Kallstadt, wo Donald Trumps Wurzeln sind

Kallstadt.  Bevor Jörg Dörr überhaupt etwas von Donald Trump erzählt, nimmt er in seinem Büro einen Faltplan von Kallstadt, klappt ihn auf, markiert mit dem Kugelschreiber ein Kreuz auf der Freinsheimer Straße und schreibt die Hausnummer 20 daneben. „Hier sind wir“, zeigt er auf der Karte, „und dort ist der Großvater von Trump geboren.“

Wie alle im Ort spricht er „Trump“ nicht mit A, sondern mit U aus. Und bei allem, was er danach sagt, wird man als Zuhörer das Gefühl nicht los, dass dieser Tourismusbeauftragte der idyllischen Weinregion in der Pfalz es auch gerne dabei belassen würde.

Aber das geht im Frühjahr 2016 nicht mehr. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump gewinnt in den Vorwahlen an Aufwind, besonders nach dem „Super Tuesday“, bei dem Trump wie seine demokratische Gegenspielerin Hillary Clinton sieben Bundesstaaten für sich gewann. Er steht für größenwahnsinnige Forderungen („Ich werde eine große Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen“) und plumpe Parolen („Keine Einwanderung für Muslime“). Dennoch hat er Chancen, weitere Vorwahlen zu gewinnen – und sogar ins Weiße Haus einzuziehen.

Doch Jörg Dörr belasten derzeit eigentlich andere Sorgen: „Die Mandelblüte in diesem Jahr beginnt viel früher als sonst. Diese sechs ‚rosa Wochen‘ sind für unsere Region so wichtig, wie die Kirschblüte in Japan.“ Wegen des Klimawandels aber haben schon jetzt die ersten Bäume ihre charakteristische rosa Färbung angenommen, die normalerweise wochenlang mehr Gäste in die 22 Restaurants des Ortes lockt, als es ein Präsident in spe jemals vermag.

„Durch unser Dorf führt die älteste und bekannteste deutsche Ferienstraße“, sagt Dörr, „und Wein sowie Saumagen prägen unser Dorf mehr als der Kandidat in den USA.“ Mit Trump zu werben, käme ihm nie in den Sinn, auch wegen seiner unberechenbaren Äußerungen. „Was ist, wenn wir erst groß damit werben und er dann plötzlich mit einer Äußerung zu weit geht?“

Andersherum aber ist Trump in den USA inzwischen stolz auf Kallstadt. Nachdem er noch vor einigen Jahren behauptete, schwedischer Abstammung zu sein, hat er sich inzwischen selbstbewusst als Exildeutscher geoutet. „Kallstadt macht einen tough“, sagt Trump über den Heimatort seiner Vorfahren. „Aber man musste dort auch schlau sein, sonst nützt die Härte überhaupt nichts.“

Er meint seinen Großvater Frederick Trump, der 1885 in die USA auswanderte und in New York den Grundstein für den Immobilienreichtum der Trumps legte – und so Donald Trump überhaupt erst die Kandidatur ermöglicht. „Wenn ich einmal in Deutschland bin, werde ich auf jeden Fall in Kallstadt vorbeischauen.“

Er wird dann einen idyllischen Ort vorfinden: Sanierte Fachwerkhäuser, enge Gassen, gemütliche Restaurants, am Dorfrand den ältesten Mandelbaum der Welt, im Zentrum eine Zwiebelturmkirche und einen Brunnen – alles eingebettet in Weinberge. Selbst bei Regen wirkt es hier nicht trist, vielmehr bekommen die alten Steine einen frischen Glanz.

Trump ist allerdings nicht der einzige Prominente, der hier seine Wurzeln hat. So kommt auch der „Heinz“-Ketchup-Magnat aus diesem kleinen Ort in der Pfalz. Sie alle wurden in dem Dokumentarfilm „Kings of Kallstadt“ gewürdigt, der vor einem Jahr in den Kinos lief. Allerdings wettert die Hauptdarstellerin des Films, Veronika Schramm (68), eher über Trump: „Für mich ist das unbegreiflich, wie es so einer soweit schaffen konnte“, sagt sie. „Wie der seine Kontrahenten verbal angreift, das finde ich zu radikal und ja, fast“, sie pausiert, „menschenverachtend.“ Dies habe sie auch dem „Wall Street Journal“ gesagt. „Der klingt manchmal wie ein Geisteskranker.“

Andererseits, räumt Schramm ein, hätten die Kallstädter schon immer einen speziellen Spitznamen gehabt: „Brulljesmacher“. Der Ausdruck bedeutet, dass man ein bisschen Wind um sich selbst macht, auf großem Fuß lebt. „Etwas Dampf machen“, heißt es in dem 1200-Einwohner-Ort.

Schon früh spezialisierten sich die Kallstädter auf den Weinanbau und erarbeiteten sich Wohlstand. Sie waren das erste Dorf mit Kanalisation in der Region und mit anderen Vorzügen der Moderne. Die Nachbargemeinden schauten mit Neid in Richtung Zwiebelturm.

Und Donald Trump ist der größte Brulljesmacher von allen. „Was ich leite, läuft“, lautet einer seiner Sätze: „Ich werde der beste Präsident, den Gott je erschaffen hat.“ Er gibt an mit seinen Millionen, seinen Immobilien und mit seiner Herkunft.

Sollte Trump jemals Kallstadt besuchen, wird er dann wohl auch die Hand von Thomas Jaworek drücken, dem ehrenamtlichen Verbandsbürgermeister des Dorfes. Jaworek geht professionell mit dem Rummel um seine Wahlheimat um. Er hat in Großbritannien und Japan studiert, aber zog 1998 in dieses Dorf. Sein Büro ist dekoriert mit Weinköniginnen, es ist kleiner als das des Tourismusbeauftragten Jörg Dörr, aber dafür genießt es Jaworek ein bisschen, nach seiner Meinung zum US-Wahlkampf gefragt zu werden.

Der Bürgermeister will vorläufig weder eine Straße noch ein Haus nach den Trumps benennen. „Das definiert uns als Ort nicht“, sagt er, „unser Markenzeichen ist die Gemeinschaft.“ Er spricht von Theater- und Turnverein, von Festen und den „Tagen der offenen Weinkeller“. Probleme gebe es auch. Die Bundesstraße, die durch den Ort führt und die Lastwagen, die an den alten Gemäuern vorbeirattern, das ärgere viele Bürger. Eine Umgehungsstraße ist in Planung, aber nie wirklich in Angriff genommen worden. Außerdem werden immer wieder Straßen saniert, „jetzt gerade die Freinsheimer Straße, Sie wissen schon, das ist die Straße, an der …“

Und schon landet das Gespräch wieder bei Donald Trump. Thomas Jaworek wird ernst: „Mal angenommen, es geht bei ihm eines Tages nicht mehr nur um Sprüche“, sagt er diplomatisch, „dann könnte ich mir schon vorstellen, dass er zeigen kann, was er wirklich kann.“ Jaworek versteht, dass ein Vorwahlkampf vor allem zur Profilierung dient. Und mit „Brulljes“ hat man zumindest die Aufmerksamkeit der Zuhörer. Er aber sieht „Brulljes“ als etwas Praktisches: „Wir schaffen erst etwas und reden dann darüber.“ Das könnte er ja Donald Trump bei einem Treffen erklären.

