Steven K., Bushido ehemals bester Kumpel

Berlin – Irgendwann kamen abends Anis und Anna-Maria Ferchichi mit einer braunen Nike-Plastiktüte voller 500er-Scheine zu Steven K. und seiner Freundin. Sie sagten: „Kannst du uns helfen, das Geld zu zählen?“ K. hatte noch nie so viel Geld auf einmal gesehen. Anis Ferchichi erklärte ihm, das sei Schwarzgeld unter anderem von Konzerten. 40.000 Euro pro Konzert. „Ich dachte damals“, sagt Steven K., „das ist ja mehr als ich im ganzen Jahr verdiene.“ Beeindruckt habe ihn das alles. Zwei Stunden lang haben sie gezählt, in einem Mehrzweckkeller in einem Mietshaus. Viermal kamen sie auf die Zahl von 975.000 Euro. Dann hat Anis ein Bündel Scheine herausgenommen. Davon sollten wohl Autos gekauft werden. Die Plastiktüte wurde dann im Keller abgestellt.

Diese Welt von Drogen, Versicherungsbetrug, Prostitution und Schwarzgeld im Keller – das ist keine Netflix-Serie über Geldwäsche wie „Ozark“, sondern das war Alltag für Steven K., der zwischen 2015 und 2017 zum Freundeskreis von Bushido gehörte. Das ist jener berühmte Deutsch-Rapper, der bürgerlich Anis Ferchichi heißt und seit eineinhalb Jahren Nebenkläger in einem Prozess am Berliner Landgericht ist gegen vier Brüder aus der Abou-Chaker-Familie. Der mutmaßliche Bandenchef Arafat Abou-Chaker war zwischen 2004 und 2018 Bushidos bester Freund und Manager. Als diese Freundschaft aber endete, sollen die vier Brüder den Rapper geschlagen, beleidigt, genötigt, bedroht und eingesperrt haben.

Bushido allerdings hat an 23 Prozesstagen ausgesagt über diese Freundschaft, die sich für ihn wie eine „Zwangsehe“ anfühlte und ab dem Januar 2018 lebensbedrohlich erschien. Vor Gericht hat er geweint und auch von der Todesangst gesprochen, die er um seine Familie hatte. Immerhin lebt Bushido seit der Trennung von Arafat unter Polizeischutz, tritt auch vor Gericht im Sicherheitssaal in Moabit immer begleitet von vermummten Beamten auf. Abou-Chakers Verteidigung hat immer wieder deutlich gemacht, dass sie dieser Darstellung widerspricht. Bisher aber schweigen sie zu den Vorwürfen.

Der erste Zeuge, den die Verteidigung am Mittwoch in den Zeugenstand ruft, ist nun Steven K. Der 37-Jährige soll zeigen, wie es ist, mit Bushido befreundet zu sein. Er war 2015 Stammkunde in Bushidos Zierfisch-Geschäft am Hindenburgdamm, „Into the Blue“. Über die Fische haben sich beide dann angefreundet, sie gingen zusammen angeln, und als sich dann ihre beiden Freundinnen auch verstanden, wurden sie alle gute Freunde.

Fast den ganzen Tag habe sich Steven K. um die Belange seines neuen besten Freundes gekümmert, über Jahre. Das ist schon deshalb interessant, weil Bushido häufiger gesagt hat, dass er „keine Freunde habe“, mit denen er Probleme, wie die mit Arafat, besprechen könne.

Steven K. kommt am Mittwoch in einem Pullover, auf dem „Fish Buddy“ steht. Schon in der ersten Stunde im Zeugenstand sagt oder ruft er einen Satz über Bushido, der der Verteidigung sehr gefallen muss: „Er ist ein Schauspieler!“ Als Beispiel führt K. eine Flugreise an, eine der vielen Reisen, die er mit Bushido gemacht hat: Malediven, Kanada, New York. Sie seien zwar Business Class geflogen, aber kurz nach der Landung habe Anis Ferchichi am Telefon seine Frau Anna-Maria angerufen und sich beschwert, dass wegen der Economy Class sein Nacken ganz verspannt sei. „Sie hat ihn dann drei Stunden massiert“, sagt K. Er habe auch miterlebt, wie Bushido seine Frau betrogen habe auf diesen Reisen, mindestens einmal mit einer Prostituierten. „Ich habe dann unten an der Hotelbar gewartet, weil wir uns ein Zimmer geteilt hatten.“

Diese Art von Freundschaft wird in einer amerikanischen TV-Serie dargestellt, die in den frühen 2000ern bekannt war: Entourage. Sie erzählt vom Schauspieler Vincent, der aus New York kommt und sich in Hollywood erst zurecht finden muss. Dabei helfen ihm Freunde, die immer da sind, mit ihm Zeit verbringen, ihn an Termine erinnern, ihn beraten bei Rollen — und finanziell von ihm abhängig sind. Inspiriert war sie vom Leben des Schauspielers Mark Wahlberg, der auch der Produzent dieser Serie war. Sie erzählt auch von den Problemen, wenn Geld sich mit Freundschaft vermischt, wenn die Entourage plötzlich Zeit ohne den Star verbringen will.

Steven K. hatte genau diese Probleme, aber er erlebte auch eine rauschende Dauerparty: Die ersten Jahre zumindest, so sagt es Steven K. im Zeugenstand, habe er durchaus profitiert. Er hat im Zierfischladen gearbeitet („Netto waren das 1300 Euro im Monat“). Zu Weihnachten 2015 hat er eine Rolex für rund 9000 Euro geschenkt bekommen („Das war immer ein Traum von mir“).

Er ist sogar in die Wohnung neben Bushido gezogen, auch wenn diese dann nicht mietfrei war, wie es ihm versprochen worden war. Häufig trafen sie sich abends dort zum „Stammtisch bei K.“, wie sie diese Abende nannten, zusammen mit anderen Rappern wie zum Beispiel Samra. Sie spielten Brettspiele, schauten YouTube-Videos und rauchten Joints. „Anis hat nie mitgeraucht, aber er hat sie immer gern gedreht.“ Wenn K. aber mal keine Lust auf Gäste hatte, sagte Bushido: „Ach komm, du schaffst das schon.“

Steven K. erzählt im Zeugenstand all diese Details mit Wut im Bauch. Nichts mehr wolle er mit den Ferchichis zu tun haben. Dazu hat auch beigetragen, dass er immer mehr von den Schattenseiten der Welt des Rappers mitbekam. Als Anis Ferchichi 2016 wegen Versicherungsbetrugs in Höhe von 360.000 Euro angeklagt wurde, sollte K. für den Freund aussagen, das heißt: lügen. K. tat ihm den Gefallen, weil der Rapper ihm im Gegenzug versprach, dessen Schulden von 14.000 Euro für die Beerdigung des Vaters zu bezahlen. Er tat das jedoch nie. Dafür habe sich Arafat Abou-Chaker immer um seine Probleme gekümmert. Ist deshalb seine Erinnerung an den Bandenchef letztlich so freundlich?

Zum eigentlichen Verfahren – der Freundschaft zwischen Abou-Chaker und Bushido – kann K. nur wenig sagen. Er war zwar oft dabei, wenn sie sich stritten, auch im Spätsommer 2017, als es um den Zaun auf dem gemeinsamen Grundstück in Kleinmachnow ging. Doch K. hielt sich stets zurück, hörte sich den Streit nur an, ergriff nicht Partei. Dass es auch gefährlich werden konnte, hatte er kurz zuvor erfahren. Im Mai 2017 hatte ihm Bushido vorgeworfen, Geld aus der Kasse des Zierfischladens genommen zu haben. Bushido habe ihn gewarnt: „Wenn ich das Arafat sage, bricht er dir die Knochen.“ K. schwor, dass er kein Geld gestohlen habe, doch zur Sicherheit versuchte er, es bei seiner Familie zu leihen. Bei der Erinnerung an diese Krise verliert er vor Gericht noch einmal die Fassung. Zitternd trägt er vor, dass ihn diese ungerechte Beschuldigung sehr geschockt habe.

Kurz darauf wird der Zierfischladen geschlossen. Er habe ohnehin nicht genug Geld abgeworfen, Anis kam nur vorbei, um Anträge zu unterschreiben und World of Warcraft zu spielen. K. beschreibt ihn als „geldgeil“. Die Freundschaft zwischen beiden war deutlich abgekühlt, vorbei die Zeit, als sie im Hotel die Betten zusammenschoben, wie er erzählt. K. war am Ende zu einer Art Hausmeister und Mädchen für alles geworden: Holte die Kinder ab, baute Schaukeln auf, reparierte kaputte Lampen. Auf Reisen war er noch dabei, Bushido sagte ihm, er könne ihn „bei der Steuer absetzen“.

Das Ende der Freundschaft kam dann ganz abrupt am 23. Dezember 2017. Am Abend zuvor hatte Steven K.s Freundin nicht mit Bushidos Frau „feiern gehen“ wollen. Bushido rief ihn zu sich und sagte ihm, dass er ausziehen müsse. „Ich sei ihm zu teuer geworden“, ist ein Satz, den er noch weiß. Und: „Du kannst dich bei deiner Frau bedanken.“

Steven K. wohnte dann noch einen Monat in seiner Wohnung neben den Ferchichis. Er ließ meistens die Jalousien unten, ging nur auf die Straße, wenn es nötig war, versuchte den Kontakt zu vermeiden. Einmal aber, erzählt er, kam Anis Ferchichi gerade mit einem Auto herangefahren. Sie haben sich nicht mehr in die Augen gesehen, sondern Anis habe nur verächtlich zur Seite geblickt.

Steven K. hat sich wieder bei seinen alten Freunden gemeldet. Die hatte er lange Zeit vernachlässigt. Und er hat wieder ein geregeltes Einkommen. Er arbeitet jetzt bei der Berliner Stadtreinigung.

Porträt der Redaktion der “Jungen Welt”

Berlin – Am Mittwoch, nur Stunden vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, hat die Redaktion der Berliner Zeitung am Wochenende die Kollegen der Jungen Welt (JW) zu einer Art „Gesinnungstest“ gebeten. Anhand bestimmter Begriffe und Schlagworte sollte so die Einstellung der Redaktion zu Dingen wie Kapitalismus und Klimawandel herausgearbeitet werden, aber auch zu den Präsidenten Putin und Maduro. Hier im Text finden sich Auszüge aus diesem Gespräch mit den drei Mitarbeitern Stefan Huth (Chefredakteur), Dietmar Koschmieder (Geschäftsführer) und Peter Borak (dessen Stellvertreter). Das Gespräch dauerte rund zwei Stunden. Es drehte sich um Europa, Geopolitik, Wirtschaftstheorie – und, ab wann ein Text als verfassungsfeindlich eingeordnet werden kann.

Klimawandel? Huth: „Der Kampf gegen die Umweltzerstörung hat mich in den 1980er-Jahren politisiert.“ Protest mit festgeklebten Händen? Huth: „Wenn man sich selbst körperlich schädigt, kann das keine gute Protestform sein.“ Wiedervereinigung? „Sie meinen den Anschluss der DDR?“ Huth lächelt und fragt, was denn damals wiedervereinigt worden sei? Er sagt, dass die Redaktion das Wort nicht benutze, es gebe für sowas eine informelle Liste. Weitere Begriffe darauf seien: internationale Gemeinschaft, innerdeutsche Grenze („Es waren zwei Staaten“) und: Arbeitgeber. „Man müsste von Arbeitskraftaneigner sprechen, das drückt doch eher aus, was wirklich passiert. Bei uns ist die Rede von Unternehmern oder eben von Ausbeutern.“

Huth, Koschmieder und Borak sitzen nebeneinander im sechsten Stock in den Redaktionsräumen ihrer Zeitung, an den Bürowänden hängen eine Mini-Flagge von Kuba, ein russischer Wimpel und ein Aufkleber mit Hammer, Sichel sowie arabischen Schriftzeichen. Am Fenster steht eine hölzerne Statue, die Peter Borak von Zuhause mitgebracht hat: Es ist der russische Soldat vom sowjetischen Ehrendenkmal im Treptower Park. Er ist aus Holz und trägt ein Kind im Arm. Daneben steht das Leipziger Messemännchen: der Kopf eine Weltkugel, im Mund eine Pfeife. Wer ostdeutsche Wurzeln hat, findet viele Bekannte hier im Büro.

Vor den Redakteuren auf dem Tisch liegt die aktuelle Junge-Welt-Ausgabe vom Mittwoch, auf deren Titel stehen drei rätselhafte Wörter, die man auch nach längerem Anschauen nicht ganz versteht: „Putin erzwingt Frieden“. Huth und seine Kollegen wollen über die Ausrichtung ihrer Zeitung sprechen, weil sie sich falsch verstanden fühlen. Seit 24 Jahren werden sie vom Verfassungsschutz beobachtet. Die Bundesbehörde schreibt dort jedes Jahr, das Blatt sei ein „bedeutendes Printmedium im linksextremistischen Bereich“. Die Zeitung pflege eine „traditionskommunistische Ausrichtung“ und wolle eine „sozialistische Gesellschaft errichten“. Gewalt gelte in den Texten der JW als anerkanntes Mittel gegen Kapitalismus und Imperialismus. So der Vorwurf und so die Gründe für die Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Die putinfreundliche Ausrichtung wird nicht helfen. Jetzt erst recht nicht.

Trotzdem. Die Macher der Zeitung sehen sich schikaniert. Die Redaktion habe das viel zu lange ertragen, sagt Geschäftsführer Koschmieder. „Früher hatten wir weder Kraft, Zeit noch Mittel, dagegen juristisch vorzugehen“, sagt er, „wir kämpften schlicht um unser Überleben.“ Aber inzwischen sei die verkaufte Auflage recht stabil, sie liege an manchen Tagen bei über 24.000 Exemplaren. „Aber weil wir die einzige Tageszeitung sind, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, entstehen uns eine Reihe von Nachteilen, die mittlerweile unsere Existenz bedrohen.“ So dürfe man an deutschen Bahnhöfen nicht auf Großplakaten werben, Druckereien oder Bildagenturen verweigern die Zusammenarbeit, Autoren oder Interviewpartner wollen nicht in der Zeitung abgedruckt werden – immer mit Hinweis auf die Nennung im Verfassungsschutzbericht. „Erst diese Woche wurde uns die Werbung für eine Probeabokampagne im öffentlichen Nahverkehr unter anderem von Hamburg,  Köln, Leipzig verweigert.“

In nächster Zeit entscheidet das Berliner Verwaltungsgericht über den Erlass einer einstweiligen Verfügung, die zumindest die aktuelle Beobachtung aus dem Verfassungsschutzbericht nehmen könnte. Derzeit ist noch völlig offen, wie das Gericht entscheidet. Folgt es aber den Anwälten der JW, dann stünden der Zeitung wieder Werbekunden zur Verfügung, die mit dem Verweis auf die „Verfassungsfeindlichkeit“ bisher vor einer Zusammenarbeit zurückgeschreckt sind. In Zeiten steigender Papierpreise und dem generellen Rückgang von Zeitungsauflagen wäre das eine sehr gute Nachricht für die Redaktion.

