Warum Berlin die Hauptstadt der Regenbogenväter ist

Neulich war meine Tochter mal wieder einen Nachmittag hier in der Wohnung. Sie liebt das Klavier, darauf klimpert sie gern, ihr gefallen die tiefen Töne besonders. Oder sie hört zu, wenn ich ein Lied aus dem „Traumzauberbaum“ vorspiele oder den neuesten Bach, an dem ich gerade sitze. Irgendwann danach haben wir gepuzzelt, ein Puzzle, das eigentlich erst „ab 5 Jahre“ war. Meine Tochter ist erst vier Jahre alt, und wir haben das trotzdem sehr gut hinbekommen. Es zeigte Anna und Elsa von der „Eiskönigin“. Das ist ihr Lieblingsfilm, den sie fast mitsprechen, auf jeden Fall aber mitsingen kann. Wir puzzelten, im Ofen waren Cupcakes, die wir noch dekorieren wollten, als sie plötzlich zu mir hoch schaut und sagt: „Papa?“ – „Ja?“ – „Ich liebe dich.“

Ein Kind zu haben, ist natürlich mehr als solche Szenen, es hat mit Windeln und Tränen zu tun, mit Gerüchen und durchwachten Nächten. Aber es soll jetzt hier in diesem Text auch nicht so sehr um meine Beziehung zu meinem Kind gehen, sondern vielmehr darum, dass Berlin, diese Stadt mit Pop-up-Radwegen und Schlager-Nackt-Partys, es letztlich möglich gemacht hat, als schwuler Mann Vater zu werden, mich mit anderen Vätern zu vernetzen und obendrein unsere Erfahrungen jetzt in einem ersten Buch zu bündeln. Vor einer Woche ist das erste „Regenbogenväterbuch“ erschienen, und dessen Geburt im Sommer 2020 war auch alles andere als leicht.

Für mich begann alles bereits vor rund 18 Jahren, als ich den ersten Regenbogenvater persönlich kennen lernte. Es war ein Niederländer, der gerade Vater eines Sohnes geworden war und wegen der Berlinale in der Stadt war. Wir lernten uns auf einer der Teddy-Partys kennen. Doch der Amsterdamer erzählte auch gleich, wie schwierig das alles war. Gleich nach der Geburt zogen die Mütter an die niederländische Küste und überließen den Vater seinen Vatergefühlen. Der Sohn ist inzwischen längst volljährig und kommt öfter bei seinem Vater vorbei. Sie konnten die Zeit nicht aufholen, aber er sagt trotzdem, dass sein Sohn das Beste sei, was ihm je passiert sei.

Damals, vor 18 Jahren, hatte ich also die erste Idee, wie dieses Abenteuer Vaterschaft funktionieren könnte, obwohl ich mich gerade erst bei meinen Eltern geoutet hatte. Kurz nach meiner Ankunft in Berlin hatte ich mich noch einmal in eine Frau verliebt, aber nach zwei Monaten stellten wir beide fest, dass wir als gute Freunde besser funktionieren. Wie zum Beweis, dass das richtig war, verliebte sie sich kurz darauf in eine Frau. Spätestens da war ich wohl wirklich in Berlin angekommen.

Doch die Stadt hilft nicht gerade dabei, den Fokus auf große Ideen des Lebens zu richten. Das schwule Studenten-Leben in der Großstadt hatte schließlich eine klar strukturierte Woche: montags in den „Stillen Don“, dienstags in den „Ackerkeller“, mittwochs in die „Marietta“ oder den „Prinzknecht“ und donnerstags ins „Möbel Olfe“. Für jeden Tag der Woche gab es einen Treffpunkt für Single-Männer, die Bier trinken wollten. Am Wochenende erholte man sich von der anstrengenden Ausgeh-Woche oder traf sich in den diversen Clubs. Das alles war mit Familiengründung nur schwer vereinbar.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 26.07.2020

Die Geisterinsel

Die Insel

Bernd H. sitzt an seinem Strand, schaut in die Dunkelheit, aus der es leise plätschert. Zwei Katzen schnurren um sein Bein. Er sagt: „In der Nacht ist es fast am allergeilsten.“ Oben am Himmel schiebt sich eine Wolke über das große, unendliche Schwarz. Er löscht alle Lichter auf der Insel und schaut nach oben. „Das da oben ist keine Wolke, das ist die Milchstraße.“ Er zündet sich eine sehr lange Zigarette an, die er sich gebaut hat. Aus einem Lautsprecher kommt leise House-Musik, die auch in Berlin in einem Club laufen könnte.

