Berlin. Ich habe in dieser Woche den Fehler gemacht, den Roman „Die Pest“ von Albert Camus zu lesen. Es ist ein alarmierendes Buch aus dem Jahr 1947 über das Versagen der Behörden angesichts der Epidemie in einer Stadt in den 1940ern. Erst sterben die Ratten, dann die Menschen. Es ist furchtbar. Die Zeitungen der Stadt versuchen, eine Panik in der Bevölkerung zu verhindern. Im ersten Teil des Buches heißt es: „Die Ratten sterben eben auf der Straße, die Menschen in den Häusern. Zeitungen befassen sich nur mit der Straße.“
Natürlich ist Camus’ Roman eine fiktive Geschichte, die mehr über die Gesellschaft kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erzählt als über das Gesundheitssystem einer Stadt. In Frankreich ist „Die Pest“ Schulliteratur, aber derzeit ist das Buch auch in Italien vergriffen. Die Parallelen zum gegenwärtig kursierenden Virus Sars-CoV-2 drängen sich auf. Es gibt kein Heilmittel, die Symptome gleichen einer Grippe. In China gab es über 3000 Tote, und auch die Übertragung verläuft ähnlich leicht. Es reicht, jemandem die Hand zu geben. Die Infektion kann innerhalb von Millisekunden stattfinden.
Seit dieser Woche gibt es Infizierte in Berlin. Oder besser: Seit dieser Woche gibt es positiv auf das Coronavirus getestete Patienten, die es in sich tragen und möglicherweise in den Tagen davor verbreitet haben, in der U-Bahn, im Bus, beim Bäcker. Was ist in dieser Woche mit Berlin passiert? Was sagen Berliner, die gerade aus China zurückgekehrt sind? Und wie bleiben wir gesund? Das Protokoll einer Woche, in der irgendwie die ganze Stadt unter erhöhter Temperatur litt.
Montag. Eine seltsam beruhigende Stimme verkündet gegen 7.30 Uhr im Deutschlandfunk: „Mittlerweile wurde auch die erste Infektion aus Berlin gemeldet.“ Es ist der letzte Satz der letzten Meldung in den Nachrichten. Nachdem ich meinem Sprachassistenten die etwas umständliche Frage stelle: „Was ist meine Nachrichtenzusammenfassung?“, plärrt mir das Gerät die Neuigkeiten über den Berliner Patient Null entgegen. Es sind Schlagworte, die bald Stadtgespräch sein werden: 22 Jahre, Stadtteil Mitte, Praktikant im Großraumbüro, regelmäßiger Nutzer der U-Bahn. Das heißt: Theoretisch könnten wir alle längst angesteckt sein.
Das Berlin, das ich kurz darauf an meiner Haustür betrat, hätte ein anderes sein können. Das Virus könnte überall sein, vielleicht am Laternenpfahl oder am Treppengeländer zur U-Bahnhaltestelle. Der Überträger ist 0,1 Millionstelmeter groß. Was ich zuerst sehe, ist ein junger Mann, der in einem Lastenfahrrad seine Tochter zum Kindergarten fährt. Das Gesicht kommt mir bekannt vor. Ich glaube ihn im Film „Inglourious Basterds“ gesehen zu haben. Prenzlauer Berg eben.
In dieser Woche habe ich sehr oft „Happy Birthday“ gesungen. Eigentlich fast jedes Mal, wenn ich mir die Hände gewaschen habe. Es heißt ja, dass man den Refrain – gibt es eigentlich Strophen? – zweimal beim Hände waschen singen soll. Dann sind ungefähr 20 Sekunden um, und man kann mit dem Abtrocknen (Papierhandtücher!) beginnen.
Es wurde eine sehr turbulente Woche, wahrscheinlich für sehr viele Menschen in dieser Stadt. Während in der vergangenen Woche am Montag der erste Corona-Infizierte in Berlin gemeldet worden war, ist es in dieser Woche das erste deutsche Todesopfer, das an Covid-19 starb. Die Kurve der Infizierten ist genauso exponentiell gestiegen wie unsere Lernkurve: die meiner Schwägerin, meines Arztes, meines Chefs und meine sowieso. Jeden Tag erfahren auch die Wissenschaftler mehr über das Virus. Und je mehr wir wissen, umso geringer – so zumindest ist es bei mir – wird meine Angst.
Ein Freund schrieb am Ende dieser Woche, dass er keine Lust mehr habe, irgendetwas über Corona zu lesen. Mir geht es zum Glück genau anders herum, ich möchte möglichst alles wissen, auch die Details. So finde ich es faszinierend, wenn Musikhochschulen die ersten Flügel komplett renovieren müssen, weil übereifrige Musikstudenten die Klaviertasten permanent mit Desinfektionsspray eingesprüht haben. Doch das hatte ich erst Sonnabend erfahren, bei meinem Klavierlehrer. Also der Reihe nach.
Montag Ich komme morgens zur Arbeit, und es fühlt sich fast wie ein Déjà-vu an: Der erste deutsche Tote wird gemeldet. Die Stimmung ist ernst, aber noch sollen wir alle normal ins Büro kommen. Aber mit einem Schlag hört auch eine gewisse Leichtigkeit auf, die bei dem Thema bisher doch spürbar war. Gegen Mittag lese ich auf Twitter davon, dass in Italien allein an einem Tag rund 100 Menschen an Covid-19 gestorben sind. Ich trinke währenddessen einen Kaffee, verschlucke mich und bekomme einen Hustenanfall. In einem Großraumbüro gibt es derzeit nichts Schlimmeres. Zwischen den Hustattacken rufe ich nur „Verschluckt!“, und meine Kollegen sind dann alle beruhigt.
Am Nachmittag muss ich noch einmal zur Apotheke und zum Arzt. Ich frage bei der Gelegenheit die Krankenschwester, wie es denn „sonst so“ läuft. Sie sagt, dass sie ab Mittwoch nach Japan fliege, „wenn der Flieger denn geht“. Derzeit ist das noch möglich, aber man sei ja angehalten, so wenig wie möglich zu verreisen.
In der Apotheke steht vor mir eine Frau, die ganz aufgeregt ist. Als sie dran ist, kauft sie Hustenbonbons. Sie hustet wirklich sehr stark. Mit kratziger Stimme sagt sie, dass sie „fünfeinhalb Stunden!“ bei ihrem Hausarzt gewartet habe. Sie habe sich testen lassen wollen. Die Apothekerin lächelt. Nachdem sie das Geld entgegengenommen hat, greift sie unaufgeregt zum Desinfektionsmittel. Dann bin ich dran. Ich kaufe ebenfalls Hustenbonbons und ein Erkältungsbad.
Am Abend treffe ich einen Kollegen einer anderen Zeitung in der Bar „Schwarzsauer“ an der Kastanienallee in Prenzlauer Berg. Die Kellnerinnen sind ausnehmend freundlich und bringen die Getränke sogar an den Tisch. Wir bestellen Bier vom Fass, so wie alle hier, und zeigen uns Fotos unserer Kinder. Als er sagt, dass in zwei Wochen die Taufe seiner Tochter sei, frage ich ihn, ob er denn wirklich glaube, dass die Taufe stattfinde. Er schaut, als ob er mich nicht verstünde: „Was meinst Du?“ Ich erkläre ihm, dass in Italien gerade auch Taufen und Hochzeiten abgesagt werden. Er sagt, so schlimm werde es nicht und lädt mich für Sonnabend zu seinem Geburtstag ein.
Infizierte in Berlin: 48.
Dienstag. Am Morgen benutze ich zum ersten Mal den Ebola-Bump. So heißt es, wenn man zur Begrüßung von Menschen statt der Hand sich mit der Ellenbogenspitze kurz berührt. Einmal habe ich es vergessen. Zur Strafe singe ich zwei Happy Birthdays.
Über den Tag verteilt lese ich immer wieder die Einträge von Christian Y. Schmidt, dem Autor, den ich vergangene Woche traf. Er kann seit einer Woche keine Freunde mehr auf Facebook hinzufügen, er hat die Grenze von 5000 erreicht. Er verlinkt aktuelle Meldungen über Corona weltweit, darunter beginnen oft interessante Diskussionen. Unter einem Text über die ersten Toten in Deutschland hat eine Nutzerin geschrieben: „78“. Jemand fragt: „Was meinst Du damit?“ Die Antwort: „Na ja, der Patient hätte ja den nächsten Winter ohnehin nicht erlebt.“ Es entspinnt sich ein Streit, sie legt nach: „Als Konjunkturmotor taugt das Ding ja besser als Ostern oder Valentinstag.“ Die Aggressivität, mit der einige auf sie reagieren, ist aber fast so besorgniserregend wie ihre Meinung. Ich schreibe Schmidt und bitte ihn um ein zweites Treffen.
Infizierte in Berlin: 58.
Mittwoch Zum ersten Mal ist zu spüren, dass sich in den nächsten Tagen einiges ändern wird im Zusammenleben in Deutschland. Gefühlt jede zweite App erinnert mich daran, dass wir in einer neuen Zeit leben: Dating, Taxi-bestellen, selbst Airbnb erinnert mich an das Schlagwort, dass wir ab diesem Tag mit in unseren Wortschatz aufnehmen: „social distancing“. Es geht darum, Abstand voneinander zu halten. Ein Freund verliert zwei wichtige Auftraggeber, für die er die Öffentlichkeitsarbeit machen sollte. Er macht sich Sorgen um seine Existenz. Ein anderer sollte einen Preis bei einem Filmfestival gewinnen, er wurde bereits angerufen und vorbereitet. Jetzt ist das Festival abgesagt, und er bekommt auch die 2500 Euro Preisgeld nicht. Und der Komiker Dieter Nuhr twittert, dass er wegen eines Virus, das eine „Erkrankungsrate von 0,0001 Prozent hat“, doch bitte auftreten möchte. Der Journalist Gabor Steingart verteidigt ihn gegen die vielen Gegenstimmen mit: „Der Mann will doch nur arbeiten.“ Es passt alles nicht zusammen.
Am Nachmittag treffe ich Christian Y. Schmidt, wieder im „La Tazza“ in Prenzlauer Berg. Er ist deutlich besser gelaunt in dieser Woche. Er hat nicht mehr das Gefühl, dass das Thema in Deutschland heruntergespielt wird. Aber er ist müde. „Täglich nehme ich mir vor, heute machst Du weniger.“ Inzwischen bekomme er viele private Nachrichten von Menschen, die wissen wollen, ob und wo sie sich testen lassen können. „Ich bin kein Arzt“, sagt er, „aber das offenbart, dass mehr Aufklärung nötig ist.“
Sicherlich, es gebe Informationen im Netz und im Fernsehen. Aber in China war die Seuche auch im Straßenbild präsent. „Auf Bannern, Plakaten und auf LED-Leinwänden wurde den Leuten mitgeteilt, wie sie sich zu verhalten haben.“ Das Fehlen solcher Aufklärung sei ein Riesenproblem. „Inzwischen denke ich, dass es hier schlimmer wird als in Italien.“
Nach dem Treffen gehe ich zu meinem Yoga-Kurs. Bei „Yoga für Dich“ in Prenzlauer Berg ist es wirklich für einen Moment, als gebe es Corona nicht. Wir sind mehr als 20 Teilnehmer im Kurs. Niemand hustet, als wir „Ohm“ sagen sollen. Und wenn wir eine Übung nicht schaffen, dürfen wir „ein Klötzchen unters Popöchen“ legen. So redet man dort wirklich, und es könnte nicht besser sein. Danach gibt es gefiltertes Wasser. Nur das Desinfektionsspray im Bad erinnert an die neue Zeit, die außerhalb des Studios gerade anbricht.
Infizierte in Berlin: 81.
Donnerstag Es deutet sich an, dass sich unser Büroalltag verändern wird. Inzwischen hat das Virus in zwei Berliner Redaktionen „zugeschlagen“. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass auch bei uns die erste Quarantäne verhängt wird. Wir sollen unsere Arbeitsplätze räumen und uns für den kommenden Tag im Home Office einrichten. Ich lese ständig neue Meldungen aus Italien und England, und selbst in meinen Chatgruppen gibt es kaum ein anderes Thema.
Ein Verwandter von mir schickt mir einen Text, der doch „ein interessanter Beitrag“ zur aktuellen Lage sei. In dem Kommentar „Tagesdosis“ bringt ein „Friedensaktivist“ namens Rüdiger Lenz Themen wie Trump, Afghanistan, Putin, Ramelow, Greta Thunberg, Ghandi, Shakespeare und das Corona-Virus in derart seltsame Zusammenhänge, dass man am Ende nicht mehr weiß, was er eigentlich sagen wollte. Zwei Zitate: „Glaubt man den Medien, ist das Ende der Welt angebrochen.“ Und: „Viele hier glauben vermutlich, das Virus sei schlimmer als das Ebola-Virus, aber dabei merken sie nicht, dass das Geschäft der Angstmacherei längst im Gange ist.“
Ich bin schockiert, dass es Menschen gibt, die noch immer nicht verstanden haben, dass es für die meisten nicht um die konkrete „Angst vor dem Tod“ geht, sondern darum, unser Gesundheitssystem nicht mit zu vielen Fällen handlungsunfähig zu machen. Dabei sagen doch seit Wochen alle Experten auf gefühlt allen Kanälen genau das. Hat Christian Y. Schmidt doch Recht? Brauchen wir wirklich die großen Tafeln, die uns daran erinnern, ruhig zu bleiben, uns von einander fern zu halten und einfach öfter die Hände zu waschen?
Den Rest des Tages verbringe ich am Telefon: Meine Eltern haben ihren Kegelabend für Sonnabend abgesagt, der
50. Geburtstag, zu dem ich eingeladen war, ist ebenfalls abgesagt – und einer meiner Freunde, der im Krankenhaus arbeitet, erzählt, dass sie angefangen haben, sich selbst Schutzmasken zu nähen.
Infizierte in Berlin: 123
Freitag ist der erste Tag, an dem ich zuhause arbeiten muss. Dort entsteht auch dieser Text, im „Home-Office“. Ich werde einer WhatsApp-Gruppe namens „Homies“ zugefügt. Dort werden Themen besprochen und Arbeitsaufträge verteilt. Die Telefonkonferenz funktioniert, die Leitung hält den zugeschalteten Anrufern stand. Nur ein Problem: Die „Homies“ wollen, dass die Ressort-Chefs näher an das Mikrofon rücken, aber die sitzen in der Redaktion ja extra weit weg voneinander.
Ich frühstücke und lese von Trumps Drive-In-Tests auf Parkplätzen. In meiner WhatsApp-Gruppe werden Fotos voller Kühlschränke und von Toilettenpapier-Reserven gezeigt, alles natürlich auch ironisch, man weiß ja, dass man jederzeit Nachschub bekommt. Oder? In der Mittagspause gehe ich in die Kiezkantine, ein soziales Projekt, wo vor allem Menschen mit psychischen Erkrankungen arbeiten. Noch vor zwei Wochen hatte sich ein Mitarbeiter beschwert, dass wegen zu vieler Gäste die Köche unter Stress gerieten. Heute ist nicht jeder Tisch besetzt. Das Hirschgulasch ist sensationell. Am Ausgang gibt es kostenlos für jeden Gast Papiertaschentücher.
Danach gehe ich zu meinem Frisör, der heißt „Notaufnahme“. Es ist gut besucht, vor fast jedem Spiegel sitzt jemand und wird frisiert. Mein Friseur sagt dass immer mal wieder jemand anrufe und beginne, eine Krankheitsgeschichte vorzutragen. „Ich unterbreche dann sofort und gebe die Notrufnummer.“ Ansonsten würden sie auf die Desinfektion achten. Beim Frisieren haben wir über die Pläne am Wochenende gesprochen. Ausgehen fällt aus. Einer meiner Freunde schreibt in die Party-Whats-App-Gruppe: „Wir feiern bei meiner Mutter. Bärbel statt Berghain.“
Infizierte in Berlin: 174.
Sonnabend Ich stehe morgens auf meinem Balkon und sehe einer Frau zu, wie sie schwere Taschen trägt. Was trägt sie? Natürlich! Sie war einkaufen! Mir fällt ein, dass ich gegen Mitternacht noch mit einem Freund in Wien telefoniert hatte. Er erzählte, dass er nur noch leere Regale gesehen hatte. „Später am Abend musste die Polizei die Supermärkte schützen“, sagte er, „weil es zu Schlägereien kam.“ Ich will mich nicht um Milch prügeln müssen. Es kann ja nicht schaden, im Notfall ein paar asiatische Nudelsuppen mehr zu Hause zu haben.
In meinem Supermarkt gibt es zunächst keine Einkaufswagen mehr. Nach zwei Minuten habe ich einen, den Wagen schiebe ich mit zwei Fingern. Ich setze meine Kopfhörer auf und starte den Podcast von Drosten, den alle meine Freunde sklavisch hören. Die Folge vom Freitag behandelt in der Überschrift „Natürlich kann man noch einkaufen gehen“ ausgerechnet Hamsterkäufe. Mich stört dieses „Natürlich“. Nichts fühlt sich an wie immer. Im Supermarkt wirken alle gereizt. Als ob die Marktleitung auf jeden Fall verhindern will, dass Bilder von leeren Regalen entstehen, wird aufgefüllt, was das Zeug hält.
