Hans-Dietrich Genscher, Porträt

Hans-Dietrich Genscher beugt sich in einem Sessel im Hotel „Adlon“ nach vorn und malt mit der Spitze des Zeigefingers einen kleinen Kreis auf seine Stirn. „Kopfschuss“, sagt er. „Mitten in die Stirn haben sie ihn getroffen.“ Der Mann neben ihm sei in sich zusammengesunken, als der Schuss fiel. Der Schütze hatte verborgen auf einem Balkon gestanden.

Der Tote war ein Kamerad aus der Kompanie, in die Genscher im Jahr 1944 als 17-Jähriger eingezogen wurde. Er selbst hatte zum Zeitpunkt des Schusses einen Stahlhelm auf, der andere nicht. Genscher sagt, dass ihn der Helm gerettet habe. „Ohne Helm hätte er möglicherweise auf mich gezielt, dann würde ich heute hier nicht sitzen.“

Genscher erzählt an diesem Nachmittag sowohl vom Krieg als auch vom Tod, und das nicht nur einmal. Er wird später sagen, dass sich ein Gespräch verändert, wenn man den Tod erwähnt, und dass es einen Menschen für immer verändert, wenn man das erlebt hat, was er erlebt hat.

Er wird nichts überdramatisieren, aber es wird klar werden, dass Hans-Dietrich Genscher auch Glück hatte. Er hat nicht nur den Krieg überstanden, sondern auch Lungentuberkulose und einen „Vernichtungsschmerz“, alles in anderen Jahrzehnten, aber Zeitsprünge macht er an diesem Nachmittag viele.

Den ersten gleich zu Beginn des Spaziergangs. Kurz nach der Begrüßung im Foyer des „Adlon“ läuft Hans-Dietrich Genscher für das Foto ans Brandenburger Tor. Es heißt, er laufe nicht mehr so viel. Dafür aber macht er sehr schnelle Schritte, als er das Hotel verlässt. Er ist alt geworden, ja, aber so forsch, wie er jeden Meter nimmt, könnte er auch einen Staatsbesuch absolvieren.

Das Einzige: Er wirkt missgelaunt, hat offenbar keine Lust für das Foto zu posieren. Hände erst „so“ halten, dann „so“, hören, wie Fotografen seine Aufmerksamkeit wollen: „Herr Innenminister!“ (von 1969 bis 1974), „Herr Außenminister!“ (von 1974 bis 1992) oder einfach: „Herr Genscher!!!“.

Fotograf Martin Lengemann bittet Genscher leise, sich ein bisschen zu drehen, der aber grummelt. Fünf Mädchen in seinem Rücken haben derweil viel Spaß, sie springen alle gleichzeitig vor dem Brandenburger Tor für ein Foto in die Höhe. Wenn Genscher sich noch etwas weiter drehen würde, könnte er sie sehen.

Eines von ihnen trägt einen Mantel in derselben Farbe wie Genschers Schal und Pullunder. FDP-Gelb. Genscher-Gelb. Legenden-Gelb. Dann reicht es ihm. Im Abstand von etwa acht Sekunden sagt er:

„Sie haben noch drei Minuten.“

„Jetzt noch zwei Minuten.“

„Noch eine Minute.“

„Eine Minute Zugabe.“

„So“, sagt er und geht. „Machen Sie”s gut.“

Der kurze Spaziergang ist zu Ende. Wir laufen schnell zum „Adlon“ zurück, in dem er immer übernachtet, wenn er in Berlin ist, mindestens ein oder zwei Nächte pro Woche. Hier hat er Besprechungen mit Politikern, Interviews mit Journalisten, Treffen mit Freunden. Das Hotel gefalle ihm, die zentrale Lage, die schweren Teppiche, vor allem die Architektur. „Sie haben es so aufgebaut, wie es war.“

Da erwähnt er indirekt zum ersten Mal den Krieg, in diesem Fall das 1945 ausgebrannte Hotel. Genau wie dieses Gebäude oder das Brandenburger Tor oder der Potsdamer Platz ist auch Hans-Dietrich Genscher ein Zeitzeuge. Der einzige lebendige. Kein Wunder, dass er sich an diesem Ort wohlfühlt.

Es kann auch daran liegen, dass er längst kein normaler Hotelgast mehr ist. Die Rezeption muss nicht nachschlagen, unter welcher Nummer sie ihn erreichen kann, der Mann an der Tür sagt „Guten Tag, Herr Genscher“ so, als sei es das dritte Mal in dieser Woche, und die Frau im Lift weiß, dass sie nicht erklären muss, wie er diese Zimmerschlüsselkarte an den Sensor halten muss.

Doch es gibt noch andere Gäste, solche, die täglich wechseln. Im Fahrstuhl trifft Genscher auf eine Frau mittleren Alters, die ganz aufgeregt und etwas zu laut sagt: „Sie sind der Herr Genscher!“ Er beginnt ein Gespräch, höflicher Small Talk.

Erster Stock. Er: „Sie kommen aus Süddeutschland, oder?“ Sie: „Aus Göppingen, ja, aber ich wohne jetzt in Hof.“

Zweiter Stock. Er: „Aus Göppingen!“ Kurze Pause. Dann sie: „Ich würde Ihre Partei so gern wählen, aber Sie müssen sie auffrischen!“ Er: „Ja, Sie müssen dabei helfen!“

Dritter Stock. Sie: „Wir müssen was tun! Sonst haben wir Pech!“ Er: „Ja, ich muss jetzt hier raus.“

Solche Situationen passieren ihm oft, sagt er, als er sein Zimmer betritt, aber diese Frau habe ihm gefallen. Positiv sei ihre Einstellung gewesen. Schließlich habe es die FDP nie leicht, sei nie eine Mehrheitspartei gewesen. Doch ohne sie wären Entscheidungen wie die Westintegration oder die Ostpolitik nicht zustande gekommen.

Leicht sei es auch für ihn damals nicht gewesen, die Koalition mit Kanzler Helmut Schmidt zu beenden. Die FDP wollte mehr von ihren wirtschaftspolitischen Vorhaben durchsetzen, und das ging mit der CDU unter Helmut Kohl leichter als mit Helmut Schmidt, der in einigen Fragen die SPD nicht hinter sich hatte.

Zehn Minuten mit Hans-Dietrich Genscher kommen einem Galopp durch die deutsche Geschichte gleich. Er spricht gern über den Liberalismus, den Begriff der Freiheit, das „Sich-nicht-verbiegen-Lassen“. Aber er kann dieses Reden über abstrakte Begriffe mit Geschichten füllen.

Er trat der FDP vor 50 Jahren bei, saß 33 Jahre lang für sie im Bundestag, 23 Jahre im Bundeskabinett. Er war Teil der Bonner Republik, einer anderen Politikergeneration mit Kurt Schumacher, Konrad Adenauer oder Theodor Heuss. Eine Zeit, in der Politiker nicht über 25.000-Euro-Vortragshonorare, Kanzlergehalt oder Promotionsplagiate diskutierten. Er sagt diplomatisch: „Jede Zeit hat ihre anderen Typen.“

Derzeit tritt er häufig mit Christian Lindner auf, einem Politiker, der 50 Jahre jünger ist als er und mit dem Genscher jetzt ein Buch schreiben will. Auf seinen Einfluss angesprochen, sagt Genscher: „Ich weiß nicht, wie wichtig ich heute für die Partei bin, aber ich weiß, dass die Partei für mich wichtig ist.“

Derzeit liegt die FDP mit vier bis fünf Prozent gleichauf mit den Piraten, doch er sagt, dass man in Nordrhein-Westfalen gesehen habe, dass aus zwei Prozent in kurzer Zeit acht Prozent werden können, wenn die Menschen – so wie die Frau im Fahrstuhl – sich für die Idee des Liberalismus begeistern.

An dieser Stelle holt er wieder weit aus, weiter, als es Christian Lindner, Philipp Rösler oder Guido Westerwelle jemals könnten. Die Idee sei ihm zum ersten Mal am 7. Mai 1945 gekommen, dem letzten Kriegstag.

Er hatte den Tod eines Kameraden direkt neben sich erlebt, war Soldat der Armee „Wenck“, jener 80.000 Mann, die sich von der sowjetischen Umklammerung befreiten und bei Tangermünde an die Elbe kamen. Ihr Ziel war nicht, den Krieg zu gewinnen – daran glaubte niemand. Sie wollten in amerikanische Gefangenschaft, alle hatten Angst vor den Sowjets, zu Recht, wie sich zeigte.

Damals konnten sie den Fluss nur auf Holzstegen überqueren. „Neben mir ging einer, mit dem ich von Anfang an auf einer Stube war.“ Der Mann habe zu ihm gesagt: „Was ist los, du sinnierst so?“ Genscher antwortete: „Ich habe eben zwei Entscheidungen getroffen. Die erste: Ich haue hier so schnell wie möglich ab. Die zweite: Ich will nur noch machen, was ich will.“

Hans-Dietrich Genscher lacht auf, als er daran zurückdenkt. Als ob er sich noch einmal freut, dass er nicht erschossen oder in Gefangenschaft gefoltert wurde, jetzt hier sitzen kann. Der Krieg war vorbei, und kurz darauf hörte er auf einer Versammlung den für ihn inzwischen berühmten Ausspruch: „Der Liberalismus ist die umfassendste Alternative zu jeder Form der Unfreiheit.“

In diesem Moment habe er gewusst: Das ist mein Verein. Er trat am gleichen Tag den Liberaldemokraten bei. „Demnächst ist das…“, er überlegt, schaut nach oben, winkt ab, „…na ja, unendlich viele Jahre her.“

Es ist leicht, mit Hans-Dietrich Genscher über Geschichte und Weltpolitik zu reden, fragt man ihn aber nach Freunden und Familie, schaut er, als ob sich das nicht gehöre. Dann erzählt er doch von seinem ältesten Freund, einem Hallenser, mit dem er nicht nur Kriegserinnerungen teilte, sondern: Kindheit, Jugend, Krieg, Alter. Vor zwei Jahren starb er. „Das war der seltene Fall“, sagt er, der Überlebende, „dass ich am Grabe gesprochen habe.“

Er sei immer sparsam mit dem Wort „Freund“ gewesen, aber für Roland Dumas, Frankreichs Außenminister in den 80er- und frühen 90er-Jahren, habe er ihn verwendet. Dabei hatte Dumas zunächst das Amt abgelehnt. Er wollte nichts mit den Deutschen zu tun haben, sein Vater war von der Gestapo ermordet worden.

Wenn man Genscher fragt, wie die beiden trotzdem Freundschaft schlossen, sagt er etwas, das nur ehemalige Außenminister so formulieren können: „Sie können sich vorstellen, wie das ist, da ist so ein langweiliges Abendessen in einem großen, hellen Raum, und man redet über Asien und die USA und zu später Stunde kommt plötzlich die Frage auf: Wo warst du eigentlich am letzten Tag des Krieges?“

Die Frage hat er heute schon beantwortet. Es muss so ähnlich wie in diesem Raum abgelaufen sein. So entstand damals die Basis für eine Freundschaft – und auf lange Sicht vielleicht eine Grundlage für Europa.

Eben jener Roland Dumas war auch im Jahr 1989 Außenminister Frankreichs, ein Jahr, das Genscher beinahe nicht überlebt hätte. Er saß im Juli 1989 beim Friseur, wollte danach in den Urlaub fahren. „Plötzlich Ende, Aus“, sagt er. „Ich hatte einen Vernichtungsschmerz im Unterkiefer.“

Von solch einem Schmerz hatte er kurz zuvor in einem Flyer der Herzstiftung gelesen, den seine Frau ihm gezeigt hatte. Nur dadurch habe er gewusst, dass sich ein Infarkt ankündigte. Zum Friseur, der ihn trotzdem nicht gehen lassen wollte, sagte er: „Schneiden Sie hinten ein bisschen gerade, ich muss ins Krankenhaus.“

Wenige Wochen später kommt es zu einer Szene, die noch heute 100.000-fach auf YouTube angeschaut wird: Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft, nicht einmal ausreden kann er, weil die Menschen so jubeln.

Er sagt, er habe nie geweint bei öffentlichen Auftritten, aber wenn, dann wäre es dieser Moment gewesen. „Doch dafür war die Anspannung viel zu groß.“ Nun sitzt er im „Adlon“ und wiederholt den Satz von damals: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“

Weiter spricht er nicht. Selbst in seiner Erinnerung ist dieser Satz abgebrochen. Außerdem klingelt das kleine Telefon auf dem Tisch. Er bittet um Rückruf. Fünf Minuten, sagt er. Wenn das Genscher-Minuten sind, werden es nur Sekunden sein.

Bald auf Twitter

Für einen Augenblick geht es nicht um schwere Momente vor langer Zeit, sondern um die Gegenwart. US-Wahl? „Ich war klar für Obama, Bush junior hat Amerika durch seine Politik so verheerend geschadet.“ Angela Merkel? „Ich kenne sie noch vom Kabinettstisch, sie ist sehr originär und sich selbst treu.“ Twitter? „Das Phänomen nehme ich wahr, aber ich nutze es noch nicht, werde das aber ändern.“

Die Zeit ist eigentlich abgelaufen, aber dann erzählt er noch eine letzte Geschichte, es ist die mit dem größten Zeitsprung, fast 80 Jahre zurück. Es ist nur eine kleine Anekdote, aber sie handelt wieder von einer freien Entscheidung, und an ihrem Ende steht die Vorstellung, dass ohne diesen Moment für ihn und für Deutschland vielleicht vieles anders gekommen wäre.

Es war an einem Adventssonntag 1936, an dem seine Eltern spazieren gingen, wie immer am Sonntag. „Ich hatte mir überlegt“, sagt er und klingt selbst dabei fast staatstragend, „es wäre an der Zeit für meine erste Zigarette.“ Er hatte sich eine Packung Lloyd gekauft, zehn Pfennig für vier Zigaretten. Der neunjährige Genscher setzte sich in den Lehnstuhl des Vaters.

Genscher lehnt sich jetzt genauso im Hotel in seinem Sessel zurück. Plötzlich kam der Vater herein – er hatte etwas vergessen – und sah seinen Sohn dort. Genscher sprang hoch, bekam eine Ohrfeige, die erste und einzige. Schon am Abend war das vergessen, aber der Vater sagte, er wolle das nie wieder sehen. Diese Szene habe sich bei Hans-Dietrich Genscher eingebrannt. „Dieser Blick…“ Kurz darauf wurde der Vater ins Krankenhaus eingeliefert, er starb im Januar des darauffolgenden Jahres an Blutvergiftung.

Hans-Dietrich Genscher habe nie wieder in seinem Leben eine Zigarette geraucht. „Bei den Krankheiten, die ich hatte – wäre ich Raucher, säße ich vielleicht jetzt nicht hier.“

Tino Sehgal, Porträt

Am Anfang und am Ende steht eine Frage, über die ich lange nachdenken muss. Der Anfang liegt ein halbes Jahr zurück: Ich sitze in einer komplett dunklen Halle auf dem Fußboden. Um mich herum sind 30 fremde Menschen. Langsam gewöhnen sich die Augen daran. Ich kann die Zuhörer von den Darstellern kaum unterscheiden. Der einzige Unterschied: Die Darsteller sprechen miteinander. Eine Frau überlegt laut, ob sie ihr Mobiltelefon verkaufen solle, was es wert sei. Dann ruft ein Mann die Frage in die Dunkelheit: “Definieren wir uns mehr über die Art, wie wir unser Geld verdienen, oder darüber, wie wir es ausgeben?”

Ich erzähle dem Künstler Tino Sehgal gleich zu Beginn unseres Spaziergangs von diesem Erlebnis auf der Documenta in Kassel im Sommer 2012. Der dunkle Raum war sein Kunstwerk “This Variation”. Er gilt schon mit seinen 36 Jahren als einer der bedeutendsten Künstler unserer Zeit, wird an Museen in Asien, Amerika und ganz Europa eingeladen. In Tokio hat er Kassierer eines Museums die Schlagzeilen einer Tageszeitung laut vorlesen lassen. In New York hat er Kinder mit tiefer Zombiestimme Besucher einer Ausstellung fragen lassen: “Was denken Sie, worum es hier geht?” Und in Venedig verwickelten Museumswärter die Besucher in ein Gespräch über Marktwirtschaft. Wer sich von ihnen darauf einließ, bekam die Hälfte des Eintrittsgeldes zurück.

Als ich ihn an der Brunnenstraße in Mitte auf den dunklen Raum in Kassel anspreche, ist es sehr hell um uns herum, und trotz dieser Großstadtlautstärke ist es für Sehgal nicht ungewöhnlich, sofort eine akademische Diskussion über den Sinn vom Geldverdienen zu führen. Er sagt: “Das Einkommen, das die Menschen aufgrund der Produktion von Dingen von geringer Bedeutung generieren, ist von großer Bedeutung.” Der Sinn dieses Satzes sollte in den Aussagen der Darsteller vorkommen. Sie sollten Variationen finden. Sehgal sagt, wenn man diesen Satz verstanden habe, könne man im Grunde über alles reden.