Aber Bernd H. wollte weg aus Berlin und das schon lange. Es ist Juni 2019, und der 39-Jährige wohnt sein zweites Jahr auf seiner eigenen Insel in Indonesien. Sie heißt Maila und ist so klein, dass Google Maps sie nicht anzeigt. Sie liegt mitten in der Inselgruppe, die Pulau Banyak heißt, indonesisch für: viele Inseln. Sie ist „seine“ Insel, er hat sie für 30 Jahre gemietet. Sie ist ungefähr 3000 Quadratmeter groß, „wie der Görli, ganz für mich allein“. Bezahlt hat er 8600 Euro. Das sind 150 Millionen Indonesische Rupiah, ein Vermögen in einem Land, in dem das monatliche Durchschnittseinkommen bei 154 Euro liegt.

Bernd H. fand die Insel 2017, als er eine Reise durch verschiedene Länder in Südostasien machte. Noch im gleichen Jahr reiste er wieder nach Indonesien. Er flog also von Berlin nach Singapur, von dort nach Medan, die viertgrößte Stadt Indonesiens auf der Insel Sumatra. Dann dauerte es noch rund 20 Stunden bis zu seiner Insel: per Nachtbus von Medan nach Singkil an die Westküste Sumatras, per Schiff in drei Stunden auf die Insel Balai, danach mit einem Schnellboot auf die Insel Sikandang. Von dort sind es 15 Minuten bis nach Maila.

 

 

 

 

Interview mit Spiegel-Online

Im Interview mit Spiegel-Online durfte ich auch meine Lieblingsfrage beantworten, die nach dem koreanischen Weltschmerz, dem “Han”.

Hier ein Auszug:

SPIEGEL ONLINE: Ein anderer Begriff, der viel über Korea erklärt, ist Han – man könne daran sterben, heißt es. Was bedeutet Han?

Kittel: Han ist eine traurige Grundstimmung, übersetzbar vielleicht mit “Weltschmerz”, fühlbar nur als Koreaner. Es wird auch beschrieben als eine Trauer, die sich nicht auflöst, eine Rache, die man niemals nehmen kann, oder wie ein Knoten im Herzen. Han-Filme zum Beispiel sind unglaublich trist, erfüllt von großer Traurigkeit.

SPIEGEL ONLINE: Woher kommt diese Art Nationaltrauer?

Kittel: Das Volk der Koreaner musste viel erleiden: Zum Beispiel wurde Korea 900-mal von Nachbarländern überfallen, zur Kolonialzeit bis 1945 wollten die Japaner die koreanische Sprache abschaffen, der Antrag auf Selbstständigkeit wurde von der Friedenskonferenz 1905 in Den Haag abgelehnt – eine unglaubliche Demütigung. Auch die Trennung ist ja nicht selbstverschuldet, die wurde den Koreanern von den Westmächten und China aufgedrückt. Die Koreaner sagen immer noch: “Wir sind der Shrimp zwischen den Walen” – also zwischen Japan und China.

SPIEGEL ONLINE: Han und die hierarchisch geprägte Gesellschaft wirken ja sehr gegensätzlich zu den bonbonbunten K-Pop-Videos und Soaps, die Korea in die ganze Welt exportiert – wie kann das sein?

Kittel: Alles gibt es gleichzeitig. Unter der Diskrepanz zwischen Tradition und der modernen Welt leidet auch die junge Generation, die ja viel reist und viel sieht. Zuhause küssen die Koreaner die Hand des Großvaters, und in der Firma müssen sie sich jede Entscheidung von oben absegnen lassen. Das hemmt unglaublich.

