Reinhard Mey, Porträt

Da gibt es diesen Sven Kaiser, ein ungefähr zehn Jahre alter Junge. Vielleicht heißt er anders und Reinhard Mey hat ihn nur so genannt, weil es sich auf „heiser“ reimt. Sven Kaiser also steht mit seinem Vater Hans-Peter in einer Schlange in der Friedrichstraße und wartet auf das Autogramm eines Comiczeichners. Die beiden wissen nicht, dass Reinhard Mey hinter ihnen steht, zuhört, zuschaut. Nach einer Weile wird der Vater ungeduldig, ist genervt. Dann sagt er: „Mir reicht’s, sieh zu, wie du allein nach Hause kommst.“ Reinhard Mey beobachtet, wie Sven dem Vater hinterherblickt, als müsse er gleich weinen. Als er dann bei seinem Star angekommen ist, fragt er nicht nach der Widmung „Für Sven“. Im Lied heißt es: „Sven sagt heiser: ,Für Hans-Peter Kaiser’“.

Reinhard Mey hat sein Lied „Sven“ vor rund zehn Jahren geschrieben, aber diese Szene könnte auch gestern passiert sein. Man kann es als eines von rund 500 Liedern von Reinhard Mey beim Internetportal Spotify hören, sich als MP3 herunterladen, bei YouTube als Video anschauen oder auf „www.reinhard-mey.de“ den Text lesen. Man kann auch eine CD oder Schallplatte hervorkramen, egal, wie man es hört, immer nur mit Gitarre und Stimme, man möchte es gern besser machen als Hans-Peter. Mehr wollen Meys Lieder vielleicht auch nicht. Nur anregen dazu, sich mehr Mühe zu geben im Alltag, den Eltern auch mal einen Brief zu schreiben und zu danken für die Kindheit, wenn sie schön war.

Als Reinhard Mey in Tegel vor seiner ehemaligen Grundschule ankommt, kann er sich noch an die Szene mit Sven erinnern. „Sie ist genauso passiert“, sagt er, „wie ich es im Lied erzähle.“ Das habe ihn berührt, wie der Vater die Gefühle des Sohnes verletzte, weil er gestresst war. Dann spricht er davon, wie wichtig dieses Alter sei und wie schön er es hatte, hier in diesem Backsteinbau, seiner alten Schule. Reinhard Mey weiß auch mit seinen 70 Jahren noch, wie er hier zum Unterricht gegangen ist, schon als Erstklässler mit der S-Bahn fahren durfte. Heute will er diesen Schulweg noch einmal rückwärts laufen, mit einem kleinen Umweg an den Tegeler See. Damals war er Sohn und Enkel, heute ist er Vater und Großvater.

Es ist nicht ungewöhnlich, auf solche nostalgischen Gedanken zu kommen, wenn man mit Reinhard Mey unterwegs ist. Man muss ihn eigentlich nur anschauen; wie er da steht mit dem grauem Mantel, einem Erbstück des Schwiegervaters, und dem roten Schal. Sofort kommen Gedanken an besonders schöne oder traurige Dinge, eben solche, aus denen Mey Lieder gemacht hat. Jeder Deutsche kann mindestens zwei oder drei sofort singen. Zum Beispiel das von einer gewissen Annabelle, die „so herrlich intellektuell“ sei. Oder das, in dem sich „hätte“ auf „Zigarette“ reimt und das seit mehr als 30 Jahren eine niederländische Radiosendung jeden Abend einleitet: „Gute Nacht, Freunde“. Die größte Berühmtheit hat Mey wohl erreicht, weil er der erste war, der ein Lied dichtete, in dem negative Worte so gesungen werden, dass sie ganz leicht klingen: „Alle Ängste alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann…“

Ein Flugzeug vom nahen Flughafen rauscht über Wolken vorbei, als wir Richtung Tegeler See loslaufen. Er erzählt von seiner Schulzeit, wie nahe ihm das alles noch sei, obwohl jetzt Ferien sind und diese Schule ohne Kinder etwas trostlos wirkt. Seine Klassenlehrerin hieß Frau Aust. Die Schüler haben sie immer nur „die Auster“ genannt. „Die war super nett“, sagt er und: „Damals war ich wirklich glücklich.“ Er weiß noch, wie er einmal zu dem Kunstlehrer, einem gewissen Herrn Adomeit, gesagt habe: „Herr Adomeit, ich habe heute keine Lust auf Unterricht.“ Der Lehrer habe dann gesagt: „Gut, dann singen wir doch jetzt was.“ Später, als er dann auf das Französische Gymnasium kam und der Leistungsdruck größer wurde, sei er lange nicht mehr gern zur Schule gegangen. „Das war der Horror, besonders am Anfang, als ich noch keine Freunde hatte.“

Doch letztlich half ihm genau dieses Gymnasium, auf das ihn seine Eltern schickten. Seine frühen Erfolge hatte er – nach ersten Erfahrungen auf Berliner Bühnen – auch in Frankreich. Dort heißen Liedermacher „Chansonniers“, das klingt nicht nur besser, sondern ihre Musik wird auch häufiger im Radio gespielt. Bis heute hat er sieben Alben auf Französisch aufgenommen, 26 auf Deutsch. Nach seiner endgültigen Rückkehr nach Berlin in den 70er-Jahren wurde er „der deutsche Jacques Brel“, auch wenn sein Genre es hier schwer hat. Seine Plattenfirma ließ ihn machen, einfach so. Doch es funktioniert bis heute, wenn Reinhard Mey pünktlich alle drei Jahre eine Tour durch 60 Städte macht, dann sind die Konzerte noch immer ausverkauft.

Nur wenige Meter neben der Schule zeigt er auf eine Kirche mit einer leuchtend rot angestrichenen Tür. Der Bau erinnert ihn wieder an seine Kindheit. „Hier hab ich einmal eine Schleppe getragen“, sagt er und es wirkt, als könne er die Szene für ein Drehbuch ganz genau nachstellen. Er stand dort, die Braut dort. Neben ihm lief ein Mädchen aus seiner Straße, die ihm beim Tragen der Schleppe half. Er war nur das eine Mal in dieser Kirche, für diese Hochzeit, sonst seien seine Eltern mit ihm in eine Schulzendorfer Gemeinde gegangen. Später sei er ausgetreten und zum Kirchenkritiker geworden. Als jetzt aber vor Kurzem der Papst gewählt wurde und die Tagesschau zehn Minuten darüber berichtete, habe er schon gedacht: „Leben wir in einem Gottesstaat?“ Nicht umsonst habe er einmal gedichtet: „Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm: Halt du sie dumm, ich halt sie arm!“

Es geht schnell bei Reinhard Mey, dass man auf Gegenstände oder Orte zeigt, die irgendwie zu einem Lied von ihm führen, kein Wunder bei über 500 Songs, ab Mai sind es noch 17 mehr. Wenn ein Spaziergänger mit seinem Hund entgegenkommt, könnte dazu dieses Lied laufen: „Es gibt Tage, da wünscht‘ ich, ich wär mein Hund“. Darin beneidet er das Haustier für seine Gleichmütigkeit. Als die Kälte ihm Tränen in die Augen treibt, denkt er an sein Lied „Das Taschentuch“, das auf seinem neuen Album sein wird. Darin geht auch darum, dass am Abend die Tränen der Kanzlerin „rinnen“, wie bei „Klein-Eisprinzessinen“. Wieder so ein Moment, in dem sich jemand unbeobachtet fühlt, wie Hans-Dieter Kaiser. Und als wir die Bäume am See betrachten, fällt einem das fast 30 Jahre alte Lied ein: „Wie ein Baum, den man fällt, eine Ähre im Feld, möcht’ ich im Stehen sterben.“

Ja, dieses Sterben, das war schon Thema auf fast allen Alben, sagt er. „Es geht eigentlich immer um Liebe, Schnaps und Tod bei meiner Musik.“ Auch sein neues Album hat ein Lied, das wie für eine Beerdigung geschrieben ist. „Aber ich singe nie auf Beerdigungen“, sagt Reinhard Mey. „Die Tatsache, dass dort jemand, der mir nahe steht, gerade gestorben ist, da wäre schon sprechen zu viel.“ Das neue Album wird „Dann mach’s gut“ heißen, wieder ein Abschied, aber Mey legt Wert darauf, dass es kein „Adieu“ sein wird. „Ich mache weiter, es gibt ja noch so viele Lieder, die ich schreiben will.“

Er erreicht das Wasser und geht wieder 60 Jahre zurück in seine Kindheit. Wir stehen zwischen dem halb zugefrorenen See und einer Minigolfanlage, in der die Stationen noch eingepackt sind. Ein übergroßer Schwan, ein Miniatur-Leuchtturm, alles wartet hier, dass der Frühling beginnt. Mey erzählt vom Haus seines Großvaters am Heegermühler Weg. Er zückt ein Smartphone und zeigt, wo das genau lag, zoomt so nah heran, dass es nicht mehr näher geht. „Das war das Paradies“, sagt er, „Dort haben wir immer Stachelbeeren und Johannisbeeren gepflückt.“ Doch auf dem Rückweg in den französischen Sektor, wo seine Eltern wohnten, sei es ihnen mehrfach passiert, dass die Volkspolizei ihren vollen Eimer beschlagnahmte.

Als wir zurück in Richtung S-Bahnhof Tegel laufen, erzählt er von der Mauer, die er von ihrem Bau bis zum Abriss der Mauerteile an der East Side Gallery vor ein paar Tagen immer begleitet hat. Er sang in den 80ern „Ich würde gern einmal in Dresden singen“ und verbrachte den Mauerfall dann zufälligerweise genau dort. Am 10. November 1989 sang er im Dresdener Kulturpalast das Lied mit den „Sorgen und Ängsten“ und der „grenzenlosen Freiheit“. Er hatte ein Kindermädchen im Ostteil der Stadt, die Eltern schickten nach 1961 immer Pakete, Mey hat sie als 50-jährige Frau wiedergesehen. Auch wegen solcher Geschichten ist er gegen den Teil-Abriss, der gerade in Friedrichshain passiert: „Es ist wie alles in Berlin, es geht daneben.“ Der Investor zeige mangelndes Fingerspitzengefühl. „Er wird doch nie glücklich mit dem Bau“, sagt er. „Ich sehe heute schon die Farbbeutel auf die Fassade fliegen.“

Gerade, als er sich in Rage reden will, denn er könne sich noch immer herrlich aufregen, kommt eine ältere Frau auf ihn zu. „Schön, dass ich Sie treffe, Herr Mey“, sagt sie. „Ich suche eines ihrer Lieder schon so lange, irgendetwas mit ‚Nacht‘.“ Er fragt verblüfft, ob sie „Schenk mir diese Nacht“ meine? Sie: „Genau das! Es ist ganz tolles Lied, wenn man den Hintergrund weiß…“ Mey fragt, ob sie schon im Internet gesucht habe? Sie sagt: „Ich bin 82 Jahre alt, ich bin doch nicht im Internet.“ Dann bittet er sie um ihre Adresse, er werde sich kümmern. Als sie geht, ruft er ihr hinterher: „Sie bauen mich auf!“

Als er weiterläuft, erzählt er, dass solche Begegnungen nicht häufig seien. Die Berliner seien ja eher zurückhaltend, aber er freue sich wirklich über so etwas. „Man ist ja doch immer mit seinen Zweifeln…“, er zögert, „auch … dass man sich klein… und man sich hässlich fühlt.“ Dagegen helfe nichts, nur solche Begegnungen. „Auch wenn es nicht lange dauert, bis das alte Grübeln zurückkommt.“

Seine Familie hat ihm in den vergangenen Jahren viel Anlass zum Grübeln gegeben. Max, sein zweiter Sohn, ist mit 27 Jahren im März 2009 in ein Wachkoma gefallen und bisher nicht wieder aufgewacht. Mey spricht nicht davon, aber er hat darüber Lieder gesungen, leise, mit der Gitarre. „Drachenblut“ ist eines davon, darin heißt es, er sei entschlossen, „ihn in die Welt zurückzulieben“. Umso wichtiger ist ihm jetzt der Kontakt zu seinen anderen beiden Kindern, die beide in der Berliner Umgebung wohnen. Seine Tochter Victoria-Luise eröffnet gerade ein eigenes Geschäft, und sein Sohn Frederik hat nach seiner Zimmermannslehre noch einen Pilotenschein gemacht, fliegt jetzt Luftfracht durch die Welt.

An der Berliner Straße zeigt er plötzlich nach oben. „Hier hat mein Schulfreund Detlef gewohnt“, sagt er, „hier habe ich häufig nach der Schule eine Stulle bekommen.“ Er zeigt auf den Zahnarzt, wo er als Kind gelitten hat, und auf den Spielwarenladen, den es damals schon gab. „Wenn ich beim Zahnarzt tapfer war, gab es dort eine Belohnung, zum Beispiel ein Spielzeugauto von Schuco. Wir gehen weiter in Richtung S-Bahnhof, der eigentlich nur wenige Meter hinter der Berliner Straße liegt. Er schaut die Treppen hinunter in den Gang, der zum Bahnsteig führt. Er geht nicht hinunter. Auch er will es mit der Nostalgie offenbar nicht zu weit treiben.

Auf dem Rückweg greift er zum Mobiltelefon, seine Frau hat ihm ein Foto geschickt mit einem Osterstrauß und einer Kaffeetasse. „Das ist wohl ein Hinweis“, sagt er, „dass ich kommen soll.“ Weil er gerade das Telefon in der Hand hält, will er noch zeigen, wo sein Sohn Frederik gerade ist. Dafür gibt es eine App, „Flightradar24“ heißt sie. Sie zeigt in Echtzeit alle Flugzeuge als kleine Symbole an. Er tippt auf eines. Flugnummer „BOX513“, Lahore–Leipzig. „Da ist er ja.“ Wenn er gelandet sei, schicke er immer eine SMS.

Eigentlich kann sich so etwas niemand ausdenken: Der Vater, der mit einem Flugzeug-Lied in die Musikgeschichte eines Landes eingeht. Und der Sohn, der mehrmals in der Woche Frachtflugzeuge durch die Welt steuert. Einmal hat er den Vater mitgenommen. Der konnte natürlich nicht widerstehen, hat ein Lied für sein neues Album daraus gemacht. Es ist sentimental, nostalgisch, aber „Sorgen und Ängste“ kommen nicht vor. Dafür ein Reim mit „und dann“. Es ist der Moment, wenn das Flugzeug landet, aber wenn man genau liest, geht es auch um Liebe, Schnaps und Tod: „Und wenn wir landen werden, heimgekehrt von unserer Reise / wirst du zu deinem kleinen Sohn fahren und dann / wird er dir um den Hals fallen und dich auf die selbe Weise / ausfragen wie du mich einst und alles fängt von vorne an.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 31.3.2013

Liao Yiwu, Porträt

Ling Jiu Jiu. Das ist Chinesisch und bedeutet „Null Neun Neun“. Liao Yiwu reagiert sofort, als ich ihn darauf anspreche. „Das ist meine Gefangenennummer“, sagt er. „Das ist wohl lebenslang, ich weiß dann immer, ich bin gemeint.“ Er steht am Steubenplatz im Berliner Stadtteil Westend und ist eben noch durch leise Berliner Straßen gegangen. Nun rauscht Verkehr vorbei. Er überlegt und sagt dann: „Ling Jiu Jiu, das ist auch meine Erinnerungsnummer.“

Das Wort Erinnerungsnummer gibt es offenbar im Chinesischen. Es macht auch deutlich, wie kompliziert unser Gespräch abläuft. Denn es gibt eine Übersetzerin, die vor Liao Yiwu geschaltet ist. Erst spricht sie, dann er, dann wieder sie. Das ist anstrengend, aber nicht zu vermeiden. Mein Chinesisch ist nach einem Jahr Unterricht vor mehr als zehn Jahren nicht über Höflichkeiten wie „Wo bu xi yan“ (Ich rauche nicht) hinausgekommen und Liaos Deutsch beschränkt sich nach zwei Jahren in Berlin fast auf „Uhlandstraße, alle aussteigen“. Frau Guo, die taiwanische Übersetzerin, kennt Liao sehr gut, ist sein „Tor zur Außenwelt“, wie sie sagt. Wenn er sich mit der Literaturnobelpreisträgerin Hertha Müller trifft, ist sie dabei. Wenn Liao Yiwu wissen will, warum alle über den Flughafen BER lästern, dann erklärt sie es ihm. Sie übersetzt schnell. Sie lacht, wenn er lacht, nur bei ihr klingt es lauter, als ob sie andere damit anstecken will. Doch weil sie so präzise übersetzt, erkenne ich chinesische Vokabeln aus dem ersten Semester wieder.