An der Wursttheke kaufe ich die letzten beiden Weißwürste, nicht weil ich heute welche essen will, eher, weil es eben die letzten beiden sind. Ich frage, ob neue Kollegen eingestellt wurden. „Das ist schon die ganze Zeit so!“ Die Verkäuferin packt mir die Wurst ein und sagt: „Wenn alles andere zu ist, wir bleiben auf, manchen Sie sich da mal keine Sorgen, heute noch bis 23 Uhr.“ Außerdem kaufe ich ein: Knoppers-Riegel (neu und nur für kurze Zeit), vier Packungen Spaghetti, zwei Packungen Speisequark und einen Saft, auf dessen Flasche steht, dass er „das Immunsystem stärkt“. Die Fertigpizza-Kühltruhe ist fast leer.
Dann fahre ich zu meinem Klavierlehrer. Wir benutzen den Ebola-Bump zur Begrüßung, dann schickt er mich Hände waschen. Nach dem Unterricht reden wir darüber, dass Klaviere an der Hochschule kaputt seien, weil Studenten Desinfektions-Spray auf die Tasten sprühen. Dann hat er es eilig. Er will zum Flieger, Ski-Urlaub in den französischen Alpen. Am Montag hätte mich das noch nicht gewundert. Heute schon.
Abends gehe ich zu einem Geburtstag. Die Feier ist von der Kneipe in seine Wohnung verschoben worden. Alles ist ja dicht, ab heute. Kein Kino, keine Kneipe, kein Theater, kein Schwimmbad, keine Sauna, kein Museum, kein Club. Wir sitzen um einen Kasten Bier und singen Happy Birthday. Nur einmal. Für ihn.
Infizierte in Berlin: 216.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 15. 3. 2020
Berlin. In dieser Woche ist mir das Lachen über Klopapierwitze vergangen. Zum einen, weil wir am Ende der Woche den ersten Toten in Berlin zu verzeichnen hatten, die Einschläge kommen wirklich näher. Zum anderen, weil ich einfach zu viele Witze gesehen habe. Natürlich verstehe ich, dass Humor diese bleierne Zeit überhaupt erst erträglich macht. Zum dritten ist mir aufgefallen, dass ich automatisch weniger lache, wenn ich den ganzen Tag allein zu Hause verbringe. Auch lachen ist eine soziale Handlung, die allein irgendwie keinen Spaß macht.
Das ist so ein Nebeneffekt vom Homeoffice, den man erst kennenlernt, wenn man ihn wirklich erlebt. Dieses ständige Alles-mit-sich-selbst-ausmachen. Hat man früher wegen einer Schreibweise schnell mal zu einem Kollegen hinübergerufen („Wie schreiben wir Homeoffice, zusammen oder gekoppelt?“), frage ich jetzt meine „Homie“-Gruppe auf Whatsapp. Zum Glück gibt es diese und die Telefonkonferenzen, die darüber hinwegtrösten und für einen Moment das Gefühl der Gemeinschaft und Gleichzeitigkeit erzeugen. Das ist wichtig, wenn man sich in einer Art kollektivem Alptraum befindet.
Montag. Die Woche beginnt damit, dass die Telefonkonferenz nicht funktioniert. Irgendwas ist mit der Leitung schief gelaufen, und alle mussten sich über E-Mail behelfen. Für einen Moment ist es kein „Wunder“ mehr, dass die Technik für über 60 Mitarbeiter so schnell ein Homeoffice ermöglicht hatte, sondern ich merke, dass es wirklich harte Arbeit ist, das alles am Laufen zu halten.
Als die Aufgaben verteilt sind, müsste ich eigentlich los, in die Restaurants Berlins und sie befragen, wie sie mit der Krise umgehen. Aber ich kann mich nicht loseisen vom Nachrichtenstrom: Trump, Johnson, Merkel, Drosten, Steingart und Anne Will. Auf allen Kanälen gibt es Corona-Nachrichten, und ich will alles lesen. Ständig passiert etwas bei Twitter, Facebook, Instagram, das ich vorher nicht wusste.
Dann sehe ich, wie eine sehr gute Freundin um Hilfe ruft. Sie sitzt in New York fest und will so schnell wie möglich nach Kanada. Trump schüttelt weiterhin überall die Hände. Die Infektionszahlen schießen in die Höhe. Sie kommt ursprünglich aus Königs Wusterhausen und hat große Teile ihrer Kindheit in einer Lungenklinik am Wannsee verbracht. Ich habe sie während des Studiums dort besucht, weil sie einen Rückfall hatte und wir zusammen einen Vortrag ausarbeiten sollten. Sie sieht sich völlig zurecht als Risikopatientin und fürchtet um ihr Leben. Ich fürchte mit.
Selten sind Entscheidungen von Regierungen so spürbar. Die Straßen und Straßenbahnen in Berlin sind leer, als ich auf dem Weg zu Restaurants noch einen Köfte kaufe. Der Imbissverkäufer sagt, dass er nicht weiß, wie es weitergehen soll, aber er sagt auch etwas Gutes: „Wir leben in Deutschland, bestimmt fällt denen etwas ein.“
Ich hatte Ende letzter Woche erzählt, dass mein Klavierlehrer am Sonnabend auf einen Skiausflug fahren wollte. Ich hatte ihm noch mittags gesagt, dass er das besser lassen solle. Geflogen ist er dann trotzdem. Noch beim Abflug, sagt er, hieß es, dass das Skigebiet im Süden Frankreichs offen bleibe. „Als ich ankam, war alles dicht.“ Er packte seine Sachen und war am Montagmorgen wieder in Berlin.
Natürlich kann man sich über eine solche Aktion lustig machen, aber je länger wir redeten, umso mehr verstand ich ihn auch. „Ich hatte alles bezahlt“, sagt er, „und es wäre einfach verfallen.“ Jetzt musste er „nur“ 100 Euro für die Umbuchung draufzahlen. Er hatte die Reise lange geplant. Er ist Brite, und er wollte seine Freunde aus England endlich wiedersehen. „Ich glaube, ich war auch von ihnen beeinflusst, die wiederum von Boris Johnson beeinflusst waren.“ Wir verabreden für Donnerstag einen Skype-Unterricht.
Infizierte in Berlin: 332.
Dienstag. Die Telefonkonferenzen funktionieren tadellos. Ich wechsle schon am Morgen auf Kopfhörer. Alle Interviews erledige ich per Telefon, alle Anfragen per E-Mail. Als ich diesen Text schreibe, stelle ich Musik der 90er-Jahre ein. UB40 schafft es, mich in gute Stimmung zu bringen. Nach zwei Stunden kommt mir alles nur noch wie Lärm vor, egal welche Musik.
Am Nachmittag gehe ich zum Zahnarzt. Am Wochenende war mir eine Füllung herausgefallen, und ich hatte um einen Termin gebeten. Die Sprechstundenhilfe war gestresst. „Sind Sie gesund?“ – „Dann morgen Nachmittag, ich muss auflegen!“ Beim Zahnarzt selbst war dann alles sehr steril, aber gewohnt freundlich. Ich musste nur grinsen, als sich die beiden Gesichter mit Masken über mich beugten, es hatte etwas Surreales. Aber weil mein Mund weit geöffnet war, merkte es niemand.
Abends sprach ich mit Sara, einer Freundin aus den USA. Sie lebt in Wedding mit ihrem deutschen Freund Max, studiert aber eigentlich gerade in London. Ich hatte gehört, dass sie Großbritannien fluchtartig verlassen hat. „Ja, es ist absurd, was gerade in London passiert“, sagt sie. Noch auf dem Weg zum Flughafen seien die U-Bahnen voll gewesen, und am Wochenende fand der Halbmarathon statt, als sei nichts gewesen. „In meiner Uni waren die Chinesen die ersten, die nach Hause fliegen wollten.“ Auch Sara fand das Vorgehen der Briten beängstigend. „Nirgendwo an der Uni gab es Desinfektionsmittel“, sagt sie, „und wenn ich jemanden darauf ansprach, hieß es nur, das betreffe nur alte Leute.“ Sie beschloss, nach Berlin zu ziehen. „Ich wollte in einer Stadt sein, die mit dieser Krise besonnen umgeht.“
Infizierte in Berlin: 383.
Mittwoch. Ich stehe morgens vor dem Spiegel. Es ist ja nicht so, dass es jemand merken würde, wenn ich mich nicht rasiere. Aber ich telefoniere gerade jeden Tag mit meinen Eltern. Sie halten sich an alle Regeln, genießen die Spaziergänge mit dem Hund, es sind sehr fröhliche Gespräche, oft per Video-Telefon. Mein Vater kann nie an sich halten, wenn er sieht, dass ich am Hals „sorgfältiger sein könnte“ beim Rasieren. Lächelnd rasiere ich mich also doch, und vielleicht habe ich dabei sogar gesungen. Anschließend ziehe ich Jeans und Hemd an, ich hatte gelesen, dass man das tun solle für eine „Arbeitsstimmung“.
Später skype ich mit Christian Y. Schmidt. Das wöchentliche Treffen mit dem Schriftsteller fand bisher in einem Café statt. In dieser Woche erscheint uns das Videotelefon besser. Er wollte nach China zu seiner Frau zurückfliegen, aber hat das im Kopf schon auf Mai oder Juni verschoben. „Ich wäre wirklich lieber in einem Land, das nach anfänglichen Fehlern alles richtig gemacht und die größte Krise schon hinter sich hat.“ In Berlin regen sich immer noch Menschen über die „Panikmache“ auf. „Solange niemand im Bekanntenkreis betroffen ist, fühlen sie sich so, als ginge es sie nichts an.“ In Peking, wo Schmidt einen Teil des Jahres wohnt, war zum Teil das Ausgehen ohne Maske nicht erlaubt. „In Deutschland wird verbreitet, dass Nichtinfizierte keine Masken zu tragen brauchen. Aber woher weiß man, dass man infiziert ist, wenn das Virus oft keine Symptome hervorruft?“
Er glaubt, dass die Maßnahmen, die im Augenblick gelten, nicht ausreichen. „Selbst als der komplette Lockdown in Hubei durchgesetzt war, dauerte es noch drei Wochen, bis die Zahl der Infizierten zurückging.“ Er rechnet damit, dass schon in der nächsten Woche die Zahl der Todesfälle deutlich steigen wird. Er wartet in dieser Woche auf ein Paket aus China, seine Frau hat ihm noch einmal 100 Masken geschickt. „In China glaubt man, dass viele in Europa aus der Post gestohlen werden.“
Am Nachmittag klingelt es an der Tür. Das passiert nie. Freunde haben ihr Homeoffice verlassen und wollen ein Eis essen. Am Eisladen ist ein Zentimetermaß an der Tür angebracht. Die Kunden sollen sehen, wie viel eineinhalb Meter sind. Noch ungewöhnlicher: nur Kartenzahlung erlaubt. Ich löffle Limone-Kokos und Himbeere-Pfeffer, und wir reden im Sicherheitsabstand über den einsamen Alltag.
Am Abend gehe ich noch einmal in die sozialen Netze. Meine Freundin in New York ist in Montreal gelandet und hat eine Bleibe gefunden. Kanada hat sehr früh Maßnahmen wie Europa eingeführt. Dann sehe ich ein Video eines Freundes, der filmt, wie Eltern mit ihren Kindern auf dem Spielplatz sind. Unter das Video schreibt er: „Ekelhaft“. Ich klappe den Computer zu. Es ist wieder zwei Uhr geworden. Ich muss mir Corona-freie Stunden vornehmen.
Infizierte in Berlin: 519.
Donnerstag. Sascha Lobo hat auf spiegel.de einen ganz wunderbaren Text darüber geschrieben, wie gut es sich anfühlt, andere auf ihr Fehlverhalten hinzuweisen. Er schreibt: „Wer Leute beschimpft, die sich falsch verhalten, trägt faktisch dazu bei, dass die ihr Verhalten nicht ändern werden. Was funktioniert: geduldige Appelle an Empathie und Einsicht, am besten von unmittelbar Betroffenen. Und das immer und immer wieder und bestimmt, aber freundlich“.
Ich nehme mich da nicht aus. Ich habe in dieser Woche auch ein paar Mal überreagiert, wenn mir Freunde Fake-News geschickt haben. Außerdem hatte ich vor zwei Wochen an dieser Stelle einen Freund zitiert, der noch stolz davon berichtete, Konzerte besuchen zu wollen: „Dass ich nicht lache!“ Erst jetzt am Telefon erfahre ich, dass er damals gerade in Lissabon gelandet war. Inzwischen hat er eine andere Meinung. „Als Jugendlicher habe ich in Bayern die Schweinegrippe miterlebt.“ Seine Eltern hatten einen Bauernhof, und damals ging es um ihre Existenz. „Jeden Tag neue Katastrophen aus dem Fernseher.“ Er macht sich Sorgen um seine Eltern und die Selbstständigen ohne Einkommen. Er überlegt, etwas zu spenden.
Am Abend sitze ich trotz meines Vorhabens wieder zu lange am Bildschirm. Eine Freundin aus Berlin schreibt, ihr Arbeitskollege sei positiv getestet worden und liege nur noch zu Hause im Bett. Wie eine normale Grippe fühle es sich nicht an, schreibe er. Draußen vor meinem Fenster wird es laut: „Ihr Idioten, was macht ihr hier in so einer großen Gruppe!“ Eine Frau maßregelt Jugendliche, die sich nicht an die Bleib-zuhause-Regel halten. Die pöbeln zurück: „Das betrifft doch sowieso nur Alte …!“ Ich schließe das Fenster, als sie ruft: „Ich ruf jetzt die Polizei!“.
Infizierte in Berlin: 688
Freitag. Der Tag beginnt fröhlich. Ein Kollege hustet in der Telefonschalte. Jemand fragt: „Wer war das?!“ Das Lachen von allen dauert wie in einer „Simpsons“-Folge drei oder vier Sekunden zu lang. Als wollten alle aus diesem kleinen Moment mehr Freude ziehen, als er eigentlich bereithält. Es war eine wirklich anstrengende Woche bis hierher.
Dann kommt der Bericht vom ersten Toten in Berlin. Ich tue etwas zum ersten Mal in dieser Woche: Ich schließe Facebook. Ich will jetzt auf gar keinen Fall lesen, dass er „ja schon“ 95 Jahre alt war und mehrere Vorerkrankungen hatte. Auch wenn das stimmt, schwingt dann oft so ein Ton mit, den ich gerade nicht ertragen kann.
Ich rufe meine Großmutter an. Sie ist die einzige in meiner Familie, die in Berlin geboren wurde. Kurz vor Kriegsende wachte sie neben ihrer Mutter auf, die in der Nacht gestorben war. Ihr Vater war im Krieg gefallen. Mit zwölf Jahren musste sie ihre Wohnung in der Apostel-Paulus-Straße in Schöneberg verlassen. Den Berliner Humor hat diese Kämpferin und Friseurin nie hinter sich gelassen. Als ich sie frage, wie es ihr geht, sagt sie: „Was willste machen, schießen darfste nicht.“ Dann lacht sie.
Meine Tante hat ihr mit Nachdruck verboten, einkaufen zu gehen. „Da hab ich mir eben einen Morgenmantel nach Hause bestellt“, sagt sie. „Wenn ich ins Krankenhaus komme, will ich mich nicht schämen wegen des alten Dings.“ Ach, Omi. Sie ist traurig, dass ihr 88. Geburtstag abgesagt wurde. Anfang April wollten wir zu ihrem Lieblings-Inder in ihrer Brandenburger Kleinstadt. Sie verträgt das Essen so gut.
Zum Abschied schärft sie mir ein, genug Obst und Gemüse zu essen. „Und wenn du das Gemüse in Wasser gekocht hast“, sagt sie, „dann schüttest du das Wasser nicht weg, sondern trinkst es dann später.“ Ich lache, aber sie ist ganz ernst: „Junge, wenn ich nicht auf mich achten würde, wäre ich nicht mehr.“ Und bevor wir auflegen, sagt sie noch einmal: „Obst und Gemüse!!!“
Infizierte in Berlin: 868. Tote: 1.
Sonnabend. Am Sonnabend schickt mir eine koreanische Künstlerin ein Foto ihrer neuesten Installation. Kim Hyon-Soo stellt sonst in der Münchner Pinakothek aus, im Mai ist sie nach Seoul eingeladen. Sie hat das Kunstwerk namens “Time to Meditate” in Moabit in ihrer Wohnung aufgebaut. Es kommt eine Toilettenrolle darin vor, zum Lachen ist das nicht. Als ich den Müll zum Mülleimer bringe, sehe ich im Hausflur einen Zettel hängen. Eine Nachbarin hatte vor ein paar Tagen um Schlafsäcke gebeten, weil sie einem Obdachlosen helfen wollte, den sie traf. Auf dem Zettel steht: „1000 Dank für die Schlafsäcke! Ihr seid super!!!“ Darunter hat sie einen Regenschirm gemalt, der vor kleinen Viren schützt. Und ein lachendes Gesicht.
Infizierte in Berlin: 1025. Tote: 1.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 22. 3. 2020
Berlin. Seit dieser Woche bin ich nicht mehr so sicher, ob ich zu Hause arbeite oder auf der Arbeit wohne. Alles, was passiert, hat irgendwie mit dem Virus zu tun. Ich merkte, dass ich gesünder lebe, mir etwas koche (Kartoffeln mit Quark, hallo!), aber mehr Müll produziere als in normalen Wochen. Ich richte mich ein in dieser neuen Welt. Die wohl wichtigste Maßnahme ist, dass ich mir Corona-freie Stunden eingerichtet habe. Stunden, in denen ich etwas komplett anderes tue, mich mit etwas beschäftige aus einer Welt vor dem Virus. Das hilft.