Das ganze Interview auf Spiegel-Online:

Interview mit Goethe-Institut

Ein gutes Jahr reist Sören Kittel durch Südkorea. Das Ergebnis ist der 2016 erschienene Reisebericht „An guten Tagen siehst du den Norden“, der zu den aktuellsten deutschsprachigen Büchern über Korea gehört. Ein Gespräch über „Han“, das Verständnis des Fremden und koreanisches Machertum.

Herr Kittel: Warum ein Buch über Korea?

Ich bin zum Glück angesprochen worden, ob ich das Buch machen will. Ich war zunächst mit dem Stipendium der Internationalen Journalisten-Programme hier, die jedes Jahr vier Journalisten nach Asien schicken und vier aus Asien empfangen. Ich entschied mich dann für Korea und hatte gegen Ende der Zeit noch einmal die Gelegenheit, nach Nordkorea zu kommen. Als Ergebnis habe ich dann ein Dossier für die „Welt“ geschrieben, für das ich den Meridian-Journalistenpreis für Reisejournalisten bekam. Und dann rief mich der DuMont-Verlag an, ob ich nicht ein Buch machen will.

In Ihrem Buch zieht sich das Konzept des „Han“ wie ein roter Faden durch das Buch. „Eine Form der universellen Traurigkeit, die sich nie auflöst“, so wird es beschrieben. Was war der Anlass dafür?

Gin, ein koreanischer Freund von mir, der inzwischen verstorben ist, erzählte mir als Erstes von diesem unübersetzbaren Begriff. Wenn ich die Menschen heute, zwei Jahre später, auf „Han“ anspreche, sagen mir viele, dass das eine Sache der Vergangenheit ist. Das gebe es nicht mehr so richtig. Aber damals hatten die Menschen alle etwas, das sie damit verbanden. Ich war auch privat in einer traurigen Stimmung, undeine solche Stimmung fällt in Korea einfach auf einen Resonanzboden. Das ist ein Gefühl, das man nicht wegdiskutieren kann. Ich lernte zum Beispiel eine Frau kennen, die mich mit dem Auto mitnahm und mir plötzlich ihr Herz ausschüttete. Sagt, dass sie ihren Mann schon seit Jahren nicht mehr liebe und nur noch wegen der Kinder da sei. „Und wie heißt das bei euch, YOLO? Youonly live once?” Dieses Konzept, dass man manche Dinge einfach mal machen muss, weil man eben nur einmal lebt, das kannte sie nicht. Das hat mich berührt, und deswegen dachte ich, „Han“ könnte eine Art Leitmotiv für das Buch werden.

Das ganze Interview hier.

Das große Ritual in Bali

Fast jeder hat ein Bild von Bali im Kopf, auch ohne je da gewesen zu sein. Auf der „Insel der Götter“ treffen Tauchparadies, Tempeleinsamkeit und Reisfeldromantik auf Ballermann, Bananenboot und Massagesalons.

Der Ruf der Insel mag ruiniert sein – für mich bleibt Bali ein fast magischer Ort, aufgeladen durch die Energie der dort lebenden Menschen. Sie schmücken „ihre“ Insel so, wie andere nur ihr Wohnzimmer. Es ist für sie mehr als ein Ort, an dem sie wohnen.

Das Exotische, das Unverständliche und Fremde – all das hatte ich im Hinterkopf, als ich 1999 zum ersten Mal Bali betrat. Balinesen verstanden damals nicht, warum sich Menschen mit wenig Kleidung an den Strand legen. Sie verstanden auch nicht, warum man sich über Dinge wie einen schlecht gemixten Gin Tonic ärgern kann.