Spaziergang: Sanbu.

Berlin: Bolin.

Freiheit: Ziyou.

Als wir aufeinandertreffen, hat Liao Yiwu den größten Teil des Spaziergangs (Sanbu) schon hinter sich. Wir stehen in Frau Guos Wohnung, die beeindruckend eingerichtet ist. Alte chinesische Möbelstücke, gemischt mit einer modernen Einkaufsküche. Ihr einen Kopf größerer Sohn schaut durch einen Türrahmen, geht dann in sein Zimmer und hört lauten Hip-Hop. Liao Yiwu sagt, er möchte sich kurz hinsetzen, ausruhen, bevor wir wieder loslaufen. Frau Guo bringt Kaffeetassen, deren Porzellan so dünn ist, dass man fast hindurchsehen kann.

Liao erzählt von seinem Spaziergang, durch das Viertel hier im Westend, wo er wohnt. Er habe einen chinesischen Freund in Prenzlauer Berg besucht, und auf dem Rückweg habe er sich verirrt. „Das ist eine kleine Freude für mich“, sagt er. „Ich habe mich verlaufen, aber ich war nicht in Panik.“ Er habe die Eichenallee gesucht und sei immer wieder an den Straßen vorbeigelaufen: Akazienallee, Ulmen-, Nußbaum- und Ebereschenallee. „Die Sonne hat so schön geschienen“, sagt er, der übrig gebliebene Schnee habe geglänzt, und er war sich sicher, dass er schon irgendwie dieses Haus finden werde. Seine Mutter habe sich früher häufig um ihn gesorgt, sagt er und ergänzt einen seltsamen Satz: „Ich gehe oft verloren.“

Liao Yiwu ist erst 54 Jahre alt, aber sein Lebensweg könnte schon jetzt genug Stoff für drei Biografien bieten. Er hat im Frühjahr 1989 das Gedicht „Massaker“ über die Niederschlagung der Demonstrationen am Tiananmen-Platz geschrieben. Dafür musste er von 1990 bis 1994 ins Gefängnis, bekam die Nummer Ling Jiu Jiu, wurde misshandelt. Er hat sich mehrfach gegen seine Bewacher gewehrt, die Antwort war Folter. Das Buch darüber, „Für ein Lied und hundert Lieder“, erzählt grausam detailreich von dieser Zeit. Es beschreibt Vergewaltigungen, Hunger und Selbstmordversuche.

Hier am Tisch erzählt Liao Yiwu davon, wie er Monate nach dem Gefängnis impotent war, aber er beschwichtigt: Anderen Gefangen sei es noch schlimmer ergangen. Außerdem habe er von seiner Mutter eine große Portion Optimismus mitbekommen – und dazu noch den Humor der Sichuanesen erlebt. Als die Regierung im Frühsommer 1989 auch in seiner Provinz gegen protestierende Studenten mit Tränengas vorging, seien die ersten Salven sehr schwach gewesen. Die Studenten hätten dann gerufen: „Das ist ja nur made in China!“ Er lacht, Frau Guo lacht lauter.

Nach seiner Entlassung hatte ihn seine Frau verlassen, die Tochter hatte sie mitgenommen, Freunde hatten sich abgewandt. Er begann, in Gelegenheitsjobs zu arbeiten, Lastwagenfahrer, Koch, Straßenmusiker. Nebenher hat er Chinesen der Unterschicht interviewt, von der Bartänzerin bis zum Klomann. Mit dem Interview-Buch „Frau Hallo und der Bauernkaiser“ hat er im Ausland Preise gewonnen. Vor einem Jahr bekam er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er ist das, was man landläufig einen „chinesischen Dissidenten“ nennt, einer der nur im Ausland leben kann, weil die Heimat lebensgefährlich ist.

Am Tisch bei Frau Guo spricht er von seiner ersten Ankunft vor zwei Jahren in Berlin, „Bolin“. Am Flughafen Tegel habe er schon dort die Nase in den Wind gehalten: „Die Luft schmeckt so süß“ sagt er noch heute, wenn er sich an diesen Moment erinnert. Liao ist auf Einladung des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes (DAAD) in die Stadt gezogen und werde sie vielleicht nie wieder verlassen, sagt er. „Ich habe einen Albtraum hinter mir gelassen.“ Aber vollkommene Freiheit könne er auch hier nicht empfinden. „Freiheit, Zìyóu, muss von innen kommen“, sagt er. „Sie kann nicht durch äußere Umstände sofort hergestellt werden.“ Er könne sich schon deshalb nicht frei fühlen, weil seine Freunde Li Bifeng und Liu Xiaobo noch immer nicht frei seien. „Schon deshalb will ich weiterkämpfen.“

Sein Freund Li Bifeng wurde zwei Monate nach seiner Ausreise zu zwölf Jahren Haft verurteilt, wahrscheinlich weil eben dieser Liao hier am Tisch sitzt, weil er geflohen ist und das Zentralkomitee Li Bifeng für einen Komplizen hält. Er war sein Verbündeter, als er die Nummer Ling Jiu Jiu war. Liu Xiaobo ist noch bekannter als Li Bifeng. Der Chinese hat vor drei Jahren den Friedensnobelpreis verliehen bekommen, durfte aber seinen Preis nicht persönlich in Empfang nehmen. Li, Liu und Liao sind seit Langem befreundet. Die drei Männer verbindet, dass sie sich für die Erinnerung an die Ereignisse des 4. Juni 1989 einsetzen, als Panzer auf protestierende Studenten schossen und Hunderte von ihnen töteten. Tiananmen. Ein Wort, das auf der chinesischen Version von Google andere Webseiten vorschlägt, als im Rest der Welt.

Frau Guo bietet kleine, bunte, süße Gummiplätzchen und Kekse an. Liao Yiwu rührt nichts davon an. Er sitzt nur da, schaut ernst, seine Glatze unterstreicht diese äußerliche Härte. Auch sie ist eine Gefängniserinnerung, vorher trug er volles Haar. Dann sprechen wir über die Vorwürfe des deutschen Sinologen Wolfgang Kubin, der vor zwei Wochen behauptet hatte, Liao hätte seine Gefängnisschilderungen übertrieben. „Das ist schlicht falsch“, sagt er, und es sei genau das, was sich die chinesische KP wünsche. Diplomatisch sagt er aber: „Ich habe Verständnis für die menschliche Schwäche, die in Wolfgang Kubins Handeln zum Ausdruck gebracht wird, weil er häufig zwischen China und Deutschland pendeln muss.“ Für ihn aber sei das Leben in China ein „Langzeit-Erlebnis der Angst“ gewesen. Wieder so eine Direktübersetzung: „Langzeit-Erlebnis der Angst“.

Liao Yiwu kommt nun in einen längeren Redefluss. Er erzählt von seiner Geburt im Jahr 1958 in der Provinz Sichuan im Südwesten Chinas. Es sei dem Mondkalender nach ein sehr guter Tag gewesen, nämlich der, an dem die Boddhisatwa in das Nirwana eintreten. Noch in seinem ersten Lebensjahr aber sei er beinahe verhungert. Mao Tse-tung hatte gerade den „Großen Sprung nach vorn“ ausgerufen, einen Plan, die Gesellschaft grundlegend in Richtung Kommunismus zu ändern. Die Folge des „Großen Sprungs“ war eine Hungersnot, der zwischen 15 und 45 Millionen Menschen zum Opfer fielen, beinahe wäre Liao einer davon gewesen. Gleichzeitig dichtete Mao damals – und wollte, dass auch die Bevölkerung anfängt, Gedichte zu schreiben. Liaos Gedichte brachten ihn ins Gefängnis. Auch über diese Ironie des Schicksals muss Liao Yiwu wieder lachen.

Viele Informationen über Chinas Geschichte und Gegenwart sind so widersprüchlich, nur eines haben sie gemeinsam: Es betrifft immer gleich Millionen Menschen, vom Bau eines Staudamms bis zur Inhaftierung von Kritikern. China ist aber auch einer von Deutschlands wichtigsten Handelspartnern. Neben Armut gibt es auch unglaublichen Reichtum, in Peking, Shanghai und auch im „China Club Berlin“, einem privaten Club am südlichen Ende des Hotels „Adlon“. Parallel gibt es Ai Weiwei, einen Künstler, der zusammengeschlagen und eingesperrt wird und der weiter protestiert, während im vergangenen Jahr der Autor Mo Yan den Literaturnobelpreis bekommt und staatliche Zensur mit der Sicherheitskontrolle am Flughafen vergleicht. Liao Yiwus Dankesrede für den Friedenspreis in der Frankfurter Paulskirche geriet auch deswegen zu einer Tirade gegen seine Heimat, in der Kritiker einsperrt und gefoltert werden.

Auch hier am Tisch mit Frau Guo ärgert er sich noch über den Preis für Mo Yan. Die chinesische Regierung hatte sich gefreut, dass ein anerkannter Autor nicht immer gleich ein Dissident sein muss. „Aber Mo Yan behauptet, in chinesischen Gefängnissen sitzen keine Schriftsteller“, sagt er. „Das ist eine Lüge!“ Liao wird laut: „Wo kangyi“ – „Ich protestiere!“, sagt er. Es ist ein Zitat aus seinem Gedicht „Massaker“. Er wiederholt: „Wo kangyi!“ Diesen Satz solle ich mir merken, sagt er. Protest gegen Unrecht sei wichtiger als Höflichkeitsfloskeln aus dem ersten Semester.

Er hätte gern, dass mehr Menschen gegen das Regime protestieren, auch in Deutschland. „Wenn man zum ersten Mal ein Geschäft mit einem diktatorischen Land macht, fühlt man sich schlecht“, sagt er. Beim zweiten Mal reduziere sich das Schuldgefühl. „Und nach dem zehnten Mal ist es schon selbstverständlich.“ Egal, ob man damit Umweltverschmutzung oder ungerechte Arbeitsbedingungen einkalkuliere. Er habe Kanzlerin Angela Merkel einmal eine chinesische DVD des Films „Das Leben der Anderen“ zukommen lassen, der im chinesischen Untergrund ein Kultfilm ist. Er heißt dort „Qie Ting Feng Bao“. Liao habe gehofft, Merkel so an ihren DDR-Hintergrund zu erinnern – „ihr zu erklären, in welchem Zustand ich lebe“.

Dieser Zustand habe Narben hinterlassen, zum Beispiel auf seiner Nase. Er nimmt die Brille ab, zeigt sie. Er war in Sichuan unterwegs, wollte der Geschichte über einen unschuldig Gefangenen nachgehen. Er hatte gehört, dass ein Mann 16 Jahre in einem Straflager mit dem Namen „Stadt der Freude“ verbracht habe, nur weil er in einen falschen Lastwagen eingestiegen war. Doch als Liao ihn besuchte, konnte der nicht mehr reden. Liaos Bücher sind voll solcher unglaublichen Begegnungen. Auf dem Rückweg von diesem Ausflug wurde Liao überfallen, bis heute weiß er nicht, von wem. Mit einem Messer wurde sein Nasenrücken aufgeschlitzt. Er verlor alles Wertvolle, behielt sein Leben.

Dann brechen wir doch auf einen kleinen Spaziergang (Sanbo) zum nahe gelegenen U-Bahnhof Neu-Westend auf. Liao trägt einen Mantel und eine Mütze auf der Glatze. Gerade als ich denke, er humpelt, läuft er doch wieder normal. Es gehe ihm gut, sagt er. Nur „frei“ sei er eben auch hier nicht wirklich. Er denke oft an seine Freunde, vermisse seine Mutter. Seine Sätze werden kürzer, Frau Guo übersetzt fließender. Er erzählt davon, dass ihn Berlin (Bolin) an das Chengdu von früher erinnere („Die Häuser waren früher auch so niedrig“) über junge Berliner, die ihm im U-Bahnhof ein Bier anbieten („Das ist mir nie vorher passiert“). Er sagt, dass er die Sichuan-Küche vermisse, sein Lieblingsrestaurant sei aber ein deutsches: die „Lindenwirtin“ hier in der Nähe.

Als wir an der Ecke Kirschallee/Eichenallee stehen, erzählt er von einem chinesischen Sprichwort, an das er hier oft denken müsse. Es erinnere ihn an ein Zuhause, an eine Zeit vor der Gefangenennummer 099, Ling Jiu Jiu. Es ist eines dieser viersilbigen Sprüche, die es Hundertfach im Chinesischen gibt. Dieses hier könne man auf alles beziehen, sagt er, auf das fließende Wasser, den unaufhörlichen Verkehr hier in Berlin und die Zeit, die immer weitergeht. Er sagt: „Chuan Liu Bu Xi.“ Frau Guo übersetzt: „Ein endlos fließender Strom.“ Das Sprichwort hilft, wenn man sich gerade „verloren“ fühlt.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 7.4.2013

Jochen Busse, Porträt

Jochen Busse hat sich gerade auf den Stromkasten neben die Straße gesetzt. Es ist ein bisschen eklig, weil der Kasten oben schmutzig ist und klebt, aber da will er jetzt durch. „Alles kein Problem.“ Auf dem Bild werden viele verschiedene Blautöne zu sehen sein: der Himmel, die leichten Stoffschuhe, die hellen Jeans, das luftige karierte Hemd. Alles macht gute Laune. Hinter ihm hupt ein Auto, damit der Wagen davor in der Schlange an der Ampel („Grün! Mann!“) weiterfährt. Jochen Busse merkt nicht, dass er auf diesem Stromkasten zum Verkehrshindernis wird.

Bis vor Kurzem sah man sein Gesicht in Berlin überall auf Plakaten. Er spielte im Theater am Kurfürstendamm den US-Präsidenten. Das Stück hieß „November“, und es ging um den Kampf um die Wiederwahl ins Weiße Haus und was das mit dem Leben eines Truthahns zu tun hat. Busse war also jeden Tag für zwei Stunden der mächtigste Mann der Welt. Aber jetzt genau in diesem Moment, auf dem Stromkasten, kurz bevor die Fotos gemacht werden, antwortet dieser Mann auf zwei eher unangenehme Fragen:

Wäre Ihr Vater stolz auf Sie gewesen?

„Nein, mein Vater fand, dieser Beruf sei kein Beruf. Des is’ ja alles nischt.“

Hat er Sie je im Fernsehen gesehen?

„Ja, da lag er schon krank im Bett. Meine Mutter hat ihm gesagt, dass ich im Fernsehen sei, als ein Mörder. Da hat er bitterlich geweint.“

Jochen Busse hat sich über eine Stunde warmgeredet, bis er zum Stromkasten kommt. Dabei erwartet man bei einem Spaziergang mit ihm eher leichte Themen. Schließlich ist er ein Komiker, hat mit Rudi Carrell in Sketchen gespielt, mit Dieter Hildebrandt bei der Münchner Lach- und Schießgesellschaft die 70er-, 80er- und 90er-Jahre kabarettistisch begleitet.