Denn ich habe begonnen – und bin nicht der einzige, habe ich festgestellt – von Corona zu träumen. Eine Freundin erzählte mir, dass ihre Kinder „Corona spielen“, sie sagen dann: „Du hast Corona!“ und rennen dann lachend voreinander weg. So ähnlich rennen die Gedanken nachts in meinem Kopf: Meist geht es dann um Plätze, die nicht mehr die gleichen sind, weil sie komplett menschenleer sind. Oder ich träume von Plastik, das sich zwischen mir und Dinge des täglichen Bedarfs schiebt. Wer hat denn wirklich vor Corona die Plastikhandschuhe im Supermarkt benutzt, um sich ein Brötchen zu nehmen? Oder sie haben mit Bildern zu tun, die ich in den Nachrichten gesehen hatte, die ich jetzt aber nicht wiederholen will.
Montag. Der Tag beginnt mit der Meldung von einem zweiten Berliner Todesopfer. Ich denke an Zahlen und die Kurven. Streng genommen haben sich die Zahlen damit jetzt nach drei Tagen verdoppelt. Meine Schwägerin schreibt, dass ein Kollege positiv getestet wurde, sie ist schon seit fast zwei Wochen auf Kurzarbeit, ihre Firma will 90 Prozent Kurzarbeitsgeld zahlen, solange es geht.
Gegen halb zehn benutze ich meine Yogamatte, die irgendwann jemand im Hausflur abgestellt hatte mit dem Zettel „Keine Lust mehr!“. Ich finde auf Youtube einen tätowierten Yogalehrer, der an irgendeinem Strand dieser Welt ein- und ausatmet. Während die Wellen in meinen Ohren immer lauter werden, mache ich seine Übungen nach. Nach zehn Minuten, ich stehe gerade in der „Krieger“-Position, ruft eine Freundin an.
Sie hat gerade ihre drei Kinder beschäftigt und sagt lachend, dass sie nicht versteht, wie Lehrer das aushalten. Wir erzählen uns die neuesten Corona-Witze („Kommt kein Mann in eine Bar…“) und reden über Spielplätze („Diese anderen Eltern, die mich ungefragt maßregeln“). Schließlich erzählt sie, dass sie fast kein Klopapier mehr habe. Jetzt sei es zu spät und im Laden um die Ecke alles weg. „Ich hab mir welches im Internet bestellt – 35 Euro für 60 Rollen, mit Lieferung.“
Abends treffe ich einen Freund für einen Wein. Vielleicht waren es auch drei. Wir sitzen in seiner Wohnung in drei Meter Entfernung, zwischen uns ein Laptop, auf dem die Musik von „United we Stream“ läuft, einer Sendung auf Arte, die das Discofeeling nach Hause tragen soll. Es ist ein bisschen wie einen Zweig anzuzünden, ihn dann zuhause in den Kamin zu legen und darauf zu hoffen, dass ein Buschfeuer-Gefühl entsteht. Auf dem Heimweg mit dem Fahrrad treffe ich niemanden, wirklich überhaupt niemanden. Nur ein Krankenwagen fährt still vorbei.
Infizierte in Berlin: 1219. Tote: 2.
Dienstag. Morgens will ich meine neue Knirsch-Schiene abholen. Seit Leif Randts großartigem Berlin-Roman „Allegro Pastell“ weiß ich, dass es okay ist, übers nächtliche Zähneknirschen zu reden. Die letzte Schiene hatte ich durchgebissen, sind ja auch stressige Zeiten, sagte ich dem Arzt. Das Wartezimmer ist voll, die Helferin bittet mich gleich ins Behandlungszimmer. Noch nie war ich hier so schnell drinnen und draußen.
Als ich wieder im Büro-Zuhause bin, klingelt es an der Tür. Nicht unten, vor der Haustür, sondern direkt an meiner Wohnungstür. Zwei Mädchen, deren Eltern im Hinterhaus leben, fragen, ob ich mich bei der Aktion „Wir begrünen den Innenhof“ mitmachen will. Ich denke schuldbewusst an den Aushang, bei dem sich in fünf Tagen nur ein Nachbar eingetragen hatte. Vielleicht ist es ja so, dass dieser ganze Mist zu einer neuen Art Zusammenleben führt. Noch weiß ich nicht, wie sich Gartenarbeit mit sozialer Distanz verträgt, aber ich bin dabei.
Nachmittags tue ich etwas, das ich mir seit Jahren vorgenommen hatte: Ich rufe Grit an, eine alte Freundin. Wir hatten festgestellt, dass sie in meiner Straße wohnt und bei jedem zufälligen Treffen geschworen, uns mal „richtig“ zu treffen. Als wir im 1,5-Meter-Abstand loslaufen, ist es, als ob wir durch einen anderen Ort laufen. Wie sonst nur an Heiligabend ist Berlin leergefegt, nur dass es keine freien Parkplätze gibt. Ich muss daran denken, dass ich vor ein paar Jahren durch Pjöngjang gelaufen bin, die Hauptstadt Nordkoreas. Es war abends, und auch dort waren die Straßen leer und hinter jedem Fenster Licht. Ich fragte meinen offiziellen Besucherführer von der Regierung, warum es so leer sei. Er sagte: „Es ist 21 Uhr, die Menschen sind zu Hause, wo sollten sie sonst sein?“
Auf dem Rückweg laufen wir an vielen Hauseingängen vorbei, an denen Hinweise stehen, Mitteilungen von Menschen, wie sie sich verhalten sollen, kleine Witzbilder in den Fenstern, die mit der Biersorte Corona spielen, oder Angebote, für Nachbarn einzukaufen. Die Stadt rückt zusammen, nicht das schlechteste Gefühl in Zeiten wie diesen. Grit sagt, dass sie noch jeden Tag ins Büro fahre. „Ich kann das nicht, zu Hause arbeiten.“ Sie ist allein im Büro, manchmal zu zweit.
Abends schlafe ich schlecht ein. Kurz nach Mitternacht höre ich den Podcast „The Daily“ von der New York Times. Die Aussichten, die der US-Virologe Donald McNeil – der Christian Drosten New Yorks – in dem Interview gibt, klingen ernster als alles, was ich bisher gehört habe. Der Moderator schluckt und sagt am Ende: „Ich kann heute wie sonst nicht sagen, Danke für das Gespräch.“
Infizierte in Berlin: 1425. Tote: 3.
Mittwoch. Ich schreibe morgens alle Freunde aus New York an und frage, ob es ihnen gut geht. Einige konnten wohl nicht schlafen und schreiben mir direkt (Ortszeit: 3 Uhr morgens) zurück. Einer sagt, dass er Angst habe, das Haus zu verlassen, ein anderer spricht von Übertreibung. Alles wie überall, denke ich.
Mittags gehe ich ein Eis essen, zusammen mit einem Freund, aus meiner „Ausgeh-WhatsApp-Gruppe“. Die ist seit Mittwoch ohnehin in Aufruhr. Einer von uns ist positiv getestet worden. Er war auf einer Party in Antwerpen, die am letzten offenen Wochenende Anfang März stattfand. Er hat sich dort sicherlich angesteckt. Er sagt, er habe das Schlimmste überstanden, hatte kein Fieber, aber konnte weder riechen noch schmecken. Er will wieder unter Menschen. Wir raten ihm, zu warten.
Am Abend sehe ich im Netz, dass im indonesischen Bali gerade der „Hari Nyepi“ beginnt, das ist ein hinduistischer Feiertag, bei dem niemand das Haus verlassen darf (ausgerechnet). Ich war oft in dem Land und habe viele Freunde da. Ich weiß noch, dass in der Nacht vor „Hari Nyepi“ Balinesen in allen Straßen Monster aufstellen, die für das Übel in der Welt stehen. Dann verbrennen sie die Monster und ziehen sich danach für 24 Stunden in die eigenen vier Wände zurück. Auch Touristen müssen sich danach richten, alles ist geschlossen – selbst der Flughafen, einzigartig in der Welt für einen Feiertag.
Ein Freund von mir ist gerade auf Bali. Er schreibt, dass er eigentlich zwei Monate über die Inseln reisen wollte und war jetzt schon viel länger als geplant „nur“ auf Bali. Die anderen Inseln haben dicht gemacht. Es hat einen Vorteil, wenn ein Land aus 13.677 Inseln besteht. Bali hat den „Hari Nyepi“ zum Anlass genommen, den kompletten Lockdown auf der ganzen Insel auszurufen. Immerhin ist der Flughafen offen. Wenn der Freund heute in Berlin landet, wird er weder kontrolliert noch um Hausarrest gebeten. Er kommt zwar aus Asien, aber jetzt ist Berlin ein Hotspot der Infektion. Die Zahl der Toten hat sich hier innerhalb eines Tages von drei auf sechs erhöht, nein verdoppelt.
Infizierte in Berlin: 1637. Tote: 6.
Donnerstag. Die sozialen Netzwerke haben sich inzwischen nicht nur als Quell für die neuesten Horrormeldungen etabliert, sondern vor allem als unendlicher Strom kreativer Freizeit-Ideen. Ein Freund von mir postet jeden Tag zehn Filmtitel als Emoji-Rätsel. „Frieren“ + „Eichhörnchen“? Ice Age! „Tanzende Frau“ + „Teufel“ + „Teufel“? Tanz der Teufel! Aber der Spielleiter lässt auch mein „Monster’s Ball“ gelten. „Prinzessin“ und „Badewanne“? Prinzessinnenbad! So, wieder zehn Minuten rum.
Ansonsten ist das Netz inzwischen nicht nur voller Verschwörungstheorien, sondern auch voller aufbauender Meldungen von Stars (Madonna, Die Ärzte, Anne-Sophie Mutter), die entweder selbst infiziert sind oder einfach „das Beste“ aus der Situation machen wollen. Sebastian Fitzek will gleich einen Roman mit seinen Fans zusammen schreiben. Obwohl meine Schokolade seit zwei Tagen aus ist, bleib ich drin und verschiebe das Einkaufen auf Freitag.
Am Abend bin ich das erste Mal auf eine Video-Party eingeladen. Wir sitzen in Kreuzberg, Moabit, Schöneberg und Prenzlauer Berg. Wenn wir unser Bier oder Radler nah an die Kamera halten, ist es fast wie anstoßen. Stargast ist der Freund von uns, der inzwischen zu den „Geheilten“ zählt. Er sagt, dass er trotz Heilung noch von vielen gemieden wird. Er weiß noch nicht, wie lange er jetzt warten muss, bis er wieder raus darf.
Erst sehr spät höre die aktuelle Folge von Drostens Podcast und habe das Gefühl, einer Medizin-Vorlesung zuzuhören. Aber ich verstehe ihn auch, um jeden Tag eine halbe Stunde mit Information zu füllen, muss er irgendwann in die Tiefe gehen. Ich träume schlecht.
Infizierte in Berlin: 1873. Tote: 8.
Freitag. Ich laufe kurz in eine Drogerie, kaufe Duschgel, Zahnbürsten, Fußbodenreiniger und Tee mit dem Namen „Atme Dich frei“. Ein Mann mit Maske giftet jeden Kunden an, der nicht sofort den Weg freimacht für ihn. Ein Mitarbeiter stellt sich ihm in den Weg und bittet ihn lautstark, freundlich zu anderen Kunden zu sein. „Sonst fliegst Du raus.“ Der Mann keift etwas von „Ausnahmezustand“ zurück. „Deswegen kann man sich trotzdem benehmen!“ Einmal mehr wird mir klar, in was für einer Situation Verkäufer gerade sind.
Ich skype wieder mit Christian Y. Schmidt, meinem Guide durch diese Zeit der Quarantäne. Er hatte in dieser Woche die Premiere seines Buches „Der kleine Herr Tod“. Ein Kurzroman mit vielen Zeichnungen, in dem beschrieben wird, welche Abenteuer der Tod auf Urlaub erlebt. Die Lesung fand nur mit drei Gästen in Kreuzberg statt, aber dafür haben das entsprechende YouTube-Video schon über 600 Leute gesehen. In die Galerie passen nur 50 .
Doch trotz des Erfolgs ist er nicht gut gelaunt am Freitag. „Ich habe auf dem Weg zur Lesung eine Gruppe Polizisten gesehen, die sich mit Abklatschen begrüßt haben.“ Wenn noch nicht einmal die Polizei begriffen habe, wie ernst die Lage sei, wer denn dann? Für sich hat er vorgesorgt und schon Mitte Februar zehn FFP-2-Masken bei einem deutschen Händler bestellt. Jetzt sind sie angekommen, gleichzeitig mit einem Paket mit Mundschutz, das ihm seine Frau aus Peking geschickt hat. Die Masken aus Deutschland waren sechs Mal so lang unterwegs wie das Paket aus China.
Ich sage ihm, dass ich noch gar keine Masken besitze, aber will das Thema nicht weiter ausdehnen. Denn wer weiß, ob ich in vier Wochen noch Masken brauche. Sobald wir auf die aktuelle Politik der Regierung zu sprechen kommen, kommt er richtig in Fahrt. Aus vielen seiner Äußerungen spricht „Deutschland hat sich nicht wirklich vorbereitet.“ Ich werfe ein, dass die Zahl der Toten hierzulande im Vergleich zum Ausland gering sei. Schmidt: „Die Zahl wird genau dann deutlich steigen, wenn auch hier alle Intensivbetten belegt sind.“ Er sagt, dass wir noch zu wenig testen und sich noch zu viele zu sorglos in der Öffentlichkeit bewegen. Der Rückflug in seine zweite Heimat Peking wurde erst einmal gestrichen. China lässt seit Donnerstag keine Ausländer mehr einreisen, auch solche, die – wie Schmidt – eine Aufenthaltserlaubnis haben.
Abends gehe ich in den Supermarkt. Leere Gänge, aber volle Regale, sogar Tomaten und Ritter Sport gibt es noch. An der Kasse sind wir zu dritt, die Frau hinter mir kreischt den Dritten an: „1,5 Meter, Mann!!!“ Er: „Entspann dich mal.“
Infizierte in Berlin: 1955. Tote: 8.
Sonnabend. Ich schicke die ersten fünf Tage dieses Tagebuchs meinem besten Freund, einem Arzt. Wir telefonieren lange. Nachdem er die Rechtschreibfehler korrigiert hat, erzählt er, wie er in seinem Umfeld gegen Fake News ankämpfen muss. Er sagt, mein „Geheilter“ soll mindestens 48 Stunden nach den letzten Symptomen warten, und mit seinem Arzt Rücksprache halten.
Er erzählt, dass er in dieser Woche von einer Freundin einen Brief bekommen habe – mit Blumensamen. „Vorfreude ist wichtig, in diesen Zeiten“, schreibt sie. Er will ihr auch eine Freude machen und ruft die Buchhandlung in ihrer Nähe an. Die Händlerin kennt die Freundin („Stammkundin!“), packt zum Buch („Laufende Ermittlungen“) eine Gruß-Karte, handbeschrieben – und bringt es selbst vorbei. „Lag auf dem Heimweg.“
Infizierte in Berlin: 2337, Tote: 9
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 29. 3. 2020.
Montag. Ich habe einen Krieg gewonnen. Mit solch martialischen Metaphern ist man ja heute schnell dabei in diesen „Zeiten der Ansteckung“ (Paolo Giordano), wenn die Polizei langsam die Straßen entlangfährt und ab und an ein Hubschrauber am Fenster vorbeiknattert, um zu sehen, ob wir auch alle zu Hause bleiben. In München, so schrieb ein Freund, benutzen die Behörden sogar Drohnen. Sie schweben plötzlich über einer Menschenmenge und fordern die Gruppe per Lautsprecher auf, „sich unverzüglich nach Hause zu begeben“.
Aber der Krieg, den ich gewonnen habe, ist leider ein anderer. Er ist mir auch etwas peinlich: Irgendwann vor zwei, drei Wochen tauchte so eine kleine Lebensmittelmotte auf. Ich konnte mir nicht vorstellen, wo die herkommt. Aber die Biester sind so langsam, dass mein kindlicher Jagdreflex angefacht wurde und ich sie schnell neutralisieren konnte. Das Hände-Waschen danach habe ich nicht vergessen. Doch es wurden natürlich mehr. Ich kaufte ohne Anstehen bei der Drogerie zwei Fallen, legte sie in die Ecken und vergaß das Problem. Dann plötzlich waren es drei am Tag, dann fünf. Die Falle war voller kleiner Motten. Ich öffnete jede Müsli-Packung… und fand Leben. Beim Gang zum Mülleimer durchfuhr mich so ein Ekel-Schauder, den ich sonst nur kenne, wenn ich eine Ratte auf der Straße sehe.
Abends telefoniere ich mit einem alten Freund, der eigentlich Filme dreht. Er sagt, er könne nicht an seinem Drehbuch weiterarbeiten. Darin ging es unter anderem um eine Frau, die eine Reise von Wien über Budapest nach Berlin macht. „Ich muss warten, wie sich das entwickelt“, sagt er. „Das ist doch sonst ein Film aus einer Zeit, die mit unserem Leben nichts mehr zu tun hat.“ Ich halte dagegen, dass wir doch weiterhin nach Wien und Budapest reisen werden können. Wenn das alles vorbei ist.