Die JW eröffnete den Kampf gegen den Verfassungsschutz mit einem Offenen Brief, den die Redaktion im März 2021 an alle Bundestagsfraktionen schickte. Als Reaktion darauf stellte Die Linke kurz darauf eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung. Sie wolle die Gründe erfahren, die eine geheimdienstliche Beobachtung der Zeitung nötig machen. Die schließe immerhin auch telefonische Überwachung und sonstige erkennungsdienstliche Mittel ein. Die Antwort der Bundesregierung liegt der Berliner Zeitung am Wochenende vor. Das Bild, das die Vielzahl der aufgeführten Beispiele zeichnet, lässt jedoch vor allem den Verdacht aufkommen, dass der Redaktion etwas Verfassungsgefährdendes nachgesagt werden soll, um ihre Beobachtung weiter aufrechthalten zu können. Der erste Eindruck: Die JW-Texte mögen eine extrem streitbare Haltung zeigen. Doch eine staatsgefährdende Tendenz lassen sich aus den erwähnten Beispiele nicht herauslesen.

So wurde in einem Text am 2. März 2020 über einen Parteitag der DKP berichtet und in dem Zusammenhang aus einer Rede zitiert: „Kapitalismus ist Gewalt – er zerstört Menschlichkeit, er ist Gewalt.“ Laut der Akte gehe es in diesem Text nicht nur um die Berichterstattung, sondern auch darum, den Thesen des Politikers „ein Forum zu bieten“. Das allerdings tun alle Texte über Parteitage. Auch folgendes Zitat aus demselben Text ist dem Verfassungsschutz einen Eintrag wert: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Man mag dem vielleicht nicht zustimmen, aber bildet dieser Satz eine ernsthafte Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung? Will die Tageszeitung das Grundgesetz abschaffen? Mitnichten.

Der Verfassungsschützer zitieren immer wieder Stellen, die beweisen sollen, dass die JW den „Kapitalismus überwinden“ wolle. Dafür durchforsteten sie das Archiv der Tageszeitung und stellten Beispiele aus dem Jahr 2005 direkt neben Artikel von 2020. Sie markieren Texte, in denen Autoren das „System in Frage stellen“. Diese kurzen Passagen sind häufig aus dem Zusammenhang gerissen, und es findet sich in ihnen nichts, was der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Deutschlands widerspricht, womöglich aber der politischen Haltung des Verfassungsschutzes.

Auch in unserem kurzen „Gesinnungsgespräch“ benutzen die drei Redakteure regelmäßig solche Begriffe. Klassengesellschaft? Borak: „Selbst linker Positionen unverdächtige Personen wie der Großinvestor Warren Buffett sprechen davon, dass es einen Krieg der Klassen gibt.“ Huth: „Das ist eine legitime Kategorie, mit der man Wirklichkeit beschreibt, der Begriff kommt genauso im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb vor, und daran stört sich niemand.“ Marxismus? Koschmieder: „Unsere Zeitung ist marxistisch orientiert, weil wir davon ausgehen, dass alle gesellschaftlichen Sphären von sich widersprechenden Klasseninteressen geprägt sind. Auch bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler haben übrigens ihren Marx gelesen.“ Kapitalismus? Huth: „Ein vorübergehendes Stadium.“ Borak: „Nicht das Ende der Geschichte.“ Koschmieder: „Wir gehen davon aus, dass der Kapitalismus in seiner absteigenden Phase zur verschärften Ausbeutung führt und nur den Interessen weniger Menschen nützt. “

Aus dem Jahr 2009 zitiert der Verfassungsschutz diese Passage: „Jetzt Waffen und Kriegsgerät zerstören: Das kann jeder und sollte sogar jeder vernünftige Mensch machen.“ Und weiter: „Um menschenverachtendes Kriegsgerät unbrauchbar zu machen, haben wir es einfach angezündet.“ Was sich als martialischer Aufruf zur Gewalt lesen könnte, ist allerdings ein Zitat, das in der Rubrik „Abgeschrieben“ auftaucht. Eine kurze Google-Recherche zeigt, dass diese Sätze aus einem Bekennerschreiben stammen und wortgleich vom Münchner Merkur, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Sächsischen Zeitung und dem Focus zitiert wurden. Außerdem ist die Rubrik „Abgeschrieben“ schon kraft ihres Titels ein Ort, an dem andere Medien zitiert werden. Diese Rubrik taucht häufig in den Argumenten der Verfassungsschützer auf.

Der Verfassungsrechtler Benjamin Rusteberg ist von den Argumenten für die Überwachung der JW nicht überzeugt:  „Eine kapitalismuskritische oder ablehnende Sichtweise ist nicht per se verfassungsfeindlich“, sagt er der Berliner Zeitung am Wochenende. „Der Kapitalismus ist kein Teil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.“ Welches Wirtschaftssystem Deutschland habe, sei im Grundgesetz bewusst offen gelassen worden. „Das vergisst der Verfassungsschutz vielleicht manchmal.“ Es sei nicht dessen Aufgabe, bloße Meinungen zu überwachen. „Was die Beamten bräuchten, wären klare Beweise, dass die Redaktion der JW sich aktiv gegen unser Grundgesetz wendet.“ Man müsse also belegen, dass die Junge Welt eine Art zweite DDR errichten, mithin das bestehende System stürzen wolle. Das verneint die Redaktion der Jungen Welt. Auch die Belege des Verfassungsschutzes lassen so eine Schlussfolgerung nicht zu.

Die JW veröffentlicht immer wieder Texte, die in anderen Zeitungen so sicherlich nie stehen würden. Selbst in Filmkritiken zu Berlinale-Filmen schreiben die Autoren vom Klassenkampf, bei Berichterstattung über Sportereignisse wie Olympia gibt es Verweise auf Chinas Politik oder frühere DDR-Erfolge. Manchmal ist es, gerade in dieser Woche, auch schwer erträglich, immer wieder die Sicht des Kremls, jene von russischen Kommunisten oder schlicht die Wortwahl eines Wladimir Putin auf den Seiten der JW wiederzufinden. Beispiele: Die Spannungen in der Ukraine seien „vom Westen angeheizt“, der amerikanische Geheimdienst CIA sei schuld an der Eskalation. Am Freitag veröffentlichte die Zeitung einen Text über den russischen Angriff, der schon im ersten Satz die Leser subtil auf die russische Seite zieht: „Der Vormarsch russischer Truppen auf die ukrainische Hauptstadt Kiew verläuft offenbar mühsamer als erwartet.“

Auch druckte die Zeitung in dieser Woche einen Text über Slobodan Milosevic unter der Überschrift „Unbequemer Sündenbock“. Ein Porträt, das all seine Kriegsverbrechen außen vor lässt. Und immer wieder sind auch Interviews mit ehemaligen RAF-Mitgliedern erschienen – was allerdings auch andere Zeitungen getan haben, ohne deswegen vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden. Ist das Wort „Aufstandsversuch“ für die Taten der RAF schon eine Verharmlosung? Anfang dieser Woche war sogar die komplette Rede Wladimir Putins über die Ukraine auf zwei Doppelseiten in der JW abgedruckt. Doch auch das haben andere Medien (Tagesspiegel Online, Deutschlandfunk, Berliner Zeitung Online) getan – zur Dokumentation. Reicht das aus, um, wie es der Verfassungsschutz tut, Dossiers über einzelne Autoren der Zeitung anzulegen und in diesen Kurzbiografien die Mitgliedschaft in der DKP als verfassungsfeindlich auszulegen? Eine „linksextreme Gesinnung“ lässt sich so jedenfalls nicht belegen.

Der Rechtswissenschaftler Benjamin Rusteberg erklärt zum Thema RAF, dass jede Zeitung ihre Gesprächspartner selbst aussuchen könne. „Sie haben ihre Haft verbüßt und können sich äußern, wenn sie das wollen.“ Die Junge Welt müsse schon eine zweite DDR herbeischreiben wollen, um als verfassungsfeindlich zu gelten, sagt er. „Die Meinung der Bundesregierung kann kein Maßstab sein für die Autoren einer Zeitung.“ Es komme schließlich auch zu Menschenrechtsverletzungen in Ländern, mit denen die Bundesregierung eng zusammenarbeite. Sein Fazit: „Ich sehe nicht, dass die Argumente ausreichen, um eine Beobachtung zu rechtfertigen.“

Für die tägliche Arbeit jedenfalls habe die Beobachtung schon seit langem Konsequenzen, sagt Chefredakteur Stefan Huth. „Eine Schere im Kopf gibt es auf jeden Fall. Ich frage mich immer wieder, ob eine bestimmte Zeile, ein bestimmter Satz vom Amt als Argument gegen uns angeführt werden könnte. Und mitunter natürlich auch, ob er einer medial formierten Öffentlichkeit zuzumuten ist.“ Als ehemaliger Studienrat kenne er das „Zwangssystem“, wie er es nennt, auch von der anderen Seite. „Aber ich bin zur JW gekommen, weil ich hier mein politisches Denken unzensiert entfalten kann.“ Der Arbeitsdruck sei für alle hoch, die Bezahlung eher schlecht, deshalb gehe es ihm dann besonders nahe, wenn er sehen muss, wie Beamte versuchen, ihn als Verfassungsfeind zu diskreditieren. „Manchmal höre ich das berühmte Knacken in der Leitung“, sagt Huth, „mal belauscht jemand in der Kneipe am Nachbartisch ein Gespräch.“ Aber er wolle auch keine Paranoia entwickeln.

Das Bundesverfassungsgericht ist auf der Seite der Jungen Welt

Ein weiterer, immer wieder auftauchender Vorwurf der Verfassungsschützer sind die „häufigen positiven Bezugnahmen auf kommunistische Vordenker“: Liebknecht, Luxemburg, Marx, Engels, Lenin. Die Zeitung nutzte diesen Vorwurf humorvoll und baute in eine Werbekampagne ein Bild von Karl Marx ein, der über seinen Augen einen roten Balken trägt mit dem Wort „Verfassungsfeind?“ Darunter rief die Redaktion dazu auf, die JW zu abonnieren. Der Slogan war: „1000 Abos für die Pressefreiheit.“ Laut Geschäftsführer Koschmieder war die Aktion sehr erfolgreich und konnte dieses Ziel schon nach wenigen Wochen erreichen.

Ein Punkt, der für die JW-Redaktion spricht, ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Jahr 2005: Die Richter nennen die Eintragung eines Presseorgans im Bundesverfassungsschutzbericht als  „mittelbar belastende negative Sanktion“ und werten dies klar als einen Eingriff in die Pressefreiheit. So schränke das Abhören von Telefonen massiv den Quellenschutz ein und gefährde die Institution Presse. In dem Urteil bezogen sich die Richter auf die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit. Sie stellten außerdem ausdrücklich fest, dass selbst eine „Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ebenso erlaubt ist wie die Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ändern“. Kurz gesagt: Eine Demokratie müsse aushalten, dass über ihre Grundfesten öffentlich diskutiert werde.

Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) muss sich derzeit aus genau diesem Grund ebenfalls wehren: Ihr wird vorgeworfen, vor einem Jahr einen Text in einer Zeitschrift „Antifa“ der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ veröffentlicht zu haben. Die Vereinigung wird vom bayerischen Verfassungsschutz als „bundesweit größte linksextremistisch beeinflusste Organisation im Bereich des Antifaschismus“ bezeichnet. In dem Text ging es um rechtsextreme Drohbriefe. Die Ministerin würde ihn wohl heute „nicht mehr so schreiben“, dabei geht es nicht um den Inhalt sondern den Ort der Veröffentlichung. Sie wollte sich zu dem Verfahren und dem der JW aber nicht äußern. Übrigens genauso wenig wie der Verfassungsschutz, den die Berliner Zeitung am Wochenende ebenfalls kontaktierte.

Genau dieser Ansicht ist auch die Vorsitzende der Linken, Janine Wissler. „Im Grundgesetz ist keine Wirtschaftsordnung festgeschrieben“, sagt sie der Berliner Zeitung am Wochenende. Das Grundgesetz lasse das offen. „Ich halte es für absurd, dass die Junge Welt als verfassungsfeindlich eingestuft wird, weil sie marxistisch orientiert ist.“ Ohne den Namen Hans-Georg Maaßen konkret zu nennen, sieht sie dahinter jedoch ein System. Wörtlich sagt sie: „Der Verfassungsschutz verlässt sich bei seiner Informationsbeschaffung zu sehr auf V-Leute in der rechten Szene.“

Jacobia Dahm

Der Blick vom 6. Stock auf Berlin ist immer schön: Von hier gibt es einen guten Blick auf Mitte.

Der Raum im sechsten Stock ist inzwischen in orangefarbenes Licht getaucht, vor dem Fenster geht die Sonne unter, der Blick fällt auf die Volksbühne, das Büro der Linken Partei, den Fernsehturm und auf den Rosa-Luxemburg-Platz. Die Redakteure erzählen, dass während der Berlinale schon Paparazzi fragten, ob sie sich auf dem Dach der JW aufbauen dürften. Von dort ist der Blick in die Hotelzimmer des Soho House, dem früheren Hauptsitz der Hitlerjugend, nämlich besonders gut. Ein Redakteur zeigt auf ein Fenster gegenüber und sagt: „Dort, wo Licht brennt, da wohnte Bertold Brecht.“ Von dort habe er gesehen, wie hier am Platz Kommunisten verprügelt wurden. „Das hat er ihn endgültig zum Kommunisten gemacht.“

Die Redaktion der JW hat soeben, am 12. Februar, ihr 75. Jubiläum gefeiert. Die Geschichte dieses Blattes kann als turbulent beschrieben werden. Einer ihrer Autoren, Jürgen Elsässer, verließ vor einigen Jahren die Redaktion im Streit. Ein Text von Elsässer wurde nicht veröffentlicht, andere wurden zurückgezogen, Elsässer gründete schließlich eine Zeitschrift: Compact, inzwischen das Blatt für Impfgegner und Pegida-Anhänger – es wird auch vom Verfassungsschutz beobachtet.

Maduro? Huth: „Kein Sozialist, hat aber unsere Sympathie, weil er sich auf Hugo Chávez beruft, der eine große antikolonialistische Bewegung anführte.“ Kuba? Huth: „Großes leuchtendes Vorbild, solange es da ist. Leuchtturm des Anti-Kolonialismus, Vorbild der internationalen Solidarität.“ Nordkorea? Huth: „Schwierig, da gibt es interne Debatten und die Forderung von Lesern, dass wir sie, wie offiziell, Demokratische Volksrepublik nennen.“ Putin? „Seit er Ende 1999 Präsident der russischen Föderation wurde, hat er sich um sein Land enorm verdient gemacht. Russland war auf dem Weg, zu einem Rohstofflager für den Westen herabzusinken, aber er hat es zurück auf die Weltbühne geholt. Bei aller notwendigen Kritik an seinen imperialen Ambitionen, an denen der Westen eine Rolle hat, setzt sich Putin auch seit Jahren für eine multipolare Weltordnung ein.“ Giffey? Huth: „Für Berlin reicht’s.“

Moni Zhang, Comedian aus Wuhan

Berlin – Moni Zhang hat als Treffpunkt ein Café in Friedrichshain ausgesucht, das etwas von einer gemütlichen Hippie-Höhle hat: Kerzen, Kachelofen, Möbel aus zweiter Hand. Alles wie in den 90ern, nur mit WLAN. Mitarbeiter müssen erst ihr Gespräch beenden, bevor sie eine Bestellung aufnehmen und kontrollieren irgendwann etwas nachlässig die Corona-Nachweise. Überall liegt irgendetwas rum. An jedem Tisch sitzen zwischen 20 und 30 Menschen, die an Projekten arbeiten oder sich an ihre Tassen klammern.