Was für ein Satz zu Beginn des Spaziergangs. Er schiebt sein Fahrrad langsam die Straße entlang. Hinten auf dem Kindersitz schläft sein Sohn fast ein. “Wir müssen doch in den Kindergarten”, sagt er mehr zu dem Kind als zu mir. Es müsse jetzt noch wach bleiben, bitte. Sehgal versucht seine Haare zu bändigen, sie irgendwie dem Wind zu entreißen und auf seinen Kopf zu legen. Das ist so eine Handbewegung, die zu einem Künstler genauso wie zu einem Professor passen könnte. Studiert hat er Tanz und Volkswirtschaftslehre. Nach dem Studium hat er zunächst selbst getanzt. Doch wirklich bekannt wurde er erst vor rund zehn Jahren mit seinen “konstruierten Situationen” in Museen, so heißen seine Werke. Er mag auch das Wort Aufführung.

Tino Sehgal blickt auf seinen Sohn, drückt seine Professorenhaare an den Kopf. Ihm fällt ein, dass einer seiner Söhne ihn kürzlich gefragt habe: “Ist heute schon morgen?” Sehgal fand das interessant, der Umgang mit Zeit von Kindern, der doch für so viele als fast naturgegeben hingenommen wird. “Die Kategorien von Vergangenheit und Zukunft müssen wir als Menschen ja erst lernen.”

Ausgerechnet vor einem Uhrenladen auf der Brunnenstraße bleibt er stehen. Der Laden ist geschlossen, doch das Ticken der vielen Uhrwerke ist leise zu hören. “Den gibt es seit über 20 Jahren”, sagt Tino Sehgal. “Ich bringe meine kaputten Uhren hier immer her.” Wenn man dort hingehe, müsse man damit rechnen, lange zu warten. Nur bei geduldigen Kunden, die dann noch eine Uhr vorweisen können, die gut genug sei, notiere der Uhrmacher sich die Telefonnummer und sage: ,Ich rufe Sie an.’ Das könne aber drei Monate dauern. “Der Kunde geht hier nicht zu einem Dienstleister, es ist eher eine Audienz.” Der Mann habe sich eben nicht unserer Servicekultur verschrieben. Bevor wir weitergehen, sehen wir ein Schild an der Wand hinter dem Fenster. Dort steht: “Die Maschine wird ihn nie ersetzen.”

Er sagt nichts zu dem Spruch, aber er passt; Tino Sehgal hat eine zumindest skeptische Beziehung zu Maschinen. Er besitzt kein Mobiltelefon (“Ich hatte einfach nie den Impuls, mir eines zu kaufen”), mag keine Audioguides in Museen (“Ich rede doch lieber mit jemandem über die Kunst”) und besteigt kein Flugzeug (“Zum letzten Mal bin ich 1992 geflogen”). Auch seine Besucher müssen sich seinen Anti-Technik-Gesetzen unterwerfen. Jegliche Foto- oder Videoaufnahmen seiner Werke sind untersagt. Als die “Times” doch einmal ein Bild abdruckte, nannte er das eine “krasse Unfeinheit”. Er sagt, bisher sei er damit immer durchgekommen.

Wahrscheinlich haben ihm Reporter anderer Zeitungen wegen seiner Prinzipien und Gewohnheiten in ihren Texten “ein großes Ego” attestiert. Hinzu kommen die wehenden Haare und Augen, die einfach sehr wach in ihre Umgebung blicken. Doch dagegen spricht, dass er eher leise auftritt, einer ist, bei dem man schon genau hinhören muss, und der selbst auch Gesagtes sehr genau nimmt.

Doch wenn er schon den Faktor Zeit immer wieder in das Gespräch einbringt, dann macht er damit auch deutlich: Das hier ist nur eine Momentaufnahme. Er ist skeptisch Reportern gegenüber, die irgendwelche kurzen Beobachtungen zu wichtig nehmen. Er erzählt von dem Treffen mit einer Journalistin der Zeitschrift “The New Yorker”, die ihn für mehrere Tage begleitete. “Wenn die einen dann porträtieren”, sagt er, “dürfen die ja auch nicht nur Positives schreiben.” Das sei auch die Struktur eines Artikels, diese Gegenüberstellung von Kritik und Lob, das ende doch immer im Klischee. Überhaupt seien Künstler nur ein kleines Milieu in der Gesellschaft, genau wie die Medien. “Wir alle sind doch nur ein kleiner Moment in der Menschheitsgeschichte.”

Nein, ein großes Ego klingt anders. Wenn er nicht so technikfeindlich wäre, könnte man zu diesem Satz noch sagen: Es ist wie das Zurückzoomen bei dem Programm Google Earth. Plötzlich werden wir beide hier auf der Straße ganz klein, bis nur noch die Erdkugel zu sehen ist. Wer sind wir schon?

Dann endlich beantwortet Tino Sehgal die Frage aus seinem Raum in Kassel. Was ist wichtiger, Einkommen oder Konsum? Er sagt, dass es vielleicht bis in die 80er-Jahre hinein wichtiger war, Geld zu verdienen, um damit Freizeit und Konsum ermöglichen zu können. “Vielleicht ging es damals darum, sich mit bestimmten Produkten zu verwirklichen.” Heute sei es komplizierter, und viele identifizieren sich eher mit ihrer Arbeit. Er entscheidet sich also für das Einkommen, über das sich viele Menschen wohl heute definieren. Dann macht er das, was er am besten kann, er fragt zurück: “Wie ist das bei dir?” – “Wie lange machst du das schon, diese Berliner Spaziergänge?” – “Wen hast du schon alles getroffen?” Er wird auch ein bisschen frech: “Wie lang willst du das noch machen?”

Fast bin ich froh, als wir den Kindergarten erreichen. Er hängt die Jacke seines Sohnes zwischen all die anderen Jacken, hilft beim Schuhe ausziehen. Aus dem Spielzimmer, in den das Kind geht, dringen englische Worte.

Sehgal selbst spricht Deutsch mit seinen Kindern, obwohl er in London geboren wurde, als Sohn eines indischen IBM-Angestellten und einer Deutschen. Die Familie zog nach Düsseldorf und schließlich in den Vorort Böblingen bei Stuttgart. Dort war Sehgal umgeben von asphaltierten Straßen und Betonbauten, die er als Jugendlicher für sich entdeckte: Er fuhr viel Skateboard. Seit rund 17 Jahren wohnt er in Berlin, reist aber oft nach London.

Auf der Straße sagt er, dass es schade sei, dass er hier nicht mehr Skateboard fahren könne wegen des Kopfsteinpflasters. Und selbst wenn es eine Bahn gebe, wie das sogenannte Gipsdreieck ganz in der Nähe, sei daneben ein Kiesplatz mit kleinen Steinen. “So etwas denken sich Leute am Computer aus”, sagt er, “und irgendein Bürokrat segnet es ab.” Das Skateboard aber war für ihn mehr als nur Fortbewegungsmittel, es war eine Möglichkeit, sich einen Ort anders zu erschließen, als von Stadtplanern und Architekten vorgesehen. Doch weil er eben Tino Sehgal ist, sagt er es so, dass es auch auf seine Kunst in Museen passen könnte: “Es gibt die Macht desjenigen, die im Setzen von Strukturen liegt, und die Macht desjenigen, der sie benutzt, etwas damit anstellt.” Dieses Umwandeln von Kassierern in Künstler, von Kindern in Zombie-Museumsführer, das habe schon etwas damit zu tun. “Aber es ist tiefer, glaub ich.”

Dazu gehört beispielsweise auch, dass seine Kunstwerke nicht nach den Öffnungszeiten der Museen aufhören, wenn die Darsteller nach Hause gegangen sind. Sondern sie dehnen sich auch auf den Verkauf der Werke aus. Seine Bedingung, ein Werk von ihm zu erwerben, ist, dass es keine Dokumente geben darf. Alles wird mündlich verhandelt. Das Museum zahlt im Grunde mehrere Zehntausend Euro für ein Gespräch mit ihm, im Beisein eines Notars, der nichts notieren darf. Klar ist er damit ein Sonderling in einer Gesellschaft, die Unterschriften auf gestrichelten Linien will, um zu funktionieren.

Wieder bleiben wir vor einem Geschäft stehen. Dieses Mal ist es ein Laden, der “Schokoladen und Torten” heißt. Doch Tino Sehgal mag das Geschäft nicht nur wegen der feinen Pralinen, sondern weil er von dem Inhaber erzählen will. Der nämlich ist auch einer, der etwas Radikales getan hat. Er habe seinen Job bei einem großen Schweizer Lebensmittelhersteller aufgegeben und sich vor vier Jahren einen Traum erfüllt: ein kleines Geschäft in Berlin. Von ganz groß auf ganz klein. Verzicht gefällt Sehgal.

Kein Wunder, dass er mit solchen Lebensentscheidungen viel anfangen kann. Er sagt: “Ich produziere nicht so viel, und ich will auch nicht so viel produzieren.” Er selbst lebt bescheiden seit mehr als zehn Jahren in der gleichen Wohnung in Mitte. Zu Hause mag er nur wenige Objekte um sich haben, und seine Zeit verbringt er mit Freunden, seiner Familie und eben damit, Situationen in Museen zu konstruieren. Das Produzieren einer solchen Arbeit sei aufwendig, sagt er, könne mehr als vier Jahre dauern. Berlin spiele dabei auch für ihn eine Rolle, weil er sich Städte wie New York und London nicht leisten will. Ansonsten mag er hier die Überraschungen, wie jene neulich in dem Berliner Ortsteil Alt-Mariendorf, als auf einmal eine italienische Großfamilie in einer Halle im Industrieviertel Pasta Vongole verkaufte. “Das war wie eine andere Welt.”

Wir haben nun den Koppenplatz in Berlin-Mitte erreicht. Hier hat er oft gesessen und “This Variation” mit seinem Freund und Mentor, dem Choreografen Xavier Le Roy, besprochen. Er mag den Platz, auch weil er von hier aus das Kunstwerk des Kubaners Felix Gonzalez-Torres gut sehen kann, an einer Hauswand an der Linienstraße. Sehr groß steht dort Weiß auf Schwarz: “Es ist nur eine Frage der Zeit.” Gonzales-Torres wollte damit andeuten, dass Deutsche wieder auf Minderheiten aggressiv reagieren werden. Das Werk ist 20 Jahre alt, der Künstler an Aids gestorben. Von ihm hat Sehgal einmal eine Ausstellung in Frankfurt kuratiert.

Er mag Gonzalez-Torres und erzählt von einem weiteren Werk des Künstlers, einem Haufen Bonbons, der mitten im Museum aufgeschüttet wird. “Wenn jemand ein Bonbon will, kann er sich eines nehmen.” Auch das finde er interessant, dass der Zuschauer direkt aufgefordert ist, sich zu einem Kunstwerk nicht nur gedanklich zu positionieren, sondern eben auch in seiner Handlung. Nehmen oder liegen lassen? Oder einfach nur Kopfschütteln? Das ist eine Gemeinsamkeit zu “This Variation”, dem dunklen Raum in Kassel. Beide Werke erreichen Menschen aller Altersklassen und Herkünfte. Wenn es funktioniert, geht es in den Kopf und bleibt da eine Weile.

Am Ende des Spaziergangs schreibt Tino Sehgal ein Wort auf meinen Schreibblock, über das ich wieder nachdenken muss: der Gang zum Kindergarten und zum Koppenplatz, der Besuch beim Uhren- und beim Tortenladen, das Reden über Zeit und Einkommen, das ständige Haar-Bändigen. Normalerweise hinterlässt Tino Sehgal ja keine Spuren. Heute bleiben Fotos, zwei Stunden auf dem Diktiergerät und eben dieses Wort auf einem Zettel in seiner Schrift: “Aufführung”. Kaufen kann ich mir davon nichts. Aber warum sollte ich?

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 13.1.2013

Reinhard Mey, Porträt

Da gibt es diesen Sven Kaiser, ein ungefähr zehn Jahre alter Junge. Vielleicht heißt er anders und Reinhard Mey hat ihn nur so genannt, weil es sich auf „heiser“ reimt. Sven Kaiser also steht mit seinem Vater Hans-Peter in einer Schlange in der Friedrichstraße und wartet auf das Autogramm eines Comiczeichners. Die beiden wissen nicht, dass Reinhard Mey hinter ihnen steht, zuhört, zuschaut. Nach einer Weile wird der Vater ungeduldig, ist genervt. Dann sagt er: „Mir reicht’s, sieh zu, wie du allein nach Hause kommst.“ Reinhard Mey beobachtet, wie Sven dem Vater hinterherblickt, als müsse er gleich weinen. Als er dann bei seinem Star angekommen ist, fragt er nicht nach der Widmung „Für Sven“. Im Lied heißt es: „Sven sagt heiser: ,Für Hans-Peter Kaiser’“.

Reinhard Mey hat sein Lied „Sven“ vor rund zehn Jahren geschrieben, aber diese Szene könnte auch gestern passiert sein. Man kann es als eines von rund 500 Liedern von Reinhard Mey beim Internetportal Spotify hören, sich als MP3 herunterladen, bei YouTube als Video anschauen oder auf „www.reinhard-mey.de“ den Text lesen. Man kann auch eine CD oder Schallplatte hervorkramen, egal, wie man es hört, immer nur mit Gitarre und Stimme, man möchte es gern besser machen als Hans-Peter. Mehr wollen Meys Lieder vielleicht auch nicht. Nur anregen dazu, sich mehr Mühe zu geben im Alltag, den Eltern auch mal einen Brief zu schreiben und zu danken für die Kindheit, wenn sie schön war.

Als Reinhard Mey in Tegel vor seiner ehemaligen Grundschule ankommt, kann er sich noch an die Szene mit Sven erinnern. „Sie ist genauso passiert“, sagt er, „wie ich es im Lied erzähle.“ Das habe ihn berührt, wie der Vater die Gefühle des Sohnes verletzte, weil er gestresst war. Dann spricht er davon, wie wichtig dieses Alter sei und wie schön er es hatte, hier in diesem Backsteinbau, seiner alten Schule. Reinhard Mey weiß auch mit seinen 70 Jahren noch, wie er hier zum Unterricht gegangen ist, schon als Erstklässler mit der S-Bahn fahren durfte. Heute will er diesen Schulweg noch einmal rückwärts laufen, mit einem kleinen Umweg an den Tegeler See. Damals war er Sohn und Enkel, heute ist er Vater und Großvater.

Es ist nicht ungewöhnlich, auf solche nostalgischen Gedanken zu kommen, wenn man mit Reinhard Mey unterwegs ist. Man muss ihn eigentlich nur anschauen; wie er da steht mit dem grauem Mantel, einem Erbstück des Schwiegervaters, und dem roten Schal. Sofort kommen Gedanken an besonders schöne oder traurige Dinge, eben solche, aus denen Mey Lieder gemacht hat. Jeder Deutsche kann mindestens zwei oder drei sofort singen. Zum Beispiel das von einer gewissen Annabelle, die „so herrlich intellektuell“ sei. Oder das, in dem sich „hätte“ auf „Zigarette“ reimt und das seit mehr als 30 Jahren eine niederländische Radiosendung jeden Abend einleitet: „Gute Nacht, Freunde“. Die größte Berühmtheit hat Mey wohl erreicht, weil er der erste war, der ein Lied dichtete, in dem negative Worte so gesungen werden, dass sie ganz leicht klingen: „Alle Ängste alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann…“

Ein Flugzeug vom nahen Flughafen rauscht über Wolken vorbei, als wir Richtung Tegeler See loslaufen. Er erzählt von seiner Schulzeit, wie nahe ihm das alles noch sei, obwohl jetzt Ferien sind und diese Schule ohne Kinder etwas trostlos wirkt. Seine Klassenlehrerin hieß Frau Aust. Die Schüler haben sie immer nur „die Auster“ genannt. „Die war super nett“, sagt er und: „Damals war ich wirklich glücklich.“ Er weiß noch, wie er einmal zu dem Kunstlehrer, einem gewissen Herrn Adomeit, gesagt habe: „Herr Adomeit, ich habe heute keine Lust auf Unterricht.“ Der Lehrer habe dann gesagt: „Gut, dann singen wir doch jetzt was.“ Später, als er dann auf das Französische Gymnasium kam und der Leistungsdruck größer wurde, sei er lange nicht mehr gern zur Schule gegangen. „Das war der Horror, besonders am Anfang, als ich noch keine Freunde hatte.“

Doch letztlich half ihm genau dieses Gymnasium, auf das ihn seine Eltern schickten. Seine frühen Erfolge hatte er – nach ersten Erfahrungen auf Berliner Bühnen – auch in Frankreich. Dort heißen Liedermacher „Chansonniers“, das klingt nicht nur besser, sondern ihre Musik wird auch häufiger im Radio gespielt. Bis heute hat er sieben Alben auf Französisch aufgenommen, 26 auf Deutsch. Nach seiner endgültigen Rückkehr nach Berlin in den 70er-Jahren wurde er „der deutsche Jacques Brel“, auch wenn sein Genre es hier schwer hat. Seine Plattenfirma ließ ihn machen, einfach so. Doch es funktioniert bis heute, wenn Reinhard Mey pünktlich alle drei Jahre eine Tour durch 60 Städte macht, dann sind die Konzerte noch immer ausverkauft.