Er ist der Mann, der mit Mike Krüger bei „7 Tage, 7 Köpfe“ die acht Jahre Kanzlerschaft von Gerhard Schröder kommentierte. Rund sechs Millionen Menschen fanden das damals unterhaltsam, jede Woche. Er spielte in Filmen nicht nur Verbrecher, sondern auch Kommissare und Außerirdische. Noch heute ist er häufig in Talkshows eingeladen. Meist ist er dann der unterhaltsamste Gast in der Runde, hat zu allem eine Meinung: NSA-Affäre, Merkel oder chinesische Dissidenten.

Doch zu Beginn des Spaziergangs am Branitzer Platz will er von der Zeit bei „7 Tage“ erzählen, die Show, die ihn am bekanntesten machte. „Natürlich habe ich ,7 Tage‘ viel zu verdanken“, sagt er. „Aber es war auch hart, weil meine Aufgabe doch eher das Anklingeln der Straßenbahnhaltestelle war.“ Er meint, dass er meist nur das Thema einer Gesprächsrunde ankündigte und damit die Grundlage für die Pointen der anderen sechs Komiker schuf. Aus dieser Rolle kam er bis zur letzten Sendung 2005 nicht heraus. Dabei hatte er so hoch gesteckte Ziele: „Ich wollte immer die ultimative Komik erreichen, auch wenn das eigentlich unmöglich ist.“ Vielleicht arbeitet er deshalb noch mit 72 Jahren an diesem Ziel, das so viel abverlangt – unter anderem dieses Herumlaufen mit fremden Menschen durch eine vertraute Gegend.

Er sagt, er sei seiner Frau Constanze zuliebe nach Westend gezogen und fühle sich hier wohl. Er kenne hier inzwischen die Nachbarn, die Frau vom Bio-Supermarkt und weiß noch, wo Karl Dall gewohnt hat. „Ein schönes Haus, da laufen wir später vorbei!“ Er wird hier häufig erkannt: von Bauarbeitern, die gerade eine Pause machen, oder einer jungen Johanniter-Schwester, die ihn auf der Straße anspricht: „Herr Busse, ich habe gehört, Sie wollen bei uns lesen!“ Offenbar hat er sich zum Lesen im Seniorenheim angemeldet. Er macht mit ihr einen Termin aus, plaudert noch über seinen Hund und läuft dann weiter.

„Ich lese ohnehin viel laut“, sagt er dann. Den „Zauberberg“ von Thomas Mann zum Beispiel habe er sich selbst laut vorgelesen. Und seine Frau will gerade, dass er jeden Morgen den Söhnen etwas vorliest. Das ist jetzt Teil des Morgenrituals, wie der Yoga-Kopfstand, den er seit mehr als 20 Jahren täglich macht. „Das kann eine Stunde Schlaf ersetzen und mich für den ganzen Tag fit machen.“

Plötzlich stehen wir vor dem Haus, das erst vor wenigen Wochen häufig in der Zeitung zu sehen war. „Mord im Westend“ war die Schlagzeile auf den Titelseiten. In diesem grünen Haus in der Leistikowstraße wurde ein Steuerberater ermordet. Direkt neben Büros von Rechtsanwälten, Zahnärzten und Familientherapeuten. Die Polizei untersucht derzeit noch die Schmauchspuren der Waffe. Gerüchte sagten erst, dass die Familie „ganz normal“ gewesen sei, aber Tag für Tag änderte sich das. Plötzlich war über Neid, Ehebetrug, Gier und Hass zu lesen. Eine Frau kommt heraus, mit einer Mülltüte. Sie schaut misstrauisch. Busse sagt: „Was die mitgemacht haben müssen in den letzten Tagen …“ Noch einmal zwei Fragen, zwei Antworten:

Hat Ihr Vater Sie geschlagen?

„Ja, natürlich. Das habe ich ihm auch nie vergessen. Das ist demütigend, und dass diese Person, die du am stärksten liebst, das an dir ausführt, das geht letztlich nicht.“

Jetzt haben Sie selbst Kinder …

„Ja, ich kann das mit dem Handausrutschen schon nachvollziehen, aber ich mache das nicht. Die Schmerzen sind schlimm genug, aber ich weiß: So etwas, das verzeiht man nicht. Ich dachte damals, der kann dich umbringen.“

Düstere Geschichten überraschen Jochen Busse in der Gegend nicht. Erst neulich musste er bei einem Spaziergang seinen zehnjährigen Söhnen erklären, warum eines der Häuser in der Nachbarschaft Polizeischutz mit Maschinengewehr hat. Es ist eine andere Krimi-Geschichte, die von Morddrohungen gegen den Sohn eines Architekten handelt. Außerdem sei diese Gegend ja so aufgeladen mit Geschichte. Er sei deshalb extra in einen Neubau gezogen, weil er nicht in einem Haus mit schlimmer Geschichte wohnen wolle. „Ich sehe hier überall die Stolpersteine, die von Ermordeten der Nazis erzählen.“

Wir gelangen zur Reichsstraße, die seit mehr als 100 Jahren so heißt. Hier ist Jochen Busses Lieblingsitaliener, in dem er abends gern mit Freunden sitzt, hier ist sein Lieblingscafé, wo er so gern Waldbeertörtchen isst, dass die Bedienung ihm lieber etwas anderes anbieten möchte. Er sagt aber, wenn er sich einmal „eingegessen habe“, dann bleibe er dabei. Hier spricht er dann ausführlicher von seinen frühen Jahren, als er als junger Mann zum ersten Mal in diese Gegend kam, als noch keine Stolpersteine in den Straßenpflastern lagen.

Zusammen mit Theaterkollegen hat er hier in Berlin den ersten Jahrestag des Mauerbaus erlebt, den 13. August 1962. Da habe es eine Demonstration gegeben im Westen. „Die Mauer hat uns auch ganz praktisch betroffen“, sagt er, „weil doch viele Zuschauer aus dem Osten ins Ku’damm-Theater gekommen sind.“ Hier am Theater hat er auch viele Geschichten von jüdischen Kollegen über ihre Vertreibung oder das Exil gehört. „Einer meiner Kollegen, den ich nicht einmal mochte, hat vier Jahre in einer Kiste gelebt.“ Belgier hatten ihn so vor den Nazis versteckt. Erfolgreich. Aber: „Sein Körper war so verkrümmt, dass er nach dem Krieg neu laufen lernen musste.“

Er schaut lange vor sich hin, schüttelt den Kopf.

Dann erzählt er schließlich von seinem Vater, gegen dessen Meinung er letztlich zur Bühne ging. Er habe so einen Kasernenton gehabt, sagt er über ihn, das habe ihm immer Angst gemacht. „Ich kam immer besser mit den Freunden meines Vaters klar.“ Einer von diesen Freunden habe in Berlin gelebt und sich eine Aufführung von Busse angeschaut. „Als der mir danach sagte, er fand es gut, war das ein größerer Ritterschlag als jede Zeitungsrezension.“

Für den Vater war das ja: „nischt“. Das sagt er hier auf dem Stromkasten an der Ecke Reichsallee, Kastanienallee. Sein Vater sei eben eine schwierige Person gewesen. Als Fabrikant habe er auch nach dem Krieg noch sein Parteiabzeichen benutzt. Das war noch hilfreich für die Kundenakquise. Busse habe sich häufig mit ihm gestritten, vor allem über politische Themen. „Er sagte immer, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, dass Hitler den Krieg verloren habe.“ In solchen Diskussionen fiel der Vater dann auch manchmal ins Berlinerische. „Die Sache mit den Juden“, äfft er seinen Vater nach, „da hadda eb’n Quatsch jemacht.“

Er sagt auch, dass er nicht will, dass Wahlplakate im Hintergrund zu sehen sind. „Das lesen doch die Leute dann nicht.“ Er hat sich traditionell immer als Linker bezeichnet. „Die Wahl ist doch ohnehin schon entschieden.“ Interessant wäre noch, ob Angela Merkel vielleicht in diesem Jahr allein regieren kann. Dann müsse einmal eine Partei wirklich ihr Programm umsetzen. Plötzlich wird Busse von zwei Kindern angesprochen. Sie stellen sich artig auf und fragen: „Sind Sie aus dem Fernseher?“

Nachdem er den Kindern erklärt, woher sie ihn kennen, laufen wir langsam zurück in Richtung Branitzer Platz. Er wolle noch das Haus von Karl Dall zeigen. „Das hat er gekauft, als es noch richtig günstig war.“ Es steht an der Kastanienallee, und Jochen Busse war dort auch mehrfach zu Gast. „Im Erdgeschoss hat er gewohnt“, sagt er, „und im obersten Stock seine Tochter.“ Das sei alles so unkompliziert gewesen mit dem Karl. „Man wurde nie eingeladen, man ging einfach vorbei.“ Jetzt wohne Karl Dall in Hamburg, man hört gerade nicht so viel von ihm, und auf dem Dach seines ehemaligen Berliner Hauses weht jetzt die Flagge von Kasachstan.

Er könnte noch weiter erzählen, von dieser Gegend, dass hier auch Lilli Palmer gelebt habe, eine andere Schauspielerin, die immerhin mit dem US-Star Rex Harrison zusammen war. In ihrer Wohnung ist jetzt auch eine deutsche Schauspielerin … „Aber das muss vielleicht nicht jeder wissen.“ Er könnte auch über das deutsche Humorfernsehen erzählen, dessen wichtiger Teil er einmal war. Er verfolgt es noch.

Mario Barth sei nicht so sein Geschmack, Kurt Krömer mache seine Sache doch sehr gut, Oliver Welke in der „Heute-Show“ sei fabelhaft – und dann sei es schade, dass man Harald Schmidt nicht mehr sehe. „Das ist es doch, was es heute fast nicht mehr gibt. Jemanden wie Harald Schmidt, der nur nach seinem Geschmack geht und sich nicht verwässern lässt.“ Jochen Busse war bei Schmidts erster Sendung im Publikum. Die war so unglaublich gut, sagt er. „Und Harald ist der beste Jochen-Busse-Imitator, den es gibt.“ Bei allen anderen würde er immer klingen, als habe er Verdauungsschwierigkeiten.

Am Ende des Spaziergangs kommen wir noch einmal auf den Vater zu sprechen. Aber über Umwege: Busse hat eine Narbe am Kopf. „Die habe ich mir 1951 geholt“, sagt er. Da habe es eine Sprengung im Ort gegeben, und als die Warnsirene losging, stieß er in Panik mit einem Jungen mit dem Kopf zusammen. „Es gibt wohl über der Schläfe eine Stelle, die ganz empfindlich ist.“ Es war sein Vater, der darauf bestand, dass der zehnjährige Jochen ins Krankenhaus muss. Die Ärzte untersuchten ihn und mussten den Schädel öffnen, um ihn zu retten.

Die Beziehung zum Vater ist kompliziert. Busse weiß, dass sie vielleicht nie aufhört, wichtig zu sein, auch wenn er lange tot ist. Die Mutter hat ihn noch lange gepflegt. Sie hatte ihrem Mann nie widersprochen, immer sei ihr wichtiger gewesen, was die Leute denken. Als der Vater starb, rief die Mutter ihn in München an. „Danach wurde sie dement“, sagt er, „als ob sie ihre Aufgabe verloren habe.“ Noch zwei Fragen, Herr Busse:

Was wissen Sie von Ihrer Geburt?

„Der Arzt war ein Antifaschist und riet meiner Mutter, mich abzutreiben. In diese Welt könne man doch kein Kind bringen. Für meinen Vater kam das nicht infrage.“

Wie hieß Ihr Vater?

„Klaus.“

Nach diesem Spaziergang ist es nicht schwierig, sich den Komiker Jochen Busse bei seinem täglichen Yoga-Kopfstand vorzustellen. Hände gefaltet zusammendrücken, die Unterarme bilden ein gleichschenkliges Dreieck auf dem Boden, die Füße kerzengerade nach oben. Die Decke ist 2,80 Meter hoch, da ist noch Luft nach oben. Auch an diesem Morgen hat er sicher den Kopfstand gemacht. Unten ist oben, oben unten. Für einen Komiker, der sich so viel mit Geschichte auseinandersetzt, vielleicht die beste Ausgangslage.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 27.8.2013

Christopher von Deylen, “Schiller”, Porträt

Es macht wirklich Freude, den Ausführungen von Christopher von Deylen zuzuhören, wenn er Sätze baut, in denen jedes Komma, jeder Gedankenstrich hörbar ist, in denen ganz selbstverständlich Worte wie „Chimäre“ oder „Vignette“ vorkommen, Sätze, die lang sind und trotzdem am Ende immer einen Punkt haben. Und es gibt Fragen, die im Prinzip nur dazu da sind, noch einen von diesen verschnörkelten Sätzen aus ihm herauszufordern. Eine dieser Fragen, an einer Brücke mit Blick auf die Spree gestellt, lautet: Was sagen Sie zum Beispiel… zum Wasser?

Ohne den Hauch eines Zögerns sagt Christopher von Deylen in seiner nachdenklichsten Stimme: „Das, was unter der Wasseroberfläche ist, ist uns sehr fern, aber andererseits macht es einen Großteil der Welt aus; wir aber neigen dazu, das, was an Land geschieht, als tendenziell zu wichtig zu nehmen – auch in diesem Falle ist es nur ein Ausschnitt, den wir sehen, es schimmert, es glitzert, aber reingucken können wir nicht.“

Jetzt könnte man sagen, Christopher von Deylen hat einen Ruf zu verlieren. Schließlich tritt er seit 15 Jahren mit dem Namen „Schiller“ als sehr erfolgreiches elektronisches Musikprojekt auf. Sein achtes Album „Opus“ ist vor genau einem Monat erschienen und belegt aus dem Nichts plötzlich Platz 1 der Charts. Als „Schiller“ wird er vom (Achtung!) „Goethe“-Institut in die Welt eingeladen, tritt in Asien, den USA und vielen Städten Europas auf, seine Shows gelten als legendär, wegen der Lichtanlage, aber vor allem wegen der Stimmung, die er erzeugt. „Schiller“ hat er das Projekt genannt, weil er den Dichter so gut findet. Vor allem das Gedicht „Die Glocke“, passend dazu war sein erster und bis heute größter Hit „Das Glockenspiel“.

Jetzt aber steht dieser 43-jährige Mann an der Schillingbrücke und sieht aus wie eines seiner Lieder, selbstbewusst, zurückhaltend, in sich versunken. Er schaut auf das Wasser, dessen Lichtreflexe Muster auf sein Gesicht zeichnen. Bevor wir loslaufen, sagt er noch einmal zum Wasser und zu sich und zu allen: „Umso geheimnisvoller ist, was darunter verborgen ist.“

Man könnte ihn sich jetzt gut rauchend vorstellen, weil das so existenzialistisch ist, wenn der Mensch Dampf produziert, der Dinge aus der Erde in Luft verwandelt. Aber er sagt, er habe nie geraucht. Das heißt, er sagt wörtlich einen Satz mit zwei Genitiven: „Das Bedürfnis des Rauchens entzieht sich meines Erfahrungshorizontes.“ Beim zweiten Teil des Satzes, hätte Von Deylen auch den Dativ verwenden können („meinem Erfahrungshorizont“), aber der Genitiv klingt eleganter. Der Genitiv ist ein echter „Schiller“-Fall.

