und fand Leben. Beim Gang zum Mülleimer durchfuhr mich so ein Ekel-Schauder, den ich sonst nur kenne, wenn ich eine Ratte auf der Straße sehe.

Abends telefoniere ich mit einem alten Freund, der eigentlich Filme dreht. Er sagt, er könne nicht an seinem Drehbuch weiterarbeiten. Darin ging es unter anderem um eine Frau, die eine Reise von Wien über Budapest nach Berlin macht. „Ich muss warten, wie sich das entwickelt“, sagt er. „Das ist doch sonst ein Film aus einer Zeit, die mit unserem Leben nichts mehr zu tun hat.“ Ich halte dagegen, dass wir doch weiterhin nach Wien und Budapest reisen werden können. Wenn das alles vorbei ist.

Infizierte in Berlin: 3862. Tote: 28.

Dienstag. Als ich mir morgens ein Frühstücksei mit Tomaten brate, schneide ich mir dabei tief in den Daumen. Ich schreie laut auf und fluche laut. Ich hatte aufgehört, mir Gedanken zu machen, ob das die Nachbarn hören. Das geht offenbar auch anderen so. Über mir springt jemand mit einem Springseil zu schlechtem Dancehall-Techno. Meine Lampe wackelt.

Mittags muss ich für ein Interview nach Kreuzberg. Das heißt: Ich will. Es ist schließlich eine der wenigen Gelegenheiten, mal rauszukommen. Wir laufen vom Kotti zur Admiralsbrücke, und ich wollte schon vorschlagen, dass wir uns dort an die Seite setzen, aber mein Interviewpartner lehnt ab: „Wenn wir damit anfangen, kommen andere und tun das auch.“ Also setzen wir uns einfach an eine Hauswand.

Von dort bekommen wir mit, wie ein Polizeiwagen über die Brücke fährt und tatsächlich per Megafon die Menschen auffordert, die Brücke zu verlassen. Ein Kreuzberger in Muskel-T-Shirt baut sich vor dem Wagen auf und schreit die Beamten an. Ich verstehe nur „freies Land“. Und dann passiert etwas, womit ich nicht gerechnet habe. Alle Beteiligten verlassen die Brücke, ein Polizist steigt aus dem Auto und unterhält sich mit dem Mann. Niemand schreit, niemand gestikuliert wild. Es wird geredet, argumentiert. Am Ende bleibt die Brücke leer. Zumindest für zehn Minuten.

Abends treffe ich einen Freund zu einem Spaziergang über die menschenleere Museumsinsel. Wir laufen mit Späti-Bier bei Angela Merkels Wohnung vorbei, im dritten Stock brennt Licht. Wir reden über die drei Phasen des Quarantäne-Kollers, die wir abwechselnd durchlaufen (Angst, Aktionismus, Langeweile) – und wir sammeln Bücher ein. In Mitte stehen vor vielen Hauseingängen Kisten mit ausrangierten Büchern. Ich nehme „Liebediener“ mit, ein Büchlein von 2001, geschrieben von Julia Franck, die Jahre später den Deutschen Buchpreis gewann. „Ein lustvoller Roman um Liebe, Tod und Leidenschaft in unserer Zeit.“ Auf Seite 112 ist ein Blatt eines Baumes gepresst.

Infizierte in Berlin: 4038. Tote: 32.

Mittwoch. Morgens stehe ich wie fast jeden Tag auf dem Balkon und lese dort meine Zeitung. Normalerweise sitzen in der Straße immer noch andere auf dem Balkon. Oder es joggt jemand vorbei. An diesem Tag sehe ich gar niemanden, zehn Minuten lang. Wo sind die nur alle?

Meine Eltern rufen an und sagen, dass sie ein Paket für Ostern geschickt haben. Wir reden auch über das neue Video, das die spontane Kreativ-Agentur der Kinder meines Bruders gedreht hat. Sie spielen das Märchen „Dornrüdchen“, in der Hauptrolle mein „Prinz Rudi“, der nicht einschlafen kann. Ein zweijähriger Ritter kommt dann vorbei und bringt alles durcheinander. Wahnsinnig niedlich.

Abends telefoniere ich mit einem Freund, der normalerweise stundenlang Bücher und Filme empfiehlt. Seinetwegen lese ich gerade die Kurzgeschichten der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro. Seit einiger Zeit antwortet er auf die Frage, wie es ihm geht, mit: „Ach, geht so, meine Aktien sind gefallen.“ Er hat wegen der Krise angefangen, sich mit der Börse zu beschäftigen. Eigentlich eine gute Idee, aber unsere Telefonate sind seitdem kürzer geworden.