Nur wenige Meter neben der Schule zeigt er auf eine Kirche mit einer leuchtend rot angestrichenen Tür. Der Bau erinnert ihn wieder an seine Kindheit. „Hier hab ich einmal eine Schleppe getragen“, sagt er und es wirkt, als könne er die Szene für ein Drehbuch ganz genau nachstellen. Er stand dort, die Braut dort. Neben ihm lief ein Mädchen aus seiner Straße, die ihm beim Tragen der Schleppe half. Er war nur das eine Mal in dieser Kirche, für diese Hochzeit, sonst seien seine Eltern mit ihm in eine Schulzendorfer Gemeinde gegangen. Später sei er ausgetreten und zum Kirchenkritiker geworden. Als jetzt aber vor Kurzem der Papst gewählt wurde und die Tagesschau zehn Minuten darüber berichtete, habe er schon gedacht: „Leben wir in einem Gottesstaat?“ Nicht umsonst habe er einmal gedichtet: „Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm: Halt du sie dumm, ich halt sie arm!“

Es geht schnell bei Reinhard Mey, dass man auf Gegenstände oder Orte zeigt, die irgendwie zu einem Lied von ihm führen, kein Wunder bei über 500 Songs, ab Mai sind es noch 17 mehr. Wenn ein Spaziergänger mit seinem Hund entgegenkommt, könnte dazu dieses Lied laufen: „Es gibt Tage, da wünscht‘ ich, ich wär mein Hund“. Darin beneidet er das Haustier für seine Gleichmütigkeit. Als die Kälte ihm Tränen in die Augen treibt, denkt er an sein Lied „Das Taschentuch“, das auf seinem neuen Album sein wird. Darin geht auch darum, dass am Abend die Tränen der Kanzlerin „rinnen“, wie bei „Klein-Eisprinzessinen“. Wieder so ein Moment, in dem sich jemand unbeobachtet fühlt, wie Hans-Dieter Kaiser. Und als wir die Bäume am See betrachten, fällt einem das fast 30 Jahre alte Lied ein: „Wie ein Baum, den man fällt, eine Ähre im Feld, möcht’ ich im Stehen sterben.“

Ja, dieses Sterben, das war schon Thema auf fast allen Alben, sagt er. „Es geht eigentlich immer um Liebe, Schnaps und Tod bei meiner Musik.“ Auch sein neues Album hat ein Lied, das wie für eine Beerdigung geschrieben ist. „Aber ich singe nie auf Beerdigungen“, sagt Reinhard Mey. „Die Tatsache, dass dort jemand, der mir nahe steht, gerade gestorben ist, da wäre schon sprechen zu viel.“ Das neue Album wird „Dann mach’s gut“ heißen, wieder ein Abschied, aber Mey legt Wert darauf, dass es kein „Adieu“ sein wird. „Ich mache weiter, es gibt ja noch so viele Lieder, die ich schreiben will.“

Er erreicht das Wasser und geht wieder 60 Jahre zurück in seine Kindheit. Wir stehen zwischen dem halb zugefrorenen See und einer Minigolfanlage, in der die Stationen noch eingepackt sind. Ein übergroßer Schwan, ein Miniatur-Leuchtturm, alles wartet hier, dass der Frühling beginnt. Mey erzählt vom Haus seines Großvaters am Heegermühler Weg. Er zückt ein Smartphone und zeigt, wo das genau lag, zoomt so nah heran, dass es nicht mehr näher geht. „Das war das Paradies“, sagt er, „Dort haben wir immer Stachelbeeren und Johannisbeeren gepflückt.“ Doch auf dem Rückweg in den französischen Sektor, wo seine Eltern wohnten, sei es ihnen mehrfach passiert, dass die Volkspolizei ihren vollen Eimer beschlagnahmte.

Als wir zurück in Richtung S-Bahnhof Tegel laufen, erzählt er von der Mauer, die er von ihrem Bau bis zum Abriss der Mauerteile an der East Side Gallery vor ein paar Tagen immer begleitet hat. Er sang in den 80ern „Ich würde gern einmal in Dresden singen“ und verbrachte den Mauerfall dann zufälligerweise genau dort. Am 10. November 1989 sang er im Dresdener Kulturpalast das Lied mit den „Sorgen und Ängsten“ und der „grenzenlosen Freiheit“. Er hatte ein Kindermädchen im Ostteil der Stadt, die Eltern schickten nach 1961 immer Pakete, Mey hat sie als 50-jährige Frau wiedergesehen. Auch wegen solcher Geschichten ist er gegen den Teil-Abriss, der gerade in Friedrichshain passiert: „Es ist wie alles in Berlin, es geht daneben.“ Der Investor zeige mangelndes Fingerspitzengefühl. „Er wird doch nie glücklich mit dem Bau“, sagt er. „Ich sehe heute schon die Farbbeutel auf die Fassade fliegen.“

Gerade, als er sich in Rage reden will, denn er könne sich noch immer herrlich aufregen, kommt eine ältere Frau auf ihn zu. „Schön, dass ich Sie treffe, Herr Mey“, sagt sie. „Ich suche eines ihrer Lieder schon so lange, irgendetwas mit ‚Nacht‘.“ Er fragt verblüfft, ob sie „Schenk mir diese Nacht“ meine? Sie: „Genau das! Es ist ganz tolles Lied, wenn man den Hintergrund weiß…“ Mey fragt, ob sie schon im Internet gesucht habe? Sie sagt: „Ich bin 82 Jahre alt, ich bin doch nicht im Internet.“ Dann bittet er sie um ihre Adresse, er werde sich kümmern. Als sie geht, ruft er ihr hinterher: „Sie bauen mich auf!“

Als er weiterläuft, erzählt er, dass solche Begegnungen nicht häufig seien. Die Berliner seien ja eher zurückhaltend, aber er freue sich wirklich über so etwas. „Man ist ja doch immer mit seinen Zweifeln…“, er zögert, „auch … dass man sich klein… und man sich hässlich fühlt.“ Dagegen helfe nichts, nur solche Begegnungen. „Auch wenn es nicht lange dauert, bis das alte Grübeln zurückkommt.“

Seine Familie hat ihm in den vergangenen Jahren viel Anlass zum Grübeln gegeben. Max, sein zweiter Sohn, ist mit 27 Jahren im März 2009 in ein Wachkoma gefallen und bisher nicht wieder aufgewacht. Mey spricht nicht davon, aber er hat darüber Lieder gesungen, leise, mit der Gitarre. „Drachenblut“ ist eines davon, darin heißt es, er sei entschlossen, „ihn in die Welt zurückzulieben“. Umso wichtiger ist ihm jetzt der Kontakt zu seinen anderen beiden Kindern, die beide in der Berliner Umgebung wohnen. Seine Tochter Victoria-Luise eröffnet gerade ein eigenes Geschäft, und sein Sohn Frederik hat nach seiner Zimmermannslehre noch einen Pilotenschein gemacht, fliegt jetzt Luftfracht durch die Welt.

An der Berliner Straße zeigt er plötzlich nach oben. „Hier hat mein Schulfreund Detlef gewohnt“, sagt er, „hier habe ich häufig nach der Schule eine Stulle bekommen.“ Er zeigt auf den Zahnarzt, wo er als Kind gelitten hat, und auf den Spielwarenladen, den es damals schon gab. „Wenn ich beim Zahnarzt tapfer war, gab es dort eine Belohnung, zum Beispiel ein Spielzeugauto von Schuco. Wir gehen weiter in Richtung S-Bahnhof, der eigentlich nur wenige Meter hinter der Berliner Straße liegt. Er schaut die Treppen hinunter in den Gang, der zum Bahnsteig führt. Er geht nicht hinunter. Auch er will es mit der Nostalgie offenbar nicht zu weit treiben.

Auf dem Rückweg greift er zum Mobiltelefon, seine Frau hat ihm ein Foto geschickt mit einem Osterstrauß und einer Kaffeetasse. „Das ist wohl ein Hinweis“, sagt er, „dass ich kommen soll.“ Weil er gerade das Telefon in der Hand hält, will er noch zeigen, wo sein Sohn Frederik gerade ist. Dafür gibt es eine App, „Flightradar24“ heißt sie. Sie zeigt in Echtzeit alle Flugzeuge als kleine Symbole an. Er tippt auf eines. Flugnummer „BOX513“, Lahore–Leipzig. „Da ist er ja.“ Wenn er gelandet sei, schicke er immer eine SMS.

Eigentlich kann sich so etwas niemand ausdenken: Der Vater, der mit einem Flugzeug-Lied in die Musikgeschichte eines Landes eingeht. Und der Sohn, der mehrmals in der Woche Frachtflugzeuge durch die Welt steuert. Einmal hat er den Vater mitgenommen. Der konnte natürlich nicht widerstehen, hat ein Lied für sein neues Album daraus gemacht. Es ist sentimental, nostalgisch, aber „Sorgen und Ängste“ kommen nicht vor. Dafür ein Reim mit „und dann“. Es ist der Moment, wenn das Flugzeug landet, aber wenn man genau liest, geht es auch um Liebe, Schnaps und Tod: „Und wenn wir landen werden, heimgekehrt von unserer Reise / wirst du zu deinem kleinen Sohn fahren und dann / wird er dir um den Hals fallen und dich auf die selbe Weise / ausfragen wie du mich einst und alles fängt von vorne an.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 31.3.2013

Jochen Busse, Porträt

Jochen Busse hat sich gerade auf den Stromkasten neben die Straße gesetzt. Es ist ein bisschen eklig, weil der Kasten oben schmutzig ist und klebt, aber da will er jetzt durch. „Alles kein Problem.“ Auf dem Bild werden viele verschiedene Blautöne zu sehen sein: der Himmel, die leichten Stoffschuhe, die hellen Jeans, das luftige karierte Hemd. Alles macht gute Laune. Hinter ihm hupt ein Auto, damit der Wagen davor in der Schlange an der Ampel („Grün! Mann!“) weiterfährt. Jochen Busse merkt nicht, dass er auf diesem Stromkasten zum Verkehrshindernis wird.

Bis vor Kurzem sah man sein Gesicht in Berlin überall auf Plakaten. Er spielte im Theater am Kurfürstendamm den US-Präsidenten. Das Stück hieß „November“, und es ging um den Kampf um die Wiederwahl ins Weiße Haus und was das mit dem Leben eines Truthahns zu tun hat. Busse war also jeden Tag für zwei Stunden der mächtigste Mann der Welt. Aber jetzt genau in diesem Moment, auf dem Stromkasten, kurz bevor die Fotos gemacht werden, antwortet dieser Mann auf zwei eher unangenehme Fragen:

Wäre Ihr Vater stolz auf Sie gewesen?

„Nein, mein Vater fand, dieser Beruf sei kein Beruf. Des is’ ja alles nischt.“

Hat er Sie je im Fernsehen gesehen?

„Ja, da lag er schon krank im Bett. Meine Mutter hat ihm gesagt, dass ich im Fernsehen sei, als ein Mörder. Da hat er bitterlich geweint.“

Jochen Busse hat sich über eine Stunde warmgeredet, bis er zum Stromkasten kommt. Dabei erwartet man bei einem Spaziergang mit ihm eher leichte Themen. Schließlich ist er ein Komiker, hat mit Rudi Carrell in Sketchen gespielt, mit Dieter Hildebrandt bei der Münchner Lach- und Schießgesellschaft die 70er-, 80er- und 90er-Jahre kabarettistisch begleitet.

Er ist der Mann, der mit Mike Krüger bei „7 Tage, 7 Köpfe“ die acht Jahre Kanzlerschaft von Gerhard Schröder kommentierte. Rund sechs Millionen Menschen fanden das damals unterhaltsam, jede Woche. Er spielte in Filmen nicht nur Verbrecher, sondern auch Kommissare und Außerirdische. Noch heute ist er häufig in Talkshows eingeladen. Meist ist er dann der unterhaltsamste Gast in der Runde, hat zu allem eine Meinung: NSA-Affäre, Merkel oder chinesische Dissidenten.

Doch zu Beginn des Spaziergangs am Branitzer Platz will er von der Zeit bei „7 Tage“ erzählen, die Show, die ihn am bekanntesten machte. „Natürlich habe ich ,7 Tage‘ viel zu verdanken“, sagt er. „Aber es war auch hart, weil meine Aufgabe doch eher das Anklingeln der Straßenbahnhaltestelle war.“ Er meint, dass er meist nur das Thema einer Gesprächsrunde ankündigte und damit die Grundlage für die Pointen der anderen sechs Komiker schuf. Aus dieser Rolle kam er bis zur letzten Sendung 2005 nicht heraus. Dabei hatte er so hoch gesteckte Ziele: „Ich wollte immer die ultimative Komik erreichen, auch wenn das eigentlich unmöglich ist.“ Vielleicht arbeitet er deshalb noch mit 72 Jahren an diesem Ziel, das so viel abverlangt – unter anderem dieses Herumlaufen mit fremden Menschen durch eine vertraute Gegend.

Er sagt, er sei seiner Frau Constanze zuliebe nach Westend gezogen und fühle sich hier wohl. Er kenne hier inzwischen die Nachbarn, die Frau vom Bio-Supermarkt und weiß noch, wo Karl Dall gewohnt hat. „Ein schönes Haus, da laufen wir später vorbei!“ Er wird hier häufig erkannt: von Bauarbeitern, die gerade eine Pause machen, oder einer jungen Johanniter-Schwester, die ihn auf der Straße anspricht: „Herr Busse, ich habe gehört, Sie wollen bei uns lesen!“ Offenbar hat er sich zum Lesen im Seniorenheim angemeldet. Er macht mit ihr einen Termin aus, plaudert noch über seinen Hund und läuft dann weiter.

„Ich lese ohnehin viel laut“, sagt er dann. Den „Zauberberg“ von Thomas Mann zum Beispiel habe er sich selbst laut vorgelesen. Und seine Frau will gerade, dass er jeden Morgen den Söhnen etwas vorliest. Das ist jetzt Teil des Morgenrituals, wie der Yoga-Kopfstand, den er seit mehr als 20 Jahren täglich macht. „Das kann eine Stunde Schlaf ersetzen und mich für den ganzen Tag fit machen.“

Plötzlich stehen wir vor dem Haus, das erst vor wenigen Wochen häufig in der Zeitung zu sehen war. „Mord im Westend“ war die Schlagzeile auf den Titelseiten. In diesem grünen Haus in der Leistikowstraße wurde ein Steuerberater ermordet. Direkt neben Büros von Rechtsanwälten, Zahnärzten und Familientherapeuten. Die Polizei untersucht derzeit noch die Schmauchspuren der Waffe. Gerüchte sagten erst, dass die Familie „ganz normal“ gewesen sei, aber Tag für Tag änderte sich das. Plötzlich war über Neid, Ehebetrug, Gier und Hass zu lesen. Eine Frau kommt heraus, mit einer Mülltüte. Sie schaut misstrauisch. Busse sagt: „Was die mitgemacht haben müssen in den letzten Tagen …“ Noch einmal zwei Fragen, zwei Antworten:

Hat Ihr Vater Sie geschlagen?

„Ja, natürlich. Das habe ich ihm auch nie vergessen. Das ist demütigend, und dass diese Person, die du am stärksten liebst, das an dir ausführt, das geht letztlich nicht.“

Jetzt haben Sie selbst Kinder …

„Ja, ich kann das mit dem Handausrutschen schon nachvollziehen, aber ich mache das nicht. Die Schmerzen sind schlimm genug, aber ich weiß: So etwas, das verzeiht man nicht. Ich dachte damals, der kann dich umbringen.“

Düstere Geschichten überraschen Jochen Busse in der Gegend nicht. Erst neulich musste er bei einem Spaziergang seinen zehnjährigen Söhnen erklären, warum eines der Häuser in der Nachbarschaft Polizeischutz mit Maschinengewehr hat. Es ist eine andere Krimi-Geschichte, die von Morddrohungen gegen den Sohn eines Architekten handelt. Außerdem sei diese Gegend ja so aufgeladen mit Geschichte. Er sei deshalb extra in einen Neubau gezogen, weil er nicht in einem Haus mit schlimmer Geschichte wohnen wolle. „Ich sehe hier überall die Stolpersteine, die von Ermordeten der Nazis erzählen.“

Wir gelangen zur Reichsstraße, die seit mehr als 100 Jahren so heißt. Hier ist Jochen Busses Lieblingsitaliener, in dem er abends gern mit Freunden sitzt, hier ist sein Lieblingscafé, wo er so gern Waldbeertörtchen isst, dass die Bedienung ihm lieber etwas anderes anbieten möchte. Er sagt aber, wenn er sich einmal „eingegessen habe“, dann bleibe er dabei. Hier spricht er dann ausführlicher von seinen frühen Jahren, als er als junger Mann zum ersten Mal in diese Gegend kam, als noch keine Stolpersteine in den Straßenpflastern lagen.