Wir laufen los, vorbei am Club „Magdalena“, der entstanden ist, als die „Maria am Ostbahnhof“ schließen musste. Er sagt, er war noch nie in diesem Club und auch in den anderen, für den diese Gegend hier am Wasser berühmt ist. „Das ist ohnehin nicht mehr das Friedrichshain, in dem ich einmal gelebt habe“, sagt er. Die ersten zehn Jahre seiner Berliner Zeit habe er hier verbracht, damals gab es das „Ostgut“ und keine O2-World oder ein Mercedes-Gebäude, auf dem sich jetzt jener Stern dreht, der in den 90er-Jahren von Autos abgebrochen wurde. Gerade wegen dieser Veränderungen hat von Deylen sich diese Gegend auch für den Spaziergang ausgesucht. „Man kommt hier ja höchstens mit Besuchern her“, sagt er, „aber auch das bin ich lange nicht mehr.“

Wir laufen zuerst in den Yaam-Club. Es ist einer dieser Orte, die noch übrig geblieben sind: Holzhütten, Sandstrand, Metalltonnen, auf denen, man Karibik-Klänge herstellen kann. Das Yaam strahlt den Charme jener Zeit aus, als sich einfach jemand mit einem Bierkasten an die Spree gesetzt hat und meinte: Ok, wir machen hier einen Club auf. So ungefähr ist vor 19 Jahren wohl das Yaam entstanden und später die Bar25 und all die anderen Strandbars. Jetzt braucht es schon David Hasselhoff, damit sich noch Leute für dieses Gebiet interessieren. Der war vor einigen Monaten hier, um für den Erhalt der East Side Gallery einzutreten. Diese Gegend jedenfalls ist für Christopher von Deylen mit Erinnerung verbunden, hier hat er Kulturwissenschaft studiert, was er aber 1998 abbrach, um zusammen mit einem Freund „Schiller“ zu gründen. Anfangs noch ganz ohne Erfolg, eine Zeit, die er heute noch wichtig findet, um sich nicht im Ruhm zu wohl zu fühlen.

Auch das hat für Christopher von Deylen wieder mit der Stadt zu tun, mit Orten wie dem Yaam oder der Eastside Gallery: „Man neigt bei Berlin immer dazu, die Patina der Stadt als Katalysator für Kreativität zu interpretieren.“ Er könne dieses ganze Gerede um dieses Potenzial manchmal schon nicht mehr hören, ja wird sogar skeptisch, wie sehr das nicht vielleicht nur noch eine Fassade sei. „Vielleicht gibt es sogar eine Art Geheimkomitee, das nachts durch die Straßen geht und Graffiti an die Wände sprüht“, sagt er, „damit dieser vermeintlich kreative Charme der Stadt erhalten bleibt.“ Er bleibe bei vielem, offensichtlich „Alternativen“, doch skeptisch. „Es gibt auch ein Bevölkerungssegment, das zwei Stunden vor dem Spiegel steht um dann auszusehen wie Andreas Baader und dann doch zu seinem Portugiesen geht.“ Er sei eher jemand, der immer auch eine Erneuerung suche.

Zumindest sein neues Album erfüllt diesen Wunsch in vielerlei Hinsicht. Es ist das erste, das nicht in Berlin, sondern in New York aufgenommen wurde, erschienen ist es trotzdem beim deutschen Traditions-Label „Deutsche Grammofon“. Von Deylen hat sich klar mit der klassischen Musik beschäftigt, sich von ihr inspirieren lassen. Er stand zusammen mit Größen wie der Pianistin Hélène Grimaud, der Sopranistin Anna Netrebko und dem Oboisten Albrecht Mayer im Studio. Bei früheren Alben hat er eher mit Pop-Künstlern wie Xavier Naidoo, Unheilig oder der Schauspielerin Anna Maria Mühe zusammengearbeitet. Es könnte also bedeuten, dass es nun ernster wird bei „Schiller“, aber wer sich durch die Alben hört, dem erscheint der Schritt zur Klassik wie eine logische Konsequenz aus früheren Projekten wie der Zusammenarbeit mit dem chinesischen Pianisten Lang Lang.

Aber solche Kategorien mochte Von Deylen ohnehin nie. „Zuschauer und Zuhörer haben ja doch eine wesentlich breitere oder tiefere Bereitschaft zur Rezipienz als gemeinhin angenommen“, sagt er. „Es muss nicht immer einfach und schubladisierbar sein.“ Bei der Arbeit mit den klassischen Künstlern habe ihn vor allem gereizt, dass beide Seiten ihre Komfortzonen verlassen mussten, also etwas tun, was für sie neu ist. „Ich finde ja, dass man jeden Tag im Leben irgendetwas tun sollte, das man noch nie gemacht hat.“ So stand er eben mit Hélène Grimaud in einem Raum ohne Tageslicht, und schon dadurch habe das etwas Losgelöstes von der Realität gehabt. Mit welcher Neugier und Offenheit sie an dieses Projekt herangegangen sei, habe ihn überrascht. Für sich habe er in dieser Zeit den Satz geprägt: „Das Leben beginnt da, wo die Komfortzone aufhört.“

Als wir durch eine Tür an der Spree die Wiese hinter der Mauer betreten, fällt auf, dass man tatsächlich zu selten an diese Orte geht. Menschen sitzen auf der Wiese unter blauem Himmel, rauchen, trinken, lesen, spielen Karten. Aber Christopher von Deylen bewegt sich durch sie hindurch, als wären sie nicht da. Seine Bewegungen sind lässig wie die von allen hier, die Augen schauen schlau in die Welt, aber eher vor sich hin oder in die Augen seines Gegenübers. Nie aber wandern sie zu den Vorbeilaufenden, den Sitzenden. Was ihm entgeht: da läuft ein schlanker Bärtiger mit bunter Pudelmütze und Jute-Beutel mit einem Monstergesicht darauf (so Berlin!), ein älterer Herr, der von oben bis unten in Gelb gekleidet ist (total Berlin!) und eine Gruppe Spanier, die mit ihrem Bier in der Hand laut diskutieren, in welchen Club sie jetzt gehen (dieses verrückte Berlin!).

Er sagt, dass er schon ein Auge für diese Dinge hat, aber nur, wenn er allein unterwegs sei. Er sagt es mit einem Genitiv: „Ich mag diese Momente, deren Protagonisten nicht die Absicht haben einen poetischen Moment zu erzeugen.“ Leider gehe auch er zu selten noch an solche Orte, auch, weil sie inzwischen schon eher touristisch sind. „Hier gibt es Ecken, an denen Berlin so ist, wie die Menschen außerhalb der Stadt denken, wie es hier überall sei.“ Am liebsten mag er deshalb den frühen Morgen, nicht um 7 Uhr, wenn die Jogger aufstehen, sondern um fünf Uhr oder noch früher. „Da bin ich für mich auf der Welt.“ Das sei er am Abend auch, aber es gelinge ihm dann nicht so gut, den Tag abzuschütteln. Manchmal höre er dann Deutschlandfunk, das Nachtprogramm oder ab fünf Uhr die Morgennachrichten. Oder er komponiert. Ein Großteil von „Opus“ sei in den frühen Morgenstunden entstanden.

Das zu wissen ist ein Schlüssel für einen Zugang zum neuen Album: Dieses Bild, wie er morgens vor seinem PC sitzt, Musik hört, zurückspult, noch einmal hört. Dann Tee. Vielleicht einen Apfel. Diese Morgenfrische steckt zum Beispiel im Stück „Rhapsody on a theme by Paganini“ von Sergij Rachmaninoff. Es ist ein sehr bekanntes, sehr schwelgerisches klassisches Werk, das die Nummer 13 auf „Opus“ und in das der Sonnenaufgang fast eingebaut ist. Zumindest der Neuanfang, der, den „Schiller“ so mag.

Tatsächlich ist es dieses Stück, was für Christopher von Deylen zu dem besten gehört, was er an klassischer Musik kennt. „Die Rhapsody enthält eine Poppigkeit, die sehr schnell zum emotionalen Vollzug schreitet – aber so, dass man immer aufs neue wie durch feinen Sprühnebel sehen kann, was der dieses Stück erschaffende Geist durchlebt haben muss, um so etwas komponieren zu können.“ Er gerät ins Schwärmen, vergleicht das Werk mit „Enjoy the Silence“ von Depeche Mode, das er für ähnlich perfekt hält, ausgerechnet ein Lied, das die Stille lobt. „Das Tolle an Rachmaninoff ist“, sagt er, „dass es eben nicht aufhört, es fällt nicht zusammen wie ein aufblasbarer Delfin, dem die Luft ausgeht.“

Wir haben den Punkt erreicht, an dem die Mauer durchbrochen ist, und laufen wieder auf der Straße entlang, vorbei an bunten Mauerstücken mit Graffiti von echten Kreativen, ein Stück bewahrte Alternativ-Kultur, die plötzlich zum Kanon gehört und für die man kämpft. Christopher von Deylen erzählt hier, wie er zuerst mit Pop in Berührung kam. Das war, als er in Berlin als Studio-Helfer anfing und dafür in Studiozeit bezahlt wurde. Damals lernte er die Produzentin Annette Humpe kennen, die mit „Ideal“ bekannt wurde und bis 2010 bei „Ich + Ich“ mitsang. Sie habe gesagt, das Wesen der Popmusik sei die Kunst des Weglassens. „Das braucht keiner“, war einer ihrer Lieblingssätze, oder: „Das hört keiner.“ Es gehe schlicht darum, in drei Minuten eine gute Geschichte zu erzählen.

An diesen Purismus hat er sich auch für „Opus“ erinnern wollen. „Es geht mir um diesen Moment, wenn der grau melierte Ehemann im Konzertsaal seiner Frau die Hand auf den Oberschenkel legt, weil er zum ersten Mal gemerkt hat, dass sie eine neue Frisur hat.“ Das sei ein Moment, den das Orchester sich mühsam erarbeiten müsse. „Das ist schließlich ein großes Gefühl.“ Er aber habe sich die Freiheit genommen, die Musik von diesem Arbeitsrahmen zu befreien. Er will gleich die ganz große Emotion, die „authentische Gefühlswelt“.

Letztlich geht es also auch im Hause Von Deylens immer um diese endlose Aufgabe. Man werde diesen „perfekten Sound einer Zeit“ nie ganz erreichen, nie erspüren können. In diesem Sommer sei es ohnehin schwierig gewesen, weil es keinen klaren Sommerhit gab, sagt er. Am nächsten komme dem vielleicht „Get Lucky“ von Daftpunk, darin geht es aber um die Suche nach Glück in der Nacht. Bei „Schiller“ findet diese Suche aber morgens statt und natürlich findet er dafür ein Bild, in dem eine Glocke vorkommt. Er sagt: „Über allem hängt die Glücksglocke, die muss läuten, man hat es leider nicht unter Kontrolle.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 29.9.2013

Lars Eidinger, Porträt

Berlin.  Wer den Infinitiv benutzt, habe ich einmal gelernt, weist auf den Moment hin und gleichzeitig auf die Ewigkeit. Zum Beispiel „Sein oder nicht sein“, das ist so ein Infinitiv. Hamlet sagt das auf der Bühne nicht nur zu sich selbst, sondern er meint auch jeden anderen Menschen. Wie ist das, wenn man sich als Schauspieler immer auf dieser Ebene bewegt, man selbst zu sein und gleichzeitig potenziell noch ganz viele andere?

Kurz, wie ist das, zu fühlen wie Lars Eidinger – zu brüllen, zu flüstern, mit Dreck zu werfen, mit einem Blick zu morden, sich nackt auszuziehen und dann über sich zu lesen, was für ein Mensch man sei? Ist das ein 24-Stunden-Job, von dem man eine Pause bräuchte? Oder ist das ein totaler Rausch, dafür bezahlt zu werden, was ohnehin leichtfällt: permanent zu spielen?

Bevor wir spazieren gehen und darüber reden, will Lars Eidinger auf die Toilette. So stehe ich kurz allein vor dem Hotel „Michelberger“ an der Warschauer Straße, diesem umtosten Ort der größten Hipness, der auch in New York oder Kopenhagen sein könnte. Da sitzen Menschen, die sich den ganzen Sommer auf den Winter gefreut haben, um die schönen Mäntel, Tücher und Wollmützen anzuziehen. Das angegliederte Restaurant erfüllt alle Kriterien, um in diesem Teil der Stadt für voll besetzte Tische zu sorgen: geschmackvolle, zurückhaltende Einrichtung, sehr leckeres Öko-Essen und von den Kellnern ein kosmopolites „Sorry, I don’t speak German“.

Passend dazu steht über der Tür „The past is over“. Lars Eidinger kommt vom Klo, erzählt, dass es „total irre“ war, „bunte Lampen“ und „Walgesänge“. Dann zeigt Eidinger auf den Spruch über der Tür: „Die Vergangenheit ist vorbei.“ „Schon komisch“, sagt er, „dass ausgerechnet jetzt das über uns steht.“ Schließlich gehe es in seinem neuen Film „Die Blumen von gestern“ genau darum, dass die Vergangenheit eben nicht vorbei ist. „Die Gegend hier war wichtig für unseren Film“, sagt er. „Adèle Haenel und ich haben hier in einem Raum mit dem Regisseur Chris Kraus zusammen viele Szenen geprobt.“ Er schaut nach oben, entweder in eines der Fenster, oder er blickt direkt in jene Zeit vor mehr als einem Jahr, als sie da saßen, zu dritt, und improvisierten. Bei diesem Film heißt das: zu schreien, zu weinen, zu schlagen und zu küssen.

„Die Blumen von gestern“ hat trotz des etwas ungelenken Titels alle Elemente, um wirklich etwas aufzurütteln in diesem Land. Jede Person im Film ist ein gestörter Charakter, exzentrische Emotionsbündel, die aufeinander losgelassen werden: ein misanthropischer Holocaustforscher (Eidinger) und sein überehrgeiziger Kollege (Jan Josef Liefers) treffen auf eine bipolare spontan-schreiende Französin (Adèle Haenel) und eine nymphomanische Borderlinerin (Hannah Herzsprung). Im Zentrum steht der millionenfache Mord in den KZs und was das heute für uns bedeutet. Vergangenheit? Vorbei? Niemals. Und dazwischen: Sex, Sex, Sex. Der Film hat den „Grand Prix“ in Tokio gewonnen und den „Baden-Württembergischen Filmpreis“ in der Kategorie „Bester Spielfilm“. Dabei wird es nicht bleiben.

Lars Eidinger sagt, dass für ihn der Film besonders sei, weil er mit seiner Filmpartnerin eine ungewöhnliche Beziehung aufgebaut habe. „Das ist ja nicht selbstverständlich“, sagt er, „dass man eine Verbindung zwischen zwei Menschen behauptet, die dann auch wirklich stattfindet.“ Diese Chemie könne man nicht künstlich herstellen. „Da hatten wir Glück, dass Adèle und ich uns da so gefunden haben, auf der spielerischen Ebene.“ Wie ein Wunder sei das gewesen, als sei sie sein weibliches Pendant. „Ich meine das in der Bereitschaft, weit zu gehen, in der Tiefe der Emotionalität, der Aufrichtigkeit, ohne dass man dem anderen etwas vormachen muss.“

Wir sind gerade erst losgelaufen auf der Warschauer Straße, und schon haben wir das Grundthema von Eidingers Schaffen berührt: Wie weit kann man gehen? Den Körper zu benutzen, jeden beweglichen Muskel, zu spielen und doch immer der gleiche Mensch zu bleiben: Geboren vor 40 Jahren im Klinikum Steglitz, irgendwann Schauspielschule „Ernst Busch“ (im gleichen Jahrgang wie Devid Striesow, Nina Hoss und Fritzi Haberlandt), sofort zur Schaubühne als Schauspieler und inzwischen dort auch Regisseur. Ab dann Filmrollen als Serienmörder („Tatort“), verunsicherter Liebhaber („Alle Anderen“) und aktuell auch als Journalist mit Kristen Stewart in „Personal Shopper“.