Vor dem Einschlafen sehe ich, dass ein Leser mir geschrieben hat. Er habe einen Fehler entdeckt in der letzten Ausgabe meines Tagebuchs. Da schrieb ich, dass die Zahlen weiterhin steigen würden. Sie würden ja sinken! Ich schreibe zurück, dass es wohl ein Missverständnis sei, zwar sinke die Anstiegsrate, aber die Zahlen steigen trotzdem. Jeden Tag sterben Menschen.

Infizierte in Berlin: 4212. Tote: 37.

Donnerstag. Das Paket meiner Eltern ist noch immer nicht angekommen. Dafür haben sie die Nachricht erhalten, dass es „beim Nachbarn“ abgegeben wurde. In meinem Briefkasten ist kein Zettel, welcher Nachbar denn gemeint sei, also gehe ich einmal komplett durch das Vorderhaus. „Entschuldigung, haben Sie ein Paket für mich?“ Ich bin erstaunt, wie viele Hausbewohner tagsüber nicht zu Hause sind. Hinter einer Tür höre ich deutlich Stimmen. Aber trotz dreimaligem Klingeln macht niemand auf.

Ich will mir erst merken, welche Türen ich später noch einmal probieren muss, und mache ein Foto vom Klingelschild. Aber dann überlege ich, das sei dann doch etwas „Corona-Polizei“-mäßig. Hinter der letztmöglichen Tür, Hinterhaus links, fünfter Stock, liegt mein grünes Osterpaket. Den Nachbarn hatte ich noch nie gesehen. Drin sind Tee und M&Ms, die ja streng genommen wie bunte Eier aussehen. Aber vor allem: Nicht diese komischen „Osternester“ aus buntem Zucker, die eigentlich niemand mag.

Am Nachmittag nehme ich zum ersten Mal an einer Fernseh-Show als Digital-Publikum teil. Die neue ZDFneo-Sendung „Homies“, bei der über Internet zwei Comedians miteinander streiten. Ich bin einer von 83 Menschen, die live per „Zoom“ zugeschaltet sind. Wir sind alle auf „lautlos“ gestellt, leider können wir nicht miteinander chatten. Winken ist das neue Klatschen.

Die Show ist sehr zeitgemäß, sie kommentieren Corona-Nachrichten aus aller Welt und zwischendurch beleidigen sie einander als „Kinderverprügler“ oder „GEZ-Hure“. Weil in Sachsen Quarantäne-Brechern sogar eine Gefängnisstrafe droht, sagt einer: „Wie egal ist Gefängnisstrafe eigentlich, wir tauschen einen Raum, den wir nicht verlassen dürfen, mit einem anderen.“ Die schlaue Samira El Ouassil spricht über Bolsonaro, und ein zugekokster Banker springt aus dem Fenster. Als einer der Moderatoren einer Seenotretterin vorwirft, doch sicher früher „Ausländerheime angezündet“ zu haben, sagen sie: „Das schneiden wir raus, ja, das war zu krass.“ Sie werden viel schneiden müssen, die Aufzeichnung dauert eine Stunde, die fertige Show am Dienstag gerade die Hälfte.

Infizierte in Berlin: 4357. Tote: 42.

Freitag. Mich erreicht morgens eine E-Mail der Firma, bei der ich drei Gesichtsmasken bestellt hatte. Sie duzen mich: „Du fragst Dich sicherlich: Wo ist mein Paket?“ In der Tat ist der angekündigte Liefertermin schon seit mehr als einer Woche abgelaufen. Aber sie schreiben etwas von „minimierten Infektionsherden“ und „Extra-Schichten“. Wenn alles gut gehe, habe ich meine Masken am Dienstag kommender Woche. Ich denke: Wenn nicht, frage ich mal im Hinterhaus, fünfter Stock.

Gegen Mittag skype ich wieder mit Christian Y. Schmidt. Zunächst zeigt er mir die FFP-2-Masken, die er noch übrig hat. Einige sind aus Polen, andere aus China. „Der Unterschied liegt eigentlich nur in der Bezeichnung“, sagt er, „aber nur die aus Polen sind auch in Deutschland zugelassen.“

Dann reden wir über die Diskussion der vergangenen Tage, die Maßnahmen zurückzufahren. „Interessant finde ich, dass es nicht nur konservative Kommentatoren sind, die eine Rücknahme der Maßnahmen fordern“, sagt Schmidt. Auch die eher linke Juli Zeh werfe den Politikern Rückgratlosigkeit und Kopflosigkeit vor. Damit habe er nicht gerechnet, denn eigentlich sei es doch ein Ziel gerade der Linken, die Schwachen, Kranken und Alten zu schützen. „Und schließlich sind es die ergriffenen Maßnahmen, die dazu geführt haben, dass Deutschland in dieser Krise noch ziemlich gut dasteht.“