Infizierte in Berlin: 3862. Tote: 28.
Dienstag. Als ich mir morgens ein Frühstücksei mit Tomaten brate, schneide ich mir dabei tief in den Daumen. Ich schreie laut auf und fluche laut. Ich hatte aufgehört, mir Gedanken zu machen, ob das die Nachbarn hören. Das geht offenbar auch anderen so. Über mir springt jemand mit einem Springseil zu schlechtem Dancehall-Techno. Meine Lampe wackelt.
Mittags muss ich für ein Interview nach Kreuzberg. Das heißt: Ich will. Es ist schließlich eine der wenigen Gelegenheiten, mal rauszukommen. Wir laufen vom Kotti zur Admiralsbrücke, und ich wollte schon vorschlagen, dass wir uns dort an die Seite setzen, aber mein Interviewpartner lehnt ab: „Wenn wir damit anfangen, kommen andere und tun das auch.“ Also setzen wir uns einfach an eine Hauswand.
Von dort bekommen wir mit, wie ein Polizeiwagen über die Brücke fährt und tatsächlich per Megafon die Menschen auffordert, die Brücke zu verlassen. Ein Kreuzberger in Muskel-T-Shirt baut sich vor dem Wagen auf und schreit die Beamten an. Ich verstehe nur „freies Land“. Und dann passiert etwas, womit ich nicht gerechnet habe. Alle Beteiligten verlassen die Brücke, ein Polizist steigt aus dem Auto und unterhält sich mit dem Mann. Niemand schreit, niemand gestikuliert wild. Es wird geredet, argumentiert. Am Ende bleibt die Brücke leer. Zumindest für zehn Minuten.
Abends treffe ich einen Freund zu einem Spaziergang über die menschenleere Museumsinsel. Wir laufen mit Späti-Bier bei Angela Merkels Wohnung vorbei, im dritten Stock brennt Licht. Wir reden über die drei Phasen des Quarantäne-Kollers, die wir abwechselnd durchlaufen (Angst, Aktionismus, Langeweile) – und wir sammeln Bücher ein. In Mitte stehen vor vielen Hauseingängen Kisten mit ausrangierten Büchern. Ich nehme „Liebediener“ mit, ein Büchlein von 2001, geschrieben von Julia Franck, die Jahre später den Deutschen Buchpreis gewann. „Ein lustvoller Roman um Liebe, Tod und Leidenschaft in unserer Zeit.“ Auf Seite 112 ist ein Blatt eines Baumes gepresst.
Infizierte in Berlin: 4038. Tote: 32.
Mittwoch. Morgens stehe ich wie fast jeden Tag auf dem Balkon und lese dort meine Zeitung. Normalerweise sitzen in der Straße immer noch andere auf dem Balkon. Oder es joggt jemand vorbei. An diesem Tag sehe ich gar niemanden, zehn Minuten lang. Wo sind die nur alle?
Meine Eltern rufen an und sagen, dass sie ein Paket für Ostern geschickt haben. Wir reden auch über das neue Video, das die spontane Kreativ-Agentur der Kinder meines Bruders gedreht hat. Sie spielen das Märchen „Dornrüdchen“, in der Hauptrolle mein „Prinz Rudi“, der nicht einschlafen kann. Ein zweijähriger Ritter kommt dann vorbei und bringt alles durcheinander. Wahnsinnig niedlich.
Abends telefoniere ich mit einem Freund, der normalerweise stundenlang Bücher und Filme empfiehlt. Seinetwegen lese ich gerade die Kurzgeschichten der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro. Seit einiger Zeit antwortet er auf die Frage, wie es ihm geht, mit: „Ach, geht so, meine Aktien sind gefallen.“ Er hat wegen der Krise angefangen, sich mit der Börse zu beschäftigen. Eigentlich eine gute Idee, aber unsere Telefonate sind seitdem kürzer geworden.
Vor dem Einschlafen sehe ich, dass ein Leser mir geschrieben hat. Er habe einen Fehler entdeckt in der letzten Ausgabe meines Tagebuchs. Da schrieb ich, dass die Zahlen weiterhin steigen würden. Sie würden ja sinken! Ich schreibe zurück, dass es wohl ein Missverständnis sei, zwar sinke die Anstiegsrate, aber die Zahlen steigen trotzdem. Jeden Tag sterben Menschen.
Infizierte in Berlin: 4212. Tote: 37.
Donnerstag. Das Paket meiner Eltern ist noch immer nicht angekommen. Dafür haben sie die Nachricht erhalten, dass es „beim Nachbarn“ abgegeben wurde. In meinem Briefkasten ist kein Zettel, welcher Nachbar denn gemeint sei, also gehe ich einmal komplett durch das Vorderhaus. „Entschuldigung, haben Sie ein Paket für mich?“ Ich bin erstaunt, wie viele Hausbewohner tagsüber nicht zu Hause sind. Hinter einer Tür höre ich deutlich Stimmen. Aber trotz dreimaligem Klingeln macht niemand auf.
Ich will mir erst merken, welche Türen ich später noch einmal probieren muss, und mache ein Foto vom Klingelschild. Aber dann überlege ich, das sei dann doch etwas „Corona-Polizei“-mäßig. Hinter der letztmöglichen Tür, Hinterhaus links, fünfter Stock, liegt mein grünes Osterpaket. Den Nachbarn hatte ich noch nie gesehen. Drin sind Tee und M&Ms, die ja streng genommen wie bunte Eier aussehen. Aber vor allem: Nicht diese komischen „Osternester“ aus buntem Zucker, die eigentlich niemand mag.
Am Nachmittag nehme ich zum ersten Mal an einer Fernseh-Show als Digital-Publikum teil. Die neue ZDFneo-Sendung „Homies“, bei der über Internet zwei Comedians miteinander streiten. Ich bin einer von 83 Menschen, die live per „Zoom“ zugeschaltet sind. Wir sind alle auf „lautlos“ gestellt, leider können wir nicht miteinander chatten. Winken ist das neue Klatschen.
Die Show ist sehr zeitgemäß, sie kommentieren Corona-Nachrichten aus aller Welt und zwischendurch beleidigen sie einander als „Kinderverprügler“ oder „GEZ-Hure“. Weil in Sachsen Quarantäne-Brechern sogar eine Gefängnisstrafe droht, sagt einer: „Wie egal ist Gefängnisstrafe eigentlich, wir tauschen einen Raum, den wir nicht verlassen dürfen, mit einem anderen.“ Die schlaue Samira El Ouassil spricht über Bolsonaro, und ein zugekokster Banker springt aus dem Fenster. Als einer der Moderatoren einer Seenotretterin vorwirft, doch sicher früher „Ausländerheime angezündet“ zu haben, sagen sie: „Das schneiden wir raus, ja, das war zu krass.“ Sie werden viel schneiden müssen, die Aufzeichnung dauert eine Stunde, die fertige Show am Dienstag gerade die Hälfte.
Infizierte in Berlin: 4357. Tote: 42.
Freitag. Mich erreicht morgens eine E-Mail der Firma, bei der ich drei Gesichtsmasken bestellt hatte. Sie duzen mich: „Du fragst Dich sicherlich: Wo ist mein Paket?“ In der Tat ist der angekündigte Liefertermin schon seit mehr als einer Woche abgelaufen. Aber sie schreiben etwas von „minimierten Infektionsherden“ und „Extra-Schichten“. Wenn alles gut gehe, habe ich meine Masken am Dienstag kommender Woche. Ich denke: Wenn nicht, frage ich mal im Hinterhaus, fünfter Stock.
Gegen Mittag skype ich wieder mit Christian Y. Schmidt. Zunächst zeigt er mir die FFP-2-Masken, die er noch übrig hat. Einige sind aus Polen, andere aus China. „Der Unterschied liegt eigentlich nur in der Bezeichnung“, sagt er, „aber nur die aus Polen sind auch in Deutschland zugelassen.“
Dann reden wir über die Diskussion der vergangenen Tage, die Maßnahmen zurückzufahren. „Interessant finde ich, dass es nicht nur konservative Kommentatoren sind, die eine Rücknahme der Maßnahmen fordern“, sagt Schmidt. Auch die eher linke Juli Zeh werfe den Politikern Rückgratlosigkeit und Kopflosigkeit vor. Damit habe er nicht gerechnet, denn eigentlich sei es doch ein Ziel gerade der Linken, die Schwachen, Kranken und Alten zu schützen. „Und schließlich sind es die ergriffenen Maßnahmen, die dazu geführt haben, dass Deutschland in dieser Krise noch ziemlich gut dasteht.“
Er selbst habe die Maßnahmen in China miterlebt, und die waren um einiges schärfer. „In Wuhan durften die Menschen elf Wochen überhaupt nicht auf die Straße gehen“, sagt er, „und in Peking wurde bereits alles geschlossen, als es noch weniger als hundert Infizierte gab.“ Schmidt halte eine frühzeitige Rücknahme der Maßnahmen für ein gefährliches Spiel, das außerdem nur darauf gründet, dass unsere Zahlen im Vergleich zu anderen europäischen Staaten so gering sind. „Aber auch in Deutschland starben an einem Tag in dieser Woche über hundert Menschen mehr als in Südkorea insgesamt während der ganzen Krise.“ Dabei habe es dort viel früher angefangen. Doch auch ihm sei aufgefallen, dass die Dauer der Maßnahmen einen Effekt auf ihn habe. Er sei etwas nachlässig geworden. „Ich wasche mir jedenfalls nicht mehr so oft die Hände wie vor drei Wochen“, sagt er, „und ich war neulich in einer Buchhandlung ohne Mundschutz.“
Am Nachmittag laufe ich durch den Mauerpark, überall sitzen Menschen, aber im Abstand, nur weiter hinten grillt eine Familie. Das heißt die Frauen grillen, die Männer sitzen im Abstand und rauchen. Als im Hintergrund ein Polizeiauto zu sehen ist, stehen die Männer auf und gehen weg. Die Polizisten kommen zu sechst zu den Frauen und reden. Es wird wild gestikuliert, und eine der Frauen zeigt auf ihr Mobiltelefon, wo sie offenbar die Grillerlaubnis gefunden haben. Als ich auf dem Rückweg bin, sind sie nicht mehr da.
Abends schaue ich mit zwei Freunden „RuPauls Drag Race“, eine Show auf Netflix, bei der Männer in Frauenkleidern gegeneinander antreten. Vor der Krise haben wir uns regelmäßig dafür getroffen und das Geschehen kommentiert. Jetzt ist der Dritte live per Skype zugeschaltet. Wir zählen „drei, zwei, eins“ und drücken gleichzeitig die Play-Taste. Für Kenner: Wir schauten die Staffel, bei der Cher sich wundert, warum sie überhaupt eingeladen wurde. „Dafür hab’ ich keinen Oscar gewonnen!“ Zitat des Abends: „Emotionen sind etwas für hässliche Leute.“
Infizierte in Berlin: 4446. Tote: 46.
Sonnabend. Endlich bekomme ich positive Nachrichten über den Freund, der noch immer auf der Intensivstation liegt. Es heißt, die Entzündung der Lunge sei zurückgegangen. Er kämpft weiter gegen das Virus und ist noch nicht bei Bewusstsein. Seit neun Tagen weiß ich jetzt, dass es ernst ist. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht an ihn gedacht habe.
Gegen Mittag sehe ich noch einmal eine kleine Motte. Ich öffne das Fenster. Sie fliegt Richtung Vogelgezwitscher.
Infizierte in Berlin: 4553, Tote: 50.
Erschienen am 12. 4. 2020 in der Berliner Morgenpost.
Berlin. In dieser Woche kam zum Glück etwas Hoffnung zurück, dass dieses Leben nicht noch Jahre so weitergehen wird. Die Vorfreude auf ein Ende der „Maßnahmen“ wurde fast überlebenswichtig. Wenn einem fast jeder Fernsehsender per Dauereinblendung das Zuhausebleiben empfiehlt und sogar mein Mobilfunkbetreiber dafür sorgt, dass links oben die ganze Zeit die gleiche Empfehlung anstatt „T-online“ angezeigt wird, ist es auch irgendwann mal gut. Schon kapiert!
Montag. Morgens läuft im Radio dieser Song von „Wir sind Helden“: „Guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben zurück.“ Ich rasiere mich und muss lächeln. Sitzen da jetzt in den Musikredaktionen Leute, die sich die ganze Zeit überlegen, welche Lieder in diesen Zeiten eine andere Bedeutung haben?
Ostermontag ist ohne Familie irgendwie auch wie jeder andere Tag. Ich habe zwei Pakete zeitgleich verschickt. Zugegeben: Mittwoch vor Ostern war sportlich geplant – aber warum erreicht das eine Paket Hannover bis Sonnabend und braucht bis Bernau fast eine Woche? Meine Familie hat Bilder von der Ostereiersuche geschickt, mein zehnjähriger Neffe zeigt darauf traurig seinen Osterkorb in die Kamera. Traurig, weil er nur so wenig gefunden hat, oder weil dieses Ostern so anders ist?
Am Nachmittag telefoniere ich mit einem Freund in Brasilien. Er wohnt in Rio de Janeiro, an der Stelle, wo die beiden Strände Copacabana und Ipanema in einem rechten Winkel aufeinandertreffen. Er sagt, er joggt jeden Morgen am Wasser. Alles sei fast leer, obwohl der Präsident Jair Bolsonaro die Krankheit als „Gripezinha“ bezeichnet – ein „Grippchen“. Mein Freund will vorerst dort weiter wohnen bleiben. Er liest viel, im Sommer wollte er seinen Geburtstag in Berlin feiern. Wir verabschieden uns mit diesem ungewissen Gefühl, dass es jetzt noch zu früh für irgendwelche Pläne ist.
Infizierte in Berlin: 4667. Tote: 56.
Dienstag. Morgens fahre ich zu einem Interview mit einer Berührungstherapeutin in Berlin. Die studierte Medizinerin heißt „Kuschel“ mit Nachnamen, und wir reden fast zwei Stunden darüber, was es bedeutet, in Zeiten wie diesen in Berlin allein zu sein. Es herrsche hier ohnehin eine „Berührungsarmut“, sagt sie. Und sie meint damit nicht, „angefasst werden“. Das sei ein großer Unterschied. Bei einer Berührung ist man 100 Prozent bei der Sache und achtet genau auf jede Reaktion des Berührten.
Sie arbeitet nicht nur mit Singles, die lange keinen Partner hatten. Sie denkt auch an Menschen mit Behinderung oder die Witwen und Witwer, die allein in ihren Wohnungen sitzen. Sie hat sich akribisch vorbereitet auf das Interview und zitiert gleich zu Beginn ihre Lieblingsautorin zum Thema Berührung, Virginia Satir: „Wir brauchen jeden Tag vier Umarmungen zum Überleben, acht Umarmungen zum Leben, zwölf Umarmungen zum Wachstum.“ Gerade bekommen die meisten, die allein leben, gar keine Umarmungen. Auch sie als Therapeutin tut das im Augenblick nicht. Aber sie kann Hausaufgaben verteilen. Es gibt eine Art, sagt sie, sich selbst (nicht sexuell) aufmerksam zu berühren, die etwas Heilsames haben kann.
Als ich aus dem Interview herauskomme, fühle ich mich, als hätte ich selbst gerade eine Therapiesitzung gehabt. Ich übersteige eine Absperrung, setze mich auf einem Spielplatz in die Sonne und telefoniere mit einem lieben Menschen. Ich hoffe, dass mich niemand „erwischt“, 15 Minuten später geht es mir schon wieder besser.
Abends schaue ich mit einem Freund bei mir zu Hause „Tiger King“ auf Netflix. Es ist eine irre Dokumentation über das dunkle Herz von Amerika. Ich lerne, dass mehr Tiger in US-Käfigen leben als in freier Wildbahn im Rest der Welt. Es ist deprimierend und faszinierend zugleich.
Infizierte in Berlin: 4736. Tote: 62.
Mittwoch. Gegen Mittag gehe ich auf einen Spaziergang mit einem Freund. Wir laufen an einem Geschäft vorbei, das „Hüte und Wein“ heißt und genau diese beiden Dinge normalerweise verkauft. Der Inhaber stellt gerade ein paar Weinflaschen auf mehrere Kisten vor das Geschäft. Daneben steht ein Schild: „Wir verkaufen derzeit keine Hüte.“ Wir laufen auf den Mauerpark zu, an der Graffiti-Wand war ja zu Beginn der Krise Gollum aus dem „Herr der Ringe“ gesprüht, wie er eine Rolle Klopapier als „Mein Schatz“ in der Hand hält. Inzwischen ist die Rolle übersprüht, und direkt daneben hält sie jetzt das Ratten-Eichhörnchen aus „Ice Age“ in der Hand. Gedankenblase: „He He He“. Auf dem Rückweg kaufe ich zwei Flaschen Wein aus dem Rheingau. „Da kann man nichts falsch machen“, sagt der Verkäufer.
