Corona-Tagebuch: Teil 6

Sören Kittel, auf seinem Balkon

Montag. Ich habe einen Krieg gewonnen. Mit solch martialischen Metaphern ist man ja heute schnell dabei in diesen „Zeiten der Ansteckung“ (Paolo Giordano), wenn die Polizei langsam die Straßen entlangfährt und ab und an ein Hubschrauber am Fenster vorbeiknattert, um zu sehen, ob wir auch alle zu Hause bleiben. In München, so schrieb ein Freund, benutzen die Behörden sogar Drohnen. Sie schweben plötzlich über einer Menschenmenge und fordern die Gruppe per Lautsprecher auf, „sich unverzüglich nach Hause zu begeben“.

Aber der Krieg, den ich gewonnen habe, ist leider ein anderer. Er ist mir auch etwas peinlich: Irgendwann vor zwei, drei Wochen tauchte so eine kleine Lebensmittelmotte auf. Ich konnte mir nicht vorstellen, wo die herkommt. Aber die Biester sind so langsam, dass mein kindlicher Jagdreflex angefacht wurde und ich sie schnell neutralisieren konnte. Das Hände-Waschen danach habe ich nicht vergessen. Doch es wurden natürlich mehr. Ich kaufte ohne Anstehen bei der Drogerie zwei Fallen, legte sie in die Ecken und vergaß das Problem. Dann plötzlich waren es drei am Tag, dann fünf. Die Falle war voller kleiner Motten. Ich öffnete jede Müsli-Packung… und fand Leben. Beim Gang zum Mülleimer durchfuhr mich so ein Ekel-Schauder, den ich sonst nur kenne, wenn ich eine Ratte auf der Straße sehe.

Abends telefoniere ich mit einem alten Freund, der eigentlich Filme dreht. Er sagt, er könne nicht an seinem Drehbuch weiterarbeiten. Darin ging es unter anderem um eine Frau, die eine Reise von Wien über Budapest nach Berlin macht. „Ich muss warten, wie sich das entwickelt“, sagt er. „Das ist doch sonst ein Film aus einer Zeit, die mit unserem Leben nichts mehr zu tun hat.“ Ich halte dagegen, dass wir doch weiterhin nach Wien und Budapest reisen werden können. Wenn das alles vorbei ist.

Infizierte in Berlin: 3862. Tote: 28.

Dienstag. Als ich mir morgens ein Frühstücksei mit Tomaten brate, schneide ich mir dabei tief in den Daumen. Ich schreie laut auf und fluche laut. Ich hatte aufgehört, mir Gedanken zu machen, ob das die Nachbarn hören. Das geht offenbar auch anderen so. Über mir springt jemand mit einem Springseil zu schlechtem Dancehall-Techno. Meine Lampe wackelt.

Mittags muss ich für ein Interview nach Kreuzberg. Das heißt: Ich will. Es ist schließlich eine der wenigen Gelegenheiten, mal rauszukommen. Wir laufen vom Kotti zur Admiralsbrücke, und ich wollte schon vorschlagen, dass wir uns dort an die Seite setzen, aber mein Interviewpartner lehnt ab: „Wenn wir damit anfangen, kommen andere und tun das auch.“ Also setzen wir uns einfach an eine Hauswand.

Von dort bekommen wir mit, wie ein Polizeiwagen über die Brücke fährt und tatsächlich per Megafon die Menschen auffordert, die Brücke zu verlassen. Ein Kreuzberger in Muskel-T-Shirt baut sich vor dem Wagen auf und schreit die Beamten an. Ich verstehe nur „freies Land“. Und dann passiert etwas, womit ich nicht gerechnet habe. Alle Beteiligten verlassen die Brücke, ein Polizist steigt aus dem Auto und unterhält sich mit dem Mann. Niemand schreit, niemand gestikuliert wild. Es wird geredet, argumentiert. Am Ende bleibt die Brücke leer. Zumindest für zehn Minuten.

Abends treffe ich einen Freund zu einem Spaziergang über die menschenleere Museumsinsel. Wir laufen mit Späti-Bier bei Angela Merkels Wohnung vorbei, im dritten Stock brennt Licht. Wir reden über die drei Phasen des Quarantäne-Kollers, die wir abwechselnd durchlaufen (Angst, Aktionismus, Langeweile) – und wir sammeln Bücher ein. In Mitte stehen vor vielen Hauseingängen Kisten mit ausrangierten Büchern. Ich nehme „Liebediener“ mit, ein Büchlein von 2001, geschrieben von Julia Franck, die Jahre später den Deutschen Buchpreis gewann. „Ein lustvoller Roman um Liebe, Tod und Leidenschaft in unserer Zeit.“ Auf Seite 112 ist ein Blatt eines Baumes gepresst.