Er könnte mit ihm einen Spaziergang machen, auf den Spuren der Trumps, vorbei an der Winzerstuben, am Friedhof, wo Vorfahren von Trump begraben liegen und schließlich auf den Weinberg hinauf, wo man von oben auf den Dorfkern blicken kann und zu dem kleinen Haus in der Freinsheimer Straße. Zwischen Landhotel und Weingut steht dieses ordentliche Haus, wo Frederick „Trump mit U“ aufwuchs. Wer ganz nah an das Geburtshaus von Trump herantritt, liest auf einem Schild: „Gott sieht alles“ und darunter: „nur mein Nachbar sieht mehr.“

Wie alle hier im Ort, sagt auch der Bürgermeister „Alla“ zum Abschied. Das ist so etwas zwischen „Tschüss“ und „Na denn mal an die Arbeit“.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 6.3.2016.

Clausnitz sucht ein neues Image

Clausnitz.  Alice Neuber geht bei gutem Wetter täglich durch Clausnitz, ein lang gestreckter Ort mit einer langen Dorfstraße, parallel zum Dorfbach. Alice läuft vorbei an Plastikschaukeln, Vogelhäuschen, Dächern mit Solaranlagen. Vom Oberdorf, wo das Flüchtlingsheim steht, läuft sie manchmal bis zum Ortseingang im Unterdorf, wo das Schild steht: „Clausnitz – ein Ort mit Geschichte“.

Sie muss bei ihrem Spaziergang aufpassen, es gibt fast nirgends einen Fußweg, die Autos fahren langsamer, geben Lichthupe, manche winken durch die Windschutzscheibe. Alice Neuber kennt alle 800 Einwohner von Clausnitz, zumindest vom Sehen. Sie wurde hier geboren, war 17 Jahre alt bei Kriegsende, 33 Jahre bei Mauerbau, und als 2015 die Flüchtlinge nach Deutschland kamen und viele im Ort wütend wurden, da sagte die 88-Jährige: „So ein paar Konfibschen gibt es eben überall.“

„Konfibschen“ oder „Gonfiebschn“, das Wort lässt sich nur ungefähr schreiben. Es bezeichnet im sächsischen Dialekt die schwarzen Schafe, die es in jeder Gemeinde gibt, die einem auch peinlich sind. Das Wort klingt harmlos für den Mob von 100 Menschen, die in Clausnitz laut Polizeibericht am 18. Februar 2016 einen Bus voller Flüchtlinge mit Gewalt daran hindern wollten, zu ihrer neuen Unterkunft zu gelangen.

Es klingt harmlos für einen Polizisten, der damals einen Flüchtlingsjungen im Polizeigriff aus dem Bus zerrte, während die Rufe „Wir sind das Volk!“ lauter wurden. Der Polizist hatte die Nerven verloren, heißt es später, wollte so die Situation schnell beenden. Aber in jener Nacht machte es alles schlimmer: Im Bus weinten Menschen, die vor Krieg flüchteten, draußen riefen Sachsen „Verpisst euch!“ und „Ihr braucht nicht rumheulen!“.

Die Szene ist heute noch so präsent, weil mehrere Menschen mit ihren Mobiltelefonen mitfilmten. Es ist der Beweis, wie es aussieht, wenn „die Stimmung kippt“, was so viele Experten längst erwarteten auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Ein Video aus der Nacht ist der erste Treffer bei der Google-Suche nach „Clausnitz“.

Es hat – man muss es so sagen – dessen Ruf zerstört. Zeitungen titeln damals „Grölender Mob schikaniert Flüchtlinge“ und „Tage der Schande“. Es tauchte auch ein zweites Video auf, das verängstigte Kinder zeigte.

Denn noch in der gleichen Woche brennt im sächsischen Bautzen ein Haus, in das Flüchtlinge einziehen sollten, Anwohner klatschen Beifall. Ein Bundesland wird damals zum „Schandfleck“, Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich sagte über Bautzner und Clausnitzer: „Das sind keine Menschen, die so was tun.“

Ein Jahr später will Clausnitz’ Bürgermeister Michael Funke nicht mehr über diesen Abend sprechen. Er bitte um Verständnis, er habe genug gesagt. Das wundert einige Clausnitzer, denn im Dorf redet man auch im Februar 2017 noch häufig über den Vorfall. Im unteren Teil des Dorfes sagt eine Frau: „Ich war zu Hause, habe aber nichts gehört, das Video kenne ich, da ist keiner meiner Bekannten dabei.“

Beim Blumenladen im Dorfzen­trum erzählt eine Frau, die direkt neben dem Flüchtlingsheim wohnt: „Ich habe nichts gehört und sehr gut geschlafen. Erst am nächsten Morgen rief ein Cousin, der in Thailand lebt, an und fragte, was passiert sei.“ Und eine Verkäuferin in der Fleischerei: „Ich habe Geburtstag am 18. Februar, den wollte ich in Ruhe feiern, damit ist es ja erst einmal vorbei.“

Wirklich jeder von ihnen sagt: „Das wurde doch von den Medien aufgebauscht.“ Die Einwohner haben sich eben auch überfallen gefühlt von dem weltweiten Interesse an ein paar „Konfibschen“. Selbst der heute 15 Jahre alte Flüchtling Luai Khatum sagt, er denke selten an jene Nacht, als ihn der Polizist aus dem Bus zerrte. Er spricht fließend Deutsch und will selbst Polizist werden.

Auf seinem Fensterbrett steht ein Mini-Polizeiauto. Über die Demonstranten von damals spricht er wie ein richtiger Clausnitzer: „Das waren ja keine Leute von hier.“ Dann fügt er an: „Nicht alle.“ Dass einige vor dem Bus Kopf-ab-Zeichen gemacht haben und sein Bruder geweint hat, das will er nicht mehr besprechen. Er sagt, er habe jetzt viele deutsche Freunde.

Andere Flüchtlinge erzählen, dass Clausnitzer Spielzeug gespendet haben, Kleidung, sogar eine Couch und einen Flachbildfernseher. Viele der männlichen Flüchtlinge spielen Fußball im Ortsverein. Sie haben sich eingelebt.

Doch nicht alle sind mit diesem Bild einverstanden. Im Schatten der Kirche im Dorfkern steht ein Mann, der wie alle Anwohner außer Alice Neuber seinen Namen „lieber nicht“ nennt. Er fand den ARD-Beitrag, der kürzlich über Clausnitz ausgestrahlt wurde, nicht ausgewogen. „Warum lese ich in keinem Bericht, dass es auch Probleme gibt mit Flüchtlingen?“ Er meint, dass im Sommer 2016 eine „derer“ Familien hier ein Schaf geschächtet habe. „Das Blut floss in den Abfluss, und das Klärwerk fand das gar nicht komisch.“ Außerdem habe im Mai plötzlich Geld in der Gemeinschaftskasse vom Fußballverein gefehlt. Beweise gebe es nicht, aber er habe gehört im Dorf, das waren „die“. Er will im September die AfD wählen. „Damit sich etwas ändert.“

Die Geschichte vom blutenden Schaf und der leeren Fußballvereinskasse wird in Clausnitz oft erzählt, meist mit dem Unterton: „Die werden sich nie anpassen“. Wenn die 88 Jahre alte Alice Neuber davon erzählt, klingt es versöhnlicher, so als ob es auch unter den Flüchtlingen ein paar „Konfibschen“ geben dürfe. „Ich verstehe nicht“, sagt sie, „warum sich hier einige bedroht fühlen.“ Sie habe Schlimmeres überlebt. Zu ihr waren „die Jungs“ immer freundlich. „Gegrüßt haben sie“, sagt sie, „wie es sich gehört.“

Am Ende eines anstrengenden Tages sitzt Sedegh Ranjbar auf seiner roten Couch in der Cämmersdorfer Straße, Luais Familie wohnt im Nachbarhaus. Der 25 Jahre alte Iraner ist morgens mit seiner Frau Mahsa und dem einjährigen Babak um 7 Uhr zur Krippe gefahren. Die Eltern besuchen einen Sprachkurs in Freiberg, holen das Kind um 15 Uhr wieder ab.