Als ich nachmittags am Rechner sitze und arbeite, höre ich durchs offene Fenster Applaus. Es ist erst 16 Uhr, für das Krankenschwester-Klatschen ist es die falsche Zeit. Vom Balkon aus sehe ich, dass rund 15 Menschen mit Abstand zueinander stehen. Das sieht von oben immer noch sehr seltsam aus, wie sich Grüppchen bilden und versuchen, nicht wie eine „illegale Gruppe“ auszusehen.
Ich beschließe eine spontane Pause, überquere die Straße und stelle mich dazu. Offenbar wohnt die Künstlerin „Klara Li“ in meiner Straße – und ist an diesem Mittwoch 54 Jahre alt geworden. Sie ist es auch, die ihre Freunde auf den Bürgersteig vor ihrem Atelier eingeladen hat. Jeder hat einen Zettel in der Hand mit dem Text zum Lied „Kleines Senfkorn Hoffnung“.
Das ist eigentlich ein Kirchenlied, in dem es darum geht, dass aus kleinen Dingen irgendwann große Dinge werden, wenn man sie pflegt. Aus dem Senfkorn wird am Ende der ersten Strophe ein Baum, der Schatten wirft und „Früchte trägt für alle, die in Ängsten sind“. Klara Li selbst freut sich, dass so viele Menschen zu ihrem Geburtstag gekommen sind. Ich rede mit so vielen fremden Menschen wie schon lange nicht mehr.
Am Abend backe ich einen Apfelkuchen; vor allem, weil an diesem Tag der Quark im Kühlschrank seine Haltbarkeit verliert. Mein Kühlschrank-Regime ist überhaupt in den letzten Wochen perfekt geworden. Er ist sauber, gut geordnet und wird täglich etwas geleert. Ich male ein grünes Virus auf den Kuchen, rund und mit schuldbewusst-traurigem Gesicht. Ich gebe meinen Nachbarn jeweils ein Viertel des Kuchens. Mein Opa war Bäckermeister; mir fällt auf, dass sein Apfelkuchen um ein Vielfaches besser geschmeckt hat. Ich habe ja jetzt Zeit zum Üben, aber das Mehl ist alle.
Infizierte in Berlin: 4870. Tote: 74.
Donnerstag. Mein Nachmittagsspaziergang führt mich dieses Mal zum Potsdamer Platz. Ich bin dort mit einem alten Freund verabredet. Ich setze mich in die Sonne, neben den geschlossenen Arkaden auf einer Bank hinter einer Absperrung. Eine Mitarbeiterin von „Butter Lindner“ kommt und setzt sich im großen Abstand dazu. Sie sagt: „Seien Sie bloß vorsichtig hier“, dann zündet sie sich eine Zigarette an. Ich frage, was sie meint. Sie zeigt auf die umliegenden Wohnungen: „Die Polizei war heute schon einmal da, weil ich hier gesessen habe, offenbar haben die Leute hier nichts Besseres zu tun.“ Ich lerne das neue Wort „Bürgeranzeige“ und wünsche ihr einen schönen Tag.
Ich laufe mit meinem Freund langsam durch die leere, sonnige Innenstadt. Er ist Freiberufler, alle seine Auftraggeber haben storniert. Die staatliche Unterstützung habe ihm den Schlaf zurückgebracht. Aber was in zwei, drei Monaten werden soll, sei ungewiss. Am Ende sitzen wir am Gendarmenmarkt. Jede Bank ist besetzt. Kurz bevor wir uns verabschieden, schauen wir zwei Müllmännern bei der Arbeit zu. Mir fällt auf, dass alle auf dem Platz ihnen zuschauen. Mit neon-orangefarbenen Overalls führen sie mit geübten Handgriffen einen riesigen Staubsauger über die Mülleimer. Rumpelnd fliegen die Kaffeebecher durch den dicken Schlauch. Es klatscht zwar niemand, aber irgendwie liegt trotzdem Bewunderung in der Luft.
Am Abend schickt mir die Kinder-Nachrichten-Crew der Familie meines Bruders wieder zwei neue Ausgaben – diesmal zwei monothematische Sendungen. In der ersten denken sie sich eine Modenschau aus. Sie hatten gelesen, dass am Vortag der „weltweite Tag der Banane“ war – den gibt es wirklich. Ihre Mode-Ideen lassen den Bananenrock alt aussehen, aber mit Fantasie-Preisen von 7900 Euro verkaufen sie sich zumindest nicht unter Wert. Die zweite Ausgabe handelt von der Trampolin-Weltmeisterschaft in ihrem Garten. Die Moderation erfolgt in Reimen. „Ball“ reimt sich auf „Knall“ und „Nacht“ auf „aufgewacht“. Im Hintergrund geht – 200 Kilometer entfernt – die gleiche Sonne unter wie hier in meiner Straße.
Abends vor dem Einschlafen lese ich in der „New York Times“, dass in einer Hütte neben einem Altersheim in New Jersey 17 Leichen übereinander gestapelt wurden. Die Betreiber des Altersheims wussten sich nicht anders zu helfen. Ich kann bis vier Uhr nicht einschlafen.
Infizierte in Berlin: 4971. Tote: 84.
Freitag. Morgens klingelt es an der Wohnungstür. Als ich öffne, liegt ein kleines Paket auf dem Fußabtreter, ich höre noch den Postboten die Treppen hinunterlaufen. Darin sind drei Masken, die ich vor fast drei Wochen bestellt hatte. Ich rufe „Danke“ ins Treppenhaus.
Danach telefoniere ich wieder mit dem Buchautoren und China-Kenner Christian Y. Schmidt. Er ist noch genervter als in der Woche zuvor. „Diese Lockdownerei geht mir ordentlich auf den Zeiger. Trotzdem ist sie notwendig.“ Er ist am Ostersonntag mit dem Rad bis zum Wandlitzsee gefahren. „Da draußen war doch ziemlich was los.“ In dieser Woche hatte er im Internet immer wieder China verteidigt, obwohl sich Theorien verdichten, dass das Virus wohl aus einem Labor in Wuhan von Fledermäusen auf den Menschen übertragen wurde. Ein Labor-Unfall, der jetzt die ganze Welt beschäftigt?
Schmidt glaubt nicht daran. „Es gab in den 80er-Jahren auch einen Ost-Berliner Biologieprofessor, der öffentlich vermutete, dass HIV aus einem CIA-Labor entwischt sei.“ Auf jeden Fall sei inzwischen erwiesen, dass das Virus nicht von Menschen erschaffen wurde. „Außerdem war die beschuldigte chinesische Wissenschaftlerin gleichzeitig diejenige, die schon am 13. Januar das vollständige Genom des Virus der WHO zur Verfügung gestellt hat. Warum? Um die Aufmerksamkeit der Welt auf ihr angebliches Unfalllabor zu lenken?“
Für Schmidt hätte die Welt besser auf die Warnungen aus China gehört. „Wenn wir früher die gleichen Maßnahmen wie Vietnam, Südkorea, Neuseeland oder Australien ergriffen hätten“, sagt er, „stünden wir jetzt besser da.“ Das heißt nicht, dass es nicht trotzdem zu ähnlichen Maßnahmen gekommen wäre. „In Peking ist seit einem Monat niemand mehr an Covid-19 gestorben, und trotzdem sind die Schulen weiterhin geschlossen.“ Wenn in Deutschland jetzt schon behauptet wird, das Virus sei „unter Kontrolle“, befürchtet er, dass die Zahlen wieder steigen werden.
Am Abend passiert der Quarantäne-Alptraum für Großstädter. Mein Internet-Router leuchtet rot und blinkt furchterregend. Mein Wlan ist weg. Ich schalte es dreimal an und wieder aus, dann rufe ich den Service des Providers an, bin dabei überraschend ruhig. Kurz darauf kommt eine SMS mit einem Termin: Sie kümmern sich am Dienstag darum. Großartig. Kein Netflix, kein Youtube, keine Online-Verbindung zur Morgenpost-Redaktion. Was kommt als nächstes?
Infizierte in Berlin: 5091. Tote: 91.
Sonnabend. Eine alte Freundin ruft an, sie sei gerade in der Nähe meiner Wohnung und wolle kurz vorbeikommen. Sie ist gebürtige Nordkoreanerin und hat dort bis zu ihrem 19. Lebensjahr gewohnt. Über Südkorea ist sie dann schließlich nach Berlin gezogen. Im Mai hat sie ihren großen Deutschtest, Stufe C1. Von ihr erfahre ich immer interessante Details über das Leben in diesem Land, über das man sonst so wenig erfährt. Als sie hereinkommt, wäscht sie sich ihre Hände – und umarmt mich plötzlich. Ich bin davon vollkommen überrascht, wohl, weil ich das seit sechs Wochen nicht mehr erlebt habe.
Sie beruhigt mich, dass sie seit sechs Wochen zu Hause sei und die ganze Zeit nie Symptome hatte. Ich denke an all die glatten Oberflächen, die sie auf dem Weg zu mir wohl berührt hat – und wir setzen uns mit Abstand auf den Balkon. Sie erzählt von Freunden in Südkorea, wo jetzt eine App ihre Kontakte bei Infektion untersucht. „Ich finde es gut, dass das in Deutschland kritisch gesehen wird“, sagt sie. Über Nordkoreas Antwort auf das Virus weiß sie wenig. Sie will sich aber nicht vorstellen, dass die Menschen in Pjöngjang alle in ihren Häusern bleiben müssen. „Was mir Sorgen macht“, sagt sie, „ist, dass jetzt ohnehin schon eine schwere Zeit ist.“ Im Frühling seien in den meisten Familien die Vorräte aus dem Winter aufgebraucht, aber die Felder sind noch nicht so weit, dass man etwas ernten kann. „Deswegen ist im Frühling der Hunger oft am größten.“ Wenn sie jetzt noch zu Hause bleiben müssen, wird es wirklich schwierig. Zum Abschied umarmt sie mich noch einmal.
Abends gehe ich einkaufen. Mehl ist ausverkauft, der nächste Kuchen muss warten. Ich bin der einzige im Laden, der eine Maske trägt.
Infizierte in Berlin: 5187. Tote: 92.
Erschienen in der Berliner Morgenpost, 19. 04. 2020
Berlin. In dieser Woche ist irgendwie ein Wendepunkt erreicht. Ich meine, kein zeitlicher Wendepunkt, denn wir wissen ja noch nicht, wann wieder alles wie vorher wird. Ich meine eher einen Wendepunkt für das Gefühl für diese Krise. Hat sich vorher jeder Tag ein bisschen wie Sonnabend angefühlt (zu Hause bleiben, arbeiten, allein fernsehen), ist es jetzt, als wäre es permanent Montag: Man könnte eigentlich immer irgendetwas arbeiten, aber gleichzeitig passt das Bild der Stadt nicht dazu. Die Menschen in meiner Straße stehen jetzt zu lange auf ihren Balkonen, zu jeder Tageszeit. Haben sie mir früher noch zugewunken, machen sie das jetzt auch nicht mehr.
Wendepunkt heißt auch, dass ich merke, wie die Tage auseinanderfallen, wenn man sie nicht zusammenhält. Dabei helfen natürlich Rituale, Dinge, die ich täglich wirklich gleich tue. Aber die gibt es kaum. Eine Zeit lang war es ja ein fast kollektives Ritual, jeden Tag zuerst zu überprüfen, wie die Zahlen liegen. USA, Frankreich, Schweden, und auch die Zahlen für Berlin. Aber wenn ich nicht dieses Tagebuch führen würde, wäre mir nicht aufgefallen, dass in dieser Woche über 100 Menschen in Berlin am Virus gestorben sind. Wenn ich daran denke, mit welchem Entsetzen ich Artikel vor zwei Monaten zu diesem Thema gelesen habe, ist dieses Gefühl definitiv einer Gelassenheit gewichen. Denn alles geht ja auch irgendwie weiter, oder?
Montag. Die Woche hatte mit dem besten Ritual überhaupt angefangen: Morgensport. Ich habe immer dieses Bild von mir als ein Morgenjogger vor mir. Besonders abends. Morgens bin ich dann eher der, der mit Kaffeetasse in Jogginghose erstmal auf den Balkon tritt und blinzelt. Ab heute soll das anders sein: Ich bin mit einer Freundin im Volkspark Friedrichshain an einem polnischen Denkmal verabredet.
Dort angekommen wundere ich mich, dass schon Skater morgens um 8 Uhr ihre Sache sehr ernst nehmen. Meine Freundin hat schon angefangen: springen, rennen, Liegestütze. Und diese eine Übung, die Jane Fonda immer in ihren Videos gemacht hat: seitlich liegend das Bein heben. Ich sage ihr, dass Männer solche Übungen nicht machen, und weise sie auf jenes Workout-Video von Jane Fonda hin. Sie: „Jane hat die Übung auch falsch gemacht. Und jetzt zeige ich dir, wie das geht.“
Und so liege ich also im Friedrichshain, hebe das Bein und bin noch nicht überzeugt. Es ist kalt, ich bin müde und würde jetzt lieber einen Kaffee trinken. Dann laufen wir im Sprint die Treppe nach oben auf den kleinen Berg im Park. Dort hat ein Mann sich abgesägte Baumstämme aus dem Gebüsch geholt und hebt diese in verschiedenen Position in die Höhe.
Ich schaue an mir herunter und sehe mit einem Blick, dass ich seit Wochen weder irgendwelche Treppen nach oben gejoggt bin, noch Baumstämme gestemmt habe. Ich bin sicher nicht der einzige mit Corona-Bauch. Vielleicht sollte ich jetzt damit anfangen, den Vorher-Zustand wieder herzustellen?
Am Abend bin ich nach Kreuzberg eingeladen. Eine Freundin feiert Geburtstag, und ich habe es den Rest der Woche bisher vermieden, anderen von diesem an sich netten Abend zu erzählen. Selbst bei meinen guten Freunden sind dann einige dabei, die mich auf eine sehr freundschaftliche Art doch zurechtweisen. Wer ist dann eigentlich der Schlimmere: Sie, die trotz Corona ein Essen für vier Leute organisiert in ihrer Wohnung? Oder ich, der hingeht?
Als ich abends um zehn Uhr nach Hause fahre, ist die U-Bahn leer. Ja, jetzt ist wirklich jeder Tag wie Montagabend. Morgen ist ein neuer Arbeitstag. Ich hatte mir ein Radler mitgebracht zur Party, und mehr Rausch braucht es dieser Tage auch nicht. Ich muss nur die Nachrichten-Apps meines Mobiltelefons öffnen, und bin sofort wieder komplett nüchtern. Das sind sie wieder, diese Zahlen.
Infizierte in Berlin: 5265, Tote: 97.
Dienstag. Ich sage den Morgensport ab, denn heute ist ein großer Tag. Mein Internetzugang sollte wieder hergestellt werden. Dank freundlicher Nachbarn und dem Passwort „ImmerAnDenKanzlerDenken“ hatte ich zwar eine Zwischenlösung, aber war schon sehr froh, dass der Techniker meines Internet-Providers sich angekündigt hatte. Im Jahr 2020 haben sich selbst diese Providerfirmen etwas einfallen lassen, um das Warten erträglich zu machen. Der Termin war zwischen acht und elf Uhr morgens vereinbart, aber gegen halb zehn bekomme ich eine SMS, dass er jetzt unterwegs sei. Dann öffnet sich eine Straßenkarte, und mein Techniker blinkt als kleiner roter Punkt, der noch weit weg ist.
Als er hereinkommt, trete ich zwei Meter zurück, routiniert lehnt er das angebotene Wasser und den Kaffee ab. Sicherlich auch aus Sicherheitsgründen. Mit Handschuhen drückt er am Router herum und schüttelt häufig den Kopf. Eine halbe Stunde tut sich fast nichts, und obwohl er viele Dinge austauscht, hat er den Fehler nicht gefunden. Ich frage ihn, ob er denn viel Kundenkontakt hat. „Logo, wir sind ja systemrelevant.“ Er mache seinen Job genauso wie bisher, nur, dass er eben so wenig wie möglich anfasse in den Wohnungen.
Ohne Internet fühlte es sich wirklich komisch an. Ich hatte am Wochenende abends statt Netflix Sat.1 eingestellt. Ich dachte, etwas Harry Potter würde mich aufmuntern. Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass ich schon sehr lange keine Fernsehwerbung mehr gesehen habe. Unglaublich, wie oft ein Film unterbrochen wird! Gefühlt alle zwölf Minuten. Seltsam auch, dass fast jede zweite Werbung das Corona-Virus schon mitgedacht hatte. „Wir bringen Sie sicher durch die Krise“ verspricht ein Unternehmen nach dem anderen. Ich hatte keine Lust mehr auf Harry Potter.
Infizierte in Berlin: 5341, Tote: 105.
Mittwoch. Morgens laufe ich durch den Mauerpark, ich bin der einzige im Park. Es ist niemand hier, der meine langsame Geschwindigkeit kommentieren könnte oder die kurze Pause, die ich langsam laufend einlege. Ist das der Anfang von einem neuen Verhältnis zu meinem Körper und Bedürfnisse? Mir war aufgefallen, dass ich über die vergangenen sechs Wochen irgendwie sorgfältiger umging mit meiner Zeit. Und dieses morgendliche Laufen durch den Mauerpark, mitten in der Woche, morgens um sieben Uhr, das war bisher immer nur eine Idee gewesen. Ich hatte es mir so oft vorgenommen, dass es sich nicht einmal wie das erste Mal anfühlte.