Infizierte in Berlin: 4038. Tote: 32.

Mittwoch. Morgens stehe ich wie fast jeden Tag auf dem Balkon und lese dort meine Zeitung. Normalerweise sitzen in der Straße immer noch andere auf dem Balkon. Oder es joggt jemand vorbei. An diesem Tag sehe ich gar niemanden, zehn Minuten lang. Wo sind die nur alle?

Meine Eltern rufen an und sagen, dass sie ein Paket für Ostern geschickt haben. Wir reden auch über das neue Video, das die spontane Kreativ-Agentur der Kinder meines Bruders gedreht hat. Sie spielen das Märchen „Dornrüdchen“, in der Hauptrolle mein „Prinz Rudi“, der nicht einschlafen kann. Ein zweijähriger Ritter kommt dann vorbei und bringt alles durcheinander. Wahnsinnig niedlich.

Abends telefoniere ich mit einem Freund, der normalerweise stundenlang Bücher und Filme empfiehlt. Seinetwegen lese ich gerade die Kurzgeschichten der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro. Seit einiger Zeit antwortet er auf die Frage, wie es ihm geht, mit: „Ach, geht so, meine Aktien sind gefallen.“ Er hat wegen der Krise angefangen, sich mit der Börse zu beschäftigen. Eigentlich eine gute Idee, aber unsere Telefonate sind seitdem kürzer geworden.

Vor dem Einschlafen sehe ich, dass ein Leser mir geschrieben hat. Er habe einen Fehler entdeckt in der letzten Ausgabe meines Tagebuchs. Da schrieb ich, dass die Zahlen weiterhin steigen würden. Sie würden ja sinken! Ich schreibe zurück, dass es wohl ein Missverständnis sei, zwar sinke die Anstiegsrate, aber die Zahlen steigen trotzdem. Jeden Tag sterben Menschen.

Infizierte in Berlin: 4212. Tote: 37.

Donnerstag. Das Paket meiner Eltern ist noch immer nicht angekommen. Dafür haben sie die Nachricht erhalten, dass es „beim Nachbarn“ abgegeben wurde. In meinem Briefkasten ist kein Zettel, welcher Nachbar denn gemeint sei, also gehe ich einmal komplett durch das Vorderhaus. „Entschuldigung, haben Sie ein Paket für mich?“ Ich bin erstaunt, wie viele Hausbewohner tagsüber nicht zu Hause sind. Hinter einer Tür höre ich deutlich Stimmen. Aber trotz dreimaligem Klingeln macht niemand auf.

Ich will mir erst merken, welche Türen ich später noch einmal probieren muss, und mache ein Foto vom Klingelschild. Aber dann überlege ich, das sei dann doch etwas „Corona-Polizei“-mäßig. Hinter der letztmöglichen Tür, Hinterhaus links, fünfter Stock, liegt mein grünes Osterpaket. Den Nachbarn hatte ich noch nie gesehen. Drin sind Tee und M&Ms, die ja streng genommen wie bunte Eier aussehen. Aber vor allem: Nicht diese komischen „Osternester“ aus buntem Zucker, die eigentlich niemand mag.

Am Nachmittag nehme ich zum ersten Mal an einer Fernseh-Show als Digital-Publikum teil. Die neue ZDFneo-Sendung „Homies“, bei der über Internet zwei Comedians miteinander streiten. Ich bin einer von 83 Menschen, die live per „Zoom“ zugeschaltet sind. Wir sind alle auf „lautlos“ gestellt, leider können wir nicht miteinander chatten. Winken ist das neue Klatschen.

Die Show ist sehr zeitgemäß, sie kommentieren Corona-Nachrichten aus aller Welt und zwischendurch beleidigen sie einander als „Kinderverprügler“ oder „GEZ-Hure“. Weil in Sachsen Quarantäne-Brechern sogar eine Gefängnisstrafe droht, sagt einer: „Wie egal ist Gefängnisstrafe eigentlich, wir tauschen einen Raum, den wir nicht verlassen dürfen, mit einem anderen.“ Die schlaue Samira El Ouassil spricht über Bolsonaro, und ein zugekokster Banker springt aus dem Fenster. Als einer der Moderatoren einer Seenotretterin vorwirft, doch sicher früher „Ausländerheime angezündet“ zu haben, sagen sie: „Das schneiden wir raus, ja, das war zu krass.“ Sie werden viel schneiden müssen, die Aufzeichnung dauert eine Stunde, die fertige Show am Dienstag gerade die Hälfte.

Infizierte in Berlin: 4357. Tote: 42.