„Ich bin hier gern“, sagt Moni Zhang über diesen Ort und kuschelt sich in ihr Nest aus Pullover, Jacke und Schal, das sie sich auf der Couch aufgebaut hat. „Es repräsentiert, warum mir Berlin so gut tut.“ Zhang kommt recht schnell und offen auf ihre Depression zu sprechen. „Ich habe meinen Frieden mit meinen Problemen gemacht.“ Sie sei inzwischen von ihrem Psychologen „graduiert“ – auch wenn das klinge, als sei es ein Kurs, den man auf der Universität des Lebens abschließen muss. „Aber so ist das auch mit geistiger Gesundheit“, sagt sie. „Sich damit auseinanderzusetzen, wird für mich immer eine Reise sein.“

Zuschauer können jetzt an dieser Reise teilnehmen. Am 28. Januar hat Moni Zhangs neues englisches Programm „Child from Wuhan“ Premiere im Friedrichshainer Comedy Club „The Wall“, und sie wird es dann immer wieder in Berlin aufführen. Es wird ein ernstes Programm, das das Publikum gleichzeitig zum Lachen bringen soll. Bei Testdurchläufen haben Leute geweint und sind anschließend zu ihr gekommen, um von sich zu erzählen. Ihr Programm, das sei wie eine Therapie, sagt sie.

Es handelt grob: von ihr. Wie sie als Chinesin nach Europa kam, um in Rotterdam einen Abschluss in Buchhaltung zu machen. Wie sie dann eher durch Zufall nach Berlin zog und erst hier auf die Idee kam, Stand-up-Comedian zu werden. Sie wird auch davon erzählen, wie sie den ersten Preis in einem Berliner Newcomer-Wettbewerb gewann, als sie noch nicht einmal ein Jahr dabei war. Sie wird auch von ihrer Depression reden, von ihrer schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter und sicherlich auch von ihrer Katze, die Panda heißt.

Doch eines macht sie klar: Obwohl sie aus Wuhan stammt und auch ihr Programm nach der Stadt benannt hat, spricht Moni Zhang kaum über China. Einer ihrer wenigen Auftritte vom Jahr 2020 in Berlin ist noch immer im Internet zu sehen. Er beginnt mit dem Satz: „Ich komme aus einer Stadt, die zwar 14 Millionen Einwohner hat, aber bisher…“, sie hustet demonstrativ ins Mikrofon, „niemand kannte.“ Das Lachen im Publikum klingt ein wenig schüchtern, es war Anfang 2020, es gab noch nicht viele Witze über Corona. Zhang sagt weiter: „Mein Land ist mit der Krise sehr gut umgegangen.“ Sie macht eine lange Pause und sagt: „Mehr werde ich dazu nicht sagen, es sei denn, ich bekomme einen deutschen Pass.“

Auch im Gespräch im Café möchte sie nicht über China reden. Sie sei nicht Ai Weiwei, der alle Brücken zu seiner Heimat abgebrochen hat. „Ich komme auch nicht aus einem reichen Elternhaus, wie viele meiner chinesischen Freunde in Europa oder aus der Schulzeit.“ Diese könnten noch immer nicht verstehen, warum sie nicht längst eine Wohnung in Deutschland gekauft habe. „Das machen doch jetzt alle, sagen diese Freunde.“ Sie sei stattdessen schon froh, wenn sie eine Wohnung in Friedrichshain gefunden hat, die unter 1000 Euro im Monat kostet, auch wenn sie keine Küche hat.

Moni Zhang wurde inspiriert zu ihrer Karriere von Besuchen in Comedy Clubs in Berlin. Noch vor zehn Jahren fand vielleicht ein englischer Abend statt. Inzwischen gibt es vier englischsprachige Clubs, die Stand-up vor allem auf Englisch anbieten. Die Menschen auf der Bühne erzählen von ihrem Leben mit der Ausländerbehörde, von Dinner-Abenden mit Deutschen. Das Leben in Berlin bietet viele lustige Angriffsstellen. Im Publikum sitzen viele Deutsche, aber auch ein Mix aus anderen Ländern. Ihr gefalle das.

„Berlin ist perfekt für Leute wie mich“, sagt sie. „Ich kann hier sehr viel ausprobieren, ohne einen großen Druck.“ Die meisten Witze müsse man eben vor Publikum ausprobieren, um zu sehen, ob sie funktionieren. „In New York oder London würde ich niemals so viel Bühnenzeit bekommen.“ Dort müsse man auch Geld bezahlen, um auf die Bühne zu gelangen. „In Berlin ist das Publikum ehrlich, aber nicht unhöflich“, sagt sie, „und sie haben kein Problem damit, dass sich jemand über sie lustig macht.“

Sie wolle dieses Jahr mindestens 31 Auftritte bestreiten. Nur so könne sie besser werden. Dabei hilft hier, dass sie mitten in der Pandemie ein eigenes Festival gegründet hat: Das Berlin Mental Health Festival (BMHF). Es fand im Jahr 2021 zum ersten Mal statt und ließ Künstler, Comedians und Psychologen zusammenkommen – und über ihre Erfahrungen reden. Die Non-Profit-Organisation spendet alle Überschüsse an die Depressionshilfe. Es geht vor allem darum, Aufmerksamkeit auf psychische Probleme zu lenken.

„Es ist bisher immer noch ein Tabu, über geistige Gesundheit zu sprechen“, sagt Zhang. Das sei natürlich nicht immer leicht und am Anfang fühlt es sich auch noch etwas ungewohnt an. „Aber das ist sowieso ein Klischee, dass Comedians immer selbstsichere Menschen seien“, sagt sie. „Die meisten sind wie ich eher zurückhalten und benutzen die Stand-up wie eine Rüstung, wie eine Rolle, in der sie alles einmal aussprechen können.“ Das öffne manchmal alte Wunden, aber sie bekomme eben auch viel zurück.

Sie hat deshalb auch einen Podcast gestartet und spricht dort einmal wöchentlich mit anderen Comedians über deren psychische Probleme. In den bisherigen 25 Folgen von „It’s Mental“ berichtet unter anderem der ostdeutsche Comedian Richard Schäfer von seiner Pornosucht. Die Sängerin Lucy Straathof erzählt von ihrem Burnout. Andere berichten von Selbstmordgedanken, Anti-Depressiva, Drogen, Alkohol und wie sie es aus ihrem Loch herausgeschafft haben – oftmals mit Hilfe der Bühne und der Zuhörer.

„Comedy hat mir soviel gegeben in meinem Leben“, sagt Moni Zhang. Berlin habe ihr die Möglichkeit geboten, das auszudrücken. „Mein Therapeut ist Chinese“, erzählt sie und fragt: „Wo kann man das so leicht finden in der Welt?“ Trotzdem möchte sie als nächstes gern Deutsch lernen. Ihr Ziel ist es, bis Ende des Jahres auf dem Niveau B2 angelangt zu sein. „Mein Akzent wird bleiben“, sagt sie, „aber der ist doch ganz hübsch, nein?“

Yaakov Baruch, der einzige Rabbi Indonesiens

Dabei war so etwas wie eine Feier zum Holocaust-Gedenktag in Indonesien bisher undenkbar. Im Land der 13.477 Inseln bedeutete der 27. Januar bisher nur wenig. Als die Deutschen Konzentrationslager errichteten, hatten die Einwohner Indonesiens mit der japanischen Besatzung zu kämpfen. In den Jahren nach der Unabhängigkeit wurde das Land von der Hauptinsel Java regiert, die zu beinahe 100 Prozent muslimisch ist. Die anderen Inseln sind weit weniger dicht besiedelt, dafür aber religiös sehr divers: Christen, Hindus, einige wenige Buddhisten und Naturreligionen kommen vor. Judentum wurde — mehr aus Solidarität mit dem arabischen Raum — nicht anerkannt, die letzte Synagoge 2009 geschlossen.

Das Material wurde von der Gedenkstätte Yad Vashem zur Verfügung gestellt. (Foto: Yaakov Baruch)

Dann kam Yaakov Baruch. Der 39 Jahre alte Indonesier wurde in Manado geboren und gründete vor acht Jahren wieder eine jüdische Gemeinde in Indonesien. Sie befindet sich rund 20 Kilometer vor der Stadt, in einem Neubau, der von außen unscheinbar aussieht. Jeden Freitag treffen sich zwischen 10 bis 20 Gläubige zum Shabbat. Selbst die Nachbarn wussten lange nicht, was der Stern mit den sechs Zacken bedeuten soll, der in den Zaun eingearbeitet ist. Seit dieser Woche steht dort ein weiteres Gebäude: das erste Holocaust-Museum in einem südostasiatischen Land.

„Ich habe in vielen Gesprächen gemerkt“, sagt Yaakov Baruch der Berliner Zeitung am Wochenende, „dass viele Indonesier nichts wissen über den Holocaust.“ Es ärgerte ihn, wenn er manchmal Witze hören musste über Adolf Hitler, dabei kennen die wenigsten Indonesier die genauen Ereignisse rund um die Vernichtungslager und den Massenmord. Sie stellen ihn selten in Frage, aber sie wissen einfach zu wenig darüber. „Am schlimmsten ist, wenn Indonesier sagen, es sei schade, dass Hitler seine Arbeit nicht vollenden konnte.“ Er weiß, in Deutschland sind solche Aussagen verboten, in Indonesien nicht. „Aber in diesem Fall betreffen diese Aussagen auch mich“, sagt der Indonesier, „31 meiner Verwandten kamen im Holocaust um.“

Yaakov Baruch ist gelernter Hochzeitsfotograf und wurde von seinen Eltern lange Zeit als Christ erzogen. Doch eines Tages vor rund 20 Jahren erfuhr er von seiner Tante, dass er nicht die ganze Wahrheit kennt. Sie stritten um das Leben Mohammeds, was nicht ungewöhnlich war, er stritt mit seiner Tante oft über den Propheten. Doch dieses Mal beendete sie den Streit wütend mit dem Satz: „Ach, hör doch auf, du bist sowieso eigentlich ein Jude.“ Dann zeigte sie ihm Fotos aus dem Familienalbum, die mütterliche Linie seiner Familie war jüdisch. Seine Großmutter war noch regelmäßig in die Synagoge gegangen, seine Mutter schon nicht mehr.

Baruchs Familie stammte aus Surabaya. In dieser Stadt auf Java war bis zur Unabhängigkeit Indonesiens die größte jüdische Gemeinde gewesen, zum großen Teil geflüchtete Juden aus den Niederlanden oder Deutschland. Zwischen den beiden Weltkriegen lebten rund 2000 Juden auf den Inseln. Als die Japaner 1942 Indonesien okkupierten, behandelten sie Juden ähnlich schlecht wie es die Nazis taten: Juden wurden interniert oder mussten Zwangsarbeit leisten. Die, die fliehen konnten, bauten sich ein neues Leben in Australien, den USA oder Israel auf. Baruchs Familie floh nach Manado und tauchte unter.

Yaakov Baruch in seiner Ausstellung am Holocaust-Gedenktag (Foto: privat)

Dass er ausgerechnet in dieser Stadt sein Judentum ausleben kann, ist kein Zufall. Manado hat einen doppelten Ruf, wird als die „betende Stadt“ bezeichnet, weil die Menschen dort als sehr fromm gelten — und gilt als sehr tolerant. Seit Jahrzehnten leben Muslime und Christen zu gleichen Teilen in der Stadt und es kam bisher zu keinen nennenswerten Spannungen. Weil die Menschen hier so fromm sind, haben viele Mekka und Bethlehem besucht. Bei einem dieser Besuche in Israel sah ein Politiker den siebenarmigen Kerzenleuchter – und ließ eine 13 Meter hohe Statue errichten: Die weltgrößte Menora steht aktuell also in Indonesien. Und Yaakov Baruch setzt sich sehr für den interreligiösen Dialog in der Region ein.

Das Holocaust-Museum soll dafür auch ein Zeichen sein. „Derzeit besteht es vor allem aus Spenden aus Yad Vashem“, sagt Yaakov Baruch. „Nach meinem Besuch in Israel habe ich den Kontakt zur Gedenkstätte gesucht und um Hilfe beim Herstellen dieser Poster gebeten.“ Er hat sie bekommen. Bei den Führungen, die er selbst gibt, kann er auch seine Geschichte erzählen. Die Familie seiner Mutter und Tante lebte in Den Haag und im Norden Deutschlands. „Ihr Vater, ihr Onkel, sämtliche Verwandten sind in Auschwitz und Sobibor umgekommen.“ Baruch wollte dieses Museum auch für sie eröffnen.

Als ihre Namen am Donnerstag verlesen werden, weint Yaakov Baruch. Neben ihm ist noch ein weiterer Indonesier zu Gast, der ebenfalls Familienmitglieder im Holocaust verloren hatte. Hier drei der Namen: Dina van Beugen wurde mit 35 Jahren in Sobibor ermordet, Betje Mool wurde mit 62 Jahren in Sobibor ermordet, Henrietta Francina van Beugen wurde mit 29 Jahren in Auschwitz ermordet.

Die Ausstellung besteht aus zwei Räumen, nebeneinander, der größere misst 40 Quadratmeter und enthält die Dauerausstellung. Der kleinere soll für Treffen zur Verfügung stehen. Der indonesischen Regierung kommt das Engagement des Rabbis sehr entgegen. War das Land doch in den vergangenen Jahre von allem in die Schlagzeilen geraten, weil es einen Hitler als Wachsfigur in einem Selfie-Museum aufgestellt hatte. Einige Jahre zuvor hatte ein Mann ein Café schließen müssen, weil dort alle Kellner in SS-Uniform bedienten. Beides hatte einen internationalen Aufschrei hervorgerufen. Yaakov Baruchs Museum, das dem Massenmord einen Gedenkort schafft, auch wenn dieser Massenmord in 11.000 Kilometern Entfernung stattgefunden hat, könnte ein Anfang sein.

„Ich fühle mich hier inzwischen sehr sicher“, sagt Yaakov Baruch, „und weiß, dass dieser Weg der richtige ist.“ Er wolle weiterhin Gästen aus aller Welt seine Religion hier in Manado näher bringen – und wenn es die Zeit erlaubt, auch mal einen Shabbat auf Bali feiern. Neben der deutschen meldeten sich in dieser Woche auch die spanische, portugiesische und die amerikanische Botschaft bei ihm. Überrascht hat ihn die positive Rückmeldung der Anwohner und der Lokalregierung. Die große Anzahl der Besucher bei der Eröffnung – es waren mehr als 100 Gäste gekommen – machte ihm Mut.