Zusammen mit Theaterkollegen hat er hier in Berlin den ersten Jahrestag des Mauerbaus erlebt, den 13. August 1962. Da habe es eine Demonstration gegeben im Westen. „Die Mauer hat uns auch ganz praktisch betroffen“, sagt er, „weil doch viele Zuschauer aus dem Osten ins Ku’damm-Theater gekommen sind.“ Hier am Theater hat er auch viele Geschichten von jüdischen Kollegen über ihre Vertreibung oder das Exil gehört. „Einer meiner Kollegen, den ich nicht einmal mochte, hat vier Jahre in einer Kiste gelebt.“ Belgier hatten ihn so vor den Nazis versteckt. Erfolgreich. Aber: „Sein Körper war so verkrümmt, dass er nach dem Krieg neu laufen lernen musste.“

Er schaut lange vor sich hin, schüttelt den Kopf.

Dann erzählt er schließlich von seinem Vater, gegen dessen Meinung er letztlich zur Bühne ging. Er habe so einen Kasernenton gehabt, sagt er über ihn, das habe ihm immer Angst gemacht. „Ich kam immer besser mit den Freunden meines Vaters klar.“ Einer von diesen Freunden habe in Berlin gelebt und sich eine Aufführung von Busse angeschaut. „Als der mir danach sagte, er fand es gut, war das ein größerer Ritterschlag als jede Zeitungsrezension.“

Für den Vater war das ja: „nischt“. Das sagt er hier auf dem Stromkasten an der Ecke Reichsallee, Kastanienallee. Sein Vater sei eben eine schwierige Person gewesen. Als Fabrikant habe er auch nach dem Krieg noch sein Parteiabzeichen benutzt. Das war noch hilfreich für die Kundenakquise. Busse habe sich häufig mit ihm gestritten, vor allem über politische Themen. „Er sagte immer, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, dass Hitler den Krieg verloren habe.“ In solchen Diskussionen fiel der Vater dann auch manchmal ins Berlinerische. „Die Sache mit den Juden“, äfft er seinen Vater nach, „da hadda eb’n Quatsch jemacht.“

Er sagt auch, dass er nicht will, dass Wahlplakate im Hintergrund zu sehen sind. „Das lesen doch die Leute dann nicht.“ Er hat sich traditionell immer als Linker bezeichnet. „Die Wahl ist doch ohnehin schon entschieden.“ Interessant wäre noch, ob Angela Merkel vielleicht in diesem Jahr allein regieren kann. Dann müsse einmal eine Partei wirklich ihr Programm umsetzen. Plötzlich wird Busse von zwei Kindern angesprochen. Sie stellen sich artig auf und fragen: „Sind Sie aus dem Fernseher?“

Nachdem er den Kindern erklärt, woher sie ihn kennen, laufen wir langsam zurück in Richtung Branitzer Platz. Er wolle noch das Haus von Karl Dall zeigen. „Das hat er gekauft, als es noch richtig günstig war.“ Es steht an der Kastanienallee, und Jochen Busse war dort auch mehrfach zu Gast. „Im Erdgeschoss hat er gewohnt“, sagt er, „und im obersten Stock seine Tochter.“ Das sei alles so unkompliziert gewesen mit dem Karl. „Man wurde nie eingeladen, man ging einfach vorbei.“ Jetzt wohne Karl Dall in Hamburg, man hört gerade nicht so viel von ihm, und auf dem Dach seines ehemaligen Berliner Hauses weht jetzt die Flagge von Kasachstan.

Er könnte noch weiter erzählen, von dieser Gegend, dass hier auch Lilli Palmer gelebt habe, eine andere Schauspielerin, die immerhin mit dem US-Star Rex Harrison zusammen war. In ihrer Wohnung ist jetzt auch eine deutsche Schauspielerin … „Aber das muss vielleicht nicht jeder wissen.“ Er könnte auch über das deutsche Humorfernsehen erzählen, dessen wichtiger Teil er einmal war. Er verfolgt es noch.

Mario Barth sei nicht so sein Geschmack, Kurt Krömer mache seine Sache doch sehr gut, Oliver Welke in der „Heute-Show“ sei fabelhaft – und dann sei es schade, dass man Harald Schmidt nicht mehr sehe. „Das ist es doch, was es heute fast nicht mehr gibt. Jemanden wie Harald Schmidt, der nur nach seinem Geschmack geht und sich nicht verwässern lässt.“ Jochen Busse war bei Schmidts erster Sendung im Publikum. Die war so unglaublich gut, sagt er. „Und Harald ist der beste Jochen-Busse-Imitator, den es gibt.“ Bei allen anderen würde er immer klingen, als habe er Verdauungsschwierigkeiten.

Am Ende des Spaziergangs kommen wir noch einmal auf den Vater zu sprechen. Aber über Umwege: Busse hat eine Narbe am Kopf. „Die habe ich mir 1951 geholt“, sagt er. Da habe es eine Sprengung im Ort gegeben, und als die Warnsirene losging, stieß er in Panik mit einem Jungen mit dem Kopf zusammen. „Es gibt wohl über der Schläfe eine Stelle, die ganz empfindlich ist.“ Es war sein Vater, der darauf bestand, dass der zehnjährige Jochen ins Krankenhaus muss. Die Ärzte untersuchten ihn und mussten den Schädel öffnen, um ihn zu retten.

Die Beziehung zum Vater ist kompliziert. Busse weiß, dass sie vielleicht nie aufhört, wichtig zu sein, auch wenn er lange tot ist. Die Mutter hat ihn noch lange gepflegt. Sie hatte ihrem Mann nie widersprochen, immer sei ihr wichtiger gewesen, was die Leute denken. Als der Vater starb, rief die Mutter ihn in München an. „Danach wurde sie dement“, sagt er, „als ob sie ihre Aufgabe verloren habe.“ Noch zwei Fragen, Herr Busse:

Was wissen Sie von Ihrer Geburt?

„Der Arzt war ein Antifaschist und riet meiner Mutter, mich abzutreiben. In diese Welt könne man doch kein Kind bringen. Für meinen Vater kam das nicht infrage.“

Wie hieß Ihr Vater?

„Klaus.“

Nach diesem Spaziergang ist es nicht schwierig, sich den Komiker Jochen Busse bei seinem täglichen Yoga-Kopfstand vorzustellen. Hände gefaltet zusammendrücken, die Unterarme bilden ein gleichschenkliges Dreieck auf dem Boden, die Füße kerzengerade nach oben. Die Decke ist 2,80 Meter hoch, da ist noch Luft nach oben. Auch an diesem Morgen hat er sicher den Kopfstand gemacht. Unten ist oben, oben unten. Für einen Komiker, der sich so viel mit Geschichte auseinandersetzt, vielleicht die beste Ausgangslage.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 27.8.2013

Christopher von Deylen, “Schiller”, Porträt

Es macht wirklich Freude, den Ausführungen von Christopher von Deylen zuzuhören, wenn er Sätze baut, in denen jedes Komma, jeder Gedankenstrich hörbar ist, in denen ganz selbstverständlich Worte wie „Chimäre“ oder „Vignette“ vorkommen, Sätze, die lang sind und trotzdem am Ende immer einen Punkt haben. Und es gibt Fragen, die im Prinzip nur dazu da sind, noch einen von diesen verschnörkelten Sätzen aus ihm herauszufordern. Eine dieser Fragen, an einer Brücke mit Blick auf die Spree gestellt, lautet: Was sagen Sie zum Beispiel… zum Wasser?

Ohne den Hauch eines Zögerns sagt Christopher von Deylen in seiner nachdenklichsten Stimme: „Das, was unter der Wasseroberfläche ist, ist uns sehr fern, aber andererseits macht es einen Großteil der Welt aus; wir aber neigen dazu, das, was an Land geschieht, als tendenziell zu wichtig zu nehmen – auch in diesem Falle ist es nur ein Ausschnitt, den wir sehen, es schimmert, es glitzert, aber reingucken können wir nicht.“

Jetzt könnte man sagen, Christopher von Deylen hat einen Ruf zu verlieren. Schließlich tritt er seit 15 Jahren mit dem Namen „Schiller“ als sehr erfolgreiches elektronisches Musikprojekt auf. Sein achtes Album „Opus“ ist vor genau einem Monat erschienen und belegt aus dem Nichts plötzlich Platz 1 der Charts. Als „Schiller“ wird er vom (Achtung!) „Goethe“-Institut in die Welt eingeladen, tritt in Asien, den USA und vielen Städten Europas auf, seine Shows gelten als legendär, wegen der Lichtanlage, aber vor allem wegen der Stimmung, die er erzeugt. „Schiller“ hat er das Projekt genannt, weil er den Dichter so gut findet. Vor allem das Gedicht „Die Glocke“, passend dazu war sein erster und bis heute größter Hit „Das Glockenspiel“.

Jetzt aber steht dieser 43-jährige Mann an der Schillingbrücke und sieht aus wie eines seiner Lieder, selbstbewusst, zurückhaltend, in sich versunken. Er schaut auf das Wasser, dessen Lichtreflexe Muster auf sein Gesicht zeichnen. Bevor wir loslaufen, sagt er noch einmal zum Wasser und zu sich und zu allen: „Umso geheimnisvoller ist, was darunter verborgen ist.“

Man könnte ihn sich jetzt gut rauchend vorstellen, weil das so existenzialistisch ist, wenn der Mensch Dampf produziert, der Dinge aus der Erde in Luft verwandelt. Aber er sagt, er habe nie geraucht. Das heißt, er sagt wörtlich einen Satz mit zwei Genitiven: „Das Bedürfnis des Rauchens entzieht sich meines Erfahrungshorizontes.“ Beim zweiten Teil des Satzes, hätte Von Deylen auch den Dativ verwenden können („meinem Erfahrungshorizont“), aber der Genitiv klingt eleganter. Der Genitiv ist ein echter „Schiller“-Fall.

Wir laufen los, vorbei am Club „Magdalena“, der entstanden ist, als die „Maria am Ostbahnhof“ schließen musste. Er sagt, er war noch nie in diesem Club und auch in den anderen, für den diese Gegend hier am Wasser berühmt ist. „Das ist ohnehin nicht mehr das Friedrichshain, in dem ich einmal gelebt habe“, sagt er. Die ersten zehn Jahre seiner Berliner Zeit habe er hier verbracht, damals gab es das „Ostgut“ und keine O2-World oder ein Mercedes-Gebäude, auf dem sich jetzt jener Stern dreht, der in den 90er-Jahren von Autos abgebrochen wurde. Gerade wegen dieser Veränderungen hat von Deylen sich diese Gegend auch für den Spaziergang ausgesucht. „Man kommt hier ja höchstens mit Besuchern her“, sagt er, „aber auch das bin ich lange nicht mehr.“

Wir laufen zuerst in den Yaam-Club. Es ist einer dieser Orte, die noch übrig geblieben sind: Holzhütten, Sandstrand, Metalltonnen, auf denen, man Karibik-Klänge herstellen kann. Das Yaam strahlt den Charme jener Zeit aus, als sich einfach jemand mit einem Bierkasten an die Spree gesetzt hat und meinte: Ok, wir machen hier einen Club auf. So ungefähr ist vor 19 Jahren wohl das Yaam entstanden und später die Bar25 und all die anderen Strandbars. Jetzt braucht es schon David Hasselhoff, damit sich noch Leute für dieses Gebiet interessieren. Der war vor einigen Monaten hier, um für den Erhalt der East Side Gallery einzutreten. Diese Gegend jedenfalls ist für Christopher von Deylen mit Erinnerung verbunden, hier hat er Kulturwissenschaft studiert, was er aber 1998 abbrach, um zusammen mit einem Freund „Schiller“ zu gründen. Anfangs noch ganz ohne Erfolg, eine Zeit, die er heute noch wichtig findet, um sich nicht im Ruhm zu wohl zu fühlen.

Auch das hat für Christopher von Deylen wieder mit der Stadt zu tun, mit Orten wie dem Yaam oder der Eastside Gallery: „Man neigt bei Berlin immer dazu, die Patina der Stadt als Katalysator für Kreativität zu interpretieren.“ Er könne dieses ganze Gerede um dieses Potenzial manchmal schon nicht mehr hören, ja wird sogar skeptisch, wie sehr das nicht vielleicht nur noch eine Fassade sei. „Vielleicht gibt es sogar eine Art Geheimkomitee, das nachts durch die Straßen geht und Graffiti an die Wände sprüht“, sagt er, „damit dieser vermeintlich kreative Charme der Stadt erhalten bleibt.“ Er bleibe bei vielem, offensichtlich „Alternativen“, doch skeptisch. „Es gibt auch ein Bevölkerungssegment, das zwei Stunden vor dem Spiegel steht um dann auszusehen wie Andreas Baader und dann doch zu seinem Portugiesen geht.“ Er sei eher jemand, der immer auch eine Erneuerung suche.

Zumindest sein neues Album erfüllt diesen Wunsch in vielerlei Hinsicht. Es ist das erste, das nicht in Berlin, sondern in New York aufgenommen wurde, erschienen ist es trotzdem beim deutschen Traditions-Label „Deutsche Grammofon“. Von Deylen hat sich klar mit der klassischen Musik beschäftigt, sich von ihr inspirieren lassen. Er stand zusammen mit Größen wie der Pianistin Hélène Grimaud, der Sopranistin Anna Netrebko und dem Oboisten Albrecht Mayer im Studio. Bei früheren Alben hat er eher mit Pop-Künstlern wie Xavier Naidoo, Unheilig oder der Schauspielerin Anna Maria Mühe zusammengearbeitet. Es könnte also bedeuten, dass es nun ernster wird bei „Schiller“, aber wer sich durch die Alben hört, dem erscheint der Schritt zur Klassik wie eine logische Konsequenz aus früheren Projekten wie der Zusammenarbeit mit dem chinesischen Pianisten Lang Lang.

Aber solche Kategorien mochte Von Deylen ohnehin nie. „Zuschauer und Zuhörer haben ja doch eine wesentlich breitere oder tiefere Bereitschaft zur Rezipienz als gemeinhin angenommen“, sagt er. „Es muss nicht immer einfach und schubladisierbar sein.“ Bei der Arbeit mit den klassischen Künstlern habe ihn vor allem gereizt, dass beide Seiten ihre Komfortzonen verlassen mussten, also etwas tun, was für sie neu ist. „Ich finde ja, dass man jeden Tag im Leben irgendetwas tun sollte, das man noch nie gemacht hat.“ So stand er eben mit Hélène Grimaud in einem Raum ohne Tageslicht, und schon dadurch habe das etwas Losgelöstes von der Realität gehabt. Mit welcher Neugier und Offenheit sie an dieses Projekt herangegangen sei, habe ihn überrascht. Für sich habe er in dieser Zeit den Satz geprägt: „Das Leben beginnt da, wo die Komfortzone aufhört.“

Als wir durch eine Tür an der Spree die Wiese hinter der Mauer betreten, fällt auf, dass man tatsächlich zu selten an diese Orte geht. Menschen sitzen auf der Wiese unter blauem Himmel, rauchen, trinken, lesen, spielen Karten. Aber Christopher von Deylen bewegt sich durch sie hindurch, als wären sie nicht da. Seine Bewegungen sind lässig wie die von allen hier, die Augen schauen schlau in die Welt, aber eher vor sich hin oder in die Augen seines Gegenübers. Nie aber wandern sie zu den Vorbeilaufenden, den Sitzenden. Was ihm entgeht: da läuft ein schlanker Bärtiger mit bunter Pudelmütze und Jute-Beutel mit einem Monstergesicht darauf (so Berlin!), ein älterer Herr, der von oben bis unten in Gelb gekleidet ist (total Berlin!) und eine Gruppe Spanier, die mit ihrem Bier in der Hand laut diskutieren, in welchen Club sie jetzt gehen (dieses verrückte Berlin!).