Sedegh spricht gutes Deutsch, Stufe B2. Auch er hat den 18. Februar nicht vergessen. „Babak war zwei Monate alt, er hat viel geweint an dem Abend.“ Die Fahrt im „Reisegenuss“-Bus begann um 6 Uhr morgens in Chemnitz, der Abend war ein Riesenchaos, er habe nichts verstanden und nur Angst gehabt. Vier von den sieben Familien von damals wohnen noch hier: Sie kommen aus Afghanistan, dem Iran, Syrien und dem Libanon.

Sedegh gibt zu, das Schächten sei ein Fehler gewesen. „Das war einer aus der Wohnung über uns“, sagt er. „Er hat nichts von dem Verbot gewusst.“ Und die Fußballkasse? Seine Frau und er schauen, als wollten sie sagen, diese Geschichte wieder. Er sagt: „Ich war an dem Tag der einzige von uns Flüchtlingen beim Fußball. Es fehlten dann am nächsten Tag 70 Euro. Ich habe das Geld nicht genommen. Für 70 Euro würde ich nicht meine Zukunft in Clausnitz aufs Spiel setzen.“ Er dachte, das Thema sei längst erledigt. „Ich spiele seit Monaten wieder Fußball.“ Er will doch nur keinen Ärger.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 16.2. 2017

Daniel Hope, Porträt

Wer Daniel Hope trifft, muss wissen, dass er an Karma glaubt, also an jenes 2600 Jahre alte, indische Lebenskonzept, das besagt, dass jede Handlung, jeder Satz und letztlich jeder Gedanke immer eine Folge hat. Diese Konsequenz muss nicht unmittelbar folgen, sondern kann Jahre oder sogar Jahrhunderte später eintreten. Selbst in deutschen Kinderbüchern taucht Karma auf: Wenn ein Held im Märchen einer Ratte das Leben rettet und genau diese Ratte den Helden später vor dem Tod bewahrt.

Daniel Hope ging als Zehnjähriger zum Konzert eines berühmten Musikers. Er fuhr allein durch London, suchte sich im Saal einen Platz und hörte die fantastische Musik. Danach stellte sich er in die Schlange für ein Autogramm. Es waren sehr viele Menschen, sie drängelten – und als Daniel Hope schließlich vor dem Künstler stand und ihm eine Schallplatte zum Signieren reichte, sagte dieser nur genervt: „Ich habe keine Zeit“ und schloss die Tür vor ihm.

Obwohl das alles mehr als 30 Jahre her ist, kann Daniel Hope diese Szene großer Verehrung und Enttäuschung so erzählen, dass die Gefühle noch einmal da sind, hier in Berlin, im Regen, auf der Kantstraße. „Ich sehe es noch vor mir“, sagt er, „ich habe weinend in der U-Bahn gesessen, ich hatte meinen Glauben an ein Vorbild verloren.“ Er hat inzwischen diesen Musiker häufiger getroffen, sein Name spiele hier keine Rolle, aber er sei für viele noch immer ein Weltstar. „Wir haben noch nie zusammen gespielt. Und werden es auch in Zukunft gewiss nicht tun.“

Daniel Hope ist mittlerweile einer der größten Violinisten der Welt. Geboren in Südafrika, in London aufgewachsen, später nach Paris, Wien und Amsterdam gezogen – und dabei immer wieder Alben aufgenommen, bekannte Hits wie Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ oder Mendelssohns Violinkonzerte. Aber er entdeckte auch die zeitgenössischen Werke des Deutsch-Russen Alfred Schnittke. Seit fast 14 Jahren ist er Künstlerischer Leiter des Savannah Music Festivals, seit 2016 außerdem Musikdirektor des Zürcher Kammerorchesters. Erst diesen September wurde er noch beim Kammerorchester in San Francisco beschäftigt – und ist gerade auch zum Künstlerischen Leiter der Dresdner Frauenkirche ernannt worden.

Man kann sagen, der Mann kommt viel rum, und so ist es kein Wunder, dass er erst eine Stunde vor unserem Treffen am „Schwarzen Café“ in Tegel gelandet ist. „Ich hatte einen Auftritt in Genf“, sagt er, dieser Abend sei wieder einer der sehr besonderen Art gewesen. „In der ersten Reihe saß eine Dame in meinem Alter – im Rollstuhl“, sagt der 44-Jährige, „sie war schwerbehindert und machte Geräusche beim Atmen, wie ein lautes Stöhnen. Das Konzert ging also brisant los.“ Nicht alle Gäste konnten die Dame sehen und fühlten sich unwillkürlich von den Geräuschen gestört. „Aber so ist das manchmal: Wir konnten nicht anders als spielen, sie konnte nicht anders als geräuschvoll zuhören – man muss damit umgehen. Auch sie hat, wie jeder andere, ein Recht darauf, Musik zu hören.“

Sheela Birnstiel, Porträt

Basel.  Sheela Birnstiel ist schwer zu durchschauen. Das liegt nicht an der Sonnenbrille, die nimmt sie ab, wenn man sie bittet. Es liegt eher daran, dass es so viele Geschichten über diese rätselhafte Frau gibt, die heute Leiterin eines Heimes für geistig Behinderte in der Schweiz ist. Vor 35 Jahren war sie die Sekretärin eines indischen „Sex-Gurus“, wie der Sektenführer Bhagwan Shree Rajneesh gern genannt wurde.

„Sekretärin?“, fragt sie. „Bitte nennen Sie mich Bhagwans Geliebte.“ Aber sie habe nie ein sexuelles Verhältnis mit ihm gehabt. Sie war ihm in den turbulenten Jahren nah, sah ihn täglich, folgte ihm geistig, liebte ihn. Man kann also sagen: Es war kompliziert.

Dieser Bhagwan ist auch der Mann, für den die gebürtige Inderin beinahe zur Mörderin geworden wäre. Sie war überzeugt davon, dass sein Leibarzt ihn vergiften wollte. Und so planten einige Frauen aus ihrem Umfeld den Tod des Arztes. Der Giftanschlag schlug fehl, der Arzt überlebte, Sheela ging ins Gefängnis.

Bhagwan-Bewegung ist Gegenstand einer neuen Netflix-Serie

Der Mann, den sie beschützen wollte, ihre „große Liebe“, dieser Bhagwan nannte sie öffentlich eine „undankbare Hure“. Diese turbulenten Jahre zwischen 1980 und 1985 sind gerade wieder Thema, weil der Streamingdienst Netflix eine sechsteilige Dokumentation ins Programm genommen hat. In „Wild Wild Country“ werden viele Anhänger des Gurus interviewt. Sie waren leicht erkennbar, denn sie trugen alle rote oder orangefarbene Kleidung.