Natürlich hat das alles zu einer Popularität geführt, die er nicht abschalten kann. Wir laufen zur Mitte der Straße, da, wo die Strecke der M10 an einem Poller endet, da winken von der anderen Seite Menschen, die ihn wohl erkannt haben. Oder winken sie, weil er gewunken hat? Es ging so schnell.

Als hätte er Gedanken gelesen: „Deshalb schätze ich meinen Beruf auch so“, sagt er, „weil es keinen Unterschied macht, ob man sich in der Realität oder Fiktion begegnet, weil es im Grunde immer meine Wirklichkeit ist.“ Er meint damit wieder das Auftreten als Hamlet oder Richard oder Holocaustforscher – das Brüllen, das Dreck-Werfen, das Nackt-Ausziehen. „Die Frage, wie viel davon mit mir zu tun hat und wie ich privat bin, ist eigentlich keine Frage, weil ich ja immer mich selbst ausdrücke, es gibt nur eine Form von Expressivität.“

Wir laufen eine Treppe hinunter und stehen plötzlich im Nirgendwo. Die ganze Gegend um die Warschauer Brücke ist eine perfekte Kulisse für triste Drogenhändler-Filme und Obdachlosen-Reportagen. Heute fährt hier nur laut die Müllabfuhr vorbei, donnert die S-Bahn entlang und von der S-Bahn-Brücke winken wieder ein paar Passanten. Zu uns?

Eidinger sagt, dass er auf der Bühne immer versucht, zu sehen, wie das Publikum ihn wahrnimmt. Auch seine Frau habe er so kennengelernt. Er war damals neu an der Schaubühne, spielte den Griechen Diomedes in „Penthesilea“, er sitzt auf einer Anhöhe und schaut auf die Schlacht der Amazonen. „Der Vorhang geht auf, noch ist es dunkel und ich kann das Publikum sehen“, sagt er, „da sitzt eine Frau und schaut mich an. Scheinwerfer blenden auf, und es geht los.“ Mit dieser Frau sei er seit 18 Jahren zusammen. Lars Eidinger kann das ganz gut, dieses Erzählen, als sei das ein magischer Moment gewesen: Zwei Augenpaare treffen sich und lassen einander danach nie wieder los.

Wir verlassen die Einöde zwischen Graffiti, umgestürzten Fuselflaschen und S-Bahn-Schienen, und laufen Richtung Friedrichshain. Mir fallen all die Texte ein über Lars Eidinger, in denen immer wieder steht, was für ein „großer Schauspieler“ er sei. So, als ob diese immer frühere Texte über Eidinger zitieren und so eine Geschichte über Jahre tragen, wie toll er sei.

Klar gebe es andere Texte über ihn, aber darauf einzugehen sei langweilig. Er bereite sich auf eine Rolle als Anwalt auch nicht mit zehn Anwaltsfilmen vor. „Sondern ich gehe ins Gericht“, sagt er, „und orientiere mich an der Realität.“ Er meint „Terror“, das „TV-Ereignis“ vom Herbst, in dem er den Verteidiger spielt. Er ist es, der darin die großen Sätze sagen darf, die nach dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt anders klingen: „Wir müssen begreifen, dass wir im Krieg sind, wir können es nicht ändern. Kriege gibt es nicht ohne Opfer.“

Unser Spaziergang fand vor dem Attentat statt. Aber geht es nicht genau auch darum in den „Blumen von gestern“, um die Allgegenwart von Gewalt? Eidinger sagt, dass die meisten heute davon ausgehen, sich nicht schuldig gemacht zu haben. Aber es hänge eben alles zusammen: unser Frieden mit dem Krieg an anderen Orten. Und unsere Gegenwart mit dem Dritten Reich von damals. „Es kann ja nicht sein“, sagt er, „dass die meisten unserer Vätergeneration im Widerstand gewesen sind.“ Das sei natürlich totaler Quatsch, weil der Nationalsozialismus eine Massenbewegung war. „Jemand, der mit einer Waffe in den Krieg zieht, tut das, um zu töten“, sagt er. Wegen der Holocaustthematik habe er auch über seine Familie recherchiert, aber nicht viel gefunden. Er sagt nur: „Mein Opa war bei der Artillerie.“

Wir laufen über die Oberbaumbrücke. Einige Obdachlose haben sich hier richtige Schlafzimmer eingerichtet, mit Weihnachtsbaum und Lichterkette. Das wirkt bizarr privat und brutal arm, inmitten dieser feuchtkalten Gegend voller Touristen mit dem „Berghain“ im Blick. Es wird langsam dunkel, oder wird es hier im Winter überhaupt hell?

Lars Eidinger bleibt auf der Brücke stehen. Er erzählt von einem Erlebnis während eines Gastspiels in Jerusalem. „Es war Sabbat und ich stand im Aufzug mit einer älteren Frau, die den Knopf nicht drücken wollte.“ Für Strenggläubige gibt es am Sabbat viele Gebote. „Als der Fahrstuhl losfuhr, sagte sie, sie habe in Deutschland gelebt.“ Es sei eine Pause entstanden und er habe gedacht, dass sie in dem Alter sein könnte, Zeuge oder Opfer des Holocaust gewesen zu sein. Er habe gefragt, ob sie noch einmal dorthin fahren werde. Sie habe den Kopf geschüttelt und gesagt: niemals. „Das hat mich extrem bedrückt damals.“ Für einige ist Vergangenheit nie, nie, nie vorbei.

Auf der Kreuzberger Seite ist es fast noch hektischer als in Friedrichshain. Wir reden über den Film „Alle Anderen“ („Die Leute haben mir damals Briefe geschrieben, weil sie sich so wiedererkannt haben“), über seine Narbe auf der Lippe („Ich habe als Kind eine Brücke über den Badewannenrand gemacht und bin abgerutscht“) und über den Moment der Geburt seiner Tochter: „Das Erste, was meine Frau gesagt hat, als sie unsere Tochter sah: ‚Das bist ja du!‘“. Und wirklich: Es sei für ihn so gewesen, wie bei seiner eigenen Geburt zuzuschauen. Vielleicht ist dieses heute etwa zehn Jahre alte Mädchen der einzige andere Mensch, der ein bisschen weiß, wie das ist, das Lars-Eidinger-Sein.

Als wir wieder am Ausgangspunkt des Spaziergangs stehen, vor dem Hotel, das keine Vergangenheit kennt, sagt Eidinger, er müsse noch einmal. Er fragt: „Musst du auch?“ Ich verneine und ärgere mich, weil ich vielleicht eine schöne Szene verpasse. Schließlich gibt es kaum einen Film, in dem Eidinger die Hosen anbehält. Warum also in diesem Text? Aber ich hatte den Film „Code Blue“ gesehen und damit mehr von Eidinger, als ich je wollte. Ich blicke also auf das riesige Plakat von „Star Wars“, als ich erschrecke. Es bewegt sich, als ob wir wirklich mitten im Krieg wären. Doch gerade als die Gedanken richtig düster werden, kommt Lars Eidinger und sagt: „Die wurden doch von Disney gekauft, vielleicht wird Darth Vader bald durch Mickey Mouse ersetzt.“

Später gehe ich doch auf die Toilette, allein. Ich will diesen „irren Ort“ auch sehen. Vorbei an einem Tischfußballspiel, bei dem alle Figuren weiß sind, stehe ich im Herrenklo. Die Spiegel sind riesig, ich sehe mich selbst, umgeben von grellem Weiß und Silber. Schön ausgeleuchtet. Ich höre dieses Geräusch, den endlosen Walgesang, den Infinitiv des Lebens. Das wird immer so weitergehen: Lars Eidinger ist jemand, der nicht anders kann als spielen. Er macht das auch jetzt, solange jemand zuschaut.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 8.1., 2017

Christian Göke, Porträt

Es gibt Sätze, die passen besser zu einem Hippie als zu Christian Göke. Dabei war er sicher schon einiges in seinem Leben, Soldat zum Beispiel oder Jäger oder Geschäftsbereichsleiter oder Unternehmensberater. Aber diese Flower-Power-Sache, die hat er mit Sicherheit nie ausprobiert. Christian Göke steht also am Ende eines Spaziergangs auf dem Messegelände, seinem Messegelände, und sagt diesen Hippie-Satz: „Die Hauptaufgabe eines jeden Menschen ist es doch …“

Er unterbricht sich: „Haben Sie Kinder?“ Kopfschütteln.

Wieder ansetzen: „Die Hauptaufgabe ist es also, herauszufinden, was man machen will mit seinem Leben.“

Das ist ein großer Satz, und Göke sagt ihn so nachdenklich, dass man ihm glaubt, dass es mehr gibt für ihn als Zahlen und Diagramme und Bilanzen, denen er als Berliner Messe-Chef sein halbes Leben verschrieben hat. Da gibt es Freundschaft und Liebe, wichtige Gespräche, Rotwein, gute Literatur jenseits von „Meine-erste-Million“-Ratgebern. „Wir wissen doch im Grunde nichts“, sagt er noch. Aber warum will ein Manager mit knapp 500.000 Euro Jahresgehalt und, wie er sagt, „einem der spannendsten Jobs in Berlin“, Mitglied mehrerer Aufsichtsräte (unter anderem Hertha und Visit Berlin) – warum will dieser Mann der Messe bei einem Spaziergang das „Leben an sich“ diskutieren? Um im Bild zu bleiben: Lässt sich das Leben denn „vermessen“?

Das Berliner Jahr lässt sich zumindest ganz gut in Messen, Festivals und Kongresse einteilen. Es gibt die typischen Besucher der Grünen Woche (Latzhose), der Internationalen Tourismus-Börse (Rollkoffer) und der Internationalen Funkausstellung (Freisprechknopf im Ohr). Abseits vom Messegelände in Charlottenburg gibt es noch die Fashion Week, das Theatertreffen und die Berlinale. In Berlin gibt es zu fast allen Lebensbereichen ein Großereignis. Selbst die Jugend (YOU!), der ungehemmte Sex (Venus!) und der ordinäre Fruchtsalat (Fruit Logistica) haben ihre eigenen Messen. Für Christian Göke sind all das Märkte, in denen es Spaß macht, sich auszukennen.

Dem ersten Eindruck nach, als Göke aus dem Fahrstuhl kommt, ist er zunächst ein Mann, der schnell läuft, Hände fest drückt, Augenkontakt hält und auffällig deutlich spricht. Der Mantel sitzt, das Lachen auch, um die Frisur muss er sich keine Sorgen machen und die gute Laune ist nicht aufgesetzt. Alles drückt Verbindlichkeit und Optimismus aus. Das sind so viele „Softskills“ auf einmal, dass es einschüchternd wirkt. Auf die Frage, wie es ihm gehe, sagt er mit langem „ie“: „Ziemlich gut.“ Dann aber auf dem Weg zum Funkturm geht es schon um seinen Job. Seit einem Jahr ist er jetzt Vorsitzender der Geschäftsführung bei der Messe. Er sagt, das sei wie „permanenter Bildungsurlaub“. „Ich muss die Themen der Branche antizipieren“, sagt er, „damit die Messen weiterhin relevant bleiben.“ Hinzu komme, dass alles global geworden sei und somit sein Geschäft noch komplexer und schnelllebiger. Das schließt natürlich mobile Applikationen ein, Apps, die es inzwischen zu jeder Messe einzeln gibt. „Als ich hier 2000 herkam“, sagt er, „gab es noch nicht einmal E-Mail oder einen ordentlichen Internetauftritt.“

Doch gerade als er vom Stress des Alltags erzählt, gelangt er zu einem Ort etwas abseits auf dem Messegelände: Ein japanischer Garten. „Ist das nicht sonderbar hier?“, fragt er. Er zeigt auf die Bäume, den Teich mit Koi-Karpfen, die Brücke. Er komme hier viel zu selten her. Nur der Verkehrslärm erinnert daran, dass gleich nebenan der am stärksten befahrene Verkehrsknotenpunkt Deutschlands ist: die Avus. Dann muss Christian Göke doch lachen und sagt: „Das ist schon irre, in Berlin war soviel Geld damals“, sagt er, „dass sie einfach nicht wussten, wohin damit.“ Diesen Garten habe er trotzdem erst einmal so gelassen. „Das ist herrlich für unsere Mitarbeiter, aber für die Messe kann man ihn nicht einbinden.“

Dabei würde es gerade an diesem Wochenende passen, wenn die Besuchertage der Internationalen Tourismus-Börse (ITB) zum 48. Mal stattfinden. Wieder sind alle Hallen ausgebucht, wieder ist es die größte Messe ihrer Art weltweit: 10.147 Aussteller aus 189 Ländern zeigen fünf Tage lang, wo es noch richtig schön ist in der Welt. So ein Zen-Garten könnte da für gestresste Gäste eine Erholung sein. Doch es gibt keine Verbindung von den Messehallen. Der Park wirkt aber nicht vernachlässigt, eher unendlich geduldig, in sich ruhend.

Im Gegensatz dazu wirkt das Kunstwerk von Ursula Sax „Looping“ fast aufregend. Göke geht an der großen gelben Spirale vorbei in Richtung Funkturm und schaut auf das ICC gegenüber. Er mag auch dieses Gebäude, das Raumschiff. „Es wurde gebaut in einer Zeit, als man nicht dachte, dass es 40 Jahre später umgebaut werden könnte.“ Die Haustechnik sei unter dem Erdgeschoss verlegt, üblich für die Zeit, aber heute unpraktisch. Insgesamt habe das Gebäude nur 16 Prozent Nutzfläche. „Der City Cube, den wir in diesem Jahr öffnen, hat 80 Prozent Nutzfläche.“ Ja, der Eröffnungstermin steht fest, und: „Man braucht ein Datum, auf das man hinarbeitet.“

Als Christian Göke oben auf der Aussichtsplattform des Funkturms steht, könnte das auch der Tower eines Flughafens sein. Zu diesem Ausblick passen Sätze mit Superlativen: „Diese Gebäude sind im Prinzip der größte Brückenbau der Welt.“ Er meint damit, dass fast 80.000 der insgesamt 160.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche auf Stelzen gebaut wurden. Dann zeigt er auf die einzelnen Gebäude, die ersten Messehallen aus Sandstein aus der Nazi-Zeit, das frisch renovierte Marshall-Haus aus den 50er-Jahren, die späteren Messegebäude aus den 70er- und 90er-Jahren. Doch einen Superlativ hat er sich aufgespart: „Nirgendwo in Deutschland wird mehr Umsatz pro Quadratmeter Hallenfläche gemacht als an diesem Ort.“

Zahlen sind sein Element, mit ihnen kann er gut umgehen, er schaut auf Orte und ihm fallen sie sofort ein. Der Südeingang: „Bis zu 70 Prozent nutzen ihn jetzt.“ Mitarbeiter: „Wir haben rund 8000, die hier Tag und Nacht eine Messe aufbauen.“ Hotels: „Berlin hat 130.000 Betten, 40.000 mehr als New York.“ So könnte man das weitertreiben, jeder Mensch produziert ja ständig Werte, Zahlen, Fakten, Kurvendiagramme. Doch seine Freundin – so hat er einmal gesagt – erinnere ihn daran, dass er nicht alles in Zahlen ausdrücken könne. Und wenn er für ein paar Sekunden auf dem Turm steht, auf die Messe schaut, keine Zahl erwähnt, dann kann man das sehen, kein Hippie, aber …

Auf dem Weg nach unten erzählt Göke von seinem Morgenritual. „Ich stehe früh auf und mache die fünf Tibeter“, sagt er, „dann ist mein ganzer Körper einmal gedehnt.“ Früher sei er Fußballer gewesen, habe während seines Jurastudiums in Italien in der B-Liga gespielt. Sport habe ihm viel über das Leben gezeigt: die eigenen Grenzen, die Leistungsfähigkeit, auch den Respekt vor dem Altern. Nach einer Verletzung und jetzt mit 48 Jahren ist für Christian Göke Yoga der wichtigste Sport.

