Corona-Tagebuch: Teil 4

Sören Kittel, auf seinem Balkon

Berlin. Seit dieser Woche bin ich nicht mehr so sicher, ob ich zu Hause arbeite oder auf der Arbeit wohne. Alles, was passiert, hat irgendwie mit dem Virus zu tun. Ich merkte, dass ich gesünder lebe, mir etwas koche (Kartoffeln mit Quark, hallo!), aber mehr Müll produziere als in normalen Wochen. Ich richte mich ein in dieser neuen Welt. Die wohl wichtigste Maßnahme ist, dass ich mir Corona-freie Stunden eingerichtet habe. Stunden, in denen ich etwas komplett anderes tue, mich mit etwas beschäftige aus einer Welt vor dem Virus. Das hilft.

Denn ich habe begonnen – und bin nicht der einzige, habe ich festgestellt – von Corona zu träumen. Eine Freundin erzählte mir, dass ihre Kinder „Corona spielen“, sie sagen dann: „Du hast Corona!“ und rennen dann lachend voreinander weg. So ähnlich rennen die Gedanken nachts in meinem Kopf: Meist geht es dann um Plätze, die nicht mehr die gleichen sind, weil sie komplett menschenleer sind. Oder ich träume von Plastik, das sich zwischen mir und Dinge des täglichen Bedarfs schiebt. Wer hat denn wirklich vor Corona die Plastikhandschuhe im Supermarkt benutzt, um sich ein Brötchen zu nehmen? Oder sie haben mit Bildern zu tun, die ich in den Nachrichten gesehen hatte, die ich jetzt aber nicht wiederholen will.

Montag. Der Tag beginnt mit der Meldung von einem zweiten Berliner Todesopfer. Ich denke an Zahlen und die Kurven. Streng genommen haben sich die Zahlen damit jetzt nach drei Tagen verdoppelt. Meine Schwägerin schreibt, dass ein Kollege positiv getestet wurde, sie ist schon seit fast zwei Wochen auf Kurzarbeit, ihre Firma will 90 Prozent Kurzarbeitsgeld zahlen, solange es geht.

Gegen halb zehn benutze ich meine Yogamatte, die irgendwann jemand im Hausflur abgestellt hatte mit dem Zettel „Keine Lust mehr!“. Ich finde auf Youtube einen tätowierten Yogalehrer, der an irgendeinem Strand dieser Welt ein- und ausatmet. Während die Wellen in meinen Ohren immer lauter werden, mache ich seine Übungen nach. Nach zehn Minuten, ich stehe gerade in der „Krieger“-Position, ruft eine Freundin an.

Sie hat gerade ihre drei Kinder beschäftigt und sagt lachend, dass sie nicht versteht, wie Lehrer das aushalten. Wir erzählen uns die neuesten Corona-Witze („Kommt kein Mann in eine Bar…“) und reden über Spielplätze („Diese anderen Eltern, die mich ungefragt maßregeln“). Schließlich erzählt sie, dass sie fast kein Klopapier mehr habe. Jetzt sei es zu spät und im Laden um die Ecke alles weg. „Ich hab mir welches im Internet bestellt – 35 Euro für 60 Rollen, mit Lieferung.“

Abends treffe ich einen Freund für einen Wein. Vielleicht waren es auch drei. Wir sitzen in seiner Wohnung in drei Meter Entfernung, zwischen uns ein Laptop, auf dem die Musik von „United we Stream“ läuft, einer Sendung auf Arte, die das Discofeeling nach Hause tragen soll. Es ist ein bisschen wie einen Zweig anzuzünden, ihn dann zuhause in den Kamin zu legen und darauf zu hoffen, dass ein Buschfeuer-Gefühl entsteht. Auf dem Heimweg mit dem Fahrrad treffe ich niemanden, wirklich überhaupt niemanden. Nur ein Krankenwagen fährt still vorbei.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 29. 3. 2020.