Es gab einmal eine Zeit, in der das anders war. Das war, als Yaakov Baruch noch in Jakarta lebte. In der Zeit war er Ende 20 und trug meist seine Kippa offen in der Stadt. Doch plötzlich sprach ihn ein Teenager an, was dieser Hut zu bedeuten hatte. Der 11. September 2001 war noch nicht lange her und auch in Indonesien waren damals Bombendrohungen von Islamisten an der Tagesordnung. Er floh damals vor drei Angreifern quer durch eine Mall. Er konnte entkommen.

Was die Botschafterin beim Dinner nach der Eröffnung gegessen hat, ist nicht überliefert. Sicher ist nur, dass Manado noch für eine dritte Spezialität bekannt ist. Es gibt den „Extremen Markt“; dort wird frisches Rattenfleisch am Spieß neben gegarter Hauskatze und geräucherter Python verkauft. Für Europäer ist das ziemlich schwer erträglich. Yaakov Baruch zuckt nur mit den Schultern: „Früher mochte ich all das“, sagt er, „aber keines der Gerichte ist kosher.“

Porträt Julian Reichelt, Ex-Chef der BILD

Kommt ein Chefredakteur in ein Großraumbüro voller Mitarbeiter, an seiner Hand die Tochter, fünf Jahre alt. Sie schaut zu ihrem Vater hoch und fragt: „Du, Papa, was machst du jetzt?“ Der Chefredakteur antwortet laut hörbar für alle: „Jetzt schreie ich jemanden zusammen – und weißt du, was? Du kannst dir jetzt aussuchen, wen Papa zusammenschreit.“ Die Pause, die dann folgt, beschreiben Mitarbeiter aus der Redaktion als absurd lang. Das Kind schaut in die Gesichter von Journalisten, die zum Teil seit Jahrzehnten für die Bild-Zeitung arbeiten – bis irgendwann der Chefredakteur sagt: „War nur Spaß, komm, wir gehen in mein Büro.“

Geschichten wie diese gibt es viele über Julian Reichelt, einen Chefredakteur, der wie kein zweiter die Redaktion und das Land spaltete. Mit nur 41 Jahren kann er auf fast fünf Jahre an der Spitze der größten deutschen Boulevardzeitung zurückblicken. Er hat zwar den Rückgang der Printauflage nicht aufhalten können, aber er hat die Transformation der Marke zum Online- und TV-Medium durchgesetzt. Im August hatte Bild 24 Millionen Online-Nutzer, seit acht Jahren gibt es Bild-Plus, das unter Reichelt die Abozahlen steigern konnte – und er hat den Start des Senders Bild TV begleitet und damit einen Traum des Verlagsgründers Axel Springer vollendet.

Zu Beginn dieser Woche wurde der Bild-Chefredakteur jedoch aller Aufgaben entbunden, weil er offenbar den Vorstand des Verlags Axel Springer belogen hatte über seine privaten Beziehungen zu Mitarbeiterinnen. Da in einem Compliance-Verfahren vor rund einem halben Jahr bereits Vorwürfe von Machtmissbrauch gegenüber Frauen laut geworden waren, zog der Verlag jetzt die Reißleine. Damit endet vorerst die Karriere eines Journalisten, den selbst ärgste Gegner immer als einen Mann mit Instinkt und großem Einsatzwillen einschätzten.

Sein Büro sei immer offen gewesen, sagt ein männlicher Kollege über ihn, der bis vor kurzem gern mit ihm zusammengearbeitet hat. „Er hat sich immer erinnert, wenn man vor Jahren einmal eine Wette mit ihm abgeschlossen hatte und einen dann mit einem Kasten Bier überrascht.“ Auch viele ehemalige Mitarbeiterinnen äußern sich positiv über ihn, erzählen, dass sie nie das Gefühl hatten, von Reichelt nach ihrer „Fuckability“ bewertet zu werden, wie es in dieser Woche im Spiegel zu lesen war. Aber ja, viele hätten das Geraune mitbekommen, dass es immer wieder Frauen gab, die enger mit Reichelt in Kontakt waren und dann versetzt wurden, in andere Teile des Springer-Konzerns oder der Bild.

Das allerdings hat, wie die New York Times es in ihrem Sittengemälde vom vergangenen Wochenende nachzeichnet, im Verlag Tradition. Springer ließ Frauen mit dem Helikopter nach Sylt fliegen und schickte ihnen vorgedruckte Briefe mit seiner Unterschrift, in denen er ihnen für die Nacht dankte. Wer durch die Verlagsgeschichte des Hauses geht, wird immer wieder auf leitende Redakteure treffen, die ihre Frauen verließen, um junge Kolleginnen zu heiraten oder mit ihnen Kinder zu zeugen. Und wer ehrlich ist, weiß, dass da der Springer-Verlag keine Ausnahme macht, wenn es auch in einem Boulevard-Umfeld vielleicht länger dauert, bis die derbe Sprache auffällt.

Begonnen hat Julian Reichelt seine Karriere beim Haus Axel Springer im Jahr 2000, als er die gleichnamige Journalistenschule besuchte. Seine Mitschüler aus der Zeit haben noch den Journalisten Reichelt kennengelernt, den man als „besessen“ beschreiben kann. „Er wurde angehimmelt“, sagt einer. Reichelt hatte ihnen erzählt, dass er immer zur Bild wollte, dass er den Boulevardjournalismus für den einzig echten Journalismus hielt. Also die Welt allen zugänglich zu machen, dem Bauarbeiter und der Friseurin. Als der Volo-Kurs Besuch vom Betriebsrat bekam, „bombardierte ihn Reichelt derart mit Fragen“, sagt ein Kollege, „die ihn als Feind des Unternehmens entlarven sollten“.

Die Jahre als Kriegsreporter, so sagte er selbst in Interviews, waren für Reichelt die „formative years“, die prägendste Zeit. Da wurde er zu dem, was ihn ausmacht. Er berichtet von Müttern, die ihre Babys begraben. Von Menschen, die nicht nur ihr Zuhause hinter sich lassen müssen, sondern ihr Leben, von Soldaten, die am Krieg zerbrechen. Er schreibt darüber ein Buch bei Bastei Lübbe mit dem bezeichnenden Titel „Ich will von den Menschen erzählen“. In einem Interview über diese Zeit sagt er: „Es fällt schwer, in einem Krieg, bei dem immer wieder gegen die eigenen Werte verstoßen wird, objektiv zu bleiben.“ Er glaube auch nicht, dass das überhaupt möglich sei, denn es gebe auch keine „neutralen Schicksale“. Reichelt weiter: „Das Ziel ist es, wahrhaftig zu bleiben.“

Die Kriegsmetaphern, sie tauchen auch wieder auf in der Amazon-Dokumentation, die vor einem Jahr erschien und in sieben Folgen den Alltag der Redaktion erstaunlich offenherzig zeigte. Da wurde einmal das Nasenspray auf dem Tisch des Chefredakteurs in Szene gesetzt, da werden die Kollegen laut kritisiert, und als der „Wirrologe“ (O-Ton Reichelt) die Handynummer eines Bild-Mitarbeiters twittert, sagt er in die Kamera: „Das ist das Kriegsbeil.“ Man kann diesen Satz auch so lesen: Reichelt setzt sich für seine Mitarbeiter ein. In dieser Amazon-Doku bezeichnete er seinen Beruf als „first row seat in history“ — in der ersten Reihe sitzen und die Weltgeschichte beschreiben. Kleiner ging’s nicht.

Vor rund einem Jahr sollte ein Mitarbeiter einen Fotografen mit in den Bundestag nehmen, um einen Abgeordneten mit einer Aussage zu konfrontieren. Der Mitarbeiter verstand das falsch und fragte Bild-Live an, die jedoch nicht schnell genug antworteten. Solche Ablauffehler wurden in der Redaktion immer wieder festgestellt. Aber Reichelt platzte der Kragen, er ließ gegen Mittag die gesamte Redaktion antreten. Er stellte sich an das Panoramafenster und zeigte auf den Bundestag . „Wenn wir nicht in der Lage sind, innerhalb von vier Stunden einen Bild-Reporter dorthin zu bekommen“, schrie er, „dann können wir dichtmachen!“

Sein Büro beschrieben Besucher als eine Imitation vom Deutschland der 80er-Jahre. Ein großer Schreibtisch, voller Akten und Papiere, der Aschenbecher, in dem immer eine Zigarette glomm, die zerrissene amerikanische Flagge im Rahmen, das rote Sofa und das berühmte und seit dieser Woche berüchtigte Feldbett. „Es sah eher aus wie ein Feldbett, das sich Manufaktum ausgedacht hatte“, sagt ein Besucher.

Doch selbst die kritischsten Kritiker kommen nicht umhin, den Fleiß, den Willen zur großen Schlagzeile, zum politischen Mitmischen bei Reichelt zu sehen. Er sei hart gewesen, gegen sich und andere. Er konnte einstecken, wenn man ihn kritisierte, ja, er schien Menschen erst dann wirklich wahrzunehmen, wenn sie ihn kritisierten. Nicht umsonst gilt sein bester Freund Paul Ronzheimer auch als sein schärfster Kritiker. Er soll Texte verhindert haben, die Reichelts Ansehen noch mehr geschadet hätten. Als Pinky und Brain bezeichneten sich die beiden einst in einem Interview.

Zuletzt waren es wohl zu viele Gegner geworden, die sich in Gesprächen immer weniger zurückhielten mit Geschichten aus dieser Redaktion der Angst. So stand einer dieser Mitarbeiter neben Friede Springer, als sie ein kleines Fest im Journalistenclub im 18. Stock des Springer-Verlages eröffnen sollte. Alle waren da, nur Julian Reichelt fehlte noch. Als Mathias Döpfner sie bat, noch kurz auf Reichelt zu warten, soll sie gesagt haben: „Ach der …“ Sie winkte ab und sagte: „Wir fangen an!“

Porträt des Schauspielers Max Mauff

Berlin – Metin weiß, dass er nicht mehr lange durchhalten wird. Er hat eine Erkältung, sein kleines Baby ist gesund, aber es gibt niemanden, der sich um dieses Baby kümmern kann. Er hat noch die Nachbarin um Hilfe gebeten, aber weil er sie vorher mal als „Nazi“ beschimpft hat, schlägt sie ihm die Tür zu. Seine Mutter will er aus Stolz nicht fragen, seine Schwester war schon früher keine Hilfe, als sie ihn zum Koksen verführen wollte. Und was ist mit seiner Freundin, der Mutter des Babys? Die ist vor einem halben Jahr ganz plötzlich gestorben. Im Erdgeschoss wird Metin schwindelig. Und dann liegt er einfach auf den kalten Fliesen.

Als die Serie „MaPa“ im April 2020 auf Joyn anlief, waren viele verwundert, was der Streaming-Ableger von ProSieben mit diesen sechs Folgen beweisen will. Ein alleinerziehender Witwer in Berlin zwischen Trauer und Babybrei? Die Kritik war überwiegend positiv, aber auch irgendwie verwirrt, weil „MaPa“ eben sehr quer steht zum sonstigen Unterhaltungsprogramm des Senders. Im vergangenen Jahr hat ProSieben immer wieder durch Aktionen zu beweisen versucht, dass der Sender nicht mehr sklavisch auf die Quoten schaut – nicht zuletzt in dieser Woche durch die sieben Stunden dauernde Live-Reportage aus einem Krankenhaus von Joko & Klaas. In der kommenden Woche läuft „MaPa“ zum ersten Mal auch im RBB.

Max Mauff ist das Gesicht dieser Serie, er spielt Metin, der in jeder Folge irgendwann überfordert ist von allem. „Diese Serie löst nicht viel Freude aus“, sagt er, „das ist mir klar.“ Er meint die Trauer um die tote Freundin, die Metin in jeder Szene im Gesicht abzulesen ist. Aber die Zusammenarbeit mit dem Team, die habe ihn wirklich glücklich gemacht. „Ich hatte das Gefühl, ich bin in der Zukunft angekommen.“ Solch eine Rolle sei doch vor zehn Jahren noch überhaupt nicht denkbar gewesen: Ein junger Mann mit einem nichtdeutschen Namen, der nicht zum Helden wird, sondern einfach scheitert und ohne Hilfe von Frauen zusammenbricht. „Wenn man so etwas erzählt, provoziert man auch.“

Mauff ist 34 Jahre alt und läuft durch den Treptower Park, als er das sagt. Das ist kein Zufall, er hat sich diese Gegend ausgesucht, um über Männerbilder zu sprechen. Seine Beziehung zum Park rührt nicht nur daher, dass er in der Charité in Ost-Berlin geboren wurde und in Friedrichshain aufgewachsen ist. Er mag auch diese große Statue im Zentrum des Parks, das Sowjetische Ehrenmal. Ein 30 Meter hoher Mann mit einem Schwert und einem Mädchen im Arm. Die Statue erinnert an die 80.000 russischen Soldaten, die im Kampf um Berlin während des Zweiten Weltkrieges gefallen sind.

Er war oft im Treptower Park als Jugendlicher, hat sich mit seinen Freunden hier getroffen. Die Initialen von einigen von ihnen sind in seinem Knöchel eingeritzt. „Das haben wir uns damals mit 18 einfallen lassen“, sagt er, „weil wir dachten, wir würden unser Leben zusammen verbringen.“ Irgendwie seien die Wege dann aber doch auseinandergegangen, in den vergangenen zehn Jahren.

Der Osten ist für Mauff immer ein Thema geblieben. Er weiß genau, wo die Schauspieler seiner Generation herkommen: Ludwig Trepte (Ost), Florian Bartolomäi (West), Tom Schilling (Ost) und so weiter. Seine erste Hauptrolle hatte Mauff mit 15 in einem Jugendfilm – dann kamen in den Nullerjahren die ersten großen Kinofilme: „Die Welle“, „Der Vorleser“, „Berlin Calling“. In den 2010ern wurde er vielen durch seine Rollen in den Serien „Stromberg“ und „Sense8“ bekannt sowie in dem One-Shot-Film „Victoria“.

Mit jeder Rolle wurde Mauffs schmales Gesicht mit den charakteristischen großen Augen bekannter. Aber das ist eigentlich gar keine Kategorie für ihn. „Ich arbeite für meine Biografie“, sagt er. Das mache er ähnlich wie andere Schauspieler. „Ich möchte, dass irgendwann die Menschen auf meine Filmografie blicken und sich fragen, warum ich diese oder jene Rolle übernommen habe.“ Wenn ihn doch jemand auf der Straße erkenne, findet es Mauff interessant, aus welchem Projekt. „Ob sie jetzt ‚Sense8‘ oder ‚Stromberg‘ gesehen haben, das sagt ja mehr über den Zuschauer aus, als über mich.“ Wenn es gut laufe irgendwann, sagt er, dann schauen sich vielleicht die Menschen „Sense8“ an, weil ihnen „Victoria“ gefallen habe.