Auf dem Rückweg belohne ich mich mit „Butterhörnchen“, dem Croissant des Ostens. Es darf nur ein Kunde ins Geschäft zur gleichen Zeit. Erst als ich wieder zu Hause bin, fällt mir auf, dass ich seit über einer Woche nicht einkaufen war. Ich hatte genug eingefroren, dass ich noch mindestens zwei weitere Wochen aushalten konnte. Auch sonst brauchte ich selten Bargeld. Keine Kneipenbesuche, keine Eintrittskarten, keine zwei Euro für die Garderobe.
Dafür erschrecke ich, als ich im Briefkasten meine Telefonrechnung finde. Ich hatte öfter mit einem Freund in Österreich telefoniert und erst beim zehnten einstündigen Telefonat gemerkt, dass die Anrufe ins Ausland zwar günstiger geworden sind, aber ich noch immer 29 Cent pro Minute zahlen muss. 130 Euro Lehrgeld. Es versetzt mir schon einen kurzen Stich, weil diese Telefonate mir wichtig sind und ich nicht ans Geld denken möchte, wenn ich die Nummer wähle. Ich schreibe ihm, dass er sich doch bitte WhatsApp herunterladen soll. Er schreibt mir eine SMS zurück: „Nein“. Er vertraut dem Unternehmen nicht und möchte das nicht. Erst ärgere ich mich, dann finde ich es gut, dass sich manche Menschen treu bleiben.
Infizierte in Berlin: 5355, Tote: 105.
Donnerstag. Ich habe so schlecht geschlafen, dass ich auf keinen Fall heute schon wieder Sport machen kann. Ich beginne also ziemlich direkt mit der Homeoffice-Arbeit und werde mich später am Tag darüber noch ärgern. Ich hatte direkt einen Muskelkater und mich selten darüber so gefreut wie über dieses Anzeichen, dass mein Körper die Bewegung merkt, die ich für ihn gerade geplant habe.
Am Nachmittag fahre ich an die Spree. Die Sonne scheint, und ich merkte fast physisch, dass die Wohnung mir zu klein geworden ist. Gegen 16 Uhr ist sonst immer die Zeit, auf der ich von meinem Balkon hören kann, wie irgendjemand in der Straße das Klavierstück aus dem Film „Amélie“ spielt. Dieses verträumte Stück hat mir die ersten Male noch gefallen, er bekam oft Applaus dafür. Aber mit jedem Tag mehr dachte ich irgendwann: „Kann er auch etwas anderes spielen oder zumindest das Fenster schließen?“
Schon deshalb war es gut, an die Spree zu fahren. Es war nicht mehr so leer wie zu Beginn der Ausgangssperre, die nicht Ausgangssperre genannt werden kann. Ich setzte mich an die Spree gegenüber der Botschaft Chinas. Es ist eine Ecke von Berlin, in der ich sonst selten bin. Ein älterer Mann nickt mir im Abstand von vier Metern zu. Ich denke noch, warum ist der nicht zu Hause? Aber vielleicht geht es ihm genauso wie mir: Einfach mal unter Menschen sein. Vielleicht wäre dieser Mann jetzt hier nicht lang gelaufen, wenn er nicht gewusst hätte, dass es „sicher“ für ihn, also weitgehend leer sein wird.
Bevor ich heimfahre, schaue ich noch einmal die chinesische Botschaft an, vor der ich mein Fahrrad geparkt hatte. Der Bau hat trotz der vielen Fenster etwas Festungsartiges. In dieser Woche hat der Chefredakteur der Bild-Zeitung, Julian Reichelt, dem Präsidenten Chinas einen offenen Brief geschrieben. Darin waren allerlei Vorwürfe, dass China schuld sei an dieser weltweiten Krise. Dabei hatte doch China versucht, schon im Januar die Welt zu warnen. Bis heute sind 4600 Menschen in China an dem Virus gestorben, in Deutschland sind wir mit 5700 weit darüber hinaus. Die Vorstellung, dass die „Schuldfrage“ noch eine wichtige sein wird, wenn die Krise vorbei ist, macht mir Angst. Ich schlafe spät und schlecht.
Infizierte in Berlin: 5476, Tote: 112.
Freitag. Die Morgensport-Idee wird auf die kommende Woche verlegt. Wieder muss ich zu viel schon morgens telefonieren und vorbereiten. Seit 8 Uhr sitze ich fast täglich schon bei der Arbeit, in der Mittagspause höre ich Drostens Podcast. Sein Podcast kommt jetzt nur noch jeden zweiten Tag, es ist, als ob auch er dafür sorgen möchte, dass wir uns wieder mit anderen Dingen beschäftigen.
Gegen Mittag schaue ich den Livestream der „größten Online-Demonstration der Geschichte“. Die Bewegung „Fridays for Future“ hat sich vor dem Reichstag aufgebaut und sendet live von dort. Immer wieder bricht die Übertragung kurz ab, oder die Moderatoren stehen direkt neben einem Rasenmäher, der ausgerechnet an diesem Tag die Wiese vor dem Bundestag mähen muss. Die Plakate, die eigentlich auf der Wiese ausgelegt werden sollen, werden ständig vom Wind herumgewirbelt.
Als der Livestream endet, ruft Christian Y. Schmidt an, China-Kenner und inzwischen mein Freitags-Ritual. Er beginnt unser Telefonat mit einem Ausruf: „Es ist ja alles so fürchterlich langweilig!“ Selbst ihm geht die Dauer der Ausgangssperre auf die Nerven. „Ich will nur noch, dass es vorbei ist.“ Es ist diese Leere, dieses Zuviel an Zeit, die auch ihn gerade angreift, sagt er. „Meine Frau ist in China, und je früher das hier zu Ende geht, umso eher kann ich auch raus.“
Dabei war Schmidt in den vergangenen Wochen häufig gerade der gewesen, der die Maßnahmen der Regierung als zu kurz gegriffen oder zu spät kritisiert hat. Jetzt ist er mittlerweile auch die meiste Zeit allein, da er keine Kinder hat. „Noch nicht mal einer, der mich nervt“. Wir reden über die USA („Werden es doch über 100.000 Tote?“), Schweden („kein leuchtendes Beispiel in dieser Krise“) und den Brief von Julian Reichelt an Chinas Präsident. „Das war nicht nur Kalte-Kriegs-Rhetorik, die sich gegen die chinesische Regierung richtete. Der Brief enthielt auch Vorurteile, wie etwa, die Chinesen könnten nur kopieren und seien nicht innovativ.“
Aber auch wenn die Länge unseres Telefongesprächs nicht anders ist als sonst: Es fehlt die Wut. Es regt ihn nicht mehr auf, wenn Leute noch sagen, dass Corona eben doch wie eine Grippe sei. „Einige wirst du nie überzeugen“, sagt er. „Man richtet da nichts mehr aus, die werden erst ihre Meinung ändern, wenn sie es selbst haben. Immer öfter denke ich: Macht doch, was ihr wollt.“
Am Abend treffe ich Freunde, und ich fühle mich noch nicht einmal wirklich schlecht. Wir sitzen zu viert, wir reden im Abstand in einem Park, nur einmal fangen wir an, uns lauthals zu streiten. Es geht wieder um China und was sein wird, wenn diese Lockerungen die Zahlen wieder steigen lassen. Einig sind wir uns nur, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann.
Infizierte in Berlin: 5532, Tote: 113.
Sonnabend. Bisher war das ein Tag komplett ohne Rituale. Aber es ist wie Montag: aufstehen, Kaffee, arbeiten, später in den Park oder auch nicht. Als ich mein Telefon zur Hand nehmen will, kann ich es erst nicht entsperren. Ich brauche eine Weile, bis ich merke, dass es die Maske ist. Die Gesichtserkennung erkennt mein Gesicht nicht wieder. Dann rufe ich in Österreich an. Es wird ein gutes, viel zu langes Gespräch.
Infizierte in Berlin: 5607, Tote: 123.
Erschienen in der Berliner Morgenpost, 26. 4. 2020.
Berlin. In In dieser Woche habe ich gelernt, dass Streit in Corona-Zeiten sich ernster anfühlt. Ich habe mich mit einer guten Freundin gestritten und mich dadurch eines sozialen Kontakts beraubt, der nicht nur regelmäßig, sondern wichtig war. Wir hatten gemeinsam Sport gemacht und Kaffee getrunken. Dann habe ich einen Fehler gemacht, und offenbar ist eine Entschuldigung nicht genug. Als wir per SMS streiten, bin ich irgendwann selbst wütend und breche den Dialog ab.
Hinzu kommt, dass ich in dieser Woche im Urlaub bin, außer Radio und TV habe ich gerade wenig Kontakt mit der Außenwelt, noch nicht einmal Kollegen rufen an. Mir fällt auf, dass ich auch mit Freundschaften in diesen Zeiten sorgfältiger umgehen muss. Habe ich früher regelmäßig eine große Gruppe von Freunden pro Woche getroffen, hat sich in den vergangenen zwei Monaten das doch erstaunlich schnell auf wenige Menschen beschränkt.
Montag. Weil ich spät am Sonntagabend die Nachricht gelesen habe, dass Kim Jong-un, Nordkoreas Diktator gestorben sei, war meine Nacht kurz. Ich werfe mein Nordkorea-Netzwerk an, schreibe Mitarbeitern vom Auswärtigen Amt, mehreren Journalisten in Seoul und den Nordkoreanern, die ich kenne. Unterschiedlicher könnten ihre Meinungen nicht sein. Es ist alles dabei zwischen „Der Dicke lebt“ über „Wenn er stirbt, übernimmt seine Schwester“ bis zu: „Er hat sich versteckt, wir wissen nichts.“
Noch beim Frühstück habe ich das Urlaubsgefühl, der Tag liegt vor mir ohne Termine. Auf Facebook schreibt ein Freund: „Vorsichtig optimistisch in die neue Woche. Das Gröbste scheint überstanden. Aber nicht übermütig werden und noch ein paar weitere Wochen an die Regeln halten. Dann wird alles gut.“ Darunter wird in 27 Kommentaren diskutiert, ob nicht das Gröbste nicht doch noch vor uns liegt, was diese Maskenpflicht bringen soll – und als ich weiterscrolle, vergleicht jemand Gesichtsmasken-Träger mit Sklaven.
Gegen Mittag treffe ich einen Freund für den täglichen Spaziergang. Mir fällt auf, dass wir uns zwar auch vor der Krise häufig gesehen hatten, aber so regelmäßig nie. Früher reichten Whats- App-Nachrichten, die uns gegenseitig der Freundschaft versicherten. Er ist schlecht gelaunt. Er arbeitet sonst in einem großen Kaufhaus. Erst war er auf Kurzarbeit, dann wurde er ein Mitglied des Versand-Teams, das plötzlich sehr viel zu tun hatte. Eine Kiste fiel auf seinen Zeh, und noch heute ist es nicht verheilt. Seine Schicht beginnt morgens um fünf Uhr. Er sagt, dass er heute wieder mit den Vögeln gegen vier Uhr aufgestanden sei. In der U-Bahn konnte er sehen, dass sich das neue Maskengesetz langsam durchsetzt. Nach der Schicht hieß es nach drei Wochen plötzlich wieder: Schluss für den Versand. Der Rest der Woche sei wieder Kurzarbeit. Nächste Woche macht der Laden wieder auf.
Abends gegen 21 Uhr gehe ich einkaufen. Ich laufe mit meiner weißen Maske durch die Straße, aber als ich dann selbst im Geschäft der einzige mit Mund-und-Nasen-Bedeckung bin, schiebe ich sie am Weinregal unters Kinn.
Infizierte in Berlin: 5677. Tote: 127.
Dienstag. Morgens jogge ich kurz an die Böse-Brücke, schon auf dem Rückweg wechsle ich fließend in den Spaziergang. Da fällt eine Drogerie in meinen Blick. Seit Wochen wollte ich morgens einmal in dieses Geschäft gehen, um eine Packung Desinfektionsspray zu kaufen. Als Frühaufsteher bekomme ich eine – es ist wirklich die letzte im Regal. Zusammen mit dem Badeschaum „Chill Out“ gehe ich zur Kasse.
Mittags bekomme ich eine Nachricht von Sören Kittel. Es ist ein Namensvetter, den ich vor ein paar Jahren auf Facebook entdeckt habe und mit dem mich außer dem gleichen Vor- und Nachnamen und dem Heimatbundesland Sachsen wenig verbindet. Er ist großer Fan der AfD. Ich nahm das vor drei Jahren zum Anlass, ein Porträt über ihn zu schreiben. Nachdem der Text erschien, brach der Kontakt aber nicht ab. Hin und wieder, gerade bei großen politischen Themen, meldet er sich.
Sören arbeitet in der Schweiz und fährt jedes Wochenende zu seiner Frau und den drei Kindern nach Sachsen. „Jetzt werden die Autobahnen langsam voller“, schreibt er. Und, dass er die Maßnahmen für völlig überzogen halte. Ich erzähle von dem Freund im Krankenhaus und mehreren im Bekanntenkreis, die sich infiziert hatten. Er wiederum kennt keinen einzigen, der ebenfalls infiziert sei. Ich kann mir vorstellen, dass es für ihn schwer sein muss, aufgrund von einer abstrakten Vorsorge sein Leben umstellen zu müssen.
Aber als er schreibt, es sei doch nur wie eine Grippe, fühle ich mich an Gespräche von vor acht Wochen erinnert. Obwohl ich sonst versuche, weder Großbuchstaben noch Ausrufezeichen in Nachrichten zu verwenden, schreibe ich: „ES IST KEINE GRIPPE, VERDAMMT!!!!“ Er lässt sich nicht provozieren und schreibt, dass seine Firma 450 Mitarbeiter habe und außer ein paar negativen Tests habe es in seinem Umfeld nur die Angst vor dem Virus gegeben, nie das Virus selbst. Wir schreiben dann noch ein bisschen über Schweden und andere Zahlenspiele, aber mir wird klar, dass ich ihn nicht überzeugen werde.
Abends telefoniere ich mit zwei Freunden. Der eine redet nur über seine Aktien, der andere hat Probleme, weil sein Konto seit Wochen gesperrt ist. Die Steuerrückzahlung ist längst passiert, aber das Konto wird nicht entsperrt, wahrscheinlich, weil die Banken gerade andere Sorgen haben. Er kommt vorbei, und ich leihe ihm etwas, damit er durch die Woche kommt.
Infizierte in Berlin: 5736. Tote: 137.
Mittwoch. Ich blättere morgens durch meine E-Mails und finde einen Leserbrief, dessen Autor mich darauf hinweist, dass ich in der vergangenen Woche die einfache Regel des Zuhausebleibens ignoriert habe. Er will wissen, wie meine Zeitung dazu steht, dass ich das so offen aufschreibe in meinem Tagebuch. Ich schreibe ihm zurück, dass er recht hat und dass es durchaus Kollegen gibt, die diesen Regelübertritt angesprochen haben. Aber gleichzeitig versuche ich, diese Kontakte auf wenige Freunde zu beschränken und den Abstand einzuhalten.
Aber ein Blick auf Twitter zeigt, dass der „Corona-Graben“ die Gesellschaft tief spaltet. Die einen posten Fotos von vollen Parks und weisen auf die Särge hin, die für die Menschen auf dem Bild bereit stehen. Andere versuchen, dieses laxe Verhalten damit zu begründen, dass der Wert von „R“ konstant unter 1 ist. Das bedeutet, dass derzeit in Deutschland eine infizierte Person weniger als eine Person ansteckt. Kann man also tatsächlich wieder Eis essen gehen und sich auf die Parkbank nebeneinander setzen?
Gegen Mittag fahre ich an den Kudamm. Ich werde für eine Nacht in einem Hotel dort übernachten, um aufzuschreiben, wie eine große Hotelkette mit der Corona-Krise umgeht. Die Hotelangestellten tragen Masken, und von einigen werde ich bis zu meiner Abreise nicht mehr als die Augen sehen. Das Wetter wechselt ständig, von meinem Zimmer kann ich die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von oben sehen. Leider verpasse ich den Moment, als ein Regenbogen Berlin überspannt.
Am Abend sitze ich im 29. Stock und schaue auf Berlin. Die Straßen sind leer. Ich bekomme eine Nachricht eines Koreaners: Ein koreanisches Pärchen wurde in einer Berliner U-Bahn beleidigt und tätlich angegriffen. „Corona-Asiaten“ wurden sie genannt, und erst als die beiden die Polizei riefen, liefen die jungen, angetrunkenen Männer weg. Ich frage die beiden Koreaner, ob wir uns treffen können. Sie wohnen nicht weit vom Hotel entfernt.
Infizierte in Berlin: 5821. Tote: 147.
Donnerstag. Am Morgen lese ich Artikel in Zeitungen von Boris Palmer (Grüne), Wolfgang Kubicki (FDP) und Frank Castorf (ehemaliger Volksbühnen-Intentant), die sich alle drei über die Maßnahmen beschweren. Castorf will sich von der Kanzlerin nicht vorschreiben lassen, wann er sich die Hände wäscht, und Palmer ist der Meinung, dass die Corona-Toten ohnehin bald gestorben wären. Der Corona-Graben zwischen Kritikern wie diesen drei und dem Rest wird breiter. Auf Twitter werden die Anfeindungen der beiden Lager aggressiver.