Und im Grunde verstehen sie bis heute das Prinzip Tourismus nicht. Ein Satz, der mir in Erinnerung geblieben ist, war der eines jungen Balinesen, der seine Insel nie verlassen hatte. Er fragte: „Warum fliegt ihr für Erholung so weit, ist es bei euch zu Hause nicht schön?“

In den Jahren danach war ich immer nur für kürzere Aufenthalte von Jakarta aus in Bali. Einmal direkt nach dem Attentat auf einen Club und eine Bar im Süden der Insel im Oktober 2002. Damals starben mehr als 200 Menschen, die meisten davon Touristen aus Australien. Drei der Täter wurden ein paar Jahre später auf einer kleinen Insel vor Bali durch Erschießung hingerichtet. Der Tourismus brauchte Jahre, um sich davon zu erholen.

2019 ist von „diesem Bali“ nur noch wenig zu sehen. Es gibt eine Gedenktafel an der Stelle, wo einst das Irish Pub „Paddy’s“ stand, auf den das Attentat verübt wurde. Ausgerechnet unter dem Namen „Paddy’s Reloaded“ ist es an anderer Stelle wiedereröffnet worden.

Ich entdecke es auf meinem ersten Rundgang über die Insel, in Kuta, dem wohl bekanntesten Strandort von Bali. Ich laufe an Shopping Malls und hübschen Frühstückcafés vorbei, die Smoothie Bowls und Eggs Benedict anbieten.

Schon morgens um 9 Uhr ist hier Marktstimmung, überall das sachte Hupen und die ersten (oder letzten?) Betrunkenen, die mir aus ihren Autofenstern laut „Aussie!!!“ zurufen. Dabei bin ich weder Australier noch in Partystimmung.

Zwischen ein paar Autos sehe ich weiß gekleidete Balinesen. Ich frage einen Passanten, was es damit auf sich hat. Er sagt, es finde ein Fest am Strand von Seminyak statt. Ich frage noch: „Aber kein Puputan, oder?“ Er lacht.

Puputan, ich hatte das Wort im Studium gelernt und immer Schwierigkeiten, es in mein Bild von Bali zu integrieren. Es beschreibt das balinesische Ritual des Selbstmords mittels eines magischen Dolchs, dem Kris.

Weltweit bekannt wurde das Ritual, als 1906 eine Gruppe von Militärs an den Strand vom heutigen Denpasar, der Hauptstadt Balis, angelangte. Sie hatten bis dahin erfolglos versucht, Bali einzunehmen, keine andere indonesische Insel verteidigte sich so erfolgreich und so lange gegen die Kolonialherren.

Doch an diesem Tag im Jahr 1906 wurden sie von einer Prozession von rund 300 weiß gekleideten Balinesen begrüßt. Der lokale König wurde in einer Sänfte auf den Platz getragen, der Priester beugte sich über ihn – und stach ihm vor den Augen der Niederländer den Dolch ins Herz und tötete sich anschließend selbst.

Was in den folgenden Minuten geschah, war ein Blutbad, das die europäischen Augenzeugen derart schockierte, dass sie in den kommenden Jahren ihre Art der Kolonisierung komplett überdenken sollten. 1400 Balinesen, so die Schätzungen, verloren an diesem Tag ihr Leben, die meisten durch den eigenen Dolch.

Bis heute zeugt ein Monument im Zentrum der Insel von diesem historisch brutalen Vorfall in der Geschichte Balis, der aber auch vom Stolz der Inselbewohner erzählt. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt erkannt, dass sie gegen die Waffen der Niederländer nichts mehr ausrichten konnten.

Doch die weiß gekleideten Balinesen, die ich an diesem Tag sehe, sind gut gelaunt und winken in meine Kamera. Ich folge ihnen zum Strand und tatsächlich: Inmitten der Touristen auf ihren Liegen und Handtüchern ist ein großes Festzelt aufgebaut, das in der Nachmittagssonne orange leuchtet.

Große handgefertigte Sänften mit Geschenken für die Götter werden aufgebaut, weitere Festzelte werden zusammengesteckt und mit gelb leuchtenden, flatternden Markisen versehen. Am Rand des Platzes steht ein Mann und dirigiert die Arbeiten.