Statt Leistungsorientierung (Tore schießen) konzentriert er sich jetzt auf die Verbindung zwischen Körper und Geist. Die erste Übung der „fünf Tibeter“ geht so: Die Arme anheben und sich um die eigene Achse drehen. Nach einigen Umdrehungen die Augen schließen und auf sein Schwindelgefühl achten. Überhaupt: Auf sich achten. Einatmen, ausatmen. Wenn er so nachdenklich dasteht, oben auf dem Funkturm und auf die Messe herabschaut, ist es gar nicht mehr so schwer sich vorzustellen, woher diese Konzentration kommt, die man Managern als wichtigste Eigenschaft nachsagt.

Auf dem Weg zum Sommergarten sagt er, dass er immer einen Beruf ausüben wollte, in dem er etwas bewegen kann. „Lange Zeit dachte ich, Unternehmensberater sei der einzige Beruf, in dem man das kann.“ Man reise um die Welt, gestalte sie mit, bereite klare Entscheidungen vor. Inzwischen sehe er das anders. „Manchmal glaube ich, das ist alles ein ganz schöner Mist.“ Das Leben lasse sich nicht so einfach einteilen. Die einzige Grundregel sei eben, dass man herausfinden müsse, was man im Leben wolle. „Wenn ich Kindern beim Spielen zuschaue, dann kann man das sehen: Der eine will etwas bauen, der nächste blättert in einem Bilderbuch, ein Baby malt am liebsten oder planscht im Wasser.“ Das klingt verträumt, ist es aber nicht. Bei Christian Göke hat selbst das Sprechen über Kinderspiele etwas mit seinem Nachdenken über die beste Managementform zu tun. Jeder ist in einer Sache gut. Er muss nur herausfinden worin und dann noch besser werden. Göke zitiert dann gern die beiden Pulitzer-Preis-Gewinner Will und Ariel Durant, die 1965 das Buch „Lessons of history“ geschrieben haben. Darin geht es um den Vergleich von Freiheit und Gleichheit.

Göke sagt: „Wenn die Gleichheit groß ist, geht die Freiheit des Einzelnen zurück und dann schließlich die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft.“ Das könne man an den kommunistischen Beispielen bestätigt finden, extrem in Nordkorea. „Lasse man aber der Freiheit zu viel Raum, dann geht es plötzlich nur noch nach Darwin und dem Recht des Stärkeren.“ Kurz: „Der Gleichheitsgedanke wirft den Freiheitsdenkenden einen Knüppel zwischen die Beine.“ Zwischen diesen beiden Begriffen könne man alles durchdeklinieren: Volksentscheide, Rekommunalisierung, Freiheitsbewegung.

Bei Christian Göke klingt es manchmal so, als ginge es immer um die Optimierung von Prozessen, um das „Beste und Meiste rauszuholen“ aus einer Sache, sei das eine Messe oder eine künstlerische Fertigkeit. Dabei ist es bei ihm offensichtlich so, dass er sich nicht nur mit Messen beschäftigt, weil er dafür Geld bekommt. Er kann mühelos begründen, warum solche Geschäftstreffen nie an Reiz verlieren werden, fernab des Rituals. „Face to Face kann nie ersetzt werden“, sagt er, „einen Rechtsanwalt, Arzt oder Psychologen will man schließlich auch immer in Person treffen.“ Und er kann dann schnell eine ITB mit Beethoven vergleichen. „In zehn Jahren wird jeder noch Beethoven hören“, sagt er, „aber Lady Gaga vielleicht nicht mehr.“ Der Komponist sei länger am Markt gewesen und habe sich etabliert. Der „Lindy-Effekt“ gelte auch für Messen.

Plötzlich kommen ihm im Sommergarten einige Mitarbeiter entgegen. Zu einem ruft er: „Hallo, wie war die Krisenstabübung?“ Ein paar Meter weiter sagt er zu einer Kollegin auf Krücken: „Hey! Geht es besser?“ – Sie sagt grinsend: „Die Arme sind jedenfalls stark.“ Er zeigt auf die Kantine, zu der sie alle unterwegs sind: „Das ist der Haupttreffpunkt, nirgendwo wird so viel gequatscht.“ Aber das sei gut, sagt er, jeder könne vom anderen lernen, aber eben nur, wenn man spricht und zuhört. Er macht das wirklich immer wieder, diese Vermischung von privatem Vergnügen und Optimierung von Prozessen.

Am Ende steht Christian Göke wieder vor dem Kunstwerk von Ursula Sax, dem „Looping“, der aussieht wie ein gefrorener Geistesblitz. Zahlen, die er so mag, gibt es nur wenige zu diesem Werk: 50 Meter lang, seit 22 Jahren hier. Vielleicht schauen es manchmal Autofahrer verträumt an, wenn sie mal wieder im Stau auf der Avus stehen und die hässliche Tribüne auf der anderen Seite nicht sehen wollen. Oder ITB-Besucher, wenn sie mit Rollkoffer abends in Richtung S-Bahn laufen. Dass dahinter noch ein Zen-Garten liegt, wissen nur die Messemitarbeiter und ihr Chef. „Was weiß ich denn?“, fragt er noch. „Vielleicht hat der Gärtner des japanischen Gartens genauso viel bewegt wie ich in meinem Büro da oben.“ Die Frage ist doch, ob er jetzt in diesem Moment genau das tue, was er immer tun wollte? Christian Göke kennt die Antwort auf diese große Frage. Aber nur für sich selbst.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 9.3.2014

Alexander Ljung, Porträt

Alexander Ljung wird als kleiner blauer Punkt angezeigt, der sich auf der Straße „Maybachufer“ langsam in Richtung eines Taxisymbols bewegt. Der echte Alexander Ljung läuft auch wirklich in Person das Maybachufer in Richtung Türkischer Markt, wie der Punkt auf der Mobiltelefon-Landkarte. Aber etwas stimmt mit dem blauen Punkt nicht. Er ist etwas „verrutscht“, das heißt, das Telefon hat Alexander ein paar hundert Meter zu weit westlich verortet. Dorthin aber hat Ljung ein Taxi für seine Mitarbeiterin hinbestellt. Die muss doch jetzt sofort in Tegel zu ihrem Flug in Richtung London… Da klingelt das Telefon und der Taxifahrer ruft an – sein gelbes Auto ist von Weitem zu sehen. Ob er noch warten solle? „Ja, wir sind gleich da.“

Das ist so eine typische Alexander-Ljung-Szene. Zum einen, weil der 32 Jahre alte Firmenchef etwas Analoges wie das Taxi-Rufen lieber digital macht und außerdem, weil dieser Moment mit der Schnittstelle zwischen Realität und Virtueller Welt zu tun hat: Dem abstrakten Punkt auf der Landkarte und dem realen Taxi in Kreuzberg, das dort vorn wartet. Gleichzeitig geht es noch um einen Flug in irgendeine Metropole, dorthin, wo die Mitarbeiter seiner Firma eben arbeiten. Und wie in allen Metropolen dieser Welt, ob Tokio oder New York, ob Karachi oder Melbourne, ob Lima oder Johannisburg – es gibt sie inzwischen überall, die Nutzer von „Soundcloud“.

Ljung ist zusammen mit Eric Wahlforss Gründer dieses mobilen Netzwerks, der wichtigsten Musik- und Klang-Community für Mobiltelefone und Computer. Jeder der rund 250 Millionen Webseiten-Besucher kann Klänge, Töne oder ganze Alben in die Datenwolke hochladen – ob Profis wie die Band „Sonic Youth“ und einfacher Ton-Bastler zuhause – und kann diese mit anderen Netzwerken verlinken. Diese Klänge werden dann nicht als Punkte dargestellt, sondern als Klangkurven, wie früher in Synthesizern. Diese Kurven können an jeder Stelle angeklickt, vorgespielt und vorgespult sowie gestoppt und kommentiert werden. Das Programm wächst nicht von allein, es wächst durch die Benutzer. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Soundcloud das „Youtube“ für Töne geworden ist.

Alexander Ljung lässt sich von diesem Druck nichts anmerken, als er aus der „Arena“ in Treptow kommt. Er hat in der alten Fabrikhalle an diesem Morgen einen Vortrag vor Hunderten Technikfans auf der „Techcrunch“-Konferenz gehalten. Er kündigte auf der Bühne an, dass Soundcloud mit dem Foto-App-Riesen „Instagram“ zusammenarbeiten werde.

Er ist gut gelaunt, fast wie diese jungen Startupper, die gerade erst ihre große Firmen-Idee hatten und diese deshalb mit 200 Prozent vertreten müssen. Er sagt, dass seine Schuhe nicht unbedingt auf das Foto müssten. „Da sind Flecken drauf, die stammen aus einer Nacht in einem Club.“ Emma, seine Assistentin, die in einer Stunde zum Flieger muss, fragt: „Rotwein?“ Alexander Ljung sagt: „Nein, Blut, mein eigenes.“ Schon sind wir mittendrin in der wilden Welt, in der er lebt oder leben könnte. Tagsüber Millionen Menschen über Klänge miteinander verknüpfen und abends auch mal im Club zu Klängen engagiert tanzen, vielleicht angesprochen werden, wie auf Tech-Veranstaltungen hier in der Arena. „Das kommt vor“, sagt er, „aber natürlich eher bei solchen Treffen oder im Club.“ Aber er gehe schon lange nicht mehr intensiv in Berlin aus, dazu fehle ihm schlicht die Zeit.

Dabei war genau dieser Ruf Berlins als tolerantes Techno-Mekka einer der Gründe für die beiden Schweden, hier das Startup aufzubauen. So wie viele junge Unternehmer noch heute haben sie im Café St. Oberholz in Mitte angefangen. Dort gab es freies W-Lan und guten Kaffee, dort war es, wo sich die beiden fragten, warum es so kompliziert sein müsse, große Sound-Dateien zu verschicken. Also gründeten sie eine Plattform, um das zu ändern. Damals kannten den Begriff der Datenwolke, der sogenannten Cloud, nur ganz wenige Internet-Spezialisten. Sie überlegten lange über den Namen und am 12. November 2008 gründeten die beiden das kleine Startup „Klangwolke“: Soundcloud.

Als wir die Puschkinallee erreichen, treffen wir auf Frauen und Männer der Parkreinigung. Sie blasen mit einem Schlauch die heruntergefallenen Blätter zu einem großen Haufen zusammen. Es wirkt wie der Einbruch des Realen im Gespräch über Dateien und virtuelle Millionen Euro. Wir laufen auf die rechte Uferseite, vorbei an jungen Eltern mit Kindern, die sichtlich gerade erst Laufen gelernt haben. Es ist diese Generation, die schon mit drei Jahren Multifunktionsjacken tragen und auch mit dem Digitalen ganz selbstverständlich umgehen werden. Für einen Moment reden wir nicht von Startups und Dateien, sondern von seinem Lieblingsbuch, dass Ljung in diesem Winter zum zweiten Mal lesen will. Es heißt „West of Jesus“ von Steven Kotler.

Es geht darin um einen Surfer, der genau wie Alexander Ljung durch die Welt reist, allerdings nur zu Orten, an denen man surfen kann. Auf Wellen, nicht im Internet. Ljung ist selbst Windsurfer und Skateboarder. „Surfen ist anders als Tennis oder Skifahren“, sagt er, „weil viele Surfer eine spirituelle Suche mit ihrem Hobby verbinden.“ Dieser Autor jedenfalls begibt sich auf die Suche nach einer Legende, einem Surfer, der das Wetter kontrollieren kann. Diesen Mythos erzählen sich Surfer in Bali genauso wie an den Stränden Mexikos. „Auf dieser Suche trifft er interessante Menschen und beschreibt diese sehr genau.“ Das Buch sei eine Mischung aus Wissenschaft und Erzählung, sagt Ljung und sagt dann noch diesen schönen Satz: „Ich mag dieses Gott-Leben-Ding.“

Mit Glück und Glauben hatte auch die erste erste Zeit der Soundcloud-Gründung zu tun. Schließlich wurden im gleichen Jahr 2008 noch mindestens 400 andere Startups in Berlin gegründet, für die vielen Investoren war Soundcloud damals nur ein kleiner orangener Punkt zwischen so vielen anderen Berliner Kleinst-Unternehmen. „Anfang 2009 war eine Zeit, zu der es in Berlin niemanden gab, der investieren wollte“, sagt er. „Wir hatten damals nur das Versprechen, dass Soundcloud einmal groß werden könnte.“ Aber es gab erst wenige Tausend Nutzer. Die beiden Gründer hatten erst ein kleines Büro angemietet, damals schon mit Dachterrasse, auf der Alexander Ljung viele Zigaretten zur Beruhigung rauchte. „Es war wirklich hart damals“, sagt er. Er habe mit Eric Wahlforss immer wieder zusammen gesessen und sich gefragt, wie lange das noch so weiter gehen könne. Sie konnten den Mitarbeitern für zwei oder drei Monate kein Gehalt zahlen. „Dass sie dabei geblieben sind, war für uns der größte Vertrauensbeweis.“

Der Rest ist eine Geschichte, die sich Berliner Startupper immer wieder zur gegenseitigen Motivation erzählen, wenn es mal nicht so gut läuft: Die beiden Schweden bekamen dann doch einen Investor, der ihnen eine 2,5 Millionen Euro große Anschubfinanzierung gewährte. Und nur ein Jahr später hatten sie die erste Mitglieder-Million geknackt. Von da an ging es weiter aufwärts mit der orangenen Klang-Wolke: Fünf Millionen Nutzer im Jahr 2011. Der US-Schauspieler Ashton Kutcher investierte in die beiden Schweden und die Büroräume wurden größer: Sie zogen in die Torstraße, wo alle Startups ihre Büros hatten. Sie eröffneten später mehrere Geschäftsräume in Berlin und zogen erst vor wenigen Monaten alle zusammen in die Greifswalder Straße in Friedrichshain. Im Januar dieses Jahres nimmt Ljung den Chrunchie-Preis für das „Beste Internationale Startup“ entgegen – und im kommenden zieht die Firma mit ihren rund 200 Mitarbeitern in die „Factory“ in Mitte. Sie wird dort fast zwei Drittel der Räume einnehmen.

Doch diese Räume wird Alexander Ljung wohl nur selten sehen, da er wie auch jetzt die meiste Zeit des Jahres in der Welt unterwegs ist. „Wenn mich Freunde anrufen“, sagt er, „fragen sie meist zuerst, wo ich denn sei.“ Er reise viel, zu anderen Büros und möglichen Kooperationspartnern. „Es ist für mich normaler geworden, in einem Raum plötzlich dem US-Rapper Dr. Dre zu begegnen oder einem Mitglied des britischen Königshauses.“ Wenn seine Eltern ihn dann in der gedruckten Tageszeitung zu Hause in Stockholm sehen, dann ahnen sie, dass ihr Sohn zwar bei einer Firma arbeitet, die vor allem virtuell existiere, die aber offenbar wichtig sei. „Ich kann meinen Eltern nur schwer erklären, dass meine Arbeit eine Viertelmilliarde Menschen erreicht“, sagt Ljung, „aber Sie haben eine Ahnung davon.“

Seine Mutter hat eine „Alexander-App“ aus dem Internet geladen. Es ist nicht Soundcloud, sondern „Foursquare“, eine App, mit der man sehen kann, wer sich gerade wo aufhält. Sie nimmt also in Stockholm immer wieder ihr Mobiltelefon in die Hand, ihr Sohn ist ihr einziger „Freund“ in diesem Netzwerk. Sie schaltet die App ein, um zu sehen, wo er ist. Er wird dann als kleiner Punkt angezeigt und je nachdem, ob in Amerika, Asien oder Europa, sie weiß dann, ob er gerade einen Sonnenauf- oder -untergang erlebt und ob er auf eine Nachricht schnell antworten wird.