Die vielen Drehs, die er in den vergangenen Jahren hatte, kamen mit Corona zu einem abrupten Stopp. Mauff konnte glücklicherweise an Hörspielen weiterarbeiten, aber ansonsten war auch er gezwungen, seine Zeit anders zu verbringen. Neben viel Zeit mit seiner Tochter, die aktuell den „Traumzauberbaum“ hört, verbringt er seine Tage seit einigen Wochen auch auf seinem 250 Quadratmeter großen Kleingarten. Umgraben, pflanzen, wässern – und warten. Ein Kleingarten, das sei einer der wenigen Dinge, wo Geduld sich auszahle, sagt Mauff.

Inzwischen haben wir das Ehrenmal im Treptower Park erreicht. Obwohl die Sonne an diesem Vorfrühlingstag sehr stark scheint, ist fast niemand unterwegs in diesem Park. Auf dem Gelände um die Statue herum stehen nur einige bunt gekleidete Brasilianer, die laut auf Portugiesisch von eins bis vier zählen und jedes Mal einen anderen Tanzschritt vollführen: „Um, dois, três, quatro.“ Es ist eine seltsame Szene, die sich so fast deckungsgleich in „MaPa“ abspielen könnte. In der Serie geht Metin zu Ikea, alle um ihn herum sprechen nur „Blabla“. Die Welt aus der Sicht eines Depressiven kann eben manchmal auch sehr lustig sein.

„Darauf kommt es doch an“, sagt Mauff, „auf das Müh an Verrücktheit.“ Auch wenn die Geschichte von „MaPa“ traurig ist, solle es schließlich kein „Misery Porn“ werden. Deshalb sei die Beziehung von Metin mit seiner Freundin, die in Rückblenden erzählt wird, eben keine idealisierte romantische Zeit voller Glück. „Wir wissen doch alle, dass junge Eltern Schlafprobleme haben und nicht die ganze Zeit nur im Glück schweben“, sagt er. Das Gute am Drehbuch sei, dass die Mutterfigur auch Fehler haben darf und dennoch noch überraschende Wendungen und Twists bereithält. Damit schaffe man sich aber auch Gegner.

Schließlich ist auch Mauff mit einem Bild von Männern und Frauen aufgewachsen, das sich innerhalb recht starrer Grenzen bewegt. Väter kamen da nur als ständig arbeitende Ackerer vor und Mütter meist als idealisierte Heldinnen. Mauffs Mutter bekam den Job, das Kind und die Zeit im Ruderverein irgendwie alleinerziehend hin. Und wenn Mauff die Abende beim Großvater verbrachte, schauten sie dort zusammen Western. Für ihn waren das Bilder einer großen Welt, in die er eintauchen konnte. Das war zwar einerseits eine schöne Zeit, doch sie prägte auch ein Bild, das man wohl heute als „toxische Männlichkeit“ bezeichnen muss: Männer, die einen Raum betreten und sich der Frauen und anderer Kulturen „bemächtigen“ – ohne dass das jemals hinterfragt wird.

„MaPa“ ist das glatte Gegenteil davon. Die Serie war für den Grimme-Preis nominiert und dennoch hat ProSieben sich vorerst gegen eine zweite Staffel entscheiden. Max Mauff findet das schade, zumal viel von der zweiten Staffel schon feststand. Es sollte um Heldenbilder gehen und jetzt kommt diese Statue ins Spiel, hinter ihm, dieser Koloss mit Kind im Arm. „Ich hätte gern eine Szene hier gedreht“, sagt er. „Denn das sind schließlich die Heldenbilder, gegen die wir uns mit Figuren wie Metin auflehnen.“ Es könne nicht darum gehen, zum Helden des Alltags zu werden. „Ich selbst muss meine Anforderungen auch ständig anpassen als Vater.“ Aber er finde es beruhigend, dass er in einer Zeit lebt, wo diese Bilder nicht mehr so ungefragt übernommen werden wie früher.

Ein weiterer Film, der gegen diese Bilder angeht, ist Terrence Malicks „Ein verborgenes Leben“. Darin spielt August Diehl einen Österreicher, der nicht mitmachen will beim Zweiten Weltkrieg. Es ist ein Film über einen Mann, dessen Nein zur Gewalt ihn schließlich in den Tod führt. Max Mauff bewunderte Malick schon lang und wollte unbedingt mitspielen, selbst wenn es nur eine kleine Rolle war.

Als er jedoch zu keinem Vorspiel eingeladen wurde, machte er sich auf eine Wanderung. „Ich ging in die Alpen“, sagt er, „ich wollte für mich sein und zehn Tage in den Bergen die Natur anschauen.“ Als er am Tag acht in Südtirol in einer Hütte ankam, erreichte ihn der Anruf von Malicks Regieassistenten, ob er ein Foto von sich schicken könnte, Sie brauchten einen verwahrlosten Typen für die Rolle eines Deserteurs, der n einem Halbsatz im Briefwechsel zwischen Jägerstätter und seiner Frau erwähnt ist und sich in den Bergen vor der Armee versteckt, sagt Mauff. Ich kniete mich in den nächstbesten Bach und schickte Ihm Fotos von mir.  Ein paar Stunden später hatte er die Rolle des Sterz. Die Dreharbeiten fanden in den Südtiroler Bergen statt. Nur ein paar Stunden entfernt von dem Ort, wo Mauff gerade telefonierte. Er erarbeitete sich diese Rolle, die übrigens mit dem Metin aus „MaPa“ rein gar nichts zu tun hat.

Porträt der koreanischen Autorin Bae Suah

Bae Suah sitzt in Mecklenburg-Vorpommern in einem Haus, allein, mit Blick auf die Seenplatte und das Grün und Rot und Grau der Landschaft im Herbst. Sie denkt nach über Seoul, die Hauptstadt ihrer Heimat Südkorea, über Geister und über Menschen, die Schmerzen aushalten. Es ist Spätherbst an der deutschen Küste, aber Bae denkt an die Hitze im koreanischen Hochsommer, die sich in jede Pore des Körpers bohrt und dazu führt, dass über den Betten von schlafenden Menschen kleine Dampfsäulen entstehen. So ungefähr schreibt sie das dann auch auf: „Die hochsommerliche Metropole glich einem Tempel der betäubenden Mattigkeit, der vor Tausenden Jahren von einem lange verschollenen, dem Hitzekult frönenden Volk errichtet worden war.“

Die südkoreanische Autorin hat mit dem Buch „Weiße Nacht“ dieses Jahr einen Überraschungshit gelandet. Es ist ein absurd-schöner Roman über eine Frau, die unabhängig leben will und dabei doch immer wieder an ihre Wurzeln erinnert wird. Sie trifft auf Schriftsteller, auf ein altes Ehepaar, bei dem es sich vielleicht um ihre Eltern handelt, und schließlich auf einen Mann, der ihr Freund sein könnte. Und während all das geschieht, führt die Hitze des Sommers dazu, dass nicht nur die Gedanken sich auflösen, sondern auch die Grenzen zwischen den Menschen verschwimmen. Halt gibt der Wetterbericht, der wie klare Halterungen im Halbrealen ihren Text umgibt.

Darauf angesprochen sagt die 55-Jährige Autorin erst mal nichts. Sie sieht so aus, als erinnert sie sich an das Schreiben vor rund zehn Jahren. „Ich weiß gar nicht mehr, ob es ein Hörspiel war oder ein wirklicher Wetterbericht“, sagt sie, „aber es klang sehr abgehackt und dadurch so theatralisch oder: musikalisch.“ Dann erzählt sie vom Entstehungsprozess ihres Buches: „Zunächst muss ich gestehen, dass ich das Buch weder in Korea noch in Sommer geschrieben habe.“ Sie habe vielmehr im Winter in einem Häuschen in Mecklenburg-Vorpommern gesessen, vi

Bae spricht leise, in einem schönen Deutsch, das sorgfältig zwischen Dativ und Genetiv unterscheidet und jedes Wort einzeln betont. Bae Suah will Auskunft geben über ihr Schreiben, ihr Werk und Leben. 25 Menschen sind in das Koreanisches Kulturzentrum geladen, als sie über ihr Buch „Weiße Nacht“ spricht. Mehr sind aufgrund der strengen Corona-Regeln nicht zugelassen, es ist wenige Tage bevor die ganze Welt wegen „Squid Game“ einmal mehr auf Südkorea blickt.

Doch schon vor ihrem Roman, der in den deutschen Feuilletons euphorisch besprochen wird, haben südkoreanische Autorinnen wie Han Kang („Die Vegetarierin“) und Cho Nam-Joo („Kim Jiyoung, born 1982“) für Aufsehen auf dem deutschen Buchmarkt gesorgt, der in diesen Tagen trotz Corona sein wichtigstes Fest begeht: die Frankfurter Buchmesse.

Bae Suah aber sind diese Vergleiche eher unangenehm. „Ich schreibe seit mehr als 20 Jahren“, sagt sie, „aber ich lag nie im Trend, wie man so sagt, und ich glaube, ich möchte das auch nicht.“ Ihre Romane sind in Korea in kleinerer Auflage erschienen als dieses Buch in Deutschland. „Das kann daran liegen, dass koreanische Leser vielleicht gerne Geschichte mit einer klaren Story und Inhalt lesen möchten.“ Sie aber möge gerade Bücher, die sie verwirren. Sie erzähle in „Weiße Nacht“ mehr in Bildern, von Assoziationen und Fantasien, wie Szenen in einem surrealen Film. „Beim Schreiben sehe ich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht getrennt, ich sehe alles zugleich“, sagt Bae Suah und fährt nach einer Pause fort: „Ich möchte nicht für jeden schreiben.“

Begonnen hat sie mit dem Schreiben eher zufällig. Als sie mit 23 Jahren als Beamtin am Flughafen in Seoul arbeitete, schrieb sie ihre erste Kurzgeschichte für einen Wettbewerb – sie wollte sich selbst das Zehnfingersystem beibringen. Koreanisch ist eine Alphabet-Schrift. Diese Geschichte hieß „Dunkles Zimmer“ und gewann den Hauptpreis bei dem Wettbewerb. Seitdem sind viele Bücher entstanden, die häufig sehr rätselhafte Namen tragen: „Landstraße mit grünen Äpfeln“, „Club der roten Hände“ oder „Windpuppe“.

Obwohl sie im Jahr 2001 nach Deutschland ging und schließlich sogar dauerhaft Zeit hier verbrachte und die Sprache perfekt spricht, ist es ihr erstes Buch auf Deutsch. Sie hat sich mit der Sprache vor allem als Übersetzerin beschäftigt: Sie hat berühmte Autoren ins Koreanische übersetzt – Franz Kafka, W.G. Sebald, Jenny Erpenbeck, Christian Kracht.

„Ich bin keine Wissenschaftlerin“, sagt Bae Suah. „Ich arbeite sehr intuitiv, auch als Übersetzerin.“ Wörter wie Geister und Seele würden in Korea definitiv anders verstanden, sagt sie. „Aber es sind manchmal auch einfache Wörter wie ‚Mutter‘, ‚Sterne‘ oder ‚Liebe‘, die ganz anders verstanden werden in anderen Sprachen.“ Sie habe den Glauben, dass es eine perfekte Übersetzung nicht gebe. „Ich will nicht ewig forschen oder überlegen, sondern es muss sich richtig anfühlen.“ Sie war einmal auf der Buchmesse bei einem Treffen von Übersetzern von Christian Kracht. Dort ging es lange um das Wort „levantinisch“. „Manche konnten das ganz leicht übersetzen, andere, wie ich, haben dafür lange gebraucht.“

In ihrem Buch, zumindest in der deutschen Übersetzung, ist die Sprache sehr klar, doch häufig verändert sich mitten im Absatz plötzlich die beschriebene Realität und alles steht Kopf: „Als die junge Ayami eine Straße entlangging, entdeckte sie einen bläulichen Stein auf dem Boden und hob ihn auf. Unter dem Stein tat sich ein tiefes Loch auf, es führte zur Welt auf der anderen Seite des Spiegels, die parallel zur hiesigen existierte …“ Immer wieder kommt ihre Hauptperson an solch eine Stelle, wie ein DJ mixt Bae Suah dabei einige Texte in fast identischer Form immer wieder ein. Eines dieser Bilder ist der Kopf mit einem Nagel drin, ein sehr brutales Bild.

Bae Suah erzählt, dass sie mit dieser Erwähnung ein Trauma ihrer Kindheit verarbeitet. „Eine Schuldfreundin hat mir einst ein Geheimnis anvertraut“, sagt sie, „dass ich hier aufgeschrieben habe.“ Es habe einmal einen Onkel gegeben, der plötzlich verschwunden sei. „In seinem Abschiedsbrief stand, dass er den Weltschmerz nicht ertrage und in die Berge gegangen sei.“ Der Mann war Apotheker, hatte eine junge Frau und einen Assistenten. „Im Dorf erzählte man sich, dass der Leichnam unter dem Dach der Apotheke versteckt sei, weil der Assistent die Frau des Apothekers liebte.“ Der Assistent habe ihn ermordet, mit einem Nagel im Kopf. „Doch die Polizei fand die Leiche nie, und so blieb es ein Gerücht.“ Die Apotheke wurde geschlossen und der Assistent zog mit der Frau in eine andere Stadt.

Das Lesen von „Weiße Nacht“ führt subtil in solch grausige Welten. Inspiriert, sagt sie, sei sie von dem iranischen Autor Sadegh Hedayat. Dessen Buch „Die blinde Eule“ wolle sie einmal ins Koreanische übersetzen. Es wird in „Weiße Nacht“ mehrfach erwähnt, Bae glaubt, dass es in Korea viele Leser finden könnte. Das liegt vielleicht auch an der gemeinsamen Erfahrung von Iran und Korea mit dem Krieg. „Als ich Kind war, war es noch wie ein Alptraum, immer hat man von Kriegsgefahr gehört.“

Sie habe unter großer Angst gelitten. „Bis heute hat sich diese Lage nicht sehr geändert, die Angst bleibt immer im Hinterkopf, weil Korea eben getrennt wurde und bis heute getrennt ist.“ Auch darüber wollte sie schreiben, von diesem Alptraum aller Koreaner – von ihrem Häuschen im wiedervereinten Deutschland aus.