Er stellt sich als I Made Suarnata – die Namensgebung in Bali erfolgt nach einem komplizierten, ausgeklügelten System, das in Reiseführern gut zusammengefasst wird. Allein durch seinen Namen weiß ich, dass er männlich ist („I“) und dass er das zweite Kind seiner Eltern ist („Made“).

Er schiebt das Mikro, das um seinen Kopf hängt, kurz zur Seite und erklärt mir, was hier gerade passiert. „Jeder Tempel auf Bali zieht seine Energie aus Steinen, die im Boden vergraben sind.“ Die fünf Elemente seien symbolisch durch Rubin, Eisen, Silber, Gold und Sandstein vertreten, von ihnen geht die Energie aus, die aber über die Jahre nachlasse.

Suarnata nennt die Steine „die Batterie“. Und die müsse wieder „aufgeladen“ werden. „Deshalb werden wir morgen ein Ritual veranstalten, damit der Tempel seine Kraft nicht verliert.“ Er sagt, dass zu diesem Ritual nicht nur die Gemeinde des Tempels eingeladen sei, sondern Gemeinden von der ganzen Insel kommen würden. „Morgen wird es hier in Seminyak sehr voll sein.“

Wir verabreden uns für den nächsten Tag. Suarnata sagt, er werde wieder an der gleichen Stelle stehen. „Am besten trägst du auch ein weißes Hemd und einen Sarong, dann fällst du nicht so auf.“ Bevor ich gehe, frage ich noch, wie oft dieses Fest stattfinde. Er ruft: „Alle 30 Jahre.“

Am kommenden Tag fahre ich gegen Mittag wieder nach Seminyak. Dort ist inzwischen der Parkplatz voller Mopeds und ein Empfangskomitee führt mich zu einem freien Parkplatz.

Ich frage sie noch einmal, ob dieses Ritual wirklich nur alle 30 Jahre durchgeführt werde. Zu meiner Überraschung sagen sie: „Nein, das sind nicht 30 Jahre, das wird alle zehn Jahre gefeiert, oder?“ Ein weiterer sagt: „Nein, alle 17 Jahre.“ Ich bin verwirrt und fühle mich an die Gespräche über Abfahrtszeiten von Fähren und Bussen erinnert.

Kurz darauf treffe ich Suarnata wieder. Er freut sich, dass ich ein weißes Hemd trage und einen Sarong, so wie er es mir gestern geraten hat. „Aber das Muster ist von den Dayak aus Borneo“, sagt er und ich merke, dass er es besser gefunden hätte, wenn ich einen balinesischen Sarong getragen hätte. Aber er lächelt milde.

Ich frage ihn, ob ich es gestern richtig verstanden hätte, dass das Festival wirklich nur alle 30 Jahre stattfinde. Suarnata erklärt, dass es oft zu Verwirrung komme, weil Bali einen eigenen Kalender hat.

Der „Insel“-Kalender zähle nur 210 Tage und die Feste werden nach diesem Kalender gefeiert. „Bei rund 100 regelmäßigen Festen im Jahr kannst du dir vorstellen, dass wir Priester viel zu tun haben.“ Jedenfalls sind 30 Bali-Jahre rund 17 Jahre im gregorianischen Kalender.

Suarnata sagt, dass der Ansturm der Touristen seine Arbeit oft erschwere. „Touristen wollen unsere einzigartige Kultur erleben“, sagt er, „aber dass das Aufrechterhalten viel Zeit braucht, wollen sie nicht anerkennen.“

Er sagt, es komme oft zu Diskussionen, wenn Balinesen als Angestellte im Hotel arbeiten und fünf Mal am Tag die Opfergaben für den Hausschrein vorbereiten müssen. „Natürlich sehen die Gaben für die Götter immer schön bunt auf den Bildern aus, aber trotzdem wollen die Gäste am nächsten Tag ihre frische Wäsche vor der Zimmertür haben.“

Dieser Gegensatz habe dazu geführt, dass immer mehr Indonesier aus anderen Teilen des Landes sich auf Bali angesiedelt hätten. „Und weil das eben Muslime sind, hören wir jetzt auch oft den Muezzin hier auf Bali.“ Das wiederum führt zu sozialen Schwierigkeiten.