Doch die mit Abstand spannendste Figur bleibt die junge Sheela. Sie lebte es, das tabulose Leben in einer Gemeinschaft, in der Sex nichts Verstecktes, nichts Peinliches war, sondern etwas, das gefeiert wurde – nicht nur zu zweit. Sie trat in Talkshows auf, sie provozierte mit Schimpfwörtern und mit ihrer offen zur Schau gestellten freien Liebe. „Wir sind genau wie ihr“, sagte sie zum US-Publikum, „wir haben nur besseren Sex.“

Sachsen, das schwierige Bundesland

Dresden/Berlin.  Annalena Schmidt wurde kürzlich damit gedroht, dass man ihr Säure ins Gesicht schütten werde. Die Täter schrieben, sie „wollen sich nicht die Hände schmutzig machen mit ihr“. Gehasst wird Annalena Schmidt so sehr, weil sie auf auf ihrer Internetseite rechtsextreme Übergriffe in Bautzen und Umgebung dokumentiert und notiert. Das brachte ihr in der neuesten Ausgabe der „Blauen Post Bautzen“, der lokalen AfD-Zeitung, den Spitznamen „Willkommensdomina“ ein. Hinzu kamen diverse Anfeindungen und zuletzt die Säure-Drohung.

Derlei Geschichten haben es früher noch bundesweit in die Schlagzeilen geschafft, aber inzwischen gilt Sachsen als Hochburg für derartige Drohungen oder gewalttätige Übergriffe, und es gibt weniger Berichte. Städte wie Bautzen, Freital, Heidenau, Clausnitz – sie alle haben inzwischen eine zweifelhafte Berühmtheit in ganz Deutschland. Es gab schon Boulevardzeitungen, die auf dem Titel die Deutschlandkarte druckten und den kleinen südöstlichen Freistaat als „Schandfleck“ braun ausmalten.

Auch die Landeshauptstadt Dresden kam in den vergangenen Jahren kaum aus den Schlagzeilen heraus, wenn es um fremdenfeindliche Übergriffe ging. Vor zwei Jahren wurden Brandanschläge auf Moscheen verübt, erst im Januar hetzte eine Gruppe einen Hund auf eine Asylbewerberin und vor wenigen Wochen riefen die Teilnehmer der Pegida-Demonstration im Hinblick auf die Bootsflüchtlinge: „Absaufen! Absaufen!“ – nachzusehen auf Youtube.

Tatsächlich – das zeigt auch die vom Freistaat durchgeführte Umfrage „Sachsen Monitor 2017“ – gibt es Unterschiede zum Rest Deutschlands. So stimmten 56 Prozent der Sachsen der Aussage zu, dass die Bundesrepublik „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ sei. Im Bundesdurchschnitt ist es nur ein Drittel. Rund 68 Prozent der Befragten meinen, dass Deutschland in diesen Zeiten „eine starke Hand“ brauche. Deutschlandweit sagen das nur 22 Prozent der Einwohner. Kein Wunder, dass die AfD in Sachsen bei der letzten Bundestagswahl stärkste Kraft wurde, mit 27 Prozent einen halben Prozentpunkt vor der CDU.

Mehrere wissenschaftliche Studien haben versucht, die Ursachen zu ergründen. Von einem Abgehängtsein lässt sich angesichts der florierenden sächsischen Wirtschaft kaum sprechen. Allerdings gibt es schon eine Enttäuschung bei vielen Ostdeutschen insgesamt, dass ihre Lebensleistungen während der Zeit der deutschen Teilung im Nachhinein weder anerkannt noch gewertschätzt wurden. Aus dieser Entwertung entsprang ein Trotz, der sich auch als Stolz äußern kann. Darauf weist unter anderem eine Göttinger Studie von Professor Franz Walter aus dem Jahr 2017 hin.

Rechte Portale suchen Schutz in Sachsen

Doch gerade diese Studie ist noch aus einem weiteren Aspekt interessant. Sie hat sich als Beispiel den Fall der „Gruppe Freital“ herangezogen und diesen genauer betrachtet. Die Stadt ist ähnlich wie Bautzen und Dresden zu einem Brennpunkt für fremdenfeindliche Gewalt geworden. So war Freital schon einmal 1991 in den Schlagzeilen, weil es gewalttätige Angriffe auf ein Flüchtlingsheim gab.

Aus dem kollektiven Gedächtnis der Freitaler aber ist dieses Ereignis gelöscht. Auch der Bürgermeister verweigere sich – so die Autoren der Studie – einer Diskussion über strukturelle Fremdenfeindlichkeit. Erst in diesem Jahr wurde die „Gruppe Freital“ zu langen Haftstrafen verurteilt. Sie hatte mehrere Sprengstoff-Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im Jahr 2015 verübt. Doch es ist, als ob es diesen Prozess nicht gegeben hätte. Man weigere sich einfach, etwas Schlechtes über die eigene Heimat zu sagen.

Wenig überrascht da diese Meldung, die es kaum in überregionale Medien schaffte: Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass das rechte Internetportal „JouWatch“ seinen Sitz von Thüringen ins sächsische Meißen verlegt. Offenbar wollte das Portal dem Finanzamt Jena entgehen, das dessen Gemeinnützigkeit prüfen wollte. Wird die aberkannt, hätte das negative finanzielle Folgen. In Sachsen erhofft sich „JouWatch“ ein besseres Klima. Dort ist im kommenden Jahr Landtagswahl. Umfragen sehen die AfD bei 24 Prozent.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 23.8.2018.

Wo ist Lina Chi?

Am 5. Dezember schreibt Susanne Leger eine Nachricht an Linh Chi: „Hallo, ich habe gehört, Du bist krank. War das Essen in der Schule schlecht?“ Linh Chi: „Nein. Ich kein Problem. Danke.“ Frau Leger schreibt: „Ok, dann gute Nacht und viel Spaß in der Schule morgen.“

Susanne Leger ist Linh Chis Vormund und das Mädchen ihr Mündel. So etwas gibt es immer häufiger in Deutschland. Linh Chi kam als unbegleitet geflüchtete Minderjährige Mitte 2016 aus Vietnam nach Deutschland. Schleuser brachten sie aus Moskau mit dem Auto nach Berlin, sie kamen aus Polen. Mehr erzählt sie nicht. Ihre Eltern seien tot. Ihren Pass, sagt sie, habe sie verloren. Linh Chi zeigte ein Foto von einer Bretterhütte in Vietnam. „Mein Zuhause“, sagte sie.

Die 57-Jährige Susanne Leger arbeitet in einem Bundesministerium, sie ist verheiratet, hat keine Kinder. Aber mehr will sie gar nicht von sich erzählen, es geht nicht um sie. Deshalb ist Susanne Leger auch nicht ihr richtiger Name. Als sie klein war, hatte sie selbst einen Vormund, mit dem sie sich gut verstand. Nach der Flüchtlingskrise wollte sie sich engagieren, meldete sich beim Verein für Vormünder. Sie wollte das auch für jemanden sein: Ein Anker in der Welt. Im Herbst 2016 lernt sie Linh Chi kennen.

„Sie war schüchtern, sehr zurückhaltend und hat kaum gesprochen“, erinnert sie sich. Leger erzählt von einem Ausflug zu einer Schmetterlingsfarm auf Rügen, da habe Linh Chi geweint, weil sie das an Vietnam erinnert habe. Oder von dem Mandala, das Linh Chi für ihre Sozialarbeiterin Ariane B. ausgemalt hat. „Wie konzentriert sie war“, sagt Ariane B. Das bunte Mandala hat sie über ihren Schreibtisch gehängt.