Die Endgegnerin

Berlin – Es ist vor dem EM-Achtelfinale, Deutschland ist noch nicht rausgeflogen, als der Verteidiger in Richtung Richterpult fragt: „Pfeifen Sie ab oder darf ich noch eine Frage stellen?“ Er darf und so geht es noch einmal an diesem heißen Sommertag um Anrufe und Chat-Nachrichten zwischen Bandenchef Arafat Abou-Chaker und Anna-Maria Ferchichi. Der Anwalt ihres Mannes Bushido gibt ihr deutlich zu verstehen, dass sie gar nichts sagen müsse. Aber sie beschwichtigt: „Nein, ich kann etwas dazu sagen, kein Problem!“ Dann legt sie los: dass Arafat nicht „100 Prozent Schuld“ an ihrer Trennung habe („eher 80 Prozent“), dass ihr Mann in jener Zeit eben ein „Riesenarschloch“ gewesen sei und Arafat ein „totaler Kontrollfreak“ – und am Ende der Aussage kommt noch dieser Satz, etwas überraschend: „Mein Mann und ich hatten auch Sex, wenn wir uns gestritten haben.“

Das hatte gar niemand so genau wissen wollen, und an dieser Stelle pfeift der Vorsitzende Richter Martin Mrosk dann doch ab. Ein weiterer Tag in diesem seltsamen, wunderbaren und irgendwie historischen Prozess über das Ende einer Freundschaft, die vielleicht nie eine war. Seit zehn Monaten versucht die Berliner Justiz, Licht in eine Halbwelt aus Musik, Drogen, Macht und sehr viel Geld zu bringen. Rapper Bushido hat diese Welt nicht nur in seinen Liedern immer wieder besungen, sondern bis zu einem gewissen Grad gelebt. Immer dabei: sein Kumpel und Freund Arafat Abou-Chaker. 13 Jahre lang war er der Mann hinter Bushido, begleitete ihn auf Tour, bestimmte, wer zu ihm durfte und wer nicht. „Ari“, wie Bushido ihn damals nannte, beanspruchte dafür einen großen Anteil der Einnahmen für sich. Fast zehn Millionen Euro soll er über die Jahre von Bushido bekommen haben.

Als Anis „Bushido“ Ferchichi im Januar 2018 dieses Verhältnis beenden will, kommt es zu dem, was schließlich die Grundlage für diesen Prozess ist: Arafat und seine drei Brüder Nasser, Yasser und Rommel sollen den Sänger beleidigt, bedroht, bedrängt und geschlagen haben. Arafat gehört zur kriminellen Großfamilie der Abou-Chakers. Er habe um sein Leben und das seiner Familie gefürchtet und tue das bis heute, sagte er. Der Prozess gegen die vier Brüder findet unter Polizeischutz statt, jene Maßnahme, unter der auch sein Familienleben stattfindet seit der Trennung von Abou-Chaker. Arafat und seine Brüder verweigern ihre Aussage bisher. Bushido ist Nebenkläger in dem Fall und hat an 25 Prozesstagen gesprochen, geplant waren acht. Seit zwei Wochen spricht jetzt seine Frau, und wird das nach der nun folgenden Sommerpause weiter tun – wenn ihr Körper es erlaubt. Sie ist im fünften Monat schwanger, mit Drillingen.

Hatte der Prozess zuletzt an Fahrt verloren, entblättert sich im Laufe der vergangenen zwei Wochen im Saal 500 des Landgerichts Moabit an der Turmstraße einmal mehr ein Sittengemälde, ein dichter Einblick in diese toxische Dreiecksbeziehung zwischen Anis, Arafat und Anna-Maria. Das vierte Wort mit A, das unbedingt dazu gehört, ist „Angst“. Doch diese Frau geht in Begleitung des vermummten Polizeischutzes durch die Gänge des Hauses, ihre Turnschuhe sind schneeweiß, die Jeans eng, sie stellt ihre Wasserflasche auf den Tisch, nimmt ihren Mund-Nasen-Schutz ab und beantwortet selbstsicher jede Frage des Vorsitzenden Richters, der Staatsanwältin und die der Anwälte der Abou-Chakers. Außerdem kämpft sie an der Seite ihres Mannes auch außerhalb des Gerichtssaals. Denn im Jahr 2021 gibt es Videos auf Portalen wie Twitch und gibt es Chat-Nachrichten, die zehn Jahre später noch einmal ganz neu verhandelt werden.

Wie Anna-Maria Ferchichi Bushidos Leben betreten hat, ist in der Klatschpresse gut dokumentiert. Es ist die Nacht zum 2. Februar 2011, sie ist seit drei Monaten von Nationalspieler Mesut Özil getrennt, für den sie zum Islam übergetreten war. Ihr muslimischer Name lautet „Melek“, Engel. Sie wollte „keine Spielerfrau“ sein, sagte sie damals. Bei einer Promi-Nacht in Köln wird sie dabei beobachtet, wie sie kurz vor 3 Uhr morgens mit Bushido in dessen Hotel geht. Am nächsten Morgen stolpert sie auf die Straße, trägt noch das T-Shirt, das ihr der Rapper geliehen hat. Kurz darauf wird er sie anrufen und er wird „so niedlich klingen“, dass sie ihn wiedersehen will. Das sagt sie gegenüber RTL vor ein paar Tagen bei einer Homestory. Bei der Bambi-Verleihung 2011 bekommt Bushido den Integrations-Bambi, Anna-Maria steht mit ihm auf dem roten Teppich, ein halbes Jahr später ist sie schwanger. Hochzeit im Mai 2012.

Um diese Hochzeit geht es auch vor Gericht. „Arafat wollte uns verbieten, Alkohol an unsere Gäste auszuschenken“, sagt Anna-Maria Ferchichi. „Ich war ja damals auch schwanger, aber ich wollte meinen Gästen das Trinken nicht verbieten.“ Arafat habe schon damals begonnen, immer religiöser zu leben. Aber dass er ihr in die Planung der Hochzeit hineinreden wollte, empfand sie als übergriffig. „Mein Mann ist eigentlich sehr dominant“, sagt sie, „aber gegenüber Arafat war er sehr devot.“ Als sie Bushido sagte, dass sie Arafats Verhalten respektlos empfinde, war seine Antwort: „Mach keinen Stress.“ Auf die Frage, ob es Alkohol gab, sagt sie knapp, mit ein bisschen Triumph in der Stimme: „Es gab Alkohol.“ Auch in den Jahren danach habe Arafat immer wieder versucht ihr Leben zu kontrollieren. Wenn sie sich wehrte, nannte er sie „Hurentochter“ oder „Hure“. Anna-Maria: „Es war so lächerlich.“

Schon an solchen Bemerkungen in Richtung des Angeklagten Arafat wird klar, was Ferchichis Rolle ist. Sie fordert das von Arafat ein, was Arafat von Bushido einfordert, und Bushido von der ganzen Welt: Respekt. Je mehr die Ehefrau mitbekommt von der illegalen Welt, von der Gangsterrap nun einmal handelt, umso mehr musste Bushido beide Welten voreinander schützen. Er selbst kannte die Grundregel: „Keine Polizei.“ Probleme regeln wir unter uns. Seine Frau aber sieht bis heute nicht ein, warum es im Leben ihres Mannes anders zu zugehen sollte, als – zum Beispiel in der Welt ihrer Schwester Sarah Connor.

„Meine Schwester ist ja berühmt“, sagt Ferchichi, „und ich habe da gesehen, wie das Musikbusiness funktioniert.“ Niemals habe sie gehört, dass ein Manager 50 Prozent von den Einnahmen eines Künstlers bekam. Arafat ruft feixend in den Saal: „Ich schon.“ Vor Gericht wird diskutiert, ob er überhaupt diese Management-Funktion in Bushidos Leben ausgefüllt habe. „Immer musste mein Mann antanzen, wenn Arafat ihn irgendwelchen Freunden vorführen wollte.“ Dabei sei es egal gewesen, ob eines der Kinder eine Schulaufführung hatte, mit Lungenentzündung im Krankenhaus lag oder Bushido selbst Geburtstag hatte. „Wie ein Maskottchen“ habe Abou-Chaker ihren Mann behandelt. „Er hat alles bestimmt in unserem Leben.“ Wenn sie ein Handy zur Reparatur geben wollte, fragte sie Arafat. „Ich durfte noch nicht mal den Reifen meines Autos wechseln lassen, ohne mit Arafat vorher Kontakt zu haben.“

Der Richter Mrosk baut bei ihren Auftritten ein paar mehr Pausen ein als bei ihrem Mann. Das fällt auf. „Das wird Ihnen ihr Mann erzählt haben“, sagt er, „dass so ein Prozess auch oft aus Warten besteht.“ Er unterbricht auch dann, wenn Anna-Maria sagt: „Ich brauche keine Pause.“ Er sorgt für eine lockere, menschliche Atmosphäre bei Gericht, auch wenn bei anderen die Nerven längst blank liegen. Als der Chatverlauf zwischen Abou-Chaker und Anna-Maria Ferchichi verlesen werden soll, spricht er die Rolle des Bandenchefs. Das sorgt für Erheiterung im Saal. Und als am Mittwoch einer der Verteidiger sagt, dass es nach Marihuana rieche im Saal, da bestätigt er „mit der langjährigen Erfahrung aus dem Drogendezernat“ den Geruch als: „eindeutig Kiff“. Es ist einer dieser Momente, in denen der Richter den Saal räumen lässt, auch: aus Respekt.

Nach über 40 Verhandlungstagen ist jedoch noch immer nicht klar, wie dieser Prozess enden wird. Zwischen Freispruch und Haftstrafe ist alles möglich. Draußen an der Tür hängt die Liste der geplanten Prozesstage, sie reicht bis Ende des Jahres. Es sollen noch mehrere Zeugen vernommen werden. Doch einer der Zeugen aus dem Umfeld der Abou-Chakers wurde inzwischen abgeschoben. Ob er aus Istanbul für den Prozess nach Berlin kommt, ist offen.

Umso interessanter ist deshalb jeder Tag, an dem diese Welten aufeinanderprallen, deren einzige Gemeinsamkeit ist, dass alle im Saal während der Corona-Monate an Gewicht zugelegt haben. Auffällig auch, dass sich Arafat so lange geweigert hat, eine Maske zu tragen, doch jetzt, wo es diese in Schwarz gibt, trägt er sie, wenn auch oft unterhalb der Nase. Obwohl die Folgen der Pandemie auch hier im Saal spürbar waren: Arafats Mutter starb an Corona, Bushido selbst hatte Covid-19. Die Zuschauerzahl und die Sitze der Presse sind stark begrenzt. Und so entwickelt sich an guten Tagen trotz der finsteren Blicke der Polizisten eine Stimmung wie auf Klassenfahrt.

Erst in dieser Woche wieder steht Arafat direkt neben den Journalisten, spricht mit der Kollegin der BILD über seine Schuhe, Marke Gucci, er sagt „Gucki“. Niemand lacht. Mit dem Richter kumpelt er am Eingang zum Saal über die Niederlage der Nationalelf im Achtelfinale. „Sind wir jetzt alle für die Schweiz?“ Und Bushidos Anwalt fragt er, ob er mal „gepumpt“ habe, also Gewichte gestemmt. „Nee, echt jetzt, sieht so aus.“

Hatte man in den ersten Gerichtstagen manchmal das Gefühl, Arafats Augen sind ein bisschen zu glasig für die Tageszeit, wirkt er im Laufe der Monate immer beherrschter. Seine Demonstration von Macht findet außerhalb des Gerichtsgebäudes statt. Genauer: Schon am Treppenabsatz. Wenn Arafat den wuchtigen Bau verlässt, wird er manchmal von TV-Journalisten empfangen, die ihm zur Begrüßung den Arm um die Schultern legen. Es heißt, genau wie die Ferchichis bereitet auch er eine Dokumentation vor, die sicherlich pünktlich nach Prozess-Ende erscheinen wird.

Anna-Maria Ferchichi macht deutlich, dass sie nie von Arafat oder von dessen Entourage beeindruckt war. „Wenn du für diese Männer ins Gefängnis gehst, werde ich dich verlassen“, habe sie damals zu Bushido gesagt. Parallel habe sie sich mit den Frauen der Abou-Chaker-Brüder, inzwischen Ex-Frauen, angefreundet. Die Kinder tauschten Kuscheltiere. Man fuhr gemeinsam in Urlaube, ihr Mann wollte da schon lieber zuhause bleiben. Dabei bereitete man damals im Jahr 2017 den Einzug auf ein gemeinsames Grundstück in Kleinmachnow vor. „Wäre das nicht passiert, säße ich nicht hier.“ Alles wollte wieder Arafat bestimmen. „Es gab noch nicht einmal Platz für meine drei Autos“, sagt sie vor Gericht. Sie wollte einen Zaun anders ziehen als Arafat, wieder gibt es Geschrei mit sehr expliziten Kraftausdrücken. Arafat habe behauptet, ihr seien „Eier gewachsen“.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass es auch außerhalb des Gerichtssaals vor der Sommerpause hoch her ging. Während sich Arafat vor Gericht weiterhin weigert auszusagen, sich aber indirekt doch immer wieder äußert, war es in der vergangenen Woche das Medium Twitch, das die Aufmerksamkeit der Prozessbeteiligten band. Auf diesem unter Jugendlichen beliebten Portal veröffentlichte jemand anonym ein Video, das Bushido im Jahr 2005 zeigt, eng umschlungen mit einem Mädchen. Bushido in Boxershorts.

In dem aufgezeichneten Gespräch im Video wird deutlich, dass Bushido nicht weiß, wie alt das Mädchen ist. Das 16 Jahre alte Video soll den Rapper beschädigen. Bushido selbst antwortet mit einem 90-minütigem Twitch-Video und geht das Video in voller Länge fast sekundengenau durch. Man merkt ihm an, dass er Erfahrungen als Zeuge gesammelt hat. Souverän versucht er, den Vorwurf der Verführung Minderjähriger auszuräumen. Niemals seien Minderjährige in den Backstage-Bereich gelassen worden. Es gab da vom Veranstalter ganz klare Regel. Jetzt – als Familienvater – sei er trotzdem nicht stolz auf diese Szenen. Gleichzeitig empfängt seine Frau den Sender RTL für eine Homestory und hier ist es passend, dass sie erzählt, wie oft sie Sex hat mit ihrem Mann („fast täglich“). Sie zeigt auch stolz ihr Ehebett.

All diese Nebenschauplätze haben offenbar die Nerven der Anwälte beider Seiten aufgerieben. Als deutlich wird, das Anna-Maria Ferchichi von den Chat-Verläufen, die von der Verteidigung eingebracht werden, erfahren hat, vermutet Arafats Verteidiger, Bushidos Anwalt habe sie informiert, obwohl er nicht ihr Anwalt ist. Der verneint, und als der Verteidiger mit schneidender Stimme dabei bleibt, reagiert er wütend: „Sie müssen mir nicht vorschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe!“ Der Verteidiger: „Muss ich nicht, aber ich tue es.“ Kurz darauf beginnen beide zu schreien. Fast wirkt es so, als identifizieren sich beide Anwälte zu sehr mit ihren Mandanten. Anna-Maria Ferchichi bleibt jedoch bis auf wenige Tränenausbrüche beherrscht. Bushido hatte einmal über sie gesagt: „Sie ist der Grund, warum ich irgendwann meinen Scheiß-Mut zusammengenommen habe.“

Von diesem Moment erzählt sie zuletzt, kurz vor der „Sommerpause“ für diese Show im Saal 500. Im Januar 2018 ist es soweit, Bushido habe versucht, sich endgültig von Arafat loszusagen, liege anschließend geprügelt in den Armen seiner Frau, erzähle, dass Arafat ihm gedroht habe, seine ganze Familie zu „ficken“. Diese Drohung kann in der Welt des Gangsterrap vieles bedeuten: von Gewalt über Mord bis hin zur Vergewaltigung. „Das war keine Freundschaft“, sagt Anna-Maria Ferchichi, „das war völlige Überwachung und Kontrolle.“ Die Wut über diesen Tag hat sich bis heute bei ihr gehalten. „Ich sage Ihnen, es war gut, dass mein Mann mir damals nicht alles erzählt hat“, sagt sie. „Ich wäre Amok gelaufen.“

In den Wochen nach diesem Tag aber habe sie in manchen Momenten eine gewisse Freiheit verspürt. „Hey, schon eine Woche“, habe Bushido gesagt, „und noch nichts von Arafat gehört!“ Kurz darauf: „Schon zehn Tage“. Sie zeigt auf die Sicherheitsbeamten und sagt, niemand solle sich eine Illusion machen, dass ihr Leben angenehm sei unter Polizeischutz. Das sei es nicht. Ihr sei das bewusst gewesen, sagt sie, als sie das LKA anrief. Sie weiß noch genau, wie sie in das Nebenzimmer ging und diese Entscheidung fällte. Für ihren Mann, für ihre Kinder. Aus Respekt vor sich selbst. Am Mittwoch kam sie nicht ins Gericht, wegen Komplikationen in der Schwangerschaft. Der Verteidiger verlangte sofort mit Nachdruck ein Attest. Die Kinder in ihrem Bauch, es werden drei Mädchen.