Inzwischen hat das Fest begonnen. Am Strand verteilt befinden sich verschiedene Festzelte, in denen gerade Opfergaben vorbereitet werden, in denen getanzt wird oder in denen Priester einige weit gereiste Gäste segnen. Manche dieser Zeremonien sind gleichzeitig, andere finden nacheinander statt.

Die ganze Zeit über können sich Balinesen zurückziehen, um zu essen oder zu trinken. Über allem liegen die sanften Klänge eines balinesischen Gamelan-Orchesters, das immer wieder zwischen verschiedenen Geschwindigkeiten und Lautstärken hin- und herwechselt.

Ich stelle mich neben das Orchester und versuche, wie so oft schon, die Logik eines Gamelans zu verstehen. Im Gegensatz zum europäischen Orchester spielt nicht eine Instrumentengruppe eine Melodie, die die anderen begleiten, sondern die verschiedenen Gongs ergeben erst im Zusammenspiel eine Melodie.

So kann es auch sein, dass ein Spieler nur den ersten, fünften und achten Ton spielt. Angeführt wird das Orchester nicht von einem Dirigenten, sondern von einem Trommler in der Mitte der Spielenden.

Während des Konzerts hat sich eine Menschenmenge in der Mitte des Platzes zusammengefunden. Als ich genauer hinschaue, sehe ich, wie einzelne Frauen und Männer einen Kris – den Dolch – in die Hand nehmen und damit so tun, als würden sie sich ermorden. Ihre Gesichter sind dabei entrückt, schmerzverzerrt, und manche stoßen laute Schreie aus.

Sie richten dabei die Spitze des Dolches genau auf ihr Herz und es wirkt, als könnten sie sich gerade noch so davon abhalten, den Selbstmord wirklich zu begehen. Begleitet werden sie von immer lauter werdender Musik und dem Johlen der Umstehenden.

Dieser Tanz geht auf eine Sage zurück, die vermutlich in der Zeit entstand, als die Balinesen sich vor den Niederländern zu Hunderten selbst töteten. Es heißt, Barong, einer der mythischen Götter der Insel, habe sämtliche Dolche der Insel verflucht, damit mit ihnen nie wieder Selbsttötungen vollzogen werden können.

Bei großen Ritualen führen also Männer und Frauen vor, dass sie zwar einen Kris gegen sich selbst richten können, aber, egal welche Kraft sie aufwenden, die Spitze des Dolches ihrer Haut nichts anhaben kann.

Obwohl einige Ordner versuchen, den Menschen in Trance nach und nach den Dolch zu reichen und nach mehreren „Versuchen“ wieder wegzunehmen, gibt es immer wieder Balinesen, die – obwohl noch nicht an der Reihe – plötzlich wütend den Dolch an sich reißen und gegen sich richten.

Das aufwendige Ritual des „Aufladens der Tempelbatterie“ am Strand von Seminyak endet schließlich mit einem Tanz von Barong und der Hexe Rangda.

Während zwei Schauspieler mit aufwendig gestalteten Masken zu hektischer Gamelan-Musik den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse aufführen, teilt sich die Menge und macht den Blick frei auf fünf Tiere: ein Huhn, eine Ente, eine Ziege und zwei junge Rinder. Als ich näher herangehe, sehe ich, dass die Tiere alle an den Füßen festgebunden sind und völlig apathisch daliegen.

Ich gehe zu I Made Suarnata, der noch immer am Rand des Festzeltes steht. Er sagt, diese Tiere sind der eigentliche Höhepunkt des Festivals und bestätigt damit meine Befürchtungen.

Als der Barong die Hexe Rangda tänzerisch besiegt hat, wird ein Schlauchboot an den Strand getragen. Die Tiere wehren sich kaum, als sie auf das Schlauchboot getragen werden. Suarnata murmelt, dass sie hierfür meist sediert seien.