Er selbst habe die Maßnahmen in China miterlebt, und die waren um einiges schärfer. „In Wuhan durften die Menschen elf Wochen überhaupt nicht auf die Straße gehen“, sagt er, „und in Peking wurde bereits alles geschlossen, als es noch weniger als hundert Infizierte gab.“ Schmidt halte eine frühzeitige Rücknahme der Maßnahmen für ein gefährliches Spiel, das außerdem nur darauf gründet, dass unsere Zahlen im Vergleich zu anderen europäischen Staaten so gering sind. „Aber auch in Deutschland starben an einem Tag in dieser Woche über hundert Menschen mehr als in Südkorea insgesamt während der ganzen Krise.“ Dabei habe es dort viel früher angefangen. Doch auch ihm sei aufgefallen, dass die Dauer der Maßnahmen einen Effekt auf ihn habe. Er sei etwas nachlässig geworden. „Ich wasche mir jedenfalls nicht mehr so oft die Hände wie vor drei Wochen“, sagt er, „und ich war neulich in einer Buchhandlung ohne Mundschutz.“

Am Nachmittag laufe ich durch den Mauerpark, überall sitzen Menschen, aber im Abstand, nur weiter hinten grillt eine Familie. Das heißt die Frauen grillen, die Männer sitzen im Abstand und rauchen. Als im Hintergrund ein Polizeiauto zu sehen ist, stehen die Männer auf und gehen weg. Die Polizisten kommen zu sechst zu den Frauen und reden. Es wird wild gestikuliert, und eine der Frauen zeigt auf ihr Mobiltelefon, wo sie offenbar die Grillerlaubnis gefunden haben. Als ich auf dem Rückweg bin, sind sie nicht mehr da.

Abends schaue ich mit zwei Freunden „RuPauls Drag Race“, eine Show auf Netflix, bei der Männer in Frauenkleidern gegeneinander antreten. Vor der Krise haben wir uns regelmäßig dafür getroffen und das Geschehen kommentiert. Jetzt ist der Dritte live per Skype zugeschaltet. Wir zählen „drei, zwei, eins“ und drücken gleichzeitig die Play-Taste. Für Kenner: Wir schauten die Staffel, bei der Cher sich wundert, warum sie überhaupt eingeladen wurde. „Dafür hab’ ich keinen Oscar gewonnen!“ Zitat des Abends: „Emotionen sind etwas für hässliche Leute.“

Infizierte in Berlin: 4446. Tote: 46.

Sonnabend. Endlich bekomme ich positive Nachrichten über den Freund, der noch immer auf der Intensivstation liegt. Es heißt, die Entzündung der Lunge sei zurückgegangen. Er kämpft weiter gegen das Virus und ist noch nicht bei Bewusstsein. Seit neun Tagen weiß ich jetzt, dass es ernst ist. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht an ihn gedacht habe.

Gegen Mittag sehe ich noch einmal eine kleine Motte. Ich öffne das Fenster. Sie fliegt Richtung Vogelgezwitscher.

Infizierte in Berlin: 4553, Tote: 50.

Erschienen am 12. 4. 2020 in der Berliner Morgenpost.

Corona-Tagebuch: Teil 7

Berlin. In dieser Woche kam zum Glück etwas Hoffnung zurück, dass dieses Leben nicht noch Jahre so weitergehen wird. Die Vorfreude auf ein Ende der „Maßnahmen“ wurde fast überlebenswichtig. Wenn einem fast jeder Fernsehsender per Dauereinblendung das Zuhausebleiben empfiehlt und sogar mein Mobilfunkbetreiber dafür sorgt, dass links oben die ganze Zeit die gleiche Empfehlung anstatt „T-online“ angezeigt wird, ist es auch irgendwann mal gut. Schon kapiert!

Montag. Morgens läuft im Radio dieser Song von „Wir sind Helden“: „Guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben zurück.“ Ich rasiere mich und muss lächeln. Sitzen da jetzt in den Musikredaktionen Leute, die sich die ganze Zeit überlegen, welche Lieder in diesen Zeiten eine andere Bedeutung haben?

Ostermontag ist ohne Familie irgendwie auch wie jeder andere Tag. Ich habe zwei Pakete zeitgleich verschickt. Zugegeben: Mittwoch vor Ostern war sportlich geplant – aber warum erreicht das eine Paket Hannover bis Sonnabend und braucht bis Bernau fast eine Woche? Meine Familie hat Bilder von der Ostereiersuche geschickt, mein zehnjähriger Neffe zeigt darauf traurig seinen Osterkorb in die Kamera. Traurig, weil er nur so wenig gefunden hat, oder weil dieses Ostern so anders ist?