Freitag. Mich erreicht morgens eine E-Mail der Firma, bei der ich drei Gesichtsmasken bestellt hatte. Sie duzen mich: „Du fragst Dich sicherlich: Wo ist mein Paket?“ In der Tat ist der angekündigte Liefertermin schon seit mehr als einer Woche abgelaufen. Aber sie schreiben etwas von „minimierten Infektionsherden“ und „Extra-Schichten“. Wenn alles gut gehe, habe ich meine Masken am Dienstag kommender Woche. Ich denke: Wenn nicht, frage ich mal im Hinterhaus, fünfter Stock.

Gegen Mittag skype ich wieder mit Christian Y. Schmidt. Zunächst zeigt er mir die FFP-2-Masken, die er noch übrig hat. Einige sind aus Polen, andere aus China. „Der Unterschied liegt eigentlich nur in der Bezeichnung“, sagt er, „aber nur die aus Polen sind auch in Deutschland zugelassen.“

Dann reden wir über die Diskussion der vergangenen Tage, die Maßnahmen zurückzufahren. „Interessant finde ich, dass es nicht nur konservative Kommentatoren sind, die eine Rücknahme der Maßnahmen fordern“, sagt Schmidt. Auch die eher linke Juli Zeh werfe den Politikern Rückgratlosigkeit und Kopflosigkeit vor. Damit habe er nicht gerechnet, denn eigentlich sei es doch ein Ziel gerade der Linken, die Schwachen, Kranken und Alten zu schützen. „Und schließlich sind es die ergriffenen Maßnahmen, die dazu geführt haben, dass Deutschland in dieser Krise noch ziemlich gut dasteht.“

Er selbst habe die Maßnahmen in China miterlebt, und die waren um einiges schärfer. „In Wuhan durften die Menschen elf Wochen überhaupt nicht auf die Straße gehen“, sagt er, „und in Peking wurde bereits alles geschlossen, als es noch weniger als hundert Infizierte gab.“ Schmidt halte eine frühzeitige Rücknahme der Maßnahmen für ein gefährliches Spiel, das außerdem nur darauf gründet, dass unsere Zahlen im Vergleich zu anderen europäischen Staaten so gering sind. „Aber auch in Deutschland starben an einem Tag in dieser Woche über hundert Menschen mehr als in Südkorea insgesamt während der ganzen Krise.“ Dabei habe es dort viel früher angefangen. Doch auch ihm sei aufgefallen, dass die Dauer der Maßnahmen einen Effekt auf ihn habe. Er sei etwas nachlässig geworden. „Ich wasche mir jedenfalls nicht mehr so oft die Hände wie vor drei Wochen“, sagt er, „und ich war neulich in einer Buchhandlung ohne Mundschutz.“

Am Nachmittag laufe ich durch den Mauerpark, überall sitzen Menschen, aber im Abstand, nur weiter hinten grillt eine Familie. Das heißt die Frauen grillen, die Männer sitzen im Abstand und rauchen. Als im Hintergrund ein Polizeiauto zu sehen ist, stehen die Männer auf und gehen weg. Die Polizisten kommen zu sechst zu den Frauen und reden. Es wird wild gestikuliert, und eine der Frauen zeigt auf ihr Mobiltelefon, wo sie offenbar die Grillerlaubnis gefunden haben. Als ich auf dem Rückweg bin, sind sie nicht mehr da.

Abends schaue ich mit zwei Freunden „RuPauls Drag Race“, eine Show auf Netflix, bei der Männer in Frauenkleidern gegeneinander antreten. Vor der Krise haben wir uns regelmäßig dafür getroffen und das Geschehen kommentiert. Jetzt ist der Dritte live per Skype zugeschaltet. Wir zählen „drei, zwei, eins“ und drücken gleichzeitig die Play-Taste. Für Kenner: Wir schauten die Staffel, bei der Cher sich wundert, warum sie überhaupt eingeladen wurde. „Dafür hab’ ich keinen Oscar gewonnen!“ Zitat des Abends: „Emotionen sind etwas für hässliche Leute.“

Infizierte in Berlin: 4446. Tote: 46.

Sonnabend. Endlich bekomme ich positive Nachrichten über den Freund, der noch immer auf der Intensivstation liegt. Es heißt, die Entzündung der Lunge sei zurückgegangen. Er kämpft weiter gegen das Virus und ist noch nicht bei Bewusstsein. Seit neun Tagen weiß ich jetzt, dass es ernst ist. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht an ihn gedacht habe.

Gegen Mittag sehe ich noch einmal eine kleine Motte. Ich öffne das Fenster. Sie fliegt Richtung Vogelgezwitscher.

Infizierte in Berlin: 4553, Tote: 50.

Erschienen am 12. 4. 2020 in der Berliner Morgenpost.