Das erzählt er, als wir schon die Brücke vom Paul-Lincke- zum Maybachufer überquert haben. Wir reden über seine Lieblingsserie („Twin Peaks“ und „West Wing“), seine Lieblings-Podcast („The Bugle“ und „99% Invisible“) und in welchen Netzwerken außer Soundcloud er überall vertreten sei: Twitter, Foursquare, Facebook, Instagram. Seit Neuestem nutze er aber vor allem „Path“, eine in Deutschland noch wenig verbreitete mobile Facebook-Alternative, bei der nicht mehr als 150 Freunde erlaubt sind. „Ich bin dort wirklich privater und habe auch auf Facebook einige Freunde gelöscht.“ Er versuche zudem, nicht zu viele Apps auf seinem Telefon zu haben. „Für jede neue App, die ich herunterlade, muss ich erst eine andere löschen.“

Der Internet-Unternehmer, der seine Firma auf Wachstum auslegt, ist selbst also auf dem Entschleunigungs-Pfad. Er trägt fast ausschließlich schwarze Kleidung, weiß wie der „aufrechte Hund“ beim Yoga geht und ist online eben vorsichtig: Bei vielen kostenlosen Applikationen bezahlt der Nutzer schließlich mit privaten Informationen über sich selbst, die außerdem noch von Geheimdiensten mitgelesen werden. Privates ist über ihn nur wenig zu lesen, außer, dass er nach vielen Jahren in Mitte jetzt hier in der Gegend um das Maybachufer wohnt und seit kurzem einmal mehr mit dem Rauchen aufgehört habe. Zu dieser Zurückhaltung passt seine eigene sehr knappe Selbstbeschreibung in seinem Soundcloud-Profil: „Ich bin Alex. Ich mag Sound.“

Es ist einer der wenigen Spaziergänge dieser Serie, in dem kein Café aufgesucht wird, sondern der Spaziergang ohne Pause fast zwei Stunden lang in schnellem Schritt durch Berlin führt. Es ist fast eine Wanderung, vorbei am türkischen Wochenmarkt, an einer Straßensperrung und Männern, die Boccia spielen – alles Dinge, die keine Karte im Mobiltelefon anzeigen kann, wenn man als Punkt auf der Landkarte daran vorbeiläuft.

Am Ende des Spaziergangs erzählt er dann doch noch etwas von sich und der Gefahr, dass dieser Erfolg und all der Zuspruch von Millionen Menschen auch eine Gefahr darstellt. Zum Beispiel für die Freundschaft. „Das war nicht immer leicht“, sagt Alexander Ljung und meint seine Freundschaft zu Eric Wahlforss, dem anderen Chef der Firma. Sie fordern einander heraus, sagt er, und sind beide sehr obsessiv in ihrer Arbeit. Immer gibt es Geschichten in der Startup-Welt, wie Freunde eine Firma gründen und einander über Details zerfleischen. „Wir aber haben eher als Co-Unternehmer begonnen“, sagt er, „und sind jetzt wirklich zu engen Freunden geworden.“

Gerade erst haben sie gemeinsam ihren Geburtstag gefeiert und irgendwie auch die fünf Jahre Soundcloud. Sie waren in Brooklyn, sie waren vorher gut essen, sie gingen in eine große Fabrikhalle, steckten die Mobiltelefone weg, es lief laut Musik und die Wolken am Himmel waren einfach nur: Wolken.

Tim Fischer, Porträt

Tim Fischer kann nicht ganz verstehen, wie das jemand nicht verstehen kann: „Das ist doch relativ normal, dass man sich irgendwann mal trennt“, sagt er schnell und winkt mit der Hand ab. „Dinge enden! Das ist furchtbar und gut gleichzeitig. Manche Sachen dauern auch viel zu lang und man denkt dann: ‚Ach, hätte ich den Schnitt doch nur wesentlich früher gemacht.‘ Musste es erst soweit kommen?“

Soviel ist nach dem Spaziergang klar: Tim Fischer ist auch nach 25 Jahren auf der Bühne noch bereit, ganz von vorn zu beginnen, mit Musik, mit Menschen und dem Leben.

Solche Sätze kommen Tim Fischer jedenfalls leicht über die Lippen, sie wirken nicht altklug oder belehrend, sie wirken wie Tatsachen, die er einfach selbst überprüft hat. Steine fallen wirklich nach unten, Herdplatten können echt heiß sein, und ja, Dinge enden eben.

In seinem Fall war es die Freundschaft zu einer Frau, die auch seine Kollegin war. Er hat neun Jahre mit Helga zusammengelebt, sie hat ihn unterstützt, wo es ging. Aber gerade weiß Tim Fischer nicht, wie es Helga eigentlich geht.

Doch bevor wir auf alte Freunde zu sprechen kommen, treffen wir uns vor dem KaDeWe, inmitten von britischen Touristen, die schon um zwei Uhr nachmittags ihr erstes oder zweites Bier in der Hand halten und für eine Currywurst anstehen. Als Tim Fischer über den Wittenbergplatz läuft, schauen sie ihm aus ihren glasigen Augen hinterher, nicht weil er so extravagant gekleidet ist, er trägt eine schwarze Lederjacke und eine etwas glänzende Jeans. Nein, sie schauen ihm sicher hinterher, weil er so eine ansteckende Frische ausstrahlt, gerade an grauen Tagen wie diesen fällt das auf. Seine Augen sind sehr offene Augen, sein Lächeln ist ein sehr breites Lächeln, und es passt, dass er gleich nach seiner Ankunft („Hallo, ich bin Tim Fischer!“) mit einem Drama das Gespräch eröffnet. Keines, das von Trennung erzählt, aber eines, das beinahe unser Zusammentreffen verhindert hätte. Er führt es als kleines Theaterstück auf.

Ort: Taxi, Zeit: vor zehn Minuten.

– Tim so: „Danke, dass Sie gehalten haben! Einmal zum KaDeWe bitte.“

– Taxifahrer so: „Da fahre ich aber nicht lang, ich muss in eine andere Richtung.“

– Tim so: „Aber… aber… ich bezahle… Sie doch… damit Sie…“

– Taxifahrer so: „Nee, tut mir leid, ich muss woanders hin.“

– Tim ab.

Gerade, wer ihn einmal auf der Bühne gesehen hat, kann sich vorstellen, welche Mimik er dazu gemacht hat: Augen zur Decke, Mundwinkel nach unten und ein sehr schmales Gesicht. Der 40 Jahre alte Tim Fischer feiert sein 25. Bühnenjubiläum. Er ist also mit 15 Jahren in eine Welt hineingekommen, die er selbst als „Schlangengrube“ bezeichnet hat.

Er ist in Bars aufgetreten, hat sich als „Schwuchtel“ beschimpfen lassen, vor wenig Publikum gespielt und dann vor einem tosenden Applaus, in Europa, den USA.

Er hat Preise gewonnen, wurde als „Wunderknabe“ bezeichnet, wird das manchmal immer noch, hat Lieder von Zarah Leander, Georg Kreisler und Udo Lindenberg gesungen, mit letzteren beiden auch oft zusammengearbeitet. In dieser Woche standen sie zusammen mit Thomas Keller auf der Bühne im „Tipi im Kanzleramt“ – mit dem neuen Chanson-Programm „Geliebte Lieder“.

Schicksalssinfonie im Ohr

Doch bevor wir über „Geliebte“ und „Lieder“ reden, erklärt Tim Fischer, er würde gern zum Berliner Stand im sechsten Stock des KaDeWe. Dort sei für ihn Berlin ganz bei sich. Auf dem Weg dorthin sagt er wie nebenbei: „Bitte immer rechts von mir gehen, ich bin Hörgeräteträger.“ Und wirklich, ihm ragt ein kleines Kabel aus dem Ohr, man sieht es kaum. Er sagt, es sei sehr gut eingestellt, und die Bedienung kinderleicht. Wenn nach rund einer Woche die Batterie fast leer sei, dann spiele das Gerät leise die 5. Sinfonie von Beethoven: „Tatata-daaa, Tatata-daaa“. Ausgerechnet die Schicksalssinfonie.

Wir setzen uns an die Theke am „Berliner Stand“, und weil wir keine glasigen Augen wie britische Touristen haben wollen, bestellen wir bei der freundlichen Frau kein Bier, sondern zwei Apfelschorle – und ein Steak Tatar. Dann wendet er mir wieder sein rechtes Ohr zu. Nein, er winkt zum ersten Mal ab an diesem Nachmittag, das mit dem Hörgerät sei kein Problem. „Ich habe vor zehn Jahren in Oldenburg im Club Alhambra vor einer Box gestanden und hatte wohl einen Hörsturz“, sagt er, „aber gemerkt habe ich das alles erst nicht so richtig.“ Erst Jahre später meinte ein Arzt bei einem Test, Tim Fischer hätte das Gehör eines 70-Jährigen. Es sei nicht so, dass es eindeutig mit der Lautstärke zu tun habe. „Es fehlen Höhen, die müssen ausgeglichen werden.“

Ein erstes Zeichen dafür, dass die 25 Bühnenjahre auch nicht ganz spurlos an Tim Fischer vorübergegangen sind, auch wenn er jahrelang als „Dorian Gray“ der Sänger bezeichnet wurde, weil sein Gesicht so alterslos war. Er sagt, er hatte mit 20 seinen ersten Entzug von Alkohol. „Ich habe in meinem Leben so viel gesoffen“, sagt er, „das reicht noch für eine ganze Weile.“ Es habe eine Zeit gegeben, da sei er nie nüchtern auf die Bühne gegangen. Manchmal habe er dann Lieder plötzlich doppelt gesungen oder Fehler eingebaut. „Aber die meisten Zuhörer denken doch dann, das müsse so sein.“ Abwinken, weitermachen. Er habe eingeworfen, was ihm angeboten wurde. „Meine Vorbilder waren Zarah Leander und Janis Joplin.“

Heroin? „Nie.“

Ketamin? „Was ist das?“

Und jetzt Sport? „Nee, ich gehe spazieren heute, das ist doch schon etwas.“

Als das rote rohe Fleisch kommt, ist es das klassischste „Tatar“, das man sich vorstellen kann. Das Gericht soll ja von Tataren in der Türkei erfunden worden sein: Das Reitervolk kam auf die Idee, ein Rindersteak während der Reise unter den Sattel zu legen, so dass es auf diese Art ganz weich wurde. Dieses fein zerkleinerte Hack haben die Tataren dann nach einem langen Ritt unter dem Sattel hervorgeholt – und im sechsten Stock des KaDeWe mit Gurke, Zwiebel, Kapern, Ei, Salz und Pfeffer vermengt. So blutiges und rohes Essen ist wahrscheinlich nicht das Gesündeste, was man seinem Körper antun kann, aber Tim Fischer sagt, er achte sonst schon genug auf seine Ernährung.

Seit März kein Alkohol, seit Juli keine Zigaretten

Das heißt: Eigentlich sein Mann, Rolando Jiménez Domínguez, mit dem er seit fünf Jahren in einer eingetragenen Partnerschaft zusammenlebt. Das Fest war trotzdem wie eine richtige Hochzeit, mit Freunden und Blumen und ganz viel Musik. „Rolando macht mir morgens manchmal so einen Haferflockenbrei“, sagt Tim Fischer, der mit richtigem Namen inzwischen Tim Jiménez Domínguez heißt. „Diese eingeweichte Pampe schmeckt mir inzwischen richtig gut und soll gesund sein.“ Er habe nach der Zeit, in der er alles angeworfen habe, was ihm jemand gereicht habe, eben mehr auf sich achten müssen. Seit März kein Alkohol, seit Juli keine Zigaretten. „Das Leben ist eben nicht nur lustig.“

Das ist wieder so ein Satz, der auch irgendwie gut an die Theke hier in den 6.Stock des KaDeWe passt. Das richtig alte Berlin, mit dem Tim Fischer viel anfangen kann, nicht nur, weil er über die Hälfte seines Lebens in diesem Teil der Stadt gewohnt und gesungen hat. Mit 18 Jahren zog er in die Stadt, nachdem er in seiner Heimat Hude die Waldorf-Schule geschmissen, in Hamburg auf der Reeperbahn erst als Stricher und dann als Sänger mit Stricher-Liedern („Die Rinnsteinprinzessin“) sich einen Namen machte. Über diese Zeit will er aber nicht mehr so viel sprechen.

Auch, dass er leicht humpelt, findet er nicht weiter erwähnenswert. „Ja, das kann sein“, sagt er nur knapp. Viel lieber erzählt er über die Narbe am Hals: „Das ist die Erinnerung an meine erste Fahrt mit meinem neuen Rennrad als Kind“, sagt er. „Da bin ich zu schnell gefahren und gegen eine Mauer gefahren, seitlich runtergefallen und in eine kaputte Bierflasche gefallen.“ Aber so wie er das erzählt, verliert auch das irgendwie an Drama. Abwinken, so schlimm war das alles gar nicht. Es geht ja weiter, es ist immer weiter gegangen. Und wenn nicht: „Es gibt für alle Situationen im Leben ein Lied von Georg Kreisler.“ Irgendwie auch beruhigend.

Der Österreicher war eine Inspirationsquelle für Tim Fischer. Böse Lieder über Rentner, die absichtlich Tauben vergiften oder ihre Ehepartner erschlagen bis hin zu „Spielen wir Unfall im Kernkraftreaktor“. Bei den den größten Katastrophen gibt es immer auch etwas zu lachen. Und wer einmal Tim Fischer beim Interpretieren eines seiner Lieder gesehen hat, versteht, dass er genau der richtige Resonanzkörper dafür ist. Doch in den vergangenen Jahren kamen viele Lieder hinzu, die ihn nun begleiten, manche, wie er sagt, sind „lebenslänglich“ dabei: Hildegard Knef, Tom Waits, Rainald Grebe und seit neuestem Peter Plate, sozusagen einem Experten für das Beenden von Dingen: Plate hat nach 23Jahren seine Co-Sängerin AnNa R. und damit die erfolgreiche Band „Rosenstolz“ verlassen.

Getrennt und doch zusammen

Als wir über den Kudamm laufen, vorbei an 125 Jahre alten Bierkneipen („Biersalon“), fast 200 Jahre alten Cafés („Kranzler“) und noch viel älteren Gewerben (Hütchenspielern) sagt Tim Fischer, dass er genug habe von diesen alten Schallplattenhelden, die ihn jahrelang begleitet haben. „Ich fühle mich moderner“, sagt er, „Ich lebe nicht in der Vergangenheit und habe keine musealen Ambitionen.“ Er wolle vielmehr noch einmal wirklich etwas Neues machen. Deshalb hat er in den vergangenen Jahren auch Fernsehrollen angenommen oder in den Kinofilmen „Herr Lehmann“ und „Mein Führer“ mitgespielt. Und deshalb jetzt auch die neuen Lieder mit Peter-Plate-Texten.