Am 6. Dezember 2017 schrieb Susanne Leger um 9.53 Uhr: „Liebe Linh Chi, Ariane sucht dich den ganzen Tag. Wo bist Du? Du warst heute wieder nicht in der Schule.“ Um 12.54 Uhr: „Bitte melde Dich.“

Hinter den Meldungen ist nur ein graues Häkchen. Die Nachrichten sind versendet, aber sie haben sie nie erreicht. Linh Chis Telefon ist abgestellt. In ihrem Zimmer fehlen ein paar Dinge, das „Allernötigste“, wie man sagt.

Laut Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) leben derzeit rund 23.000 von Geflüchteten unter 18 Jahre in Deutschland. Diese bekommen in den meisten Fällen einen gesetzlichen Vormund. Die haben häufig bis zu 50 Mündel auf einmal zu betreuen. Ehrenamtliche Vormünder können diese Lücke schließen.

„Ich besuchte sie rund einmal in der Woche. Am Wochenende machten wir Ausflüge“, sagt Leger. Sie redeten über den Alltag, machten Hausaufgaben. „Erst war sie unsicher, aber mit der Zeit öffnete sie sich, erzählte von der Schule, ihrer Willkommensklasse.“ In der Dreier-WG kam Linh Chi gut zurecht.

Aber: Warum geht sie dann einfach weg? Warum ist sie verschwunden? Susanne Leger lässt diese Frage keine Ruhe. „Ich habe einfach Angst, zur Polizei gerufen zu werden, und ihre Leiche zu identifizieren.“

Linh Chis Geschichte ist ein Kriminalfall, der mitten in Deutschland immer wieder passiert. Fast 5200 unbegleitet geflüchtete Jugendliche und fast 2000 geflüchtete Kinder werden derzeit in Deutschland vermisst. Seit 2012 wurden in Berlin allein 472 minderjährige Vietnamesen als vermisst gemeldet, das meldet der „Tagesspiegel“ unter Berufung auf die Berliner Polizei. In Brandenburg gelten derzeit laut RBB-Recherchen noch 32 minderjährige Vietnamesen als vermisst.

Doch wirklich „vermisst“ werden diese Mädchen und Jungen meist von niemandem, keiner stellt Fragen. Und wenn doch, dann werden sie häufig schnell abgewimmelt.

So ergeht es auch Susanne Leger. Ein vietnamesischer Pfarrer sagt: „Sie wird von der vietnamesischen Community aufgenommen. Keine Sorge.“ Ein vietnamesische Sozialarbeiterin sagt: „Das höre ich oft, es tut mir leid für Sie, aber normalerweise kümmert sich die Community sehr gut.“

Ein deutscher Polizist sagt: „Die vielen asiatischen Namen auf meiner Liste sind wie Augenpulver. Aber ich kann nur sagen: Bei Vietnamesen kommt es durchaus vor, dass sie einfach mal weg sind.“

Doch zwischen die vielen Beruhigungen mischen sich auch andere Töne. Ein Vietnamese zischt Susanne Leger per Du an: „Halt Dich da besser raus, wir regeln das unter uns.“ Ein anderer Bekannter, der „sich mit Vietnamesen auskennt“, erzählt von illegalen Bordellen nur für Asiatinnen oder dunkle Keller, in denen sie nähen müssen, in Frankreich, Belgien, Großbritannien oder den Niederlanden.

Als Drehkreuz für den Menschenhandel, so erfährt der RBB, dient offenbar Warschau. Die Arbeitgeber nutzen die Arbeiterinnen und Arbeiter aus, die Pässe werden abgenommen und sie müssen „Schulden“, die Kosten der Schleusung, abarbeiten.

Leger schreibt Experten für Menschenhändler an und erfährt, dass manche geschleuste Flüchtlinge Schulden von bis zu 15.000 Euro haben. Ist Linh Chi vielleicht auch deshalb verschwunden?

Aktuell häufen sich die Zahlen der jungen Vietnamesen in Berlin und Brandenburg, die bei Razzien zwar dem Kindernotdienst übergeben werden, dort aber freiwillig wieder gehen.

Warum sie sich lieber in die Illegalität flüchten, danach fragt niemand. Und wenn jemand fragt, wie Susanne Leger, ist häufig Schweigen die Antwort.

Einige Hilfsorganisationen lehnen eine Zusammenarbeit mit ihr ab, weil sie keine Verwandte sei. Aber Linh Chi hat nach eigenen Angaben keine Verwandten in Deutschland. Die einzigen Verbündeten bei der Suche sind zunächst Linh Chis Lehrer und Betreuer.

Susanne Leger trifft sich mit den Nachhilfelehrerinnen, die ein gutes Verhältnis mit ihr hatten. Ihre Fortschritte im Deutschen waren gut und es sah so aus, dass sie bald eine Regelklasse hätte besuchen können. Sozialarbeiterin Ariane B. schlägt vor, Zettel mit einem Foto von Linh Chi aufzuhängen. Oder bringt das Linh Chi in Gefahr? Sie geht zum Dong Xuan Center in Berlin Lichtenberg, schaut in die Gesichter der Menschen. Sie trifft einen vietnamesischen Blogger, der sich gut „in der Szene“ auskennt. Er will sich umhören, aber erfährt nichts über Linh Chi. Er sagt, vielleicht ist ihr richtiger Name ein anderer?

Susanne Leger fällt auf, wie wenig sie vom Vorleben von Linh Chi weiß. Sie ruft bei einem Jugendhaus für Vietnamesen in Berlin-Tegel an. Doch die Betreuerin dort sagt nur, sie könne ihr nicht weiterhelfen. Im Februar 2018 trifft sie schließlich einen anderen Vormund, dessen Mündel ebenfalls verschwunden war. Der Vormund beruhigt sie: „Keine Sorge, sie taucht wieder auf, die will nur etwas Geld verdienen.“ Sein Mündel kam wirklich nach drei Monaten zurück, blieb allerdings in der Illegalität.

Im März 2018 bricht der vierte Monat ohne Linh Chi an. Susanne schaut sie sich bei einem Vietnam-Vereins-Treffen den Film „Obst und Gemüse“ an. Es ist ein fröhlicher bunter Kurzfilm über das Lebensmittelgeschäft von „Herr Nguyen“ in der Schönhauser Allee. Es geht um Missverständnisse, zum Beispiel dass das Vietnamesische „Cà“ (Aubergine) und „Cá“ (Fisch) gleich klingen. Der ihr bekannte Akzent der Vietnamesen im Film macht sie froh und traurig zugleich.

Nach dem Film sprechen Vertreter der „Vietnamesischen Community“ auf einem Podium. Jemand auf den Podium sagt: „Wir sind die Unsichtbaren.“ Viele nicken. Nach dem Vortrag geht Leger auf einzelne Vietnamesen zu: „Kennen Sie Linh Chi? Wo könnte sie sein?“ Einige Antworten machen sie wütend: Wie können Einzelne aus dieser Community in Deutschland so ganz nach ihren Regeln leben wollen und dabei deutsche Gesetze wie Schulpflicht oder den Jugendschutz ignorieren?

Im Mai 2018 ist es ein halbes Jahr, dass Linh Chi verschwunden ist. Inzwischen hat Susanne Leger erfahren, dass die letzte Handyortung von Linh Chis Mobiltelefon am Alexanderplatz war. „Aber das kann überall sein“, sagt ihr der Polizist. Die Funkzellenabfrage könne auf bis zu zwei Kilometer ungenau sein. Sie ruft regelmäßig bei der Polizei an.