Er sagt, dass er schon ein Auge für diese Dinge hat, aber nur, wenn er allein unterwegs sei. Er sagt es mit einem Genitiv: „Ich mag diese Momente, deren Protagonisten nicht die Absicht haben einen poetischen Moment zu erzeugen.“ Leider gehe auch er zu selten noch an solche Orte, auch, weil sie inzwischen schon eher touristisch sind. „Hier gibt es Ecken, an denen Berlin so ist, wie die Menschen außerhalb der Stadt denken, wie es hier überall sei.“ Am liebsten mag er deshalb den frühen Morgen, nicht um 7 Uhr, wenn die Jogger aufstehen, sondern um fünf Uhr oder noch früher. „Da bin ich für mich auf der Welt.“ Das sei er am Abend auch, aber es gelinge ihm dann nicht so gut, den Tag abzuschütteln. Manchmal höre er dann Deutschlandfunk, das Nachtprogramm oder ab fünf Uhr die Morgennachrichten. Oder er komponiert. Ein Großteil von „Opus“ sei in den frühen Morgenstunden entstanden.

Das zu wissen ist ein Schlüssel für einen Zugang zum neuen Album: Dieses Bild, wie er morgens vor seinem PC sitzt, Musik hört, zurückspult, noch einmal hört. Dann Tee. Vielleicht einen Apfel. Diese Morgenfrische steckt zum Beispiel im Stück „Rhapsody on a theme by Paganini“ von Sergij Rachmaninoff. Es ist ein sehr bekanntes, sehr schwelgerisches klassisches Werk, das die Nummer 13 auf „Opus“ und in das der Sonnenaufgang fast eingebaut ist. Zumindest der Neuanfang, der, den „Schiller“ so mag.

Tatsächlich ist es dieses Stück, was für Christopher von Deylen zu dem besten gehört, was er an klassischer Musik kennt. „Die Rhapsody enthält eine Poppigkeit, die sehr schnell zum emotionalen Vollzug schreitet – aber so, dass man immer aufs neue wie durch feinen Sprühnebel sehen kann, was der dieses Stück erschaffende Geist durchlebt haben muss, um so etwas komponieren zu können.“ Er gerät ins Schwärmen, vergleicht das Werk mit „Enjoy the Silence“ von Depeche Mode, das er für ähnlich perfekt hält, ausgerechnet ein Lied, das die Stille lobt. „Das Tolle an Rachmaninoff ist“, sagt er, „dass es eben nicht aufhört, es fällt nicht zusammen wie ein aufblasbarer Delfin, dem die Luft ausgeht.“

Wir haben den Punkt erreicht, an dem die Mauer durchbrochen ist, und laufen wieder auf der Straße entlang, vorbei an bunten Mauerstücken mit Graffiti von echten Kreativen, ein Stück bewahrte Alternativ-Kultur, die plötzlich zum Kanon gehört und für die man kämpft. Christopher von Deylen erzählt hier, wie er zuerst mit Pop in Berührung kam. Das war, als er in Berlin als Studio-Helfer anfing und dafür in Studiozeit bezahlt wurde. Damals lernte er die Produzentin Annette Humpe kennen, die mit „Ideal“ bekannt wurde und bis 2010 bei „Ich + Ich“ mitsang. Sie habe gesagt, das Wesen der Popmusik sei die Kunst des Weglassens. „Das braucht keiner“, war einer ihrer Lieblingssätze, oder: „Das hört keiner.“ Es gehe schlicht darum, in drei Minuten eine gute Geschichte zu erzählen.

An diesen Purismus hat er sich auch für „Opus“ erinnern wollen. „Es geht mir um diesen Moment, wenn der grau melierte Ehemann im Konzertsaal seiner Frau die Hand auf den Oberschenkel legt, weil er zum ersten Mal gemerkt hat, dass sie eine neue Frisur hat.“ Das sei ein Moment, den das Orchester sich mühsam erarbeiten müsse. „Das ist schließlich ein großes Gefühl.“ Er aber habe sich die Freiheit genommen, die Musik von diesem Arbeitsrahmen zu befreien. Er will gleich die ganz große Emotion, die „authentische Gefühlswelt“.

Letztlich geht es also auch im Hause Von Deylens immer um diese endlose Aufgabe. Man werde diesen „perfekten Sound einer Zeit“ nie ganz erreichen, nie erspüren können. In diesem Sommer sei es ohnehin schwierig gewesen, weil es keinen klaren Sommerhit gab, sagt er. Am nächsten komme dem vielleicht „Get Lucky“ von Daftpunk, darin geht es aber um die Suche nach Glück in der Nacht. Bei „Schiller“ findet diese Suche aber morgens statt und natürlich findet er dafür ein Bild, in dem eine Glocke vorkommt. Er sagt: „Über allem hängt die Glücksglocke, die muss läuten, man hat es leider nicht unter Kontrolle.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 29.9.2013

Lars Eidinger, Porträt

Berlin.  Wer den Infinitiv benutzt, habe ich einmal gelernt, weist auf den Moment hin und gleichzeitig auf die Ewigkeit. Zum Beispiel „Sein oder nicht sein“, das ist so ein Infinitiv. Hamlet sagt das auf der Bühne nicht nur zu sich selbst, sondern er meint auch jeden anderen Menschen. Wie ist das, wenn man sich als Schauspieler immer auf dieser Ebene bewegt, man selbst zu sein und gleichzeitig potenziell noch ganz viele andere?

Kurz, wie ist das, zu fühlen wie Lars Eidinger – zu brüllen, zu flüstern, mit Dreck zu werfen, mit einem Blick zu morden, sich nackt auszuziehen und dann über sich zu lesen, was für ein Mensch man sei? Ist das ein 24-Stunden-Job, von dem man eine Pause bräuchte? Oder ist das ein totaler Rausch, dafür bezahlt zu werden, was ohnehin leichtfällt: permanent zu spielen?

Bevor wir spazieren gehen und darüber reden, will Lars Eidinger auf die Toilette. So stehe ich kurz allein vor dem Hotel „Michelberger“ an der Warschauer Straße, diesem umtosten Ort der größten Hipness, der auch in New York oder Kopenhagen sein könnte. Da sitzen Menschen, die sich den ganzen Sommer auf den Winter gefreut haben, um die schönen Mäntel, Tücher und Wollmützen anzuziehen. Das angegliederte Restaurant erfüllt alle Kriterien, um in diesem Teil der Stadt für voll besetzte Tische zu sorgen: geschmackvolle, zurückhaltende Einrichtung, sehr leckeres Öko-Essen und von den Kellnern ein kosmopolites „Sorry, I don’t speak German“.

Passend dazu steht über der Tür „The past is over“. Lars Eidinger kommt vom Klo, erzählt, dass es „total irre“ war, „bunte Lampen“ und „Walgesänge“. Dann zeigt Eidinger auf den Spruch über der Tür: „Die Vergangenheit ist vorbei.“ „Schon komisch“, sagt er, „dass ausgerechnet jetzt das über uns steht.“ Schließlich gehe es in seinem neuen Film „Die Blumen von gestern“ genau darum, dass die Vergangenheit eben nicht vorbei ist. „Die Gegend hier war wichtig für unseren Film“, sagt er. „Adèle Haenel und ich haben hier in einem Raum mit dem Regisseur Chris Kraus zusammen viele Szenen geprobt.“ Er schaut nach oben, entweder in eines der Fenster, oder er blickt direkt in jene Zeit vor mehr als einem Jahr, als sie da saßen, zu dritt, und improvisierten. Bei diesem Film heißt das: zu schreien, zu weinen, zu schlagen und zu küssen.

„Die Blumen von gestern“ hat trotz des etwas ungelenken Titels alle Elemente, um wirklich etwas aufzurütteln in diesem Land. Jede Person im Film ist ein gestörter Charakter, exzentrische Emotionsbündel, die aufeinander losgelassen werden: ein misanthropischer Holocaustforscher (Eidinger) und sein überehrgeiziger Kollege (Jan Josef Liefers) treffen auf eine bipolare spontan-schreiende Französin (Adèle Haenel) und eine nymphomanische Borderlinerin (Hannah Herzsprung). Im Zentrum steht der millionenfache Mord in den KZs und was das heute für uns bedeutet. Vergangenheit? Vorbei? Niemals. Und dazwischen: Sex, Sex, Sex. Der Film hat den „Grand Prix“ in Tokio gewonnen und den „Baden-Württembergischen Filmpreis“ in der Kategorie „Bester Spielfilm“. Dabei wird es nicht bleiben.

Lars Eidinger sagt, dass für ihn der Film besonders sei, weil er mit seiner Filmpartnerin eine ungewöhnliche Beziehung aufgebaut habe. „Das ist ja nicht selbstverständlich“, sagt er, „dass man eine Verbindung zwischen zwei Menschen behauptet, die dann auch wirklich stattfindet.“ Diese Chemie könne man nicht künstlich herstellen. „Da hatten wir Glück, dass Adèle und ich uns da so gefunden haben, auf der spielerischen Ebene.“ Wie ein Wunder sei das gewesen, als sei sie sein weibliches Pendant. „Ich meine das in der Bereitschaft, weit zu gehen, in der Tiefe der Emotionalität, der Aufrichtigkeit, ohne dass man dem anderen etwas vormachen muss.“

Wir sind gerade erst losgelaufen auf der Warschauer Straße, und schon haben wir das Grundthema von Eidingers Schaffen berührt: Wie weit kann man gehen? Den Körper zu benutzen, jeden beweglichen Muskel, zu spielen und doch immer der gleiche Mensch zu bleiben: Geboren vor 40 Jahren im Klinikum Steglitz, irgendwann Schauspielschule „Ernst Busch“ (im gleichen Jahrgang wie Devid Striesow, Nina Hoss und Fritzi Haberlandt), sofort zur Schaubühne als Schauspieler und inzwischen dort auch Regisseur. Ab dann Filmrollen als Serienmörder („Tatort“), verunsicherter Liebhaber („Alle Anderen“) und aktuell auch als Journalist mit Kristen Stewart in „Personal Shopper“.

Natürlich hat das alles zu einer Popularität geführt, die er nicht abschalten kann. Wir laufen zur Mitte der Straße, da, wo die Strecke der M10 an einem Poller endet, da winken von der anderen Seite Menschen, die ihn wohl erkannt haben. Oder winken sie, weil er gewunken hat? Es ging so schnell.

Als hätte er Gedanken gelesen: „Deshalb schätze ich meinen Beruf auch so“, sagt er, „weil es keinen Unterschied macht, ob man sich in der Realität oder Fiktion begegnet, weil es im Grunde immer meine Wirklichkeit ist.“ Er meint damit wieder das Auftreten als Hamlet oder Richard oder Holocaustforscher – das Brüllen, das Dreck-Werfen, das Nackt-Ausziehen. „Die Frage, wie viel davon mit mir zu tun hat und wie ich privat bin, ist eigentlich keine Frage, weil ich ja immer mich selbst ausdrücke, es gibt nur eine Form von Expressivität.“

Wir laufen eine Treppe hinunter und stehen plötzlich im Nirgendwo. Die ganze Gegend um die Warschauer Brücke ist eine perfekte Kulisse für triste Drogenhändler-Filme und Obdachlosen-Reportagen. Heute fährt hier nur laut die Müllabfuhr vorbei, donnert die S-Bahn entlang und von der S-Bahn-Brücke winken wieder ein paar Passanten. Zu uns?

Eidinger sagt, dass er auf der Bühne immer versucht, zu sehen, wie das Publikum ihn wahrnimmt. Auch seine Frau habe er so kennengelernt. Er war damals neu an der Schaubühne, spielte den Griechen Diomedes in „Penthesilea“, er sitzt auf einer Anhöhe und schaut auf die Schlacht der Amazonen. „Der Vorhang geht auf, noch ist es dunkel und ich kann das Publikum sehen“, sagt er, „da sitzt eine Frau und schaut mich an. Scheinwerfer blenden auf, und es geht los.“ Mit dieser Frau sei er seit 18 Jahren zusammen. Lars Eidinger kann das ganz gut, dieses Erzählen, als sei das ein magischer Moment gewesen: Zwei Augenpaare treffen sich und lassen einander danach nie wieder los.

Wir verlassen die Einöde zwischen Graffiti, umgestürzten Fuselflaschen und S-Bahn-Schienen, und laufen Richtung Friedrichshain. Mir fallen all die Texte ein über Lars Eidinger, in denen immer wieder steht, was für ein „großer Schauspieler“ er sei. So, als ob diese immer frühere Texte über Eidinger zitieren und so eine Geschichte über Jahre tragen, wie toll er sei.

Klar gebe es andere Texte über ihn, aber darauf einzugehen sei langweilig. Er bereite sich auf eine Rolle als Anwalt auch nicht mit zehn Anwaltsfilmen vor. „Sondern ich gehe ins Gericht“, sagt er, „und orientiere mich an der Realität.“ Er meint „Terror“, das „TV-Ereignis“ vom Herbst, in dem er den Verteidiger spielt. Er ist es, der darin die großen Sätze sagen darf, die nach dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt anders klingen: „Wir müssen begreifen, dass wir im Krieg sind, wir können es nicht ändern. Kriege gibt es nicht ohne Opfer.“

Unser Spaziergang fand vor dem Attentat statt. Aber geht es nicht genau auch darum in den „Blumen von gestern“, um die Allgegenwart von Gewalt? Eidinger sagt, dass die meisten heute davon ausgehen, sich nicht schuldig gemacht zu haben. Aber es hänge eben alles zusammen: unser Frieden mit dem Krieg an anderen Orten. Und unsere Gegenwart mit dem Dritten Reich von damals. „Es kann ja nicht sein“, sagt er, „dass die meisten unserer Vätergeneration im Widerstand gewesen sind.“ Das sei natürlich totaler Quatsch, weil der Nationalsozialismus eine Massenbewegung war. „Jemand, der mit einer Waffe in den Krieg zieht, tut das, um zu töten“, sagt er. Wegen der Holocaustthematik habe er auch über seine Familie recherchiert, aber nicht viel gefunden. Er sagt nur: „Mein Opa war bei der Artillerie.“

Wir laufen über die Oberbaumbrücke. Einige Obdachlose haben sich hier richtige Schlafzimmer eingerichtet, mit Weihnachtsbaum und Lichterkette. Das wirkt bizarr privat und brutal arm, inmitten dieser feuchtkalten Gegend voller Touristen mit dem „Berghain“ im Blick. Es wird langsam dunkel, oder wird es hier im Winter überhaupt hell?

Lars Eidinger bleibt auf der Brücke stehen. Er erzählt von einem Erlebnis während eines Gastspiels in Jerusalem. „Es war Sabbat und ich stand im Aufzug mit einer älteren Frau, die den Knopf nicht drücken wollte.“ Für Strenggläubige gibt es am Sabbat viele Gebote. „Als der Fahrstuhl losfuhr, sagte sie, sie habe in Deutschland gelebt.“ Es sei eine Pause entstanden und er habe gedacht, dass sie in dem Alter sein könnte, Zeuge oder Opfer des Holocaust gewesen zu sein. Er habe gefragt, ob sie noch einmal dorthin fahren werde. Sie habe den Kopf geschüttelt und gesagt: niemals. „Das hat mich extrem bedrückt damals.“ Für einige ist Vergangenheit nie, nie, nie vorbei.

Auf der Kreuzberger Seite ist es fast noch hektischer als in Friedrichshain. Wir reden über den Film „Alle Anderen“ („Die Leute haben mir damals Briefe geschrieben, weil sie sich so wiedererkannt haben“), über seine Narbe auf der Lippe („Ich habe als Kind eine Brücke über den Badewannenrand gemacht und bin abgerutscht“) und über den Moment der Geburt seiner Tochter: „Das Erste, was meine Frau gesagt hat, als sie unsere Tochter sah: ‚Das bist ja du!‘“. Und wirklich: Es sei für ihn so gewesen, wie bei seiner eigenen Geburt zuzuschauen. Vielleicht ist dieses heute etwa zehn Jahre alte Mädchen der einzige andere Mensch, der ein bisschen weiß, wie das ist, das Lars-Eidinger-Sein.

Als wir wieder am Ausgangspunkt des Spaziergangs stehen, vor dem Hotel, das keine Vergangenheit kennt, sagt Eidinger, er müsse noch einmal. Er fragt: „Musst du auch?“ Ich verneine und ärgere mich, weil ich vielleicht eine schöne Szene verpasse. Schließlich gibt es kaum einen Film, in dem Eidinger die Hosen anbehält. Warum also in diesem Text? Aber ich hatte den Film „Code Blue“ gesehen und damit mehr von Eidinger, als ich je wollte. Ich blicke also auf das riesige Plakat von „Star Wars“, als ich erschrecke. Es bewegt sich, als ob wir wirklich mitten im Krieg wären. Doch gerade als die Gedanken richtig düster werden, kommt Lars Eidinger und sagt: „Die wurden doch von Disney gekauft, vielleicht wird Darth Vader bald durch Mickey Mouse ersetzt.“

Später gehe ich doch auf die Toilette, allein. Ich will diesen „irren Ort“ auch sehen. Vorbei an einem Tischfußballspiel, bei dem alle Figuren weiß sind, stehe ich im Herrenklo. Die Spiegel sind riesig, ich sehe mich selbst, umgeben von grellem Weiß und Silber. Schön ausgeleuchtet. Ich höre dieses Geräusch, den endlosen Walgesang, den Infinitiv des Lebens. Das wird immer so weitergehen: Lars Eidinger ist jemand, der nicht anders kann als spielen. Er macht das auch jetzt, solange jemand zuschaut.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 8.1., 2017

Würzburg nach dem Anschlag 2016

Würzburg/Ochsenfurt.  Früher waren die Güterzüge die „bösen Züge“ für Melanie Göttle, weil die so laut ratterten hinter ihrem Haus in Würzburg-Heidingsfeld. Das Rattern ist bis in ihr Wohnzimmer zu spüren. Jetzt sind die Personenzüge „böse“. Erst gestern, sagt sie, habe sie Unkraut gejätet. Nur eine Hecke trennt ihr Grundstück von den Bahnschienen. „Als ein Regionalexpress kam, musste ich weg. Mir ist fast das Herz stehen geblieben.“ Ihr Leben sei nicht mehr dasselbe seit einem Monat.