Drei Männer steigen auf das Schiff – sie tragen alle Sicherheitswesten. Die Wellen sind hoch an diesem Abend. Das Schiff mit den acht Lebewesen an Bord braucht lange, um über die ersten hohen Wellen hinweg ins offene Meer zu gelangen. Als sie es schließlich geschafft haben, applaudiert die Menge. Wenige Minuten später werden die Tiere dem Meer geopfert.

I Made Suarnata erklärt mir diese Prozedur routiniert, wie er wohl schon vielen Ausländern gegenüber Tieropfer erklärt haben wird. „Das Mekelam wird häufig kritisiert“, sagt er, „weil diese Art des Opferns eben mit westlichem Tierschutz nicht vereinbar ist.“ Er sagt, dass westliche Touristen schon gegen diese Opfer protestiert hätten.

Vielleicht ist auch deshalb dieser Teil des Strandes weitestgehend für Touristen gesperrt. Die wenigen Touristen, die gesehen haben, wie die Tiere auf das Boot getragen wurden, wunderten sich, aber gingen schnell weiter – auch weil sie sich in ihrer Badebekleidung unter den feiernden Hindus sicherlich zu schlecht gekleidet fühlten.

Als das Boot ohne die Tiere etwa 20 Minuten später zurückkommt, sagt Suarnata zu mir: „Ihre Geister sind jetzt mit uns.“ Er erzählt, dass Hindus an Reinkarnation glauben und dass jedes Wesen auf der Erde das Göttliche in sich trage. „Wir werden geboren, und wir kehren zur Erde zurück.“ Ein Tier, das während einer solchen Zeremonie geopfert werde, habe die besten Chancen, im nächsten Leben unter besseren Umständen geboren zu werden.

Dann zieht er sich mit den Feiernden in den Tempel zurück. Die Musik wird von dort noch bis spät in die Nacht über den Strand schallen. Ich darf leider trotz meines weißen Hemds und dem Sarong den Tempel heute nicht betreten. „Nur Balinesen“, steht am Eingang.

Daher gehe ich am Abend noch einmal zu Fuß durch das nächtliche Touristen-Bali und sehe ein Plakat: „Erleben Sie die Selbstmordtour in Bali“. Es wird eine Tour zu den interessantesten Orten angeboten, an denen ein Puputan stattgefunden hat.

Nach dem Massenselbstmord im Jahr 1906 merkten die Niederländer, dass sie reagieren müssen. Eine ihrer Ideen war es, Bali als „Paradies“ in der Welt bekannt zu machen, meist illustriert von Einheimischen, die exotisch anmuten und ihre unbedeckten weiblichen Brüste in die Sonne halten. Rund 100 Jahre später ist der Ort des Selbstmordes selbst ein Touristen-Highlight.

Doch der Geist Balis, wenn man so will, lebt weiter und wehrt sich jeden Tag dagegen, dass noch mehr Besonderheiten des Zusammenlebens verändert werden. Der letzte Hype entstand vor zehn Jahren, als der Film „Eat Pray Love“ mit Julia Roberts erschien und Bali einmal mehr als Ort friedvoller Reisterrassen darstellte, der er schon lange nicht mehr war.

Urlaub, das habe ich begriffen während des Rituals, bedeutet auf Bali eben, dass man mit ein bisschen Glück mehr bekommt als einen perfekt gemixten Cocktail mit Tempelmusik im Hintergrund. Die Einheimischen versuchen auf ziemlich erfolgreiche Art, das, was Bali ausmacht, weiterhin zu erhalten.

In den letzten Jahren hat sich die Insel darüber hinaus erfolgreich einen Namen in der Start-up-Welt gemacht. Immer mehr Freiberufler mieten sich in eine der günstigen Wohnungen ein, bezahlen umgerechnet hundert Euro für einen Platz in einem Co-Working-Space und beginnen den Tag mit Jogging oder Yoga am Strand.

Im Osten der Insel gibt es eine lebendige Underground-Techno-Szene, deren DJs auch schon im Berliner Berghain aufgetreten sind. Und obwohl die Staus und die Partytouristen in der Tat der Insel geschadet haben, ist es ein Ort, der mich immer anziehen wird.