„Ich fühlte mich wie ein Störfaktor“, sagt sie. „Die wunderten sich, dass da überhaupt jemand nachfragt.“

Der „Jahrhundertsommer 2018“ in Deutschland beginnt und erinnert sie an die Ostseereise im Jahr zuvor. Auf ihrem Schreibtisch liegen noch immer zwei Muscheln aus Rügen. Und das Freundschaftsarmband, das Linh Chi für sie geknüpft hat. Blau und Grün.

Aber da gab es auch diese Wochenenden kurz vor dem Verschwinden, an denen sie nur sagte, sie sei unterwegs. Wenn man sie fragte, blieb sie stumm. Susanne Leger dachte dann: Sie ist fast erwachsen.

Oder war es doch dieser eine Termin bei der Ausländerbehörde? „Es gab ein Treffen, das ich als traumatisch bezeichnen würde.“ Das war im Oktober 2017, sechs Wochen vor ihrem Verschwinden. Damals wurde Linh Chi direkt nach der Ankunft in der Behörde von Susanne Leger getrennt. Es waren vietnamesische Beamte, die Linh Chi anschließend verhörten. Susanne Leger wurde der Zugang zu dem Verhör verweigert.

Als Linh Chi nach drei Stunden wieder aus dem Raum kam, war sie eine andere. Sie klammerte sich an ihren Vormund. „Das hat sie sonst nie gemacht“, sagt sie, „solche körperliche Berührungen waren sehr untypisch.“ Sie holten sich dann an dem Tag noch den Stempel für die Verlängerung ihres Duldungsstatus. „Aber Linh Chi war danach verändert, noch in sich gekehrter.“

Auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Vietnam ist seit dem Jahr 2018 gestört: Kurz zuvor wurde der Öl-Manager Trinh Xuan Thanh auf offener Straße entführt, in einem Transporter zum Flughafen gefahren und nach Hanoi geflogen. Inzwischen ist er wegen Misswirtschaft zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Das Vorgehen der Vietnamesen in diesem Fall bricht sämtliche internationalen Regeln. Es gab ein Gerichtsverfahren, Gefängnisurteile für Beteiligte, aber der Fall belastet die diplomatischen Beziehungen bis heute.

Das letzte Treffen: Mathe und ein Tanz ohne Lachen

Susanne Leger denkt noch heute immer wieder an ihr letztes Treffen mit ihrem Mündel. Hätte sie etwas merken sollen? „Am Abend, als ich bei Ihr war“, sagt sie, „war sie ganz aufgeräumt.“ Sie hatte mit sehr viel Mühe begonnen, eine Zusammenfassung der „Geschichte des Mädchens Kieu“ für Susanne Leger in Deutsch zu verfassen. Das ist eine vietnamesische Volkssage, in der ein junges Mädchen in die Hände eines Bordellbesitzers gerät. Jeder Vietnamese kennt die Geschichte. „Sie hatte angefangen, die Kapitel für mich zusammenzufassen.“ Dann haben sie noch ein wenig Mathe gemacht und am Ende hat sie ihr vorgetanzt. „Aber nur, wenn du nicht lachst“, hatte Linh Chi gesagt. Susanne Leger lachte nicht.

Vor einem halben Jahr hatte sie noch einmal Hoffnung. Ihr Mann hatte Linh Chi gesehen, oder jemanden, der genauso aussieht. In der Nähe des Bayrischen Platzes in Schöneberg, eine Gegend, die Linh Chi gut kannte.

Am nächsten Tag verließ Leger ihre Arbeit etwas früher. Sie saß den ganzen Nachmittag auf einer Bank und schaute in jedes Gesicht, das asiatisch aussah. Linh Chi war nicht dabei.

Seit eineinhalb Jahren ist Susanne Leger jetzt ein Vormund ohne Mündel. Ein Lichtblick ist, dass Anfang dieses Jahres die vietnamesische Community sie ernst nahm. Sie waren plötzlich da für sie und hatten Zeit. Sie nahmen ihr Foto mit zu Treffen, erkundigten sich, auch der Pfarrer ließ seine Kontakte spielen. Doch Linh Chi bleibt verschwunden. Bis zu ihrem 18. Geburtstag in wenigen Monaten hat sie noch einen Aufenthaltsstatus. Aber wenn die letzten 18 Monate etwas gezeigt haben, dann das: Es gibt jemanden, der nicht aufhört, diese Frage zu stellen: Kennen Sie Linh Chi?

Erschienen am 23. 6. 2019 in Berliner Morgenpost.

Wie zwei Koreaner in Berlin Rassismus erleben

Berlin. Am U-Bahnhof Fehrbelliner Platz ist Hyuneun Kim ohnmächtig geworden. „Ich war wohl unter Schock“, sagt sie. „Es war wohl einfach alles zu viel.“ Sie sackte in sich zusammen, und ihr Ehemann Sejin Lee konnte ihren Fall bremsen.

Die beiden Koreaner waren zu diesem Zeitpunkt, kurz nach Mitternacht, auf dem Bahnsteig. Sie hatten die U7 verlassen, weil sie von drei jungen Männern belästigt und geschubst worden waren. Sejin Lee konnte sich noch dagegen wehren, wieder in die U-Bahn hineingezogen zu werden. Er wurde bespuckt. Dann kümmerte er sich um seine Frau. Die drei Männer rannten in Richtung des Bahnsteigs der U3 – Sejin Lee rief die Polizei.

Die U-Bahn fuhr weiter, die Polizei kam, und die beiden versuchten, den Beamten zu erklären, was gerade passiert war. Doch was die gebürtigen Koreaner dann erlebten, war nicht die erhoffte Erleichterung. Sie beschrieben den Beamten, was in der U-Bahn passiert war, wie sie in dem Waggon erst von drei Männern angesprochen wurden mit „Happy Corona“ und ob sie eine „Corona-Party“ feiern wollen. Zwei Frauen hätten die Szene beobachtet, aber nicht geholfen. Als sie dann mit ihrem Mobiltelefon die Szene filmen wollten, eskalierte die Situation schnell, es kam zu Beleidigungen und Tätlichkeiten. Sejin Lee: „Doch die Polizei sagte uns, das sei keine rassistische Beleidigung.“

Es kommt derzeit immer wieder vor, dass Asiaten in Europa und den USA im Zusammenhang mit Corona beleidigt werden. Es gibt Menschen, die Asiaten die Schuld am Ausbruch des Virus geben. Die Berliner Polizei sagt auf Anfrage der Berliner Morgenpost, dass es seit Beginn der Pandemie sieben Fälle von Beleidigung gegeben habe. Das seien zumindest die Fälle, die zur Anzeige gebracht worden seien. Der Fall der Koreaner sei einer davon. Doch die Polizei schränkt ein, dass es schwierig war, diese Fälle zuzuordnen, weil in Berlin das Aussehen eines Geschädigten normalerweise nicht registriert werde. Häufig könne man aber am Namen des Opfers feststellen, dass es sich um einen Asiaten aus China, Vietnam, Japan, Thailand oder Korea handele, aber wenn sie hier geboren sind, werde es schon schwierig.

Sejin Lee und Hyuneun Kim leben seit vier Jahren in Berlin. Sie kommen beide aus Südkorea, haben einander aber erst in Berlin kennengelernt. Die 25-Jährige studiert Gesang, ihr 31 Jahre alter Ehemann Architektur. Beide leben in Charlottenburg und hatten bisher keine schlechten Erfahrungen in Berlin. Sie werden ihr Studium auch hier fortsetzen. Doch auf die nächtlichen Spaziergänge, die in den Wochen der Pandemie für das Paar zu einem Ritual geworden waren, verzichten sie derzeit.