Göttle war eine der Ersten, die am 18. Juli am Tatort waren, in dem Regionalexpress, der auf offener Strecke hielt, hinter ihrem Haus. Jemand hatte gegen 20 Uhr die Notbremse gezogen, nachdem der 17 Jahre alte Flüchtling Riaz A. mit einer Axt und einem Messer auf eine chinesische Touristenfamilie eingeschlagen hatte, auf Kopf und Körper. Vier der fünf wurden schwer verletzt.

Riaz A. verließ dann den Zug und lief in das Wohngebiet am Mainufer. Dort schlug er auf eine Spaziergängerin mit der Axt ein, wohl in der Absicht, sie zu köpfen. Als er dann auf zwei Polizisten losging, erschossen sie ihn mit mindestens vier Schüssen. Riaz A. soll vorher Kontakt zu Mitgliedern des sogenannten Islamischen Staats (IS) gehabt haben. Seine letzte Nachricht vor der Tat an seine Kontaktmänner enthielt den Satz: „Wir sehen uns im Paradies.“

Seit einem Monat hat Deutschland damit auch den ersten Anschlag des IS im eigenen Land. Eine Woche später folgte das erste Selbstmordattentat in Ansbach, auch dort gab es mehrere Verletzte, der Täter starb. Auch wenn es in beiden Fällen schlimmer hätte kommen können – die Menschen sind nun in Habachtstellung, sind gewarnt, dass der Terror sie nun jederzeit auch hierzulande erreichen kann.

Auch Melanie Göttle weiß, wie knapp die Sache für sie war. Von einem Nachbarn erfuhr sie, dass Riaz A. direkt an ihrem Haus vorbeilief. „Er hat ihn gesehen, mit der blutverschmierten Axt“, sagt sie, „eine halbe Stunde früher und mein elfjähriger Sohn hätte noch im Garten gespielt.“ Das sind Dinge, die ihr nicht aus dem Kopf gehen.

Als sie hörte, dass im Zug noch Verbandsmaterial gebraucht werde, wollte sie es zunächst nur an die Tür des Zuges bringen. Doch der Schaffner wandte sich ab und wies auf das Großraumabteil, wo sonst Reisende mit ihren Fahrrädern stehen. Sie ging hinein. „Da war alles voller Blut“, erinnert sie sich, „egal wo ich mit meinen Händen hingefasst habe.“ Sie erzählt von den schlimmen Wunden der Verletzten am Kopf und am Bauch, von den Handtüchern, dem Verbandszeug. Sie sagt: „Und dann erst der Geruch.“

Melanie Göttle besuchte in den Tagen nach der Tat das Uniklinikum Würzburg. Sie wollte erfahren, wie es den Opfern geht. Doch aus Datenschutzgründen konnte man ihr keine Auskunft geben. Das Krankenhaus sagt jetzt auf Nachfrage, dass alle vier schwer verletzten Touristen noch in Behandlung seien. Der Vater der Familie werde gerade aus dem Koma zurückgeholt. „Dieser Prozess kann Tage dauern“, sagt Susanne Just vom Uniklinikum. Er bleibe weiter auf der Intensivstation.

Die deutsche Spaziergängerin aus Heidingsfeld lebt inzwischen wieder zu Hause. Sie selbst möchte nicht mit den Medien sprechen. Nachbarn beschreiben sie als „von der Tat gezeichnet“, sie habe eine große Narbe am Hals und eine im Gesicht. Doch sie sei schon wieder mit dem Hund unterwegs gewesen, auch dort, wo es passierte. Die 51 Jahre alte Frau habe den Nachbarn erzählt, dass sie erst dachte, der junge Flüchtling wolle sie etwas fragen oder brauche Hilfe. Doch er drehte sich zu ihr um und schlug auf sie ein, mit der Axt.

Melanie Göttle sagt, sie kenne über Freunde die Pflegefamilie von Riaz A. „Die schlagen ihr Holz noch selbst für den Winter, die Axt ist sehr scharf.“ Sie kann aber nicht verstehen, warum jemand einem Krieg entkommt und dann bei denen, die ihn aufnehmen, eine derart schlimme Tat anrichtet. Ihr Nachbar, der auch im Zug geholfen hatte, schrieb ihr noch in der Nacht eine SMS: „Was der Junge durchgemacht haben muss, um so etwas zu tun.“ Göttle sieht das anders: „Er hat das Leben von vielen Menschen zerstört und meines zur Hölle gemacht.“ Warum nur habe keiner aus seinem Umfeld etwas bemerkt?

Das ist eine Frage, die Ochsenfurt derzeit zerreißt, jene pittoreske Fachwerkstadt, in der Riaz A. rund ein Jahr lang lebte. In dem orangefarbenen Kolpinghaus bei der Innenstadt wohnen noch immer 23 unbegleitete Flüchtlinge. Anwohner sagen, dass sie die Jugendlichen seltener auf der Straße sehen. Schüchterner seien sie geworden.

Vom Kolpinghaus selbst heißt es, es gab Absagen von Praktikumsbetrieben und verbale Beleidigungen. Aber angegriffen wurde niemand. „Wir sind froh, dass etwas Ruhe einkehrt“, sagt ein Mitarbeiter. „Viele hier kannten ihn ja, haben mit ihm gebetet.“ Riaz A. wollte Bäcker werden, spielte im Fußballverein, dann starb ein Freund in Afghanistan und Riaz A. – so die Ermittler – habe sich „turboradikalisiert“. Die Mitarbeiter von Kolping, so sagen sie, sind jetzt „stärker sensibilisiert“, was „mögliche Radikalisierungstendenzen“ betrifft.

Simone Barrientos vom Helferkreis in Ochsenfurt kannte Riaz A. nur flüchtig. Sie grüßte ihn, wie sie noch jetzt auf einem Spaziergang durch Ochsenfurt ständig junge Flüchtlinge grüßt. Die resolute Berlinerin zog vor drei Jahren in die Kleinstadt und hat es nie bereut. Es ist ein Ort, in dem jeder so leben könne, wie in Berlin eigentlich auch. „Sie sind sehr tolerant hier“, sagt sie, „und vor allem pragmatisch“. Sie habe noch in der gleichen Woche des Attentats Deutsche und Flüchtlinge Fußball spielen sehen. „Da hätte ich heulen können.“

Barrientos musste in diesem Monat auch Kritik einstecken, weil sie eine der wenigen war, die sich überhaupt äußerte. Sie bleibt dabei: „Für die, die Riaz kannten, war er auch ein Freund.“ Ein Bekannter von ihr wollte zwei Tage nach der Tat ein paar Kerzen für den Toten aufstellen. Der Flüchtling hatte bei ihm gearbeitet, er mochte ihn. Die Polizei hinderte ihn daran. Viele Anwohner verstehen die Sympathie für den Attentäter nicht.

Auch die Pflegefamilie in Gaukönigshofen, wo Riaz A. zur Tatzeit wohnte, möchte sich nicht äußern. Als sie die Tür öffnen, sagen sie nur: „Wir sind froh, dass es jetzt vorbei ist, und möchten unsere Ruhe.“

Für Melanie Göttle ist nichts vorbei. Sie hatte vor wenigen Tagen ihren 44. Geburtstag, es war der erste, den sie nicht feierte. Sie war auf keinem Weinfest in diesem Monat, meidet Gruppen, den Regionalzug sowieso. Auch ihr Sohn durfte nicht zum Sportfest. Am Montag war sie im Kino, im Film „Pets“, aber sie ging erst in den Saal, als alle anderen Besucher an ihr vorbeigelaufen sind. „Ich weiß, das ist irrational, aber ich kann nicht anders.“ Sie hat psychologische Hilfe beantragt, beim Weißen Ring, bei der Polizei. Das LKA hat sie vor zwei Wochen angerufen, seitdem ist nichts passiert. „Das Attentat“, sagt sie am Ende, „war in meinem Wohnzimmer.“

Christian Göke, Porträt

Es gibt Sätze, die passen besser zu einem Hippie als zu Christian Göke. Dabei war er sicher schon einiges in seinem Leben, Soldat zum Beispiel oder Jäger oder Geschäftsbereichsleiter oder Unternehmensberater. Aber diese Flower-Power-Sache, die hat er mit Sicherheit nie ausprobiert. Christian Göke steht also am Ende eines Spaziergangs auf dem Messegelände, seinem Messegelände, und sagt diesen Hippie-Satz: „Die Hauptaufgabe eines jeden Menschen ist es doch …“

Er unterbricht sich: „Haben Sie Kinder?“ Kopfschütteln.

Wieder ansetzen: „Die Hauptaufgabe ist es also, herauszufinden, was man machen will mit seinem Leben.“

Das ist ein großer Satz, und Göke sagt ihn so nachdenklich, dass man ihm glaubt, dass es mehr gibt für ihn als Zahlen und Diagramme und Bilanzen, denen er als Berliner Messe-Chef sein halbes Leben verschrieben hat. Da gibt es Freundschaft und Liebe, wichtige Gespräche, Rotwein, gute Literatur jenseits von „Meine-erste-Million“-Ratgebern. „Wir wissen doch im Grunde nichts“, sagt er noch. Aber warum will ein Manager mit knapp 500.000 Euro Jahresgehalt und, wie er sagt, „einem der spannendsten Jobs in Berlin“, Mitglied mehrerer Aufsichtsräte (unter anderem Hertha und Visit Berlin) – warum will dieser Mann der Messe bei einem Spaziergang das „Leben an sich“ diskutieren? Um im Bild zu bleiben: Lässt sich das Leben denn „vermessen“?

Das Berliner Jahr lässt sich zumindest ganz gut in Messen, Festivals und Kongresse einteilen. Es gibt die typischen Besucher der Grünen Woche (Latzhose), der Internationalen Tourismus-Börse (Rollkoffer) und der Internationalen Funkausstellung (Freisprechknopf im Ohr). Abseits vom Messegelände in Charlottenburg gibt es noch die Fashion Week, das Theatertreffen und die Berlinale. In Berlin gibt es zu fast allen Lebensbereichen ein Großereignis. Selbst die Jugend (YOU!), der ungehemmte Sex (Venus!) und der ordinäre Fruchtsalat (Fruit Logistica) haben ihre eigenen Messen. Für Christian Göke sind all das Märkte, in denen es Spaß macht, sich auszukennen.

Dem ersten Eindruck nach, als Göke aus dem Fahrstuhl kommt, ist er zunächst ein Mann, der schnell läuft, Hände fest drückt, Augenkontakt hält und auffällig deutlich spricht. Der Mantel sitzt, das Lachen auch, um die Frisur muss er sich keine Sorgen machen und die gute Laune ist nicht aufgesetzt. Alles drückt Verbindlichkeit und Optimismus aus. Das sind so viele „Softskills“ auf einmal, dass es einschüchternd wirkt. Auf die Frage, wie es ihm gehe, sagt er mit langem „ie“: „Ziemlich gut.“ Dann aber auf dem Weg zum Funkturm geht es schon um seinen Job. Seit einem Jahr ist er jetzt Vorsitzender der Geschäftsführung bei der Messe. Er sagt, das sei wie „permanenter Bildungsurlaub“. „Ich muss die Themen der Branche antizipieren“, sagt er, „damit die Messen weiterhin relevant bleiben.“ Hinzu komme, dass alles global geworden sei und somit sein Geschäft noch komplexer und schnelllebiger. Das schließt natürlich mobile Applikationen ein, Apps, die es inzwischen zu jeder Messe einzeln gibt. „Als ich hier 2000 herkam“, sagt er, „gab es noch nicht einmal E-Mail oder einen ordentlichen Internetauftritt.“

Doch gerade als er vom Stress des Alltags erzählt, gelangt er zu einem Ort etwas abseits auf dem Messegelände: Ein japanischer Garten. „Ist das nicht sonderbar hier?“, fragt er. Er zeigt auf die Bäume, den Teich mit Koi-Karpfen, die Brücke. Er komme hier viel zu selten her. Nur der Verkehrslärm erinnert daran, dass gleich nebenan der am stärksten befahrene Verkehrsknotenpunkt Deutschlands ist: die Avus. Dann muss Christian Göke doch lachen und sagt: „Das ist schon irre, in Berlin war soviel Geld damals“, sagt er, „dass sie einfach nicht wussten, wohin damit.“ Diesen Garten habe er trotzdem erst einmal so gelassen. „Das ist herrlich für unsere Mitarbeiter, aber für die Messe kann man ihn nicht einbinden.“

Dabei würde es gerade an diesem Wochenende passen, wenn die Besuchertage der Internationalen Tourismus-Börse (ITB) zum 48. Mal stattfinden. Wieder sind alle Hallen ausgebucht, wieder ist es die größte Messe ihrer Art weltweit: 10.147 Aussteller aus 189 Ländern zeigen fünf Tage lang, wo es noch richtig schön ist in der Welt. So ein Zen-Garten könnte da für gestresste Gäste eine Erholung sein. Doch es gibt keine Verbindung von den Messehallen. Der Park wirkt aber nicht vernachlässigt, eher unendlich geduldig, in sich ruhend.

Im Gegensatz dazu wirkt das Kunstwerk von Ursula Sax „Looping“ fast aufregend. Göke geht an der großen gelben Spirale vorbei in Richtung Funkturm und schaut auf das ICC gegenüber. Er mag auch dieses Gebäude, das Raumschiff. „Es wurde gebaut in einer Zeit, als man nicht dachte, dass es 40 Jahre später umgebaut werden könnte.“ Die Haustechnik sei unter dem Erdgeschoss verlegt, üblich für die Zeit, aber heute unpraktisch. Insgesamt habe das Gebäude nur 16 Prozent Nutzfläche. „Der City Cube, den wir in diesem Jahr öffnen, hat 80 Prozent Nutzfläche.“ Ja, der Eröffnungstermin steht fest, und: „Man braucht ein Datum, auf das man hinarbeitet.“

Als Christian Göke oben auf der Aussichtsplattform des Funkturms steht, könnte das auch der Tower eines Flughafens sein. Zu diesem Ausblick passen Sätze mit Superlativen: „Diese Gebäude sind im Prinzip der größte Brückenbau der Welt.“ Er meint damit, dass fast 80.000 der insgesamt 160.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche auf Stelzen gebaut wurden. Dann zeigt er auf die einzelnen Gebäude, die ersten Messehallen aus Sandstein aus der Nazi-Zeit, das frisch renovierte Marshall-Haus aus den 50er-Jahren, die späteren Messegebäude aus den 70er- und 90er-Jahren. Doch einen Superlativ hat er sich aufgespart: „Nirgendwo in Deutschland wird mehr Umsatz pro Quadratmeter Hallenfläche gemacht als an diesem Ort.“

Zahlen sind sein Element, mit ihnen kann er gut umgehen, er schaut auf Orte und ihm fallen sie sofort ein. Der Südeingang: „Bis zu 70 Prozent nutzen ihn jetzt.“ Mitarbeiter: „Wir haben rund 8000, die hier Tag und Nacht eine Messe aufbauen.“ Hotels: „Berlin hat 130.000 Betten, 40.000 mehr als New York.“ So könnte man das weitertreiben, jeder Mensch produziert ja ständig Werte, Zahlen, Fakten, Kurvendiagramme. Doch seine Freundin – so hat er einmal gesagt – erinnere ihn daran, dass er nicht alles in Zahlen ausdrücken könne. Und wenn er für ein paar Sekunden auf dem Turm steht, auf die Messe schaut, keine Zahl erwähnt, dann kann man das sehen, kein Hippie, aber …

Auf dem Weg nach unten erzählt Göke von seinem Morgenritual. „Ich stehe früh auf und mache die fünf Tibeter“, sagt er, „dann ist mein ganzer Körper einmal gedehnt.“ Früher sei er Fußballer gewesen, habe während seines Jurastudiums in Italien in der B-Liga gespielt. Sport habe ihm viel über das Leben gezeigt: die eigenen Grenzen, die Leistungsfähigkeit, auch den Respekt vor dem Altern. Nach einer Verletzung und jetzt mit 48 Jahren ist für Christian Göke Yoga der wichtigste Sport.