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 3.7.2021.

Hans-Dietrich Genscher, Porträt

Hans-Dietrich Genscher beugt sich in einem Sessel im Hotel „Adlon“ nach vorn und malt mit der Spitze des Zeigefingers einen kleinen Kreis auf seine Stirn. „Kopfschuss“, sagt er. „Mitten in die Stirn haben sie ihn getroffen.“ Der Mann neben ihm sei in sich zusammengesunken, als der Schuss fiel. Der Schütze hatte verborgen auf einem Balkon gestanden.

Der Tote war ein Kamerad aus der Kompanie, in die Genscher im Jahr 1944 als 17-Jähriger eingezogen wurde. Er selbst hatte zum Zeitpunkt des Schusses einen Stahlhelm auf, der andere nicht. Genscher sagt, dass ihn der Helm gerettet habe. „Ohne Helm hätte er möglicherweise auf mich gezielt, dann würde ich heute hier nicht sitzen.“

Genscher erzählt an diesem Nachmittag sowohl vom Krieg als auch vom Tod, und das nicht nur einmal. Er wird später sagen, dass sich ein Gespräch verändert, wenn man den Tod erwähnt, und dass es einen Menschen für immer verändert, wenn man das erlebt hat, was er erlebt hat.

Er wird nichts überdramatisieren, aber es wird klar werden, dass Hans-Dietrich Genscher auch Glück hatte. Er hat nicht nur den Krieg überstanden, sondern auch Lungentuberkulose und einen „Vernichtungsschmerz“, alles in anderen Jahrzehnten, aber Zeitsprünge macht er an diesem Nachmittag viele.

Den ersten gleich zu Beginn des Spaziergangs. Kurz nach der Begrüßung im Foyer des „Adlon“ läuft Hans-Dietrich Genscher für das Foto ans Brandenburger Tor. Es heißt, er laufe nicht mehr so viel. Dafür aber macht er sehr schnelle Schritte, als er das Hotel verlässt. Er ist alt geworden, ja, aber so forsch, wie er jeden Meter nimmt, könnte er auch einen Staatsbesuch absolvieren.

Das Einzige: Er wirkt missgelaunt, hat offenbar keine Lust für das Foto zu posieren. Hände erst „so“ halten, dann „so“, hören, wie Fotografen seine Aufmerksamkeit wollen: „Herr Innenminister!“ (von 1969 bis 1974), „Herr Außenminister!“ (von 1974 bis 1992) oder einfach: „Herr Genscher!!!“.

Fotograf Martin Lengemann bittet Genscher leise, sich ein bisschen zu drehen, der aber grummelt. Fünf Mädchen in seinem Rücken haben derweil viel Spaß, sie springen alle gleichzeitig vor dem Brandenburger Tor für ein Foto in die Höhe. Wenn Genscher sich noch etwas weiter drehen würde, könnte er sie sehen.

Eines von ihnen trägt einen Mantel in derselben Farbe wie Genschers Schal und Pullunder. FDP-Gelb. Genscher-Gelb. Legenden-Gelb. Dann reicht es ihm. Im Abstand von etwa acht Sekunden sagt er:

„Sie haben noch drei Minuten.“

„Jetzt noch zwei Minuten.“

„Noch eine Minute.“

„Eine Minute Zugabe.“

„So“, sagt er und geht. „Machen Sie”s gut.“

Der kurze Spaziergang ist zu Ende. Wir laufen schnell zum „Adlon“ zurück, in dem er immer übernachtet, wenn er in Berlin ist, mindestens ein oder zwei Nächte pro Woche. Hier hat er Besprechungen mit Politikern, Interviews mit Journalisten, Treffen mit Freunden. Das Hotel gefalle ihm, die zentrale Lage, die schweren Teppiche, vor allem die Architektur. „Sie haben es so aufgebaut, wie es war.“

Da erwähnt er indirekt zum ersten Mal den Krieg, in diesem Fall das 1945 ausgebrannte Hotel. Genau wie dieses Gebäude oder das Brandenburger Tor oder der Potsdamer Platz ist auch Hans-Dietrich Genscher ein Zeitzeuge. Der einzige lebendige. Kein Wunder, dass er sich an diesem Ort wohlfühlt.

Es kann auch daran liegen, dass er längst kein normaler Hotelgast mehr ist. Die Rezeption muss nicht nachschlagen, unter welcher Nummer sie ihn erreichen kann, der Mann an der Tür sagt „Guten Tag, Herr Genscher“ so, als sei es das dritte Mal in dieser Woche, und die Frau im Lift weiß, dass sie nicht erklären muss, wie er diese Zimmerschlüsselkarte an den Sensor halten muss.

Doch es gibt noch andere Gäste, solche, die täglich wechseln. Im Fahrstuhl trifft Genscher auf eine Frau mittleren Alters, die ganz aufgeregt und etwas zu laut sagt: „Sie sind der Herr Genscher!“ Er beginnt ein Gespräch, höflicher Small Talk.

Erster Stock. Er: „Sie kommen aus Süddeutschland, oder?“ Sie: „Aus Göppingen, ja, aber ich wohne jetzt in Hof.“

Zweiter Stock. Er: „Aus Göppingen!“ Kurze Pause. Dann sie: „Ich würde Ihre Partei so gern wählen, aber Sie müssen sie auffrischen!“ Er: „Ja, Sie müssen dabei helfen!“

Dritter Stock. Sie: „Wir müssen was tun! Sonst haben wir Pech!“ Er: „Ja, ich muss jetzt hier raus.“

Solche Situationen passieren ihm oft, sagt er, als er sein Zimmer betritt, aber diese Frau habe ihm gefallen. Positiv sei ihre Einstellung gewesen. Schließlich habe es die FDP nie leicht, sei nie eine Mehrheitspartei gewesen. Doch ohne sie wären Entscheidungen wie die Westintegration oder die Ostpolitik nicht zustande gekommen.

Leicht sei es auch für ihn damals nicht gewesen, die Koalition mit Kanzler Helmut Schmidt zu beenden. Die FDP wollte mehr von ihren wirtschaftspolitischen Vorhaben durchsetzen, und das ging mit der CDU unter Helmut Kohl leichter als mit Helmut Schmidt, der in einigen Fragen die SPD nicht hinter sich hatte.

Zehn Minuten mit Hans-Dietrich Genscher kommen einem Galopp durch die deutsche Geschichte gleich. Er spricht gern über den Liberalismus, den Begriff der Freiheit, das „Sich-nicht-verbiegen-Lassen“. Aber er kann dieses Reden über abstrakte Begriffe mit Geschichten füllen.

Er trat der FDP vor 50 Jahren bei, saß 33 Jahre lang für sie im Bundestag, 23 Jahre im Bundeskabinett. Er war Teil der Bonner Republik, einer anderen Politikergeneration mit Kurt Schumacher, Konrad Adenauer oder Theodor Heuss. Eine Zeit, in der Politiker nicht über 25.000-Euro-Vortragshonorare, Kanzlergehalt oder Promotionsplagiate diskutierten. Er sagt diplomatisch: „Jede Zeit hat ihre anderen Typen.“

Derzeit tritt er häufig mit Christian Lindner auf, einem Politiker, der 50 Jahre jünger ist als er und mit dem Genscher jetzt ein Buch schreiben will. Auf seinen Einfluss angesprochen, sagt Genscher: „Ich weiß nicht, wie wichtig ich heute für die Partei bin, aber ich weiß, dass die Partei für mich wichtig ist.“

Derzeit liegt die FDP mit vier bis fünf Prozent gleichauf mit den Piraten, doch er sagt, dass man in Nordrhein-Westfalen gesehen habe, dass aus zwei Prozent in kurzer Zeit acht Prozent werden können, wenn die Menschen – so wie die Frau im Fahrstuhl – sich für die Idee des Liberalismus begeistern.

An dieser Stelle holt er wieder weit aus, weiter, als es Christian Lindner, Philipp Rösler oder Guido Westerwelle jemals könnten. Die Idee sei ihm zum ersten Mal am 7. Mai 1945 gekommen, dem letzten Kriegstag.

Er hatte den Tod eines Kameraden direkt neben sich erlebt, war Soldat der Armee „Wenck“, jener 80.000 Mann, die sich von der sowjetischen Umklammerung befreiten und bei Tangermünde an die Elbe kamen. Ihr Ziel war nicht, den Krieg zu gewinnen – daran glaubte niemand. Sie wollten in amerikanische Gefangenschaft, alle hatten Angst vor den Sowjets, zu Recht, wie sich zeigte.

Damals konnten sie den Fluss nur auf Holzstegen überqueren. „Neben mir ging einer, mit dem ich von Anfang an auf einer Stube war.“ Der Mann habe zu ihm gesagt: „Was ist los, du sinnierst so?“ Genscher antwortete: „Ich habe eben zwei Entscheidungen getroffen. Die erste: Ich haue hier so schnell wie möglich ab. Die zweite: Ich will nur noch machen, was ich will.“

Hans-Dietrich Genscher lacht auf, als er daran zurückdenkt. Als ob er sich noch einmal freut, dass er nicht erschossen oder in Gefangenschaft gefoltert wurde, jetzt hier sitzen kann. Der Krieg war vorbei, und kurz darauf hörte er auf einer Versammlung den für ihn inzwischen berühmten Ausspruch: „Der Liberalismus ist die umfassendste Alternative zu jeder Form der Unfreiheit.“

In diesem Moment habe er gewusst: Das ist mein Verein. Er trat am gleichen Tag den Liberaldemokraten bei. „Demnächst ist das…“, er überlegt, schaut nach oben, winkt ab, „…na ja, unendlich viele Jahre her.“

Es ist leicht, mit Hans-Dietrich Genscher über Geschichte und Weltpolitik zu reden, fragt man ihn aber nach Freunden und Familie, schaut er, als ob sich das nicht gehöre. Dann erzählt er doch von seinem ältesten Freund, einem Hallenser, mit dem er nicht nur Kriegserinnerungen teilte, sondern: Kindheit, Jugend, Krieg, Alter. Vor zwei Jahren starb er. „Das war der seltene Fall“, sagt er, der Überlebende, „dass ich am Grabe gesprochen habe.“

Er sei immer sparsam mit dem Wort „Freund“ gewesen, aber für Roland Dumas, Frankreichs Außenminister in den 80er- und frühen 90er-Jahren, habe er ihn verwendet. Dabei hatte Dumas zunächst das Amt abgelehnt. Er wollte nichts mit den Deutschen zu tun haben, sein Vater war von der Gestapo ermordet worden.

Wenn man Genscher fragt, wie die beiden trotzdem Freundschaft schlossen, sagt er etwas, das nur ehemalige Außenminister so formulieren können: „Sie können sich vorstellen, wie das ist, da ist so ein langweiliges Abendessen in einem großen, hellen Raum, und man redet über Asien und die USA und zu später Stunde kommt plötzlich die Frage auf: Wo warst du eigentlich am letzten Tag des Krieges?“

Die Frage hat er heute schon beantwortet. Es muss so ähnlich wie in diesem Raum abgelaufen sein. So entstand damals die Basis für eine Freundschaft – und auf lange Sicht vielleicht eine Grundlage für Europa.

Eben jener Roland Dumas war auch im Jahr 1989 Außenminister Frankreichs, ein Jahr, das Genscher beinahe nicht überlebt hätte. Er saß im Juli 1989 beim Friseur, wollte danach in den Urlaub fahren. „Plötzlich Ende, Aus“, sagt er. „Ich hatte einen Vernichtungsschmerz im Unterkiefer.“

Von solch einem Schmerz hatte er kurz zuvor in einem Flyer der Herzstiftung gelesen, den seine Frau ihm gezeigt hatte. Nur dadurch habe er gewusst, dass sich ein Infarkt ankündigte. Zum Friseur, der ihn trotzdem nicht gehen lassen wollte, sagte er: „Schneiden Sie hinten ein bisschen gerade, ich muss ins Krankenhaus.“

Wenige Wochen später kommt es zu einer Szene, die noch heute 100.000-fach auf YouTube angeschaut wird: Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft, nicht einmal ausreden kann er, weil die Menschen so jubeln.

Er sagt, er habe nie geweint bei öffentlichen Auftritten, aber wenn, dann wäre es dieser Moment gewesen. „Doch dafür war die Anspannung viel zu groß.“ Nun sitzt er im „Adlon“ und wiederholt den Satz von damals: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“

Weiter spricht er nicht. Selbst in seiner Erinnerung ist dieser Satz abgebrochen. Außerdem klingelt das kleine Telefon auf dem Tisch. Er bittet um Rückruf. Fünf Minuten, sagt er. Wenn das Genscher-Minuten sind, werden es nur Sekunden sein.

Bald auf Twitter

Für einen Augenblick geht es nicht um schwere Momente vor langer Zeit, sondern um die Gegenwart. US-Wahl? „Ich war klar für Obama, Bush junior hat Amerika durch seine Politik so verheerend geschadet.“ Angela Merkel? „Ich kenne sie noch vom Kabinettstisch, sie ist sehr originär und sich selbst treu.“ Twitter? „Das Phänomen nehme ich wahr, aber ich nutze es noch nicht, werde das aber ändern.“

Die Zeit ist eigentlich abgelaufen, aber dann erzählt er noch eine letzte Geschichte, es ist die mit dem größten Zeitsprung, fast 80 Jahre zurück. Es ist nur eine kleine Anekdote, aber sie handelt wieder von einer freien Entscheidung, und an ihrem Ende steht die Vorstellung, dass ohne diesen Moment für ihn und für Deutschland vielleicht vieles anders gekommen wäre.

Es war an einem Adventssonntag 1936, an dem seine Eltern spazieren gingen, wie immer am Sonntag. „Ich hatte mir überlegt“, sagt er und klingt selbst dabei fast staatstragend, „es wäre an der Zeit für meine erste Zigarette.“ Er hatte sich eine Packung Lloyd gekauft, zehn Pfennig für vier Zigaretten. Der neunjährige Genscher setzte sich in den Lehnstuhl des Vaters.