Seit dem Vorfall vor zwei Wochen wollen sie nicht mehr mit der U-Bahn fahren und gehen generell selten allein aus dem Haus. „Ich war nach dem Angriff beim Arzt, weil ich immer wieder Panikattacken bekomme“, sagt Hyuneun Kim. „Ich bin inzwischen schon ängstlich, wenn mich auf der Straße jemand länger anschaut.“ Hyuneun Kim wird psychologisch betreut. Die beiden haben inzwischen Anzeige erstattet und sind froh, dass sie die Aufnahmen mit ihrem Mobiltelefon gemacht haben – auch, weil in der U-Bahn ihnen niemand half.

Auf dem Video, das der Berliner Morgenpost vorliegt, sieht man, wie sich nicht nur die drei Männer lustig machen über das koreanische Ehepaar und gewaltbereit auf sie zukommen, sondern auch, wie zwei Frauen ebenfalls in der Gruppe sitzen und den drei Männern beipflichten. „Sie haben uns ausgelacht“, sagt Hyuneun Kim. „Auch dann, als ich gesagt habe, dass sie aufhören und uns lieber helfen sollen.“ Sie verstehen offenbar nicht, dass sich die Asiaten wirklich bedrängt fühlen. Der Vorfall fand in der Nacht von Freitag auf Sonnabend Ende April statt, es war 0.30 Uhr, ihrem Verhalten nach sind die Männer alkoholisiert.

Nicht immer gehen die Zwischenfälle so vergleichsweise glimpflich aus wie dieser Vorfall am Fehrbelliner Platz. Rund 165.000 Asiaten leben in Berlin, und in den jeweiligen Communities häufen sich die Berichte, dass Menschen auf der Straße oder in Geschäften beleidigt werden. Das begann schon einige Wochen vor der Coronavirus-Krise im Februar, als asiatische Restaurants als erste einen starken Umsatzeinbruch verzeichneten. Als dann sämtliche Restaurants schließen mussten, ging die Diskriminierung auf den Straßen der Stadt und in den öffentlichen Verkehrsmitteln weiter. Inzwischen trauen sich einige Asiaten nicht mehr ohne Begleitung in die Öffentlichkeit, schreiben sie in einigen Beiträgen in den sozialen Medien.

Sejin Lee und Hyuneun Kim haben auch viel Zuspruch für ihren Schritt in die Öffentlichkeit bekommen. Nachdem sie die Videos bei Facebook geteilt haben, äußerten viele ihr Mitgefühl und verurteilten rassistische Angriffe. Die Botschaft der Republik Korea hat sich ebenfalls der Sache angenommen. Selbst in Korea, einem Land mit 57 Millionen Einwohnern in Ost-Asien, schlägt der Berliner Fall hohe Wellen. Vor allem das Detail, dass ihr Anruf bei der Polizei zunächst nicht ernst genommen wurde, zeigt Wirkung. „Als die Beamtin uns aber sagte, dass nicht jeder Corona-Witz eine rassistische Beleidigung sei, dachte ich, sie versteht mich nicht richtig.“

Vergangene Woche waren die beiden Koreaner noch einmal eingeladen zu einem Gespräch bei der Polizei, wo sie erneut von dem Vorfall erzählten. Sie erschienen mit ihrem Anwalt und verbrachten sieben Stunden auf der Polizeistation. „Das war anstrengend“, sagt Sejin Lee, „aber ich hatte das Gefühl, dass die Polizei den Fall sehr ernst nimmt.“ Es gehe ihnen beiden auch sehr viel besser nach dem Gespräch.

Jetzt werden sich Juristen mit der Attacke vom Fehrbelliner Platz auseinandersetzen. Auch die beiden Frauen aus dem U-Bahnwagen haben Anzeige erstattet, wegen Beleidigung. Sie wollten sich nicht als Rassisten bezeichnen lassen. Dass sie aber gelacht und nicht geholfen haben, in einer Situation, in der sich zwei Menschen bedrängt gefühlt haben, ist auf dem Video deutlich zu sehen. Sie werden sicherlich als Zeugen noch einmal aussagen müssen.

 

Erschienen am 12.5.2020 in der Berliner Morgenpost

Spaziergang mit Nora Bossong

Das „Spiel mit den Nilpferden“ geht so: Junge Mitarbeiter, die einen Bericht für ihre Chefs bei den Vereinten Nationen erstellen, versuchen darin ein Wort zu verstecken, das nichts mit dem Inhalt des Berichts zu tun hat. „Badewannenstöpsel“ in einem Bericht über Kindersoldaten zum Beispiel oder „Sesamstraße“ in einem Text über ein überfülltes Flüchtlingslager – oder eben das Wort „Nilpferd“, wenn es um Völkermord in Burundi geht.

Gewonnen ist das Spiel, so schreibt Nora Bossong in ihrem neuesten Roman „Schutzzone“, wenn der Text an die höchste Instanz gegangen ist, ohne dass das Wort jemandem aufgefallen ist. Es ist natürlich ein zynisches Spiel, weil es brisante Texte plötzlich zu einem Spielbrett für gelangweilte Nachwuchs-Diplomaten macht. Und ganz nebenbei zeigt es, wie wenig solche Texte wirklich gelesen werden. Oder gilt das für alle längeren Texte?

Als ich Nora Bossong beim Spaziergang durch den Park neben dem Rathaus Schöneberg auf das Spiel mit den Nilpferden anspreche, sagt sie, dass es wirklich einige spielen. Überhaupt habe sie viele Erlebnisse von Freunden und Bekannten bei den Vereinten Nationen eingebaut. „Einige haben sich wiedererkannt“, sagt sie, „andere fanden die Arbeit in Afrika zum Teil noch aussichtsloser, als ich sie im Buch beschrieben habe.“ Sie wollte mit „Schutzzone“ auf die Misere hinweisen, in der Mitarbeiter in Krisengebieten immer wieder stecken: Zwischen Hilfe und Paternalismus, zwischen der Armut der Bevölkerung und dem Privileg, mit dem Taxi in ein Luxushotel oder mit dem nächsten Flug nach Genf oder New York fliegen zu können.

An dieser Stelle des Gesprächs, noch ganz am Anfang, treffen wir auf eine Ratte. Wir sind soeben die Treppe beim Brunnen mit dem goldenen Hirsch hinuntergelaufen, auf einer Bank sitzen zwei Damen und reden ungerührt miteinander. Nur drei Meter hinter ihnen läuft das Tier unter einem Mülleimer entlang, schaut kurz zu uns nach oben. „Die sieht genügsam aus“, sagt Nora Bossong – und tatsächlich: Das Tier kümmert sich um die Gegenstände, die neben dem Mülleimer liegen. Als die Schriftstellerin „Oh, jetzt kommt sie auf uns zu“ sagt, beschließen wir, die Treppen wieder nach oben zu gehen.