Statt Leistungsorientierung (Tore schießen) konzentriert er sich jetzt auf die Verbindung zwischen Körper und Geist. Die erste Übung der „fünf Tibeter“ geht so: Die Arme anheben und sich um die eigene Achse drehen. Nach einigen Umdrehungen die Augen schließen und auf sein Schwindelgefühl achten. Überhaupt: Auf sich achten. Einatmen, ausatmen. Wenn er so nachdenklich dasteht, oben auf dem Funkturm und auf die Messe herabschaut, ist es gar nicht mehr so schwer sich vorzustellen, woher diese Konzentration kommt, die man Managern als wichtigste Eigenschaft nachsagt.

Auf dem Weg zum Sommergarten sagt er, dass er immer einen Beruf ausüben wollte, in dem er etwas bewegen kann. „Lange Zeit dachte ich, Unternehmensberater sei der einzige Beruf, in dem man das kann.“ Man reise um die Welt, gestalte sie mit, bereite klare Entscheidungen vor. Inzwischen sehe er das anders. „Manchmal glaube ich, das ist alles ein ganz schöner Mist.“ Das Leben lasse sich nicht so einfach einteilen. Die einzige Grundregel sei eben, dass man herausfinden müsse, was man im Leben wolle. „Wenn ich Kindern beim Spielen zuschaue, dann kann man das sehen: Der eine will etwas bauen, der nächste blättert in einem Bilderbuch, ein Baby malt am liebsten oder planscht im Wasser.“ Das klingt verträumt, ist es aber nicht. Bei Christian Göke hat selbst das Sprechen über Kinderspiele etwas mit seinem Nachdenken über die beste Managementform zu tun. Jeder ist in einer Sache gut. Er muss nur herausfinden worin und dann noch besser werden. Göke zitiert dann gern die beiden Pulitzer-Preis-Gewinner Will und Ariel Durant, die 1965 das Buch „Lessons of history“ geschrieben haben. Darin geht es um den Vergleich von Freiheit und Gleichheit.

Göke sagt: „Wenn die Gleichheit groß ist, geht die Freiheit des Einzelnen zurück und dann schließlich die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft.“ Das könne man an den kommunistischen Beispielen bestätigt finden, extrem in Nordkorea. „Lasse man aber der Freiheit zu viel Raum, dann geht es plötzlich nur noch nach Darwin und dem Recht des Stärkeren.“ Kurz: „Der Gleichheitsgedanke wirft den Freiheitsdenkenden einen Knüppel zwischen die Beine.“ Zwischen diesen beiden Begriffen könne man alles durchdeklinieren: Volksentscheide, Rekommunalisierung, Freiheitsbewegung.

Bei Christian Göke klingt es manchmal so, als ginge es immer um die Optimierung von Prozessen, um das „Beste und Meiste rauszuholen“ aus einer Sache, sei das eine Messe oder eine künstlerische Fertigkeit. Dabei ist es bei ihm offensichtlich so, dass er sich nicht nur mit Messen beschäftigt, weil er dafür Geld bekommt. Er kann mühelos begründen, warum solche Geschäftstreffen nie an Reiz verlieren werden, fernab des Rituals. „Face to Face kann nie ersetzt werden“, sagt er, „einen Rechtsanwalt, Arzt oder Psychologen will man schließlich auch immer in Person treffen.“ Und er kann dann schnell eine ITB mit Beethoven vergleichen. „In zehn Jahren wird jeder noch Beethoven hören“, sagt er, „aber Lady Gaga vielleicht nicht mehr.“ Der Komponist sei länger am Markt gewesen und habe sich etabliert. Der „Lindy-Effekt“ gelte auch für Messen.

Plötzlich kommen ihm im Sommergarten einige Mitarbeiter entgegen. Zu einem ruft er: „Hallo, wie war die Krisenstabübung?“ Ein paar Meter weiter sagt er zu einer Kollegin auf Krücken: „Hey! Geht es besser?“ – Sie sagt grinsend: „Die Arme sind jedenfalls stark.“ Er zeigt auf die Kantine, zu der sie alle unterwegs sind: „Das ist der Haupttreffpunkt, nirgendwo wird so viel gequatscht.“ Aber das sei gut, sagt er, jeder könne vom anderen lernen, aber eben nur, wenn man spricht und zuhört. Er macht das wirklich immer wieder, diese Vermischung von privatem Vergnügen und Optimierung von Prozessen.

Am Ende steht Christian Göke wieder vor dem Kunstwerk von Ursula Sax, dem „Looping“, der aussieht wie ein gefrorener Geistesblitz. Zahlen, die er so mag, gibt es nur wenige zu diesem Werk: 50 Meter lang, seit 22 Jahren hier. Vielleicht schauen es manchmal Autofahrer verträumt an, wenn sie mal wieder im Stau auf der Avus stehen und die hässliche Tribüne auf der anderen Seite nicht sehen wollen. Oder ITB-Besucher, wenn sie mit Rollkoffer abends in Richtung S-Bahn laufen. Dass dahinter noch ein Zen-Garten liegt, wissen nur die Messemitarbeiter und ihr Chef. „Was weiß ich denn?“, fragt er noch. „Vielleicht hat der Gärtner des japanischen Gartens genauso viel bewegt wie ich in meinem Büro da oben.“ Die Frage ist doch, ob er jetzt in diesem Moment genau das tue, was er immer tun wollte? Christian Göke kennt die Antwort auf diese große Frage. Aber nur für sich selbst.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 9.3.2014

Alexander Ljung, Porträt

Alexander Ljung wird als kleiner blauer Punkt angezeigt, der sich auf der Straße „Maybachufer“ langsam in Richtung eines Taxisymbols bewegt. Der echte Alexander Ljung läuft auch wirklich in Person das Maybachufer in Richtung Türkischer Markt, wie der Punkt auf der Mobiltelefon-Landkarte. Aber etwas stimmt mit dem blauen Punkt nicht. Er ist etwas „verrutscht“, das heißt, das Telefon hat Alexander ein paar hundert Meter zu weit westlich verortet. Dorthin aber hat Ljung ein Taxi für seine Mitarbeiterin hinbestellt. Die muss doch jetzt sofort in Tegel zu ihrem Flug in Richtung London… Da klingelt das Telefon und der Taxifahrer ruft an – sein gelbes Auto ist von Weitem zu sehen. Ob er noch warten solle? „Ja, wir sind gleich da.“

Das ist so eine typische Alexander-Ljung-Szene. Zum einen, weil der 32 Jahre alte Firmenchef etwas Analoges wie das Taxi-Rufen lieber digital macht und außerdem, weil dieser Moment mit der Schnittstelle zwischen Realität und Virtueller Welt zu tun hat: Dem abstrakten Punkt auf der Landkarte und dem realen Taxi in Kreuzberg, das dort vorn wartet. Gleichzeitig geht es noch um einen Flug in irgendeine Metropole, dorthin, wo die Mitarbeiter seiner Firma eben arbeiten. Und wie in allen Metropolen dieser Welt, ob Tokio oder New York, ob Karachi oder Melbourne, ob Lima oder Johannisburg – es gibt sie inzwischen überall, die Nutzer von „Soundcloud“.

Ljung ist zusammen mit Eric Wahlforss Gründer dieses mobilen Netzwerks, der wichtigsten Musik- und Klang-Community für Mobiltelefone und Computer. Jeder der rund 250 Millionen Webseiten-Besucher kann Klänge, Töne oder ganze Alben in die Datenwolke hochladen – ob Profis wie die Band „Sonic Youth“ und einfacher Ton-Bastler zuhause – und kann diese mit anderen Netzwerken verlinken. Diese Klänge werden dann nicht als Punkte dargestellt, sondern als Klangkurven, wie früher in Synthesizern. Diese Kurven können an jeder Stelle angeklickt, vorgespielt und vorgespult sowie gestoppt und kommentiert werden. Das Programm wächst nicht von allein, es wächst durch die Benutzer. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Soundcloud das „Youtube“ für Töne geworden ist.

Alexander Ljung lässt sich von diesem Druck nichts anmerken, als er aus der „Arena“ in Treptow kommt. Er hat in der alten Fabrikhalle an diesem Morgen einen Vortrag vor Hunderten Technikfans auf der „Techcrunch“-Konferenz gehalten. Er kündigte auf der Bühne an, dass Soundcloud mit dem Foto-App-Riesen „Instagram“ zusammenarbeiten werde.

Er ist gut gelaunt, fast wie diese jungen Startupper, die gerade erst ihre große Firmen-Idee hatten und diese deshalb mit 200 Prozent vertreten müssen. Er sagt, dass seine Schuhe nicht unbedingt auf das Foto müssten. „Da sind Flecken drauf, die stammen aus einer Nacht in einem Club.“ Emma, seine Assistentin, die in einer Stunde zum Flieger muss, fragt: „Rotwein?“ Alexander Ljung sagt: „Nein, Blut, mein eigenes.“ Schon sind wir mittendrin in der wilden Welt, in der er lebt oder leben könnte. Tagsüber Millionen Menschen über Klänge miteinander verknüpfen und abends auch mal im Club zu Klängen engagiert tanzen, vielleicht angesprochen werden, wie auf Tech-Veranstaltungen hier in der Arena. „Das kommt vor“, sagt er, „aber natürlich eher bei solchen Treffen oder im Club.“ Aber er gehe schon lange nicht mehr intensiv in Berlin aus, dazu fehle ihm schlicht die Zeit.

Dabei war genau dieser Ruf Berlins als tolerantes Techno-Mekka einer der Gründe für die beiden Schweden, hier das Startup aufzubauen. So wie viele junge Unternehmer noch heute haben sie im Café St. Oberholz in Mitte angefangen. Dort gab es freies W-Lan und guten Kaffee, dort war es, wo sich die beiden fragten, warum es so kompliziert sein müsse, große Sound-Dateien zu verschicken. Also gründeten sie eine Plattform, um das zu ändern. Damals kannten den Begriff der Datenwolke, der sogenannten Cloud, nur ganz wenige Internet-Spezialisten. Sie überlegten lange über den Namen und am 12. November 2008 gründeten die beiden das kleine Startup „Klangwolke“: Soundcloud.

Als wir die Puschkinallee erreichen, treffen wir auf Frauen und Männer der Parkreinigung. Sie blasen mit einem Schlauch die heruntergefallenen Blätter zu einem großen Haufen zusammen. Es wirkt wie der Einbruch des Realen im Gespräch über Dateien und virtuelle Millionen Euro. Wir laufen auf die rechte Uferseite, vorbei an jungen Eltern mit Kindern, die sichtlich gerade erst Laufen gelernt haben. Es ist diese Generation, die schon mit drei Jahren Multifunktionsjacken tragen und auch mit dem Digitalen ganz selbstverständlich umgehen werden. Für einen Moment reden wir nicht von Startups und Dateien, sondern von seinem Lieblingsbuch, dass Ljung in diesem Winter zum zweiten Mal lesen will. Es heißt „West of Jesus“ von Steven Kotler.

Es geht darin um einen Surfer, der genau wie Alexander Ljung durch die Welt reist, allerdings nur zu Orten, an denen man surfen kann. Auf Wellen, nicht im Internet. Ljung ist selbst Windsurfer und Skateboarder. „Surfen ist anders als Tennis oder Skifahren“, sagt er, „weil viele Surfer eine spirituelle Suche mit ihrem Hobby verbinden.“ Dieser Autor jedenfalls begibt sich auf die Suche nach einer Legende, einem Surfer, der das Wetter kontrollieren kann. Diesen Mythos erzählen sich Surfer in Bali genauso wie an den Stränden Mexikos. „Auf dieser Suche trifft er interessante Menschen und beschreibt diese sehr genau.“ Das Buch sei eine Mischung aus Wissenschaft und Erzählung, sagt Ljung und sagt dann noch diesen schönen Satz: „Ich mag dieses Gott-Leben-Ding.“

Mit Glück und Glauben hatte auch die erste erste Zeit der Soundcloud-Gründung zu tun. Schließlich wurden im gleichen Jahr 2008 noch mindestens 400 andere Startups in Berlin gegründet, für die vielen Investoren war Soundcloud damals nur ein kleiner orangener Punkt zwischen so vielen anderen Berliner Kleinst-Unternehmen. „Anfang 2009 war eine Zeit, zu der es in Berlin niemanden gab, der investieren wollte“, sagt er. „Wir hatten damals nur das Versprechen, dass Soundcloud einmal groß werden könnte.“ Aber es gab erst wenige Tausend Nutzer. Die beiden Gründer hatten erst ein kleines Büro angemietet, damals schon mit Dachterrasse, auf der Alexander Ljung viele Zigaretten zur Beruhigung rauchte. „Es war wirklich hart damals“, sagt er. Er habe mit Eric Wahlforss immer wieder zusammen gesessen und sich gefragt, wie lange das noch so weiter gehen könne. Sie konnten den Mitarbeitern für zwei oder drei Monate kein Gehalt zahlen. „Dass sie dabei geblieben sind, war für uns der größte Vertrauensbeweis.“

Der Rest ist eine Geschichte, die sich Berliner Startupper immer wieder zur gegenseitigen Motivation erzählen, wenn es mal nicht so gut läuft: Die beiden Schweden bekamen dann doch einen Investor, der ihnen eine 2,5 Millionen Euro große Anschubfinanzierung gewährte. Und nur ein Jahr später hatten sie die erste Mitglieder-Million geknackt. Von da an ging es weiter aufwärts mit der orangenen Klang-Wolke: Fünf Millionen Nutzer im Jahr 2011. Der US-Schauspieler Ashton Kutcher investierte in die beiden Schweden und die Büroräume wurden größer: Sie zogen in die Torstraße, wo alle Startups ihre Büros hatten. Sie eröffneten später mehrere Geschäftsräume in Berlin und zogen erst vor wenigen Monaten alle zusammen in die Greifswalder Straße in Friedrichshain. Im Januar dieses Jahres nimmt Ljung den Chrunchie-Preis für das „Beste Internationale Startup“ entgegen – und im kommenden zieht die Firma mit ihren rund 200 Mitarbeitern in die „Factory“ in Mitte. Sie wird dort fast zwei Drittel der Räume einnehmen.

Doch diese Räume wird Alexander Ljung wohl nur selten sehen, da er wie auch jetzt die meiste Zeit des Jahres in der Welt unterwegs ist. „Wenn mich Freunde anrufen“, sagt er, „fragen sie meist zuerst, wo ich denn sei.“ Er reise viel, zu anderen Büros und möglichen Kooperationspartnern. „Es ist für mich normaler geworden, in einem Raum plötzlich dem US-Rapper Dr. Dre zu begegnen oder einem Mitglied des britischen Königshauses.“ Wenn seine Eltern ihn dann in der gedruckten Tageszeitung zu Hause in Stockholm sehen, dann ahnen sie, dass ihr Sohn zwar bei einer Firma arbeitet, die vor allem virtuell existiere, die aber offenbar wichtig sei. „Ich kann meinen Eltern nur schwer erklären, dass meine Arbeit eine Viertelmilliarde Menschen erreicht“, sagt Ljung, „aber Sie haben eine Ahnung davon.“

Seine Mutter hat eine „Alexander-App“ aus dem Internet geladen. Es ist nicht Soundcloud, sondern „Foursquare“, eine App, mit der man sehen kann, wer sich gerade wo aufhält. Sie nimmt also in Stockholm immer wieder ihr Mobiltelefon in die Hand, ihr Sohn ist ihr einziger „Freund“ in diesem Netzwerk. Sie schaltet die App ein, um zu sehen, wo er ist. Er wird dann als kleiner Punkt angezeigt und je nachdem, ob in Amerika, Asien oder Europa, sie weiß dann, ob er gerade einen Sonnenauf- oder -untergang erlebt und ob er auf eine Nachricht schnell antworten wird.