Genscher lehnt sich jetzt genauso im Hotel in seinem Sessel zurück. Plötzlich kam der Vater herein – er hatte etwas vergessen – und sah seinen Sohn dort. Genscher sprang hoch, bekam eine Ohrfeige, die erste und einzige. Schon am Abend war das vergessen, aber der Vater sagte, er wolle das nie wieder sehen. Diese Szene habe sich bei Hans-Dietrich Genscher eingebrannt. „Dieser Blick…“ Kurz darauf wurde der Vater ins Krankenhaus eingeliefert, er starb im Januar des darauffolgenden Jahres an Blutvergiftung.

Hans-Dietrich Genscher habe nie wieder in seinem Leben eine Zigarette geraucht. „Bei den Krankheiten, die ich hatte – wäre ich Raucher, säße ich vielleicht jetzt nicht hier.“

Tino Sehgal, Porträt

Am Anfang und am Ende steht eine Frage, über die ich lange nachdenken muss. Der Anfang liegt ein halbes Jahr zurück: Ich sitze in einer komplett dunklen Halle auf dem Fußboden. Um mich herum sind 30 fremde Menschen. Langsam gewöhnen sich die Augen daran. Ich kann die Zuhörer von den Darstellern kaum unterscheiden. Der einzige Unterschied: Die Darsteller sprechen miteinander. Eine Frau überlegt laut, ob sie ihr Mobiltelefon verkaufen solle, was es wert sei. Dann ruft ein Mann die Frage in die Dunkelheit: “Definieren wir uns mehr über die Art, wie wir unser Geld verdienen, oder darüber, wie wir es ausgeben?”

Ich erzähle dem Künstler Tino Sehgal gleich zu Beginn unseres Spaziergangs von diesem Erlebnis auf der Documenta in Kassel im Sommer 2012. Der dunkle Raum war sein Kunstwerk “This Variation”. Er gilt schon mit seinen 36 Jahren als einer der bedeutendsten Künstler unserer Zeit, wird an Museen in Asien, Amerika und ganz Europa eingeladen. In Tokio hat er Kassierer eines Museums die Schlagzeilen einer Tageszeitung laut vorlesen lassen. In New York hat er Kinder mit tiefer Zombiestimme Besucher einer Ausstellung fragen lassen: “Was denken Sie, worum es hier geht?” Und in Venedig verwickelten Museumswärter die Besucher in ein Gespräch über Marktwirtschaft. Wer sich von ihnen darauf einließ, bekam die Hälfte des Eintrittsgeldes zurück.

Als ich ihn an der Brunnenstraße in Mitte auf den dunklen Raum in Kassel anspreche, ist es sehr hell um uns herum, und trotz dieser Großstadtlautstärke ist es für Sehgal nicht ungewöhnlich, sofort eine akademische Diskussion über den Sinn vom Geldverdienen zu führen. Er sagt: “Das Einkommen, das die Menschen aufgrund der Produktion von Dingen von geringer Bedeutung generieren, ist von großer Bedeutung.” Der Sinn dieses Satzes sollte in den Aussagen der Darsteller vorkommen. Sie sollten Variationen finden. Sehgal sagt, wenn man diesen Satz verstanden habe, könne man im Grunde über alles reden.

Was für ein Satz zu Beginn des Spaziergangs. Er schiebt sein Fahrrad langsam die Straße entlang. Hinten auf dem Kindersitz schläft sein Sohn fast ein. “Wir müssen doch in den Kindergarten”, sagt er mehr zu dem Kind als zu mir. Es müsse jetzt noch wach bleiben, bitte. Sehgal versucht seine Haare zu bändigen, sie irgendwie dem Wind zu entreißen und auf seinen Kopf zu legen. Das ist so eine Handbewegung, die zu einem Künstler genauso wie zu einem Professor passen könnte. Studiert hat er Tanz und Volkswirtschaftslehre. Nach dem Studium hat er zunächst selbst getanzt. Doch wirklich bekannt wurde er erst vor rund zehn Jahren mit seinen “konstruierten Situationen” in Museen, so heißen seine Werke. Er mag auch das Wort Aufführung.

Tino Sehgal blickt auf seinen Sohn, drückt seine Professorenhaare an den Kopf. Ihm fällt ein, dass einer seiner Söhne ihn kürzlich gefragt habe: “Ist heute schon morgen?” Sehgal fand das interessant, der Umgang mit Zeit von Kindern, der doch für so viele als fast naturgegeben hingenommen wird. “Die Kategorien von Vergangenheit und Zukunft müssen wir als Menschen ja erst lernen.”

Ausgerechnet vor einem Uhrenladen auf der Brunnenstraße bleibt er stehen. Der Laden ist geschlossen, doch das Ticken der vielen Uhrwerke ist leise zu hören. “Den gibt es seit über 20 Jahren”, sagt Tino Sehgal. “Ich bringe meine kaputten Uhren hier immer her.” Wenn man dort hingehe, müsse man damit rechnen, lange zu warten. Nur bei geduldigen Kunden, die dann noch eine Uhr vorweisen können, die gut genug sei, notiere der Uhrmacher sich die Telefonnummer und sage: ,Ich rufe Sie an.’ Das könne aber drei Monate dauern. “Der Kunde geht hier nicht zu einem Dienstleister, es ist eher eine Audienz.” Der Mann habe sich eben nicht unserer Servicekultur verschrieben. Bevor wir weitergehen, sehen wir ein Schild an der Wand hinter dem Fenster. Dort steht: “Die Maschine wird ihn nie ersetzen.”

Er sagt nichts zu dem Spruch, aber er passt; Tino Sehgal hat eine zumindest skeptische Beziehung zu Maschinen. Er besitzt kein Mobiltelefon (“Ich hatte einfach nie den Impuls, mir eines zu kaufen”), mag keine Audioguides in Museen (“Ich rede doch lieber mit jemandem über die Kunst”) und besteigt kein Flugzeug (“Zum letzten Mal bin ich 1992 geflogen”). Auch seine Besucher müssen sich seinen Anti-Technik-Gesetzen unterwerfen. Jegliche Foto- oder Videoaufnahmen seiner Werke sind untersagt. Als die “Times” doch einmal ein Bild abdruckte, nannte er das eine “krasse Unfeinheit”. Er sagt, bisher sei er damit immer durchgekommen.

Wahrscheinlich haben ihm Reporter anderer Zeitungen wegen seiner Prinzipien und Gewohnheiten in ihren Texten “ein großes Ego” attestiert. Hinzu kommen die wehenden Haare und Augen, die einfach sehr wach in ihre Umgebung blicken. Doch dagegen spricht, dass er eher leise auftritt, einer ist, bei dem man schon genau hinhören muss, und der selbst auch Gesagtes sehr genau nimmt.

Doch wenn er schon den Faktor Zeit immer wieder in das Gespräch einbringt, dann macht er damit auch deutlich: Das hier ist nur eine Momentaufnahme. Er ist skeptisch Reportern gegenüber, die irgendwelche kurzen Beobachtungen zu wichtig nehmen. Er erzählt von dem Treffen mit einer Journalistin der Zeitschrift “The New Yorker”, die ihn für mehrere Tage begleitete. “Wenn die einen dann porträtieren”, sagt er, “dürfen die ja auch nicht nur Positives schreiben.” Das sei auch die Struktur eines Artikels, diese Gegenüberstellung von Kritik und Lob, das ende doch immer im Klischee. Überhaupt seien Künstler nur ein kleines Milieu in der Gesellschaft, genau wie die Medien. “Wir alle sind doch nur ein kleiner Moment in der Menschheitsgeschichte.”

Nein, ein großes Ego klingt anders. Wenn er nicht so technikfeindlich wäre, könnte man zu diesem Satz noch sagen: Es ist wie das Zurückzoomen bei dem Programm Google Earth. Plötzlich werden wir beide hier auf der Straße ganz klein, bis nur noch die Erdkugel zu sehen ist. Wer sind wir schon?

Dann endlich beantwortet Tino Sehgal die Frage aus seinem Raum in Kassel. Was ist wichtiger, Einkommen oder Konsum? Er sagt, dass es vielleicht bis in die 80er-Jahre hinein wichtiger war, Geld zu verdienen, um damit Freizeit und Konsum ermöglichen zu können. “Vielleicht ging es damals darum, sich mit bestimmten Produkten zu verwirklichen.” Heute sei es komplizierter, und viele identifizieren sich eher mit ihrer Arbeit. Er entscheidet sich also für das Einkommen, über das sich viele Menschen wohl heute definieren. Dann macht er das, was er am besten kann, er fragt zurück: “Wie ist das bei dir?” – “Wie lange machst du das schon, diese Berliner Spaziergänge?” – “Wen hast du schon alles getroffen?” Er wird auch ein bisschen frech: “Wie lang willst du das noch machen?”

Fast bin ich froh, als wir den Kindergarten erreichen. Er hängt die Jacke seines Sohnes zwischen all die anderen Jacken, hilft beim Schuhe ausziehen. Aus dem Spielzimmer, in den das Kind geht, dringen englische Worte.

Sehgal selbst spricht Deutsch mit seinen Kindern, obwohl er in London geboren wurde, als Sohn eines indischen IBM-Angestellten und einer Deutschen. Die Familie zog nach Düsseldorf und schließlich in den Vorort Böblingen bei Stuttgart. Dort war Sehgal umgeben von asphaltierten Straßen und Betonbauten, die er als Jugendlicher für sich entdeckte: Er fuhr viel Skateboard. Seit rund 17 Jahren wohnt er in Berlin, reist aber oft nach London.

Auf der Straße sagt er, dass es schade sei, dass er hier nicht mehr Skateboard fahren könne wegen des Kopfsteinpflasters. Und selbst wenn es eine Bahn gebe, wie das sogenannte Gipsdreieck ganz in der Nähe, sei daneben ein Kiesplatz mit kleinen Steinen. “So etwas denken sich Leute am Computer aus”, sagt er, “und irgendein Bürokrat segnet es ab.” Das Skateboard aber war für ihn mehr als nur Fortbewegungsmittel, es war eine Möglichkeit, sich einen Ort anders zu erschließen, als von Stadtplanern und Architekten vorgesehen. Doch weil er eben Tino Sehgal ist, sagt er es so, dass es auch auf seine Kunst in Museen passen könnte: “Es gibt die Macht desjenigen, die im Setzen von Strukturen liegt, und die Macht desjenigen, der sie benutzt, etwas damit anstellt.” Dieses Umwandeln von Kassierern in Künstler, von Kindern in Zombie-Museumsführer, das habe schon etwas damit zu tun. “Aber es ist tiefer, glaub ich.”

Dazu gehört beispielsweise auch, dass seine Kunstwerke nicht nach den Öffnungszeiten der Museen aufhören, wenn die Darsteller nach Hause gegangen sind. Sondern sie dehnen sich auch auf den Verkauf der Werke aus. Seine Bedingung, ein Werk von ihm zu erwerben, ist, dass es keine Dokumente geben darf. Alles wird mündlich verhandelt. Das Museum zahlt im Grunde mehrere Zehntausend Euro für ein Gespräch mit ihm, im Beisein eines Notars, der nichts notieren darf. Klar ist er damit ein Sonderling in einer Gesellschaft, die Unterschriften auf gestrichelten Linien will, um zu funktionieren.

Wieder bleiben wir vor einem Geschäft stehen. Dieses Mal ist es ein Laden, der “Schokoladen und Torten” heißt. Doch Tino Sehgal mag das Geschäft nicht nur wegen der feinen Pralinen, sondern weil er von dem Inhaber erzählen will. Der nämlich ist auch einer, der etwas Radikales getan hat. Er habe seinen Job bei einem großen Schweizer Lebensmittelhersteller aufgegeben und sich vor vier Jahren einen Traum erfüllt: ein kleines Geschäft in Berlin. Von ganz groß auf ganz klein. Verzicht gefällt Sehgal.

Kein Wunder, dass er mit solchen Lebensentscheidungen viel anfangen kann. Er sagt: “Ich produziere nicht so viel, und ich will auch nicht so viel produzieren.” Er selbst lebt bescheiden seit mehr als zehn Jahren in der gleichen Wohnung in Mitte. Zu Hause mag er nur wenige Objekte um sich haben, und seine Zeit verbringt er mit Freunden, seiner Familie und eben damit, Situationen in Museen zu konstruieren. Das Produzieren einer solchen Arbeit sei aufwendig, sagt er, könne mehr als vier Jahre dauern. Berlin spiele dabei auch für ihn eine Rolle, weil er sich Städte wie New York und London nicht leisten will. Ansonsten mag er hier die Überraschungen, wie jene neulich in dem Berliner Ortsteil Alt-Mariendorf, als auf einmal eine italienische Großfamilie in einer Halle im Industrieviertel Pasta Vongole verkaufte. “Das war wie eine andere Welt.”

Wir haben nun den Koppenplatz in Berlin-Mitte erreicht. Hier hat er oft gesessen und “This Variation” mit seinem Freund und Mentor, dem Choreografen Xavier Le Roy, besprochen. Er mag den Platz, auch weil er von hier aus das Kunstwerk des Kubaners Felix Gonzalez-Torres gut sehen kann, an einer Hauswand an der Linienstraße. Sehr groß steht dort Weiß auf Schwarz: “Es ist nur eine Frage der Zeit.” Gonzales-Torres wollte damit andeuten, dass Deutsche wieder auf Minderheiten aggressiv reagieren werden. Das Werk ist 20 Jahre alt, der Künstler an Aids gestorben. Von ihm hat Sehgal einmal eine Ausstellung in Frankfurt kuratiert.

Er mag Gonzalez-Torres und erzählt von einem weiteren Werk des Künstlers, einem Haufen Bonbons, der mitten im Museum aufgeschüttet wird. “Wenn jemand ein Bonbon will, kann er sich eines nehmen.” Auch das finde er interessant, dass der Zuschauer direkt aufgefordert ist, sich zu einem Kunstwerk nicht nur gedanklich zu positionieren, sondern eben auch in seiner Handlung. Nehmen oder liegen lassen? Oder einfach nur Kopfschütteln? Das ist eine Gemeinsamkeit zu “This Variation”, dem dunklen Raum in Kassel. Beide Werke erreichen Menschen aller Altersklassen und Herkünfte. Wenn es funktioniert, geht es in den Kopf und bleibt da eine Weile.

Am Ende des Spaziergangs schreibt Tino Sehgal ein Wort auf meinen Schreibblock, über das ich wieder nachdenken muss: der Gang zum Kindergarten und zum Koppenplatz, der Besuch beim Uhren- und beim Tortenladen, das Reden über Zeit und Einkommen, das ständige Haar-Bändigen. Normalerweise hinterlässt Tino Sehgal ja keine Spuren. Heute bleiben Fotos, zwei Stunden auf dem Diktiergerät und eben dieses Wort auf einem Zettel in seiner Schrift: “Aufführung”. Kaufen kann ich mir davon nichts. Aber warum sollte ich?

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 13.1.2013