Am Nachmittag telefoniere ich mit einem Freund in Brasilien. Er wohnt in Rio de Janeiro, an der Stelle, wo die beiden Strände Copacabana und Ipanema in einem rechten Winkel aufeinandertreffen. Er sagt, er joggt jeden Morgen am Wasser. Alles sei fast leer, obwohl der Präsident Jair Bolsonaro die Krankheit als „Gripezinha“ bezeichnet – ein „Grippchen“. Mein Freund will vorerst dort weiter wohnen bleiben. Er liest viel, im Sommer wollte er seinen Geburtstag in Berlin feiern. Wir verabschieden uns mit diesem ungewissen Gefühl, dass es jetzt noch zu früh für irgendwelche Pläne ist.

Infizierte in Berlin: 4667. Tote: 56.

Corona-Tagebuch: Teil 8

Berlin. In dieser Woche ist irgendwie ein Wendepunkt erreicht. Ich meine, kein zeitlicher Wendepunkt, denn wir wissen ja noch nicht, wann wieder alles wie vorher wird. Ich meine eher einen Wendepunkt für das Gefühl für diese Krise. Hat sich vorher jeder Tag ein bisschen wie Sonnabend angefühlt (zu Hause bleiben, arbeiten, allein fernsehen), ist es jetzt, als wäre es permanent Montag: Man könnte eigentlich immer irgendetwas arbeiten, aber gleichzeitig passt das Bild der Stadt nicht dazu. Die Menschen in meiner Straße stehen jetzt zu lange auf ihren Balkonen, zu jeder Tageszeit. Haben sie mir früher noch zugewunken, machen sie das jetzt auch nicht mehr.

Wendepunkt heißt auch, dass ich merke, wie die Tage auseinanderfallen, wenn man sie nicht zusammenhält. Dabei helfen natürlich Rituale, Dinge, die ich täglich wirklich gleich tue. Aber die gibt es kaum. Eine Zeit lang war es ja ein fast kollektives Ritual, jeden Tag zuerst zu überprüfen, wie die Zahlen liegen. USA, Frankreich, Schweden, und auch die Zahlen für Berlin. Aber wenn ich nicht dieses Tagebuch führen würde, wäre mir nicht aufgefallen, dass in dieser Woche über 100 Menschen in Berlin am Virus gestorben sind. Wenn ich daran denke, mit welchem Entsetzen ich Artikel vor zwei Monaten zu diesem Thema gelesen habe, ist dieses Gefühl definitiv einer Gelassenheit gewichen. Denn alles geht ja auch irgendwie weiter, oder?

Montag. Die Woche hatte mit dem besten Ritual überhaupt angefangen: Morgensport. Ich habe immer dieses Bild von mir als ein Morgenjogger vor mir. Besonders abends. Morgens bin ich dann eher der, der mit Kaffeetasse in Jogginghose erstmal auf den Balkon tritt und blinzelt. Ab heute soll das anders sein: Ich bin mit einer Freundin im Volkspark Friedrichshain an einem polnischen Denkmal verabredet.

Dort angekommen wundere ich mich, dass schon Skater morgens um 8 Uhr ihre Sache sehr ernst nehmen. Meine Freundin hat schon angefangen: springen, rennen, Liegestütze. Und diese eine Übung, die Jane Fonda immer in ihren Videos gemacht hat: seitlich liegend das Bein heben. Ich sage ihr, dass Männer solche Übungen nicht machen, und weise sie auf jenes Workout-Video von Jane Fonda hin. Sie: „Jane hat die Übung auch falsch gemacht. Und jetzt zeige ich dir, wie das geht.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 26. 4. 2020.

Corona-Tagebuch: Teil 9

Berlin. In In dieser Woche habe ich gelernt, dass Streit in Corona-Zeiten sich ernster anfühlt. Ich habe mich mit einer guten Freundin gestritten und mich dadurch eines sozialen Kontakts beraubt, der nicht nur regelmäßig, sondern wichtig war. Wir hatten gemeinsam Sport gemacht und Kaffee getrunken. Dann habe ich einen Fehler gemacht, und offenbar ist eine Entschuldigung nicht genug. Als wir per SMS streiten, bin ich irgendwann selbst wütend und breche den Dialog ab.

Hinzu kommt, dass ich in dieser Woche im Urlaub bin, außer Radio und TV habe ich gerade wenig Kontakt mit der Außenwelt, noch nicht einmal Kollegen rufen an. Mir fällt auf, dass ich auch mit Freundschaften in diesen Zeiten sorgfältiger umgehen muss. Habe ich früher regelmäßig eine große Gruppe von Freunden pro Woche getroffen, hat sich in den vergangenen zwei Monaten das doch erstaunlich schnell auf wenige Menschen beschränkt.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 3. 5. 2020