Nora Bossong kennt den Park gut. Aufgewachsen ist sie in Bremen und Hamburg, aber sie wohnt seit 15 Jahren in Berlin, die Gegend um das Schöneberger Rathaus ist ihr Kiez. Genauso lange ist die 38-Jährige inzwischen Schriftstellerin. Nach ihrem ersten Jahr in Berlin erschien im Jahr 2006 ihr Debüt „Gegend“. Er behandelt Verletzungen, die durch Patchworkfamilien entstehen und den Versuch einer Tochter, sich vom Vater abzunabeln. Die FAZ nannte den Roman „überfrachtet“, attestierte ihm aber auch „atmosphärische Dichte“.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 30.8.2020

Spaziergang mit Margarete Koppers

Berlin. Bevor der Spaziergang mit Margarete Koppers beginnt, gibt es einen sentimentalen Moment, der sich irgendwie auch über unser Gespräch und den Spaziergang an diesem angenehmen orange-gelben Nachmittag in Berlin legt. Ich habe zur Vorbereitung mehrere Texte über Berlins Generalstaatsanwältin gelesen. Es gibt viele Porträts, Interviews und diverse Kommentare zu ihrer Ernennung. In dieser Woche sind noch einige hinzugekommen, weil sie im Fall der mutmaßlich befangenen Staatsanwälte im Auge eines Orkans steht.

Doch dieser Spaziergang fand Mitte Juli statt und einer der aktuellsten Texte in jener Zeit über sie war ein Porträt in der Berliner Morgenpost vor rund einem Jahr. Darin stehen ganz wunderbare Sätze, zum Beispiel der hier: „Chefanklägerin und gleichzeitig Beschuldigte zu sein, solche Extreme passen irgendwie zu der Person Koppers.“ Oder dieser: „Die, die ihr wohlgesonnen sind, loben ihre Offenheit, ihren kooperativen Führungsstil und ihre Entschlossenheit Dinge voranzutreiben, Gegner hingegen wissen gar nicht, wo sie anfangen sollen mit ihrer Liste an Kritikpunkten.“

Geschrieben hat das Porträt mein Kollege Hans Nibbrig, der im Februar mit 62 Jahren überraschend an einer Lungenentzündung gestorben ist. Der Zeitraum so kurz vor dieser Pandemie hat uns in der Redaktion ratlos und traurig zurückgelassen.

Margarete Koppers kann sich gut an das Interview mit ihm erinnern. Damals hatte sie ihm Kaffee angeboten, anschließend gesagt, dass sie nichts zur Schießstandaffäre sagen werde und dann nachgeschoben, dass sie auch Tee da hätte. So ähnlich läuft es auch dieses Mal: Sie möchte nicht über die Schießstandaffäre sprechen, weil dazu alles gesagt und geschrieben sei und sie mittlerweile seit über zweieineinhalb Jahren im Amt als Generalstaatsanwältin arbeite und es genug andere Themen zu besprechen gebe. Wie sehr ihr diese Startschwierigkeiten zugesetzt haben, wird später trotzdem deutlich werden.

Margarete Koppers hat den Klausener Kiez als Ort für den Spaziergang gewählt, wir treffen uns im angenehmen Schatten des wuchtigen Polizeigebäudes am Kaiserdamm. „Ich habe hier während meines Studiums 1980 im Kiez gewohnt“, sagt sie, „und eigentlich hat fast jede meiner Wohnungen im Einzugsgebiet dieser Polizeidienststelle gelegen.“ Sie sei diese Straßen hinter der Polizeidirektion 2, Abschnitt 24, schon lange nicht mehr entlang gegangen.Als wir loslaufen, einigen wir uns, die 1,5 Meter einzuhalten und keine Masken zu tragen. Wie viele andere Berliner hatte auch sie Anfang März eine schlimme Erkältung und weiß bis heute nicht, ob das schon eine Covid-19-Erkrankung war. Kein Fieber, kein Geschmacksverlust, aber „merkwürdig lang dauerte es“, sagt sie, bis das Missgefühl abgeebbt war. Sie wolle sich in jedem Fall im Herbst erstmals gegen Grippe impfen lassen.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 9.8. 2020.

Warum Berlin die Hauptstadt der Regenbogenväter ist

Neulich war meine Tochter mal wieder einen Nachmittag hier in der Wohnung. Sie liebt das Klavier, darauf klimpert sie gern, ihr gefallen die tiefen Töne besonders. Oder sie hört zu, wenn ich ein Lied aus dem „Traumzauberbaum“ vorspiele oder den neuesten Bach, an dem ich gerade sitze. Irgendwann danach haben wir gepuzzelt, ein Puzzle, das eigentlich erst „ab 5 Jahre“ war. Meine Tochter ist erst vier Jahre alt, und wir haben das trotzdem sehr gut hinbekommen. Es zeigte Anna und Elsa von der „Eiskönigin“. Das ist ihr Lieblingsfilm, den sie fast mitsprechen, auf jeden Fall aber mitsingen kann. Wir puzzelten, im Ofen waren Cupcakes, die wir noch dekorieren wollten, als sie plötzlich zu mir hoch schaut und sagt: „Papa?“ – „Ja?“ – „Ich liebe dich.“

Ein Kind zu haben, ist natürlich mehr als solche Szenen, es hat mit Windeln und Tränen zu tun, mit Gerüchen und durchwachten Nächten. Aber es soll jetzt hier in diesem Text auch nicht so sehr um meine Beziehung zu meinem Kind gehen, sondern vielmehr darum, dass Berlin, diese Stadt mit Pop-up-Radwegen und Schlager-Nackt-Partys, es letztlich möglich gemacht hat, als schwuler Mann Vater zu werden, mich mit anderen Vätern zu vernetzen und obendrein unsere Erfahrungen jetzt in einem ersten Buch zu bündeln. Vor einer Woche ist das erste „Regenbogenväterbuch“ erschienen, und dessen Geburt im Sommer 2020 war auch alles andere als leicht.

Für mich begann alles bereits vor rund 18 Jahren, als ich den ersten Regenbogenvater persönlich kennen lernte. Es war ein Niederländer, der gerade Vater eines Sohnes geworden war und wegen der Berlinale in der Stadt war. Wir lernten uns auf einer der Teddy-Partys kennen. Doch der Amsterdamer erzählte auch gleich, wie schwierig das alles war. Gleich nach der Geburt zogen die Mütter an die niederländische Küste und überließen den Vater seinen Vatergefühlen. Der Sohn ist inzwischen längst volljährig und kommt öfter bei seinem Vater vorbei. Sie konnten die Zeit nicht aufholen, aber er sagt trotzdem, dass sein Sohn das Beste sei, was ihm je passiert sei.

Damals, vor 18 Jahren, hatte ich also die erste Idee, wie dieses Abenteuer Vaterschaft funktionieren könnte, obwohl ich mich gerade erst bei meinen Eltern geoutet hatte. Kurz nach meiner Ankunft in Berlin hatte ich mich noch einmal in eine Frau verliebt, aber nach zwei Monaten stellten wir beide fest, dass wir als gute Freunde besser funktionieren. Wie zum Beweis, dass das richtig war, verliebte sie sich kurz darauf in eine Frau. Spätestens da war ich wohl wirklich in Berlin angekommen.

Doch die Stadt hilft nicht gerade dabei, den Fokus auf große Ideen des Lebens zu richten. Das schwule Studenten-Leben in der Großstadt hatte schließlich eine klar strukturierte Woche: montags in den „Stillen Don“, dienstags in den „Ackerkeller“, mittwochs in die „Marietta“ oder den „Prinzknecht“ und donnerstags ins „Möbel Olfe“. Für jeden Tag der Woche gab es einen Treffpunkt für Single-Männer, die Bier trinken wollten. Am Wochenende erholte man sich von der anstrengenden Ausgeh-Woche oder traf sich in den diversen Clubs. Das alles war mit Familiengründung nur schwer vereinbar.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 26.07.2020