Der Begriff Quarantäne kommt aus dem Italienischen und geht auf die Zeit der Pest zurück. Wörtlich bezeichnet er die „40 Tage“, die Schiffe nicht anlegen dürfen, wenn Kranke an Bord sind. Ich überlege, ob diese Dauer sich vielleicht bis heute durchgesetzt hat, weil sonst die psychischen Folgen auffällig werden.
Ich laufe vom Hotel zu den beiden Koreanern, die rassistisch belästigt wurden. Sie haben mich in ihre Wohnung eingeladen. Auf dem Weg dorthin erlebe ich an der Bleibtreustraße, wie sich zwei ältere Männer laut streiten. Einer war mit dem Rad auf dem Fußweg vorbeigefahren. Da schubst der Laufende den Fahrenden. „Weil Sie hier nichts zu suchen haben!“ Der Fahrende hält an und blafft zurück: „Ich kann doch nichts dafür, wenn Sie ein Arschloch sind!“ Eine Passantin geht dazwischen und beruhigt, dass doch nichts weiter passiert sei.
Das koreanische Ehepaar erzählt, dass sie seit dem Vorfall keine U-Bahn mehr benutzen. Sie leben seit vier Jahren in Berlin und haben so etwas noch nie erlebt. Als ich abends in meine Wohnung komme, lädt mich ein Nachbar auf Cocktails ein. Er war bis vor zwei Wochen in New York und hatte sich vorher extra nicht gemeldet. Seine Quarantäne verlief ereignislos, und er würde sich über Gesellschaft freuen. Ich bin zu müde und verschiebe es auf Freitag. Da wird er ja auch zu Hause sein.
Infizierte in Berlin: 5881. Tote: 149.
Freitag. Als ich Buchautor und China-Kenner Christian Y. Schmidt am Vormittag anrufe, kommt er gerade aus einer langen Telefonkonferenz mit sechs Teilnehmern in Peking und Guangzhou. Er hat zum ersten Mal das Programm Zoom probiert und ist ganz überrascht, was man alles machen kann. Seiner Frau geht es gut in Peking, auch wenn dort die Fitnessstudios nach kurzer Zeit wieder schließen mussten, sind die Restaurants weiterhin offen. Ihre Verwandten in Guangzhou erzählen von einem Ausflug mit dem Auto und sind gut gelaunt. „Vorsichtig sind sie auf jeden Fall alle“, sagt er, „und ich darf im Augenblick noch nicht zurück.“
In Berlin fällt ihm in dieser Woche auf, dass sich die Masken so langsam durchsetzen. „Aber das Problem ist“, sagt er, „dass viele nicht wissen, wie sie die Masken richtig auf- und absetzen.“ Er habe gesehen, wie einige die Maske unters Kinn schieben, sobald sie aus der Bahn heraustreten. „Dann kann man es gleich lassen.“ Denn dann sei sie von innen sofort mit Bakterien und Viren verkeimt. Aus China kenne er die Erklär-Videos, die den korrekten Gebrauch zeigen. Er selbst stellt aber auch bei sich eine Leichtsinnigkeit fest. „Es ist wie damals nach dem Tschernobyl-Unfall 1986, man isst dann doch irgendwann den ersten Salat und denkt nicht mehr daran.“
Auch er hat mitbekommen, dass für viele Länder Schweden als Beispielland gilt im Umgang mit Corona. „Aber wenn man sich die Zahl der Toten anschaut, relativiert sich das schnell.“ Während Schweden 256 Tote pro einer Million Einwohner hat, haben die USA nur 193 Tote zu verzeichnen, Deutschland nur 79. Und trotzdem gibt es hier Menschen, die die Maßnahmen noch immer übertrieben finden. „Ich weiß nicht, woher der Todestrieb der Menschen kommt“, sagt Schmidt. „Aber ich möchte nicht an Covid-19 sterben, die Berichte vom langsamen Ersticken klingen nicht besonders attraktiv.“
Weil 1. Mai ist, treffe ich mich mit einem Freund am Mauerpark und trinke ein Alster. Wir sehen viele Menschen in Gruppen, auch viel Polizei, aber trotzdem bleiben die meisten auf Abstand, soweit das möglich ist. Als ich danach meinen Freund anrufe, der mich ja auf Cocktails eingeladen hatte, ist der schon betrunken. Er hat Besuch von einem anderen Freund bekommen, der Masken abholen wollte, und sie haben schon mit dem Trinken begonnen. Wir verschieben auf Sonnabend, ich bin wieder allein mit dem Internet. Ich schreibe der Freundin, mit der ich im Streit liege: „Weißwein?“ Sie antwortet, sie müsse viel arbeiten. Ihr Laden öffne am Montag.
Infizierte in Berlin: 5936. Tote: 152.
Sonnabend. Am Morgen gibt es Nachrichten, dass Kim Jong-un doch nicht gestorben ist. Er hat das getan, was er schon immer gern getan hat: eine Fabrik eröffnet. Über Fälle von Covid-19 in Nordkorea ist trotzdem bis heute nichts bekannt.
Am Nachmittag bekomme ich noch eine E-Mail des Leserbrief-Schreibers vom Mittwoch. Er sagt, dass er selbst zu der Minderheit gehöre, „die die teilweise sehr unplausibel vorgetragenen Argumente der Virologen nicht einfach übernimmt, sondern die teilweise eklatanten Widersprüche nicht akzeptiert“. Er sieht jedenfalls keine Verhältnismäßigkeit gegeben. Und ich dachte, er wolle mich auf mein Fehlverhalten aufmerksam machen…
Am Abend sitze ich beim Nachbarn und er erzählt von New York. Es gibt guten Gin, Eiswürfel in Form von Blumen, und wir stoßen darauf an, dass das alles hier bald vorbei sein wird.
Infizierte in Berlin: 5970. Tote: 154.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 3. 5. 2020
Berlin. In dieser Woche kam zwar das Leben zurück in meine Straße, in die Geschäfte, in die Stadt. Allerdings wirkt die Maske im Gesicht wie eine angezogene Handbremse, nicht nur für das Atmen, sondern für jede Tätigkeit im Freien. Ich lernte erst in dieser Woche, die Maske überhaupt immer dabei zu haben. Und zumindest noch kurz zu säubern, bevor ich sie aufsetze. Allerdings habe ich noch keinen Ort, um sie zu lagern. Hängt man sie an die Garderobe? Legt man sie zu den Socken? Oder besser immer griffbereit an die Türklinke?
Montag. Es ist einer dieser grauen Tage, die man gleich bei Tagesbeginn wieder beenden möchte. In der Zeitung lese ich, dass die Friseure wieder geöffnet haben. Dank dieses Tagebuchs kann ich genau sagen, dass ich vor sieben Wochen zuletzt beim Friseur war, das war kurz vor der Schließung. Jetzt bräuchte ich wieder einen Termin, aber ich hatte natürlich keinen vereinbart. Immerhin bekomme ich online für die kommende Woche einen Slot in der „Notaufnahme“. Zur Bestätigung bekomme ich eine E-Mail, in der Wörter wie „Infektionsketten“ und „Schutzauflagen“ stehen.
Am Nachmittag fahre ich zum Kurfürstendamm. Ich will meine Post in der Redaktion abholen und muss mich beim Chef-Concierge vom Hotel Waldorf-Astoria entschuldigen. Wir hatten an diesem Tag eine ganze Seite über das Hotel abgedruckt, dafür hatten wir eine große Tour durch das fast leere Haus bekommen – und dann war in der Zeitung sein Name unter ein Bild gerutscht, das nicht ihn zeigte. Das Problem: Alle trugen eine Mund-Nasen-Bedeckung, die natürlich handgearbeitet war und irgendwie so aussah, als rieche das Leben dadurch besser. Aber er hat sich geärgert, und natürlich darf so etwas nicht passieren.
Erst als ich an der S-Bahn ankomme, fällt mir auf, dass ich keine Gesichtsmaske dabei habe. Ich klemme mir also einen Schal vors Gesicht und stelle mich so „in die Ecke“, wie ich einmal in der siebten Klasse stehen musste, weil mein Lehrer mich dazu aufforderte. Mein Lehrer kam Anfang der 90er-Jahre aus einem Bayerischen Klostergymnasium nach Dresden und war „ganz alte Schule“.
Am Kurfürstendamm angekommen, liegt in meinem Postfach ein Brief von einer Leserin, der wohl mein letztes Tagebuch zu melancholisch geraten war. Sie schickte ein „Gänseblümchen-Gedicht“ von Heinz Erhardt. Es macht sofort gute Laune, und ich bin schon allein deshalb froh, durch die ganze Stadt gefahren zu sein. Ich liefere die Zeitungen im Hotel ab. Der Concierge ist leider nicht da. Außerdem habe ich keine Maske und will schon deshalb eigentlich so schnell wie möglich wieder heim.
Auf der Heimfahrt lese ich, dass bei der EU-Geberkonferenz das Ziel von 7,5 Milliarden Euro fast erreicht wurde. Polen hat 750.000 Euro gespendet, der Popstar Madonna eine Million Euro.
Infizierte in Berlin: 6086, Tote: 154
Dienstag. Eine Freundin aus meinem früheren Indonesisch-Kurs schreibt etwas unter meinen Tagebucheintrag von vor einer Woche. Sie benutzt dabei den schönen Ausdruck „Cuci Mata“. Im Indonesischen bedeutet das wörtlich „die Augen waschen“, also: seinen Augen etwas Neues bieten. Ich habe definitiv meinen Händen öfter gewaschen als meine Augen in den letzten Wochen.
Anstatt das zu ändern, verlasse ich am Dienstag gar nicht meine Wohnung und kann meine inzwischen vier Masken an der Garderobe hängen lassen. Ich habe für abends einen Freund eingeladen, in dieser Woche dürfen wir uns ganz legal für einen Rotwein treffen.
Schon am Abend vorher hatte ich das Schweinefleisch in „Ketjap Manis“ eingelegt. Diese süßliche, zähflüssige Sojasoße gibt’s bei jedem Asiaten, und wenn man noch Knoblauch und Chilischoten dazu schneidet, ist das traditionelle „Babi Panggang“ schon fast fertig vorbereitet. Schwein wird zwar nur von einer Minderheit der Indonesier gegessen (die meisten Indonesier sind Muslime), aber wer es auf der Speisekarte entdeckt: unbedingt bestellen.
Als ich nach Dienstschluss abends mit dem Zubereiten beginne, stelle den Podcast von Christian Drosten an. Das hatte ich lange nicht getan. Ich hatte irgendwann aufgehört, jede Folge zu hören, vor allem, weil ich das Gefühl hatte, nicht mehr folgen zu können. Die medizinische Fachwissen, was er voraussetzte, überstiegen mein Interesse an diesem Virus, und ich hätte am liebsten immer zu der Folge vorspulen wollen – in der verkündet wird, dass der Impfstoff entwickelt ist. Aber die letzten Folgen sind wirklich unglaublich gut geworden. Vielleicht hat es geholfen, dass er nicht mehr täglich liefern muss. Sowohl die Fragen als auch seine Antworten sind wieder wirklich auf den Punkt, und ich lerne viel Neues. Lange nicht mehr so viel beim Kochen gelernt.
Wir essen indonesisches Schweinegulasch und trinken an diesem Abend weniger Rotwein als sonst, dazu hören wir Musik von älteren Frauen mit rauchigen Stimmen.
Infizierte in Berlin: 6036, Tote: 154
Mittwoch. Ich stelle mir gleich morgens wieder die Musik vom Vorabend ein, aber irgendwie will sich die gleiche Gemütlichkeit nicht einstellen. Ich telefoniere mit einem Freund, der sich freut, dass ich nicht abends anrufe. Abends sei er gerade meist bekifft („um runter zu kommen“), außerdem sei ja sonst nicht so viel zu tun. Er hat sich in diesem neuen Leben ganz gemütlich eingerichtet. Er lebt nicht allein, und neulich war er sogar mit seinem Freund abends in der Wohnung einer Freundin und ihres Partners. „Als ich auf dem Balkon eine Zigarette rauchte, sprach mich eine Nachbarin an, dass wir zu laut seien“, sagt er, „dabei haben wir nur zu viert geredet“. Kurz darauf kam noch eine Nachbarin und beschwerte sich, nicht so laut zu „trampeln“. Sind Menschen geräuschempfindlicher geworden?
Am frühen Nachmittag erreichen mich Bilder aus Usedom. Gleich zwölf Fotos, darunter ein Strand ohne Menschen mit einem leeren Strandkorb. Ein paar Wellen mit schwebender Möwe. Und ein Schiff, das auf die nächste Ausfahrt wartet. Ein Freund von mir hat eine Reha in letzter Minute bewilligt bekommen. Innerhalb Mecklenburg-Vorpommerns sind wieder Kurgäste erlaubt. Er darf also als einer der ersten wieder an den Strand, wo der Sand „singt“. Angeblich klinge es in Usedom wie ein Orchester, wenn der Wind durch die Dünen weht. Nur ist es dort selten so leer, dass man darauf achten könnte.
Er schickt noch ein Selfie in Schwarzweiß von sich am einsamen Strand. Ich schaue, wie lang die Zugfahrt dorthin dauert: 2,5 Stunden. Aber jetzt würde ich als Tourist noch mit Bußgeld nach Hause geschickt. Also: Geduld.
Am Abend merke ich, dass ich meine Wohnung wieder nicht verlassen habe. Also bringe ich wenigstens meinen Müll nach unten. Dort sehe ich, dass die Chat-Gruppe „Gemeinsame Gartenliebe“ aus meinem Haus wirklich den Innenhof begrünt hat. Kinder spielen jetzt zwischen Blumen und zwar so heftig, dass mir fast ein Ball ins Gesicht fliegt und der Picknicktisch, den sie neben den Sandkasten gestellt hatten, mit allem Essen umkippt. Die Mutter sitzt daneben und lacht laut. Ich freue mich kurz an dieser sonnigen Szene, aber da ich nur ein stummer Leser der Chat-Gruppe geblieben bin, habe ich mit den Blumen nichts zu tun und will zurück in meine Höhlenwohnung. Im Briefkasten finde ich noch das die Biografie von Tori Amos, die ich vor Monaten vorbestellt hatte. Auf der ersten Seite schreibt sie, dass wir in „Zeiten einer nie dagewesenen Krise“ leben. Sie meint sicherlich Trumps Präsidentschaft, aber sie lässt es offen.
Abends schauen wir zu zweit einen Film auf Disney+. Es dauert, bis wir uns geeinigt haben. Ich kenne die StarWars-Filme schon und für den Rest: Ich bin leider nicht mehr sieben Jahre alt. Wir entscheiden uns für den Film, in dem Walt Disney die Autorin von „Mary Poppins“ überredet, ihre Geschichte zu einem Film werden zu lassen. Emma Thompson hat an diesem Abend zwei Männer zum Weinen gebracht. Disney-Tränen, sozusagen. Die zählen nur halb, oder?
Infizierte in Berlin: 6143, Tote: 159.
Donnerstag Da am Freitag keine Morgenpost erscheint, haben viele Redakteure vor einem Feiertag traditionell frei. Zwei Kollegen treffen einander morgens in der Telefonkonferenz und merken langsam, dass sie „den Vogel abgeschossen“ haben. Sie unterhalten sich und schreiben anschließend in den Gruppenchat, dass es trotzdem „schön“ war, die „Stimme des anderen zu hören“. Gegen Mittag schaue ich die Pressekonferenz des Robert-Koch-Instituts, weil ich auch von dort inzwischen nur noch gute Nachrichten erwarte. Es wird die letzte Pressekonferenz sein für eine längere Zeit. Aufgrund des Rückgangs des Virus wolle man auf dieses Briefing vorerst verzichten. Selbst als Virus-Laie kommt mir das etwas verfrüht vor.
Am Nachmittag bin ich zum Eisessen verabredet, wir stellen uns also bei „Hokey-Pokey“ in die Schlange. Der Eisladen war vor einigen Jahren so beliebt, dass die Schlange umliegende Cafés auf die Barrikaden trieb. Die Corona-Abstands-Schlange wird mit Fußmarken so gestaltet, dass genug Platz bleibt. Wir laufen zum Helmholtzplatz, wo inzwischen viele Menschen in der Sonne sitzen. Sie rufen auf Englisch und Finnisch durch die Gegend und bleiben oft in Gruppen mit Kindern stehen, weil sie einander lange nicht gesehen haben. Auch meine Begleitung nickt und grüßt mehrere Menschen im Vorbeigehen.
Bei einem seiner Freunde bleiben wir länger stehen und ich lerne, dass ein Gymnasiallehrer gerade doppelt so viel zu tun hat als vor Corona-Zeiten: „Ich muss einerseits den Unterricht für die Hälfte der Schüler vorbereiten, die in die Schule dürfen, gleichzeitig darf der Rest nicht den Anschluss verlieren. Die Abiturprüfungen wollen kontrolliert werden und die Eltern haben jetzt alle meine Handynummer und nutzen sie auch.“
Wir laufen an der Gethsemanekirche vorbei, an deren Zaun gelehnt die Menschen auf dem Boden sitzen und Aperol-Spritz und Gin-Tonic trinken. Zum Abschied umarmen wir uns. Das fühlt sich ungewohnt an. Oder sehe ich das auch zu eng: Eine Umarmung?
Infizierte in Berlin: 6203, Tote: 163.