Das erzählt er, als wir schon die Brücke vom Paul-Lincke- zum Maybachufer überquert haben. Wir reden über seine Lieblingsserie („Twin Peaks“ und „West Wing“), seine Lieblings-Podcast („The Bugle“ und „99% Invisible“) und in welchen Netzwerken außer Soundcloud er überall vertreten sei: Twitter, Foursquare, Facebook, Instagram. Seit Neuestem nutze er aber vor allem „Path“, eine in Deutschland noch wenig verbreitete mobile Facebook-Alternative, bei der nicht mehr als 150 Freunde erlaubt sind. „Ich bin dort wirklich privater und habe auch auf Facebook einige Freunde gelöscht.“ Er versuche zudem, nicht zu viele Apps auf seinem Telefon zu haben. „Für jede neue App, die ich herunterlade, muss ich erst eine andere löschen.“

Der Internet-Unternehmer, der seine Firma auf Wachstum auslegt, ist selbst also auf dem Entschleunigungs-Pfad. Er trägt fast ausschließlich schwarze Kleidung, weiß wie der „aufrechte Hund“ beim Yoga geht und ist online eben vorsichtig: Bei vielen kostenlosen Applikationen bezahlt der Nutzer schließlich mit privaten Informationen über sich selbst, die außerdem noch von Geheimdiensten mitgelesen werden. Privates ist über ihn nur wenig zu lesen, außer, dass er nach vielen Jahren in Mitte jetzt hier in der Gegend um das Maybachufer wohnt und seit kurzem einmal mehr mit dem Rauchen aufgehört habe. Zu dieser Zurückhaltung passt seine eigene sehr knappe Selbstbeschreibung in seinem Soundcloud-Profil: „Ich bin Alex. Ich mag Sound.“

Es ist einer der wenigen Spaziergänge dieser Serie, in dem kein Café aufgesucht wird, sondern der Spaziergang ohne Pause fast zwei Stunden lang in schnellem Schritt durch Berlin führt. Es ist fast eine Wanderung, vorbei am türkischen Wochenmarkt, an einer Straßensperrung und Männern, die Boccia spielen – alles Dinge, die keine Karte im Mobiltelefon anzeigen kann, wenn man als Punkt auf der Landkarte daran vorbeiläuft.

Am Ende des Spaziergangs erzählt er dann doch noch etwas von sich und der Gefahr, dass dieser Erfolg und all der Zuspruch von Millionen Menschen auch eine Gefahr darstellt. Zum Beispiel für die Freundschaft. „Das war nicht immer leicht“, sagt Alexander Ljung und meint seine Freundschaft zu Eric Wahlforss, dem anderen Chef der Firma. Sie fordern einander heraus, sagt er, und sind beide sehr obsessiv in ihrer Arbeit. Immer gibt es Geschichten in der Startup-Welt, wie Freunde eine Firma gründen und einander über Details zerfleischen. „Wir aber haben eher als Co-Unternehmer begonnen“, sagt er, „und sind jetzt wirklich zu engen Freunden geworden.“

Gerade erst haben sie gemeinsam ihren Geburtstag gefeiert und irgendwie auch die fünf Jahre Soundcloud. Sie waren in Brooklyn, sie waren vorher gut essen, sie gingen in eine große Fabrikhalle, steckten die Mobiltelefone weg, es lief laut Musik und die Wolken am Himmel waren einfach nur: Wolken.

Egon Bahr, Porträt

Ungeheuer! Fabelhaft! Toll! Unglaublich! Gewaltig! Faszinierend! Oder auch: schrecklich!

Das sind die Wörter, die Egon Bahr oft benutzen wird auf unserem Spaziergang durch das Berlin seiner Vergangenheit. Dieser Mann ist mit seinen 90 Jahren noch immer sehr begeisterungsfähig, für die Dinge, die in der Stadt, in Deutschland und eigentlich in der ganzen Welt passieren.

Wenn er diese großen Wörter ausspricht, dann meist gedehnt, etwa so: “Uuuungeheuer.” Sie zeigen, wie präsent ihm die Vergangenheit noch ist, als ob er nur zur Seite in den Rückspiegel eines Autos blicken müsste. An US-amerikanischen Rückspiegeln ist immer eine Warnung aufgedruckt: “Objekte, die Sie im Rückspiegel sehen, können näher erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind.”

Wie nah Egon Bahr diese Geschichten aus der Vergangenheit wirklich noch sind, wird schon nach den ersten drei Minuten in seinem Büro deutlich, als er begründet, warum er auf diesem Spaziergang nicht viel laufen werde. Er sagt: “Ich bin Anfang 1942 zur Wehrmacht eingezogen worden, zu den sogenannten Stoppelhopsern.” Das war die Kompanie, die nach Russland marschieren sollte und mit viel Glück wieder zurück.

Er aber meldete sich freiwillig zur Luftwaffe. “Diese Neigung, nicht zu laufen, war damals schon da und hat sich gehalten, auch wenn ich es sehr bedaure.” Er fühle sich behindert, aber nicht begrenzt. Dieser Unterschied ist ihm wichtig. Dabei sei ihm heute klar, was Laufen sei: “Kosssstbar.”

Zum Spaziergang liegt deswegen eine Berliner Straßenkarte auf dem Tisch. Bahrs Reiseproviant daneben: ein Glas Wasser und eine Marlboro-Packung mit drei Zigaretten. Er ist neben Altkanzler Helmut Schmidt einer der wenigen, die hier in der Berliner SPD-Parteizentrale rauchen dürfen.

Das riecht man sofort, wenn man das Zimmer betritt. Es wird ein gemütlicher Spaziergang werden. Egon Bahr setzt sich seine “richtige Brille” auf, die, mit der er Dinge erkennen kann, die ganz nah bei ihm sind.

Wir beginnen in dem Haus, das nach dem Mann benannt ist, der über viele Jahre Egon Bahrs Partner in der Politik und guter Freund war: Willy Brandt. Er, der Bürgermeister, Bahr sein Sprecher, Brandt der Kanzler, Bahr sein Staatssekretär, er, der zurücktritt, Bahr, der vor laufender Kamera weint. Unter Brandt hat Bahr die Ostverträge ausgearbeitet, hat mit dem Passierscheinabkommen die Besuche zwischen Ost- und Westdeutschland möglich gemacht, hat das berühmte Schlagwort “Wandel durch Annäherung” geprägt.

Nach Egon Bahr ist bisher kein Haus benannt worden, wohl aber eine Straße in Treffurt in Thüringen. Dort wurde er 1922 geboren, bei der Einweihung war er dabei. Doch wenn er darauf zurückschaut, sagt er kein großes, gedehntes Wort, sondern einfach: “Ja, man freut sich.”

Egon Bahr nimmt die Straßenkarte zur Hand. “Augenblick”, sagt er. Die erste Station der kleinen Karten-Reise soll seine Schule sein. Er sucht sie. “Wir sind ja nicht in Eile.” Er zündet sich eine Zigarette an und: “Hier, am Perelsplatz, da war es.” Er meint das Friedenauer Gymnasium, heute heißt es Friedrich-Bergius-Oberschule. Er verknüpfe viele gute Erinnerungen mit diesem Ort.

Er habe hier Peter Bender kennengelernt, mit dem ihn eine “ungebrochene Freundschaft” verband. “Weder Peter noch ich waren in der Hitlerjugend”, sagt er, “und deshalb mussten wir am Sonnabend nachsitzen, während die anderen beim Wehrdienst waren.”

Wieder blitzt er auf, dieser Krieg. Ja, er träume noch davon, am meisten vom Silvesternachmittag 1943: Er hatte den Auftrag, Post von einem Flugfeld zu holen, als plötzlich eine feindliche Maschine auf ihn zuflog und schoss. “Ich habe mich auf den Boden geworfen und gemerkt, wie beruhigend ein kleines Grashügelchen sein kann.” Er schaute auf. “Das Ferkel kam noch einmal zurück.” Er sagt, er habe das als eine Gemeinheit empfunden, an Silvester Jagd auf einen Soldaten zu machen. Das war: “Uuuungeheuer.”

Bahr will weiterlaufen. Er nimmt wieder die Karte in die Hand, rückt die Nahsehbrille zurecht und sucht einen Ort in Weißensee. Rennbahnstraße 113, dort wohnte er in der Zeit, als er zur Schule ging. Drei Zimmer, die Straßenbahn fuhr nicht weit davon, hier hat er Brötchen geholt, von hier ist er in den Krieg gezogen. Und er hat noch Jahre später von dieser Ortskenntnis profitieren können.

Als er nach dem Mauerfall wöchentlich drei Tage in Straußberg bei dem Abrüstungsminister Rainer Eppelmann saß, konnte er dem ostdeutschen Fahrer, der ihn zum Flughafen Tegel bringen sollte, Schleichwege in Weißensee zeigen, die der nicht kannte.

Von Weißensee aus führt Bahr seinen Finger in Richtung Ostseestraße, die zur Wisbyer, dann Bornholmer, Osloer und schließlich Seestraße wird. Dann beschreibt er den 20. April 1945, der Krieg war noch nicht zu Ende, und es war Hitlers Geburtstag. An diesem Tag also zog er mit seiner Mutter und vielen Kartons und Taschen in eine neue Wohnung.

“Ich weiß noch, wie hinter uns die russischen Granaten in die Stadt flogen.” Mit Fahrrädern liefen sie bis zur Ecke Seestraße/Müllerstraße. “Da plötzlich wackelte eine Straßenbahn, Linie 28, vor uns in Richtung Tegelort – gewalllltig!” Seine Mutter und er stiegen ein und fuhren in das Haus in Tegelort von Dorothea Grob, seiner späteren Frau.

Sie war damals schwanger, und er spricht heute noch von Glück, dass die Sowjets sie nicht vergewaltigten. Sie kamen bewaffnet in den Luftschutzkeller in der Wohnung. Alle hatten Angst, Bahr auch, aber er stellt sich vor seine Frau. Sie blieb verschont, die Russen nahmen andere. “Keine schöne Erinnerung, nein.” Er schaut zur Seite, als könne das dieses Bild im Rückspiegel vertreiben.

Bahr war bis zu ihrem Tod mit Dorothea verheiratet, trennte sich in den 70er-Jahren, ließ sich nie von ihr scheiden. Vor einem Jahr starb sie. Für die Beerdigung hatte sie sich bestellt: “What a Wonderful World” von Louis Armstrong. “Ein tolles Lied”, sagt er. Für ihn war dieses Lied ein Zeichen, dass sie im Frieden aus der Welt schied. Bei seinem letzten Treffen hat sie ihm das Ende angedeutet. Sie hatte beim Abschied ein Wort benutzt, dass sie noch nie gesagt hatte … Er will das Wort aber nicht gedruckt sehen.

Für einen Moment ist es still im Büro. Wie weiter, wenn der Tod im Raum steht? Bahr winkt mit Zigarette in der Hand ab: Er habe ein entspanntes Verhältnis zum Tod. Dem entkomme sowieso niemand. “Die Vorstellung, schmerzlos zu sterben, das ist ein Ziel, das ich noch erreichen will”, sagt er.

Aber richtig, die Einschläge seien näher gekommen. Willy Brandt vor 20 Jahren, Peter Bender vor vier Jahren. Doch es sei schön, wenn noch Post komme, wie neulich vom Klassenkameraden, der jetzt auch 90 Jahre alt sei, wie er.

Egon Bahr nimmt die Karte wieder zur Hand: Schulenburgring 5, gleich beim Flughafen Tempelhof. Dort hat er später gelebt, während der Luftbrücke. Auch die ist ihm: ganz nah. “Ich hörte natürlich ständig die Flugzeuge.” Ein “unglaaaublich” angenehmes Geräusch sei das gewesen. “Wenn plötzlich Stille war, wachte man auf und fragte sich, was ist los, funktioniert die Luftbrücke nicht mehr?”

Vielleicht sind es Erlebnisse wie diese, die für ihn den Wandel durch Annäherung so unbedingt nötig machten. Dieses Gefühl, dass Berlin nicht für immer geteilt sein darf. Noch heute erreichen ihn Anfragen von Doktoranden dazu. “Immer mehr sind auch Anfragen aus dem Ausland dabei”, sagt er. Zum Beispiel aus Südkorea, deren Verhältnis zum Nachbarn Nordkorea noch immer sehr gespannt ist. Zuletzt war er im Jahr 2005 dort. Man kennt seinen Namen in Südkorea. Dessen früherer Präsident, Kim Dae-jung, wurde wegen seiner Politik der “Egon Bahr Südkoreas” genannt.

Doch wir sind in Berlin, und der nächste Schritt auf Bahrs Reiseroute ist der S-Bahnhof Köpenick. Dort hat er am eigenen Leib erfahren, was das Passierscheinabkommen im Jahr 1963 bewirkt hat. 700.000 West-Berliner sind damals nach Ost-Berlin gereist. Egon Bahr war einer von ihnen, besuchte seine Tante Valerie, die er nur Tante Wally nannte.

“Sie lebte in einem Haus, das eher eine Laube war.” Er sucht auf der Karte die Gegend um den S-Bahnhof ab und findet nur Straßen mit sehr seltsamen Namen: Dornröschenstraße, Rotkäppchenstraße, Frau-Holle-Straße. “Die haben sicher anders geheißen, aber da in der Gegend war es.” Es habe Gans gegeben. “Faaaabelhaft” habe die geschmeckt.

Er nimmt die Karte noch einmal in die Hand und schaut einfach so darauf, raucht, verschafft sich einen Überblick über Berlin. Er sagt: “Wissen Sie, es gibt für mich so viele Orte hier, die eine Bedeutung haben.” Er kenne die Stadt ja noch aus der Vorkriegszeit.

Auch den Potsdamer Platz. Heute sei dieser Platz für ihn “ein Stück vollzogener Einheit, angenommen von den Menschen”. Imposant sei es dort, aber von Schönheit könne keine Rede sein. Berlin sei nie eine wirklich schöne Stadt gewesen. “Aber sie war immer: fassssszinierend!”

Egon Bahr und Berlin sind eben miteinander verbunden. Er hat den Mauerbau und den Mauerfall miterlebt. Diesen Tag wird er nicht vergessen, auch, weil es für ihn mit einem seiner wichtigsten Wirkungsstätten in Berlin verknüpft ist: dem Schöneberger Rathaus, wo Willy Brandt von 1957 bis 1966 Bürgermeister war, wo Egon Bahr 1960 sein Sprecher wurde. Seine letzte große Erinnerung an dieses Haus geht auf den 10. November 1989 zurück.

Er habe im Zimmer von Walter Momper gestanden, dem damaligen Regierenden Bürgermeister, während unten die Kundgebung stattfand. Brandt hielt eine Rede: “Jetzt wächst zusammen …”. Die Stimmung im Zimmer war einig: “Jetzt müsse man sehr aufpassen, dass das nicht außer Kontrolle gerät.”

Dann hörte Egon Bahr, mit welcher Selbstverständlichkeit “dieser Momper” plötzlich darüber sprach, dass er mit seinem Kollegen aus Ostberlin neue Übergänge vereinbart hatte. “Toll!”, sei das gewesen und auch: “Unglauuublich!” Er habe so lange kämpfen müssen, um einen oder zwei zu kriegen! Für ihn war das ein Symbol für diese völlig neue Situation. Für das Zusammenwachsen. “Dabei sind wir übrigens immer noch.”

Er spricht dann davon, dass er die Stasi-Unterlagenbehörde noch immer im Jahr 2019 schließen würde, etwas, das ihm auch Kritik eingebracht habe. Er wird laut: “Niemand kann erwarten, dass ich nun in meinen ausgehenden Jahren taktisch und gegen meine Überzeugung argumentiere!” Dieses Einsetzen für die Versöhnung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit brachte ihn wieder in die Zeitungen, die er, der ehemalige Journalist, noch immer mit Begeisterung liest.

Den aktuellen Streit um die Flughafeneröffnung verfolge er. “Es ist nicht das erste Mal”, sagt er, “dass wir für etwas Großes, Unabweisbares eine lange Zeit brauchen.” Wir, das meint, wir Berliner. Er erinnert an die Stadtautobahn oder das ICC. Er tippt auf die Karte, in die Nähe des Funkturms. “Schreeecklich unpopulär” seien diese Bauprojekte gewesen.

Wir falten die Karte zusammen und gehen dann doch noch einmal vor die Tür. Im Fahrstuhl erzählt er, was ihn gerade noch alles beschäftigt: die Wahlen in Mexiko, die “Occupy”-Bewegung in den USA, die Jugend in Russland, das nervöse Handeln von China im Fall von Ai Weiwei. Und dann der Cyberwar. Das Internet ermögliche eine “unkontrollierbare Grenzenlosigkeit”. Er sei gespannt, wie die Politik damit umgehen werde. Denn wie solle man Grenzenloses kontrollieren? Auf dem Tisch hätte genauso gut eine Weltkarte liegen können.

Im Foyer laufen wir vorbei an der großen Statue von Willy Brandt. Bahr sagt: “So verlottert ist der doch niemals rumgelaufen, aber man gewöhnt sich daran.” Draußen am Büroeingang werden Postkarten mit Fotos von Willy Brandt verkauft, keine mit Egon Bahr. Er winkt ab: “Aber es hängt doch nicht an Postkarten!”

Dann steht Egon Bahr auf der Stresemannstraße. Es ist drückend heiß. Er steht an einem Fenster, das von außen verspiegelt ist. Darin sieht er nur: die Gegenwart. Wenn er genau hinschaut, könnte er in der Fensterscheibe auch sehen, dass die Menschen, die an ihm vorbeilaufen, sich nach ihm umdrehen. Manche bleiben stehen. Aber er will jetzt nicht mehr in irgendwelche Spiegel schauen, er hat noch viel zu tun heute.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 14.7.2012