Freitag. Morgens rufe ich wie immer Christian Y. Schmidt an, den Berliner Buchautor, der mit einer Chinesin verheiratet ist und wirklich lieber in Peking bei seiner Frau wäre jetzt. „Sie war diese Woche allein in der Provinz Shanxi auf einer Reise und hat buddhistische Statuen in einer Höhle besichtigt.“ Er ist ungeduldig, und ich glaube, dass er in einer der ersten Maschinen nach Asien sitzen wird, die vom frisch eröffneten BER abgehen. Bei unserem Gespräch wird deutlich, dass auch dieses Tagebuch langsam an ein Ende kommt. Wir reden immer mehr über andere Dinge, die nichts mit Corona zu tun haben.
Schmidt ist immer noch der bestinformierte Mensch in meinem Freundeskreis, was die Corona-Zahlen angeht. Er weiß auswendig, wie viele Tote pro eine Million Einwohner in Schweden und den Niederlanden gezählt werden (beide haben die Grenze von 300 überschritten, Deutschland liegt bei ungefähr 90). Aber allein in Bayern liegt dieser Wert schon fast doppelt so hoch. Er will auch nicht mehr länger der Pandemie-Experte in seinem 5000-Freunde-Netzwerk sein. „Das soll jetzt langsam mal aufhören.“ Er freut sich, dass sich die Maske inzwischen fast durchgesetzt hat im Berliner Alltag, weil so zumindest sichtbar wird, dass viele die Krankheit ernst nehmen. „Seltsamerweise ist die Quote der Frauen unter den Maskenträgen deutlich höher als die der Männer.“ Er überlegt, ob es daran liegen könnte, dass es eine Art Modeaccessoire geworden sei. „Aber wahrscheinlich sind Frauen einfach gesundheitsbewusster.“
Am Nachmittag bin ich mit einer Freundin zum Eiskaffee-Trinken verabredet. Ja, Eis spielt derzeit eine große Rolle. Es kommen auch wieder andere Zeiten. Wir laufen zum Mauerpark und sitzen auf der Anhöhe. Wir haben uns seit drei Monaten nicht gesehen, und sie erzählt, dass sie schon Corona hinter sich hat. Also, sie ist sich zumindest sehr sicher. Sie war zwei Wochen lang krank, und es fühlte sich nicht wie eine Grippe an. „Zwei Abende lang habe ich wirklich fast keine Luft bekommen“, sagt sie. „Und ich war sehr froh, dass es von selbst besser wurde.“ Sie hat sich in dieser Woche einen Corona-Selbsttest gekauft, online, 25 Euro, Lieferung innerhalb von 48 Stunden. Sie verspricht mir, den Test am Sonnabend noch auszuprobieren.
Infizierte in Berlin: 6236, Tote: 164.
Sonnabend. Am Sonnabend schickt sie mir die Ergebnisse vom Test. Der erste ist negativ. Sie hat also keine Antikörper und ist demnach noch nicht gegen Corona immun. Der zweite Test ist ebenfalls negativ. Jetzt fragt sie sich natürlich, ob sie überhaupt Corona hatte.
Am Nachmittag gehe ich mit einem Freund auf die „Hygiene“-Demonstration in Mitte. Die Stimmung ist angespannt. Niemand trägt Masken oder hält den Mindestabstand ein: Impfgegner, „Corona-Rebellen“ und Meditierende im Schneidersitz. Eine Frau ruft ins Mikrofon, dass sie wegen der Demonstration nach Berlin gekommen sei. An einem Haus steht: „Geht Heim!“ Sie sagt: „Was ist, wenn dieses Land nicht mehr meine Heimat ist?“
Infizierte in Berlin: 6242, Tote: 164.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 10. 05. 2020
Berlin. In dieser Woche habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, ab und an an sich herunterzuschauen und seinen Füßen dabei zuzusehen, wie sie das so hinkriegen: einen Schritt vor den anderen zu setzen, so ganz ohne stolpern. Ich hatte das neulich in einem Popsong der Kanadierin Veda Hille gehört: „Wenn du dich verloren glaubst, schau auf deine Füße“ singt sie im Song „Oh Precious Heart“. Ich will jetzt nichts überdramatisieren, wozu ich zugegebenermaßen neige, aber nach dieser Woche habe ich das Gefühl, dass uns die dunkelsten Kapitel dieser Krise noch bevorstehen.
Montag. Mein erster Gang geht jeden Morgen zuerst an die beiden Adventskalender, die ich in der Wohnung in zwei Zimmern verteilt habe. Am Montag ist das Öffnen der Türen zu einem Ritual geworden, noch am Tag zuvor hatte ich eine Tür vergessen. Wie überhaupt immer mal ganze Tage durchgerutscht sind seit November. Wieder Lockdown, wieder Tagebuch, nur dieses Mal ohne den Frühling vor der Haustür. Dafür immerhin mit Adventskalender. Ich hole ein Stück Apfelstollen aus dem Adventskalender und esse es direkt zum Morgenkaffee.
Und noch etwas hat sich verändert, seit ich im Frühjahr zwölf Wochen lang diese Seite am Sonntag betreut habe: Ich schlafe besser. Das könnte daran liegen, dass ich vor ein paar Wochen das Rauchen aufgegeben habe und mir jetzt jeden Morgen eine App verkündet, welche weiteren Vorzüge dieser Tag ohne Rauchen mit sich bringen wird. Nur beim morgendlichen Kaffee auf dem Balkon fehlt es mir noch ein kleines bisschen.
Ich habe an diesem Tag einen Bürotag eingeplant, und auf dem Weg zum Kudamm werde ich von diesen Menschen angesprochen, die mit gelben oder lila Jacken von einer Hilfsorganisation am Hackeschen Markt stehen. Sie sind immer einen Tick zu gut gelaunt für die Tageszeit, das Wetter oder die Pandemie, die gerade Millionen von Menschenleben gefährdet. Ich stelle mir vor, wie die Marketing-Chefs im Zoom-Meeting darüber bestimmt haben, dass diese Erstsemester auf Berliner Plätzen für neue Mitglieder werben sollen – als wäre alles ganz normal. Als eine 20-Jährige einen Satz auf mich zu macht – sie springt mich buchstäblich an – schaue ich demonstrativ in die andere Richtung und fühle mich wie Ebenezer Scrooge aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens.
Morgens gehe ich zu einem Friseur in Wilmersdorf, der 100 Krankenschwestern und Pflegern die Haare kostenlos schneiden will. Wir berichten darüber in der Zeitung – weil man auch nicht genug von den Frontarbeitern in dieser Krise berichten kann. Eine der Krankenschwestern hat sehr lange rote Haare und ist sehr dankbar für diese Geste des Friseurs. Das Bonusgeld für Pfleger kenne sie nur aus der Zeitung. Sie sagt, sie hatte außerdem eigentlich schon abgeschlossen mit Friseuren. „Mein letzter Besuch vor drei Jahren war ein Desaster, bei dem mir meine Haare angesengt wurden, und ich musste noch 100 Euro dafür zahlen.“ Dieser Besuch hat sie versöhnt. Sie rückt ihre Maske zurecht, die sie während des gesamten Besuchs getragen hat, und verlässt das Geschäft, ohne zu bezahlen.
Der Friseur sagt, dass viel geredet werde, die Angst vor Aerosolen, die in den ersten Wochen nach dem Lockdown für gespenstische Stille beim Friseur gesorgt habe, sei weg. Die Leute hätten ja oft sonst niemanden mehr, der ihnen zuhört. Ich denke an meinen Adventskalender, dessen Inhalt ich mir mit niemandem teilen muss, und nicke.
Ja, die Einsamkeit und der offene Umgang hat bei vielen etwas verändert. Bevor ich ins Büro fahre, rufe ich einen Freund an, der zwischenzeitlich Hilfe in einer psychiatrischen Klinik suchte. Heute ist sein letzter Tag, bevor er für sechs Wochen zur Kur fährt, ausgerechnet nach Chemnitz, das doch eben erst zur Kulturhauptstadt 2025 gekürt wurde. Doch er ist traurig, ausgerechnet dann nicht in Berlin zu sein, wenn das Humboldt Forum eröffnet wird. Er hat wie viele Berliner dessen Entstehung verfolgt und hätte das gern gesehen. Andererseits ist die Eröffnung, die es jetzt geben soll, auch alles andere als festlich. Ich esse einen wirklich entsetzlichen Burger, der im Regal noch ganz lecker ausgesehen hatte. Mein guter Freund hat keinen Hunger. Wir reden und schweigen und hoffen auf bessere Zeiten.
Infizierte in Berlin: 20.118, Tote: 699.
Dienstag. Hinter Türchen „8“ ist ein weiterer Stollen, und in der Zeitung sehe ich den Inhaber einer Kneipe bei mir um die Ecke. Er sagt, dass er doch nichts dafür könne, wenn die Menschen mit einem Glühwein stehen bleiben. Ich telefoniere mit dem Ordnungsamt, und die sagen, sie werden versuchen, die Menschen an die Regeln zu erinnern, aber es würde keine „Knöllchen für Grüppchen“ geben. Ich denke, dass inzwischen selbst Beamte eine humorvolle Art gefunden haben, mit der Pandemie umzugehen.
In der Mittagspause lese ich den Text zweier Kollegen, die am Montag den Reporterpreis für eine Lokalreportage bekommen haben, über eine Corona-Station in Hamburg im ersten Lockdown. Der Text „Der Ausbruch“ ist online leicht zu finden und geht wirklich unter die Haut. Es beginnt mit einer Seebestattung, und es wird noch mehr Tote geben in dem Text. Er rekonstruiert, wie drei Menschen am Coronavirus starben, die vielleicht hätten überleben können. Auf Twitter lese ich, dass der Vater eines berühmten Influencers an Covid-19 gestorben ist. „Er ist jetzt bei Mama“, schreibt der erwachsene Mann.
Am Abend treffe ich durch Zufall einige Bewohner meines Hauses im Flur. Wir sind seit dem Frühjahr in einer WhatsApp-Gruppe miteinander vernetzt, und so habe ich auch erfahren, dass unser Haus in Prenzlauer Berg dem gleichen Vermieter gehört wie die kürzlich geräumte „Liebig34“ in Friedrichshain. Als wir bei Glühwein im Innenhof mit Abstand beisammen stehen, erzählt eine Frau, dass ihre Nachbarwohnung leer stehe. Seit Monaten. Das sei zwar illegal, aber es machen viele Vermieter, weil sie noch abwarten wollen, was mit dem Mietendeckel werde.
Infizierte in Berlin: 20.033, Tote: 732.
Mittwoch. Geweckt werde ich seit Beginn des Lockdowns nicht mehr durch eine normale App. Ich benutze eine App namens Sleeptown. Die App soll Menschen daran erinnern, wie gut regelmäßige Schlaf ist. Als Belohnung erhält man nach einer gut geschlafenen Nacht ein virtuelles Häuschen. Am Mittwoch habe ich für meine Schlafstadt die erste Feuerwehr „erschlafen“. Das Anwachsen dieser kleinen Stadt in meinem Telefon erinnert mich jeden Tag ganz konkret an die Dauer dieses Wahnsinns.
Da sich mein Klavierstimmer angekündigt hat, arbeite ich bis zum Mittag von zu Hause aus. Er sagt, dass sich sein Beruf nicht groß verändert habe. Er hat ein Häuschen in Brandenburg und könne jetzt noch öfter Zeit dort verbringen. Doch insgesamt bekommt er auch mit, dass die Krankheit sich jetzt wirklich durch die Freundeskreise frisst. Seien es im April nur wenige Betroffene gewesen, höre man jetzt immer wieder davon. Er erzählt von meinem Klavierlehrer, der gerade Vater geworden ist. Es könnte eines der ersten Lockdown-Babys sein. Hauptsache, der kleine Orlan ist gesund.
Am Nachmittag laufe ich mit einer Kollegin über den Breitscheidplatz. Wir sehen zuerst die Kerzen und Fotos am Mahnmal für das Attentat von 2016. Wir suchen eine Weihnachtsmütze, die Kollegin vermutet, im Europa-Center gebe es eine. Ich kannte dort bis dahin nur den Saturn, für die anderen Geschäfte in dem Center hatte ich bislang kein Auge. Umso erstaunter bin ich, als ich kurz darauf in einem Geschäft voller Ein-Euro-Schund aus China stehe, in dem es stark nach Rauch riecht. Meine Kollegin hat ebenfalls vor wenigen Wochen aufgehört. Aber sie hat jetzt eine Weihnachtsmann-Mütze für 4,95 Euro, bei der die aufgenähten Sterne auf Knopfdruck blinken.
Doch neben diesem Geschäft gibt es noch einen Comic-Laden (geöffnet), einen Hertha-Fanshop (geschlossen) und eine Uhr, die mit fließendem Wasser betrieben wird. Man muss es gesehen haben. Das Ungewöhnlichste finden wir im Shopping-Keller. In einem Waffengeschäft liegen Pistolen Marke „Walther“ im Schaufenster, für rund 170 Euro wäre sie meine. Dahinter ist ein Plakat aufgehängt, das für Schreckschusswaffen wirbt und auf dem ernsthaft steht: „Warum warten? Jetzt schon an Silvester denken!“ Die Diskussion um Feuerwerksverbot ist noch nicht bis zu diesem Keller vorgedrungen. Die Kunden (Kundinnen waren nicht zu sehen) tragen denn auch ihr Maske so, dass mindestens die Nase immer gut zu sehen ist. So stelle ich mir Texas vor.
Infizierte in Berlin: 19.635, Tote: 749.
Donnerstag. Am Morgen habe ich ein Gespräch mit einer Mutter, die ihren Sohn vor sechs Jahren verloren hat. Wir treffen uns in ihrem Büro, auf Abstand, sitzen an verschiedenen Tischen und reden über ihren Sohn. Sie sagt, dass ihr Bücher geholfen haben. Sie habe noch nie soviel gelesen wie in den Monaten nach dem Unfalltod ihres 20-jährigen Kindes. Das Gespräch findet statt, weil am heutigen Sonntag internationaler Tag der verwaisten Eltern ist. An der Marienkirche können Betroffene jedes Jahr eine Kerze entzünden. Die Frau sagt, dass sie den Termin eigentlich selten wahrgenommen habe, weil man auf dem Weg zur Kirche an den Feiernden des nahe gelegenen Weihnachtsmarktes vorbeilaufen müsse. Das sei für sie immer anstrengend gewesen. Dieses Jahr gehe sie vielleicht hin.
Direkt danach treffe ich zwei Mitarbeiterinnen der Berliner Telefonseelsorge. Wieder ein sehr ernster Themenkomplex: Weihnachten, Einsamkeit, Selbstmordrate in Berlin. Und dann noch Corona. Ich lerne, dass Berlin die erste Stadt Deutschlands mit einer Seelsorge-Telefonnummer war und auch die erste Corona-Hotline geschaltet hatte. Eine der Leiterinnen sagt etwas, das bei mir nachwirkt: Sie habe das Gefühl, dass auch während der Weihnachtszeit der Höhepunkt der Pandemie noch nicht erreicht sein werde. Vor allem die Effekte auf die Psyche hätten eine ganz eigene „Inkubationszeit“. Die Seelsorger bemerken gerade eine erste Welle. „Da kommt noch einiges auf uns zu.“
Infizierte in Berlin: 19.782, Tote: 768.
Weihnachten im Lockdown: Die halbe Republik führt komplizierte Gespräche
Freitag. Ich habe kein Haus gebaut. „Sleeptown“ lässt mich nur bis acht Uhr morgens auf „bauen“ drücken. Wenn ich die Taste zu spät drücke, erscheint eine Ruine. Die lasse ich von einem Bulldozer wegräumen. Nur weil ich zu spät aufwache, kann ja meine Stadt trotzdem schön sein. Ich habe in dieser Woche häufig mit meinen Eltern telefoniert, weil wir noch unschlüssig sind, was wir mit Weihnachten anstellen. Ich glaube, die halbe Republik führt diese Gespräche. Sachsen stellt auf Lockdown, aber theoretisch könnte ich wohl nach Dresden einreisen. Aber sollte ich?
Das Büro ist am Abend wie ausgestorben. In einer Schreibpause gehe ich über den Kudamm. Es ist ungewöhnlich viel los, Menschen mit dem oft erwähnten Glühwein in der Hand. Sie stehen Schlange vor Elektronik- und Mode-Geschäften. Ich habe in dieser Woche abends kaum mit Freunden telefoniert oder mich gar zu einem Spaziergang getroffen. Ein Freund lud zum Abendessen, und ich wusste nicht, ob ich das annehmen sollte. Ich schreibe noch am Abend ein paar Freunde an und vereinbare Treffen.
Infizierte in Berlin: 19.380, Tote: 790.
Sonnabend. Als erstes erreicht mich morgens eine Absage für ein geplantes Treffen. „Wir sind in Quarantäne“, heißt es aus dem zweiten Haushalt. Es könnte nur übertrieben sein, aber man halte sich an die Regeln. Ich gehe auf meinen Balkon und sehe auf der gegenüberliegenden Seite die Frau rauchen, die ich immer beim Rauchen gesehen habe. Ich fühle mich wie ein Verräter und schließe das Fenster. In meinem Adventskalender war eine Mozartkugel. Sie schmeckte fantastisch.
Infizierte in Berlin: 19.782, Tote: 823.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 13. 12. 2020.