Er hat auch den Text zur aktuellen Single von Tim Fischer geschrieben. Sie handelt davon, dass jemand eine Trennung durchlebt hat, so langsam wieder auf die Beine kommt. Ein altes Thema für Tim Fischer, schon sein erstes Album hieß „Wenn die Liebe ausgeht“. Im Jahr 2013 singt er: „Kaffee ersetz ich durch Tee / Vielen Dank, bin ok. / Doch schöner war’s mit dir / Und schlauer bin ich meistens hinterher“.

Trennungen hat er auch schon einige erlebt, zuletzt eben die von seiner Managerin Helga. Schlimm waren für ihn die Todestage von Georg Kreisler und Ludwig Hirsch, die beide im Abstand von zwei Tagen im November 2011 starben. Doch wie Dinge fortleben können, kann man bei ihm auf der Bühne sehen. Mit dem Klavierspieler Rainer Bielfeldt war er vor über 20 Jahren ein Paar und jetzt singen sie noch immer gemeinsam giftige Liebeslieder.

Liebe zu alten Liedern

Als wir das Hotel Bristol Kempinski Berlin erreichen, wieder so ein Ort, der älter als 120 Jahre ist, den Theodor Fontane schon beschrieben hat und indem noch heute Star-Charme versprüht wird, da wird klar, dass alle Dinge, die enden, auch etwas hinterlassen: angefangen bei diesem Spaziergang, über die Beziehungen zu anderen Menschen, zu Zigaretten und Alkohol, genau wie die Liebe zu alten Liedern. Nur wenn die Batterien im Hörgerät wieder einmal die Schicksalssinfonie spielen („Tatata-daaa“), dann werden sie ausgewechselt. Und weiter geht’s. Es ist wohl so: Wer nicht mit Dingen anfängt, der weiß gar nicht, wie das ist, wenn sie enden.

Bevor er sich verabschiedet, soll Tim Fischer noch etwas singen. Er kann sich aussuchen, was. Aus seinem schmalen Gesicht funkeln Augen bühnenreif genervt zur Decke, Mundwinkel sind unten. Seit 25 Jahren einer seiner Markenzeichen-Blicke. Dann reißt er die Augen auf, lächelt wieder und singt mit der warmen Stimme, die am Sonntagabend vielleicht zum letzten Mal jemanden zum Weinen bringt. Er singt fünf Georg-Kreisler-Zeilen, die man immer singen kann, wenn irgendwo geschwiegen wird, obwohl Dinge ausgesprochen werden sollten:

„Warum sind die Leute so feige / und befreien sich nicht aus der Not / es sterben die blühenden Zweige / und das Leben geht immer zur Neige / doch sie schweigen sich durch bis zum Tod.“

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 13.10.2013

Egon Bahr, Porträt

Ungeheuer! Fabelhaft! Toll! Unglaublich! Gewaltig! Faszinierend! Oder auch: schrecklich!

Das sind die Wörter, die Egon Bahr oft benutzen wird auf unserem Spaziergang durch das Berlin seiner Vergangenheit. Dieser Mann ist mit seinen 90 Jahren noch immer sehr begeisterungsfähig, für die Dinge, die in der Stadt, in Deutschland und eigentlich in der ganzen Welt passieren.

Wenn er diese großen Wörter ausspricht, dann meist gedehnt, etwa so: “Uuuungeheuer.” Sie zeigen, wie präsent ihm die Vergangenheit noch ist, als ob er nur zur Seite in den Rückspiegel eines Autos blicken müsste. An US-amerikanischen Rückspiegeln ist immer eine Warnung aufgedruckt: “Objekte, die Sie im Rückspiegel sehen, können näher erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind.”

Wie nah Egon Bahr diese Geschichten aus der Vergangenheit wirklich noch sind, wird schon nach den ersten drei Minuten in seinem Büro deutlich, als er begründet, warum er auf diesem Spaziergang nicht viel laufen werde. Er sagt: “Ich bin Anfang 1942 zur Wehrmacht eingezogen worden, zu den sogenannten Stoppelhopsern.” Das war die Kompanie, die nach Russland marschieren sollte und mit viel Glück wieder zurück.

Er aber meldete sich freiwillig zur Luftwaffe. “Diese Neigung, nicht zu laufen, war damals schon da und hat sich gehalten, auch wenn ich es sehr bedaure.” Er fühle sich behindert, aber nicht begrenzt. Dieser Unterschied ist ihm wichtig. Dabei sei ihm heute klar, was Laufen sei: “Kosssstbar.”

Zum Spaziergang liegt deswegen eine Berliner Straßenkarte auf dem Tisch. Bahrs Reiseproviant daneben: ein Glas Wasser und eine Marlboro-Packung mit drei Zigaretten. Er ist neben Altkanzler Helmut Schmidt einer der wenigen, die hier in der Berliner SPD-Parteizentrale rauchen dürfen.

Das riecht man sofort, wenn man das Zimmer betritt. Es wird ein gemütlicher Spaziergang werden. Egon Bahr setzt sich seine “richtige Brille” auf, die, mit der er Dinge erkennen kann, die ganz nah bei ihm sind.

Wir beginnen in dem Haus, das nach dem Mann benannt ist, der über viele Jahre Egon Bahrs Partner in der Politik und guter Freund war: Willy Brandt. Er, der Bürgermeister, Bahr sein Sprecher, Brandt der Kanzler, Bahr sein Staatssekretär, er, der zurücktritt, Bahr, der vor laufender Kamera weint. Unter Brandt hat Bahr die Ostverträge ausgearbeitet, hat mit dem Passierscheinabkommen die Besuche zwischen Ost- und Westdeutschland möglich gemacht, hat das berühmte Schlagwort “Wandel durch Annäherung” geprägt.

Nach Egon Bahr ist bisher kein Haus benannt worden, wohl aber eine Straße in Treffurt in Thüringen. Dort wurde er 1922 geboren, bei der Einweihung war er dabei. Doch wenn er darauf zurückschaut, sagt er kein großes, gedehntes Wort, sondern einfach: “Ja, man freut sich.”

Egon Bahr nimmt die Straßenkarte zur Hand. “Augenblick”, sagt er. Die erste Station der kleinen Karten-Reise soll seine Schule sein. Er sucht sie. “Wir sind ja nicht in Eile.” Er zündet sich eine Zigarette an und: “Hier, am Perelsplatz, da war es.” Er meint das Friedenauer Gymnasium, heute heißt es Friedrich-Bergius-Oberschule. Er verknüpfe viele gute Erinnerungen mit diesem Ort.

Er habe hier Peter Bender kennengelernt, mit dem ihn eine “ungebrochene Freundschaft” verband. “Weder Peter noch ich waren in der Hitlerjugend”, sagt er, “und deshalb mussten wir am Sonnabend nachsitzen, während die anderen beim Wehrdienst waren.”

Wieder blitzt er auf, dieser Krieg. Ja, er träume noch davon, am meisten vom Silvesternachmittag 1943: Er hatte den Auftrag, Post von einem Flugfeld zu holen, als plötzlich eine feindliche Maschine auf ihn zuflog und schoss. “Ich habe mich auf den Boden geworfen und gemerkt, wie beruhigend ein kleines Grashügelchen sein kann.” Er schaute auf. “Das Ferkel kam noch einmal zurück.” Er sagt, er habe das als eine Gemeinheit empfunden, an Silvester Jagd auf einen Soldaten zu machen. Das war: “Uuuungeheuer.”

Bahr will weiterlaufen. Er nimmt wieder die Karte in die Hand, rückt die Nahsehbrille zurecht und sucht einen Ort in Weißensee. Rennbahnstraße 113, dort wohnte er in der Zeit, als er zur Schule ging. Drei Zimmer, die Straßenbahn fuhr nicht weit davon, hier hat er Brötchen geholt, von hier ist er in den Krieg gezogen. Und er hat noch Jahre später von dieser Ortskenntnis profitieren können.

Als er nach dem Mauerfall wöchentlich drei Tage in Straußberg bei dem Abrüstungsminister Rainer Eppelmann saß, konnte er dem ostdeutschen Fahrer, der ihn zum Flughafen Tegel bringen sollte, Schleichwege in Weißensee zeigen, die der nicht kannte.

Von Weißensee aus führt Bahr seinen Finger in Richtung Ostseestraße, die zur Wisbyer, dann Bornholmer, Osloer und schließlich Seestraße wird. Dann beschreibt er den 20. April 1945, der Krieg war noch nicht zu Ende, und es war Hitlers Geburtstag. An diesem Tag also zog er mit seiner Mutter und vielen Kartons und Taschen in eine neue Wohnung.

“Ich weiß noch, wie hinter uns die russischen Granaten in die Stadt flogen.” Mit Fahrrädern liefen sie bis zur Ecke Seestraße/Müllerstraße. “Da plötzlich wackelte eine Straßenbahn, Linie 28, vor uns in Richtung Tegelort – gewalllltig!” Seine Mutter und er stiegen ein und fuhren in das Haus in Tegelort von Dorothea Grob, seiner späteren Frau.

Sie war damals schwanger, und er spricht heute noch von Glück, dass die Sowjets sie nicht vergewaltigten. Sie kamen bewaffnet in den Luftschutzkeller in der Wohnung. Alle hatten Angst, Bahr auch, aber er stellt sich vor seine Frau. Sie blieb verschont, die Russen nahmen andere. “Keine schöne Erinnerung, nein.” Er schaut zur Seite, als könne das dieses Bild im Rückspiegel vertreiben.

Bahr war bis zu ihrem Tod mit Dorothea verheiratet, trennte sich in den 70er-Jahren, ließ sich nie von ihr scheiden. Vor einem Jahr starb sie. Für die Beerdigung hatte sie sich bestellt: “What a Wonderful World” von Louis Armstrong. “Ein tolles Lied”, sagt er. Für ihn war dieses Lied ein Zeichen, dass sie im Frieden aus der Welt schied. Bei seinem letzten Treffen hat sie ihm das Ende angedeutet. Sie hatte beim Abschied ein Wort benutzt, dass sie noch nie gesagt hatte … Er will das Wort aber nicht gedruckt sehen.

Für einen Moment ist es still im Büro. Wie weiter, wenn der Tod im Raum steht? Bahr winkt mit Zigarette in der Hand ab: Er habe ein entspanntes Verhältnis zum Tod. Dem entkomme sowieso niemand. “Die Vorstellung, schmerzlos zu sterben, das ist ein Ziel, das ich noch erreichen will”, sagt er.

Aber richtig, die Einschläge seien näher gekommen. Willy Brandt vor 20 Jahren, Peter Bender vor vier Jahren. Doch es sei schön, wenn noch Post komme, wie neulich vom Klassenkameraden, der jetzt auch 90 Jahre alt sei, wie er.

Egon Bahr nimmt die Karte wieder zur Hand: Schulenburgring 5, gleich beim Flughafen Tempelhof. Dort hat er später gelebt, während der Luftbrücke. Auch die ist ihm: ganz nah. “Ich hörte natürlich ständig die Flugzeuge.” Ein “unglaaaublich” angenehmes Geräusch sei das gewesen. “Wenn plötzlich Stille war, wachte man auf und fragte sich, was ist los, funktioniert die Luftbrücke nicht mehr?”

Vielleicht sind es Erlebnisse wie diese, die für ihn den Wandel durch Annäherung so unbedingt nötig machten. Dieses Gefühl, dass Berlin nicht für immer geteilt sein darf. Noch heute erreichen ihn Anfragen von Doktoranden dazu. “Immer mehr sind auch Anfragen aus dem Ausland dabei”, sagt er. Zum Beispiel aus Südkorea, deren Verhältnis zum Nachbarn Nordkorea noch immer sehr gespannt ist. Zuletzt war er im Jahr 2005 dort. Man kennt seinen Namen in Südkorea. Dessen früherer Präsident, Kim Dae-jung, wurde wegen seiner Politik der “Egon Bahr Südkoreas” genannt.

Doch wir sind in Berlin, und der nächste Schritt auf Bahrs Reiseroute ist der S-Bahnhof Köpenick. Dort hat er am eigenen Leib erfahren, was das Passierscheinabkommen im Jahr 1963 bewirkt hat. 700.000 West-Berliner sind damals nach Ost-Berlin gereist. Egon Bahr war einer von ihnen, besuchte seine Tante Valerie, die er nur Tante Wally nannte.

“Sie lebte in einem Haus, das eher eine Laube war.” Er sucht auf der Karte die Gegend um den S-Bahnhof ab und findet nur Straßen mit sehr seltsamen Namen: Dornröschenstraße, Rotkäppchenstraße, Frau-Holle-Straße. “Die haben sicher anders geheißen, aber da in der Gegend war es.” Es habe Gans gegeben. “Faaaabelhaft” habe die geschmeckt.

Er nimmt die Karte noch einmal in die Hand und schaut einfach so darauf, raucht, verschafft sich einen Überblick über Berlin. Er sagt: “Wissen Sie, es gibt für mich so viele Orte hier, die eine Bedeutung haben.” Er kenne die Stadt ja noch aus der Vorkriegszeit.

Auch den Potsdamer Platz. Heute sei dieser Platz für ihn “ein Stück vollzogener Einheit, angenommen von den Menschen”. Imposant sei es dort, aber von Schönheit könne keine Rede sein. Berlin sei nie eine wirklich schöne Stadt gewesen. “Aber sie war immer: fassssszinierend!”

Egon Bahr und Berlin sind eben miteinander verbunden. Er hat den Mauerbau und den Mauerfall miterlebt. Diesen Tag wird er nicht vergessen, auch, weil es für ihn mit einem seiner wichtigsten Wirkungsstätten in Berlin verknüpft ist: dem Schöneberger Rathaus, wo Willy Brandt von 1957 bis 1966 Bürgermeister war, wo Egon Bahr 1960 sein Sprecher wurde. Seine letzte große Erinnerung an dieses Haus geht auf den 10. November 1989 zurück.

Er habe im Zimmer von Walter Momper gestanden, dem damaligen Regierenden Bürgermeister, während unten die Kundgebung stattfand. Brandt hielt eine Rede: “Jetzt wächst zusammen …”. Die Stimmung im Zimmer war einig: “Jetzt müsse man sehr aufpassen, dass das nicht außer Kontrolle gerät.”

Dann hörte Egon Bahr, mit welcher Selbstverständlichkeit “dieser Momper” plötzlich darüber sprach, dass er mit seinem Kollegen aus Ostberlin neue Übergänge vereinbart hatte. “Toll!”, sei das gewesen und auch: “Unglauuublich!” Er habe so lange kämpfen müssen, um einen oder zwei zu kriegen! Für ihn war das ein Symbol für diese völlig neue Situation. Für das Zusammenwachsen. “Dabei sind wir übrigens immer noch.”

Er spricht dann davon, dass er die Stasi-Unterlagenbehörde noch immer im Jahr 2019 schließen würde, etwas, das ihm auch Kritik eingebracht habe. Er wird laut: “Niemand kann erwarten, dass ich nun in meinen ausgehenden Jahren taktisch und gegen meine Überzeugung argumentiere!” Dieses Einsetzen für die Versöhnung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit brachte ihn wieder in die Zeitungen, die er, der ehemalige Journalist, noch immer mit Begeisterung liest.

Den aktuellen Streit um die Flughafeneröffnung verfolge er. “Es ist nicht das erste Mal”, sagt er, “dass wir für etwas Großes, Unabweisbares eine lange Zeit brauchen.” Wir, das meint, wir Berliner. Er erinnert an die Stadtautobahn oder das ICC. Er tippt auf die Karte, in die Nähe des Funkturms. “Schreeecklich unpopulär” seien diese Bauprojekte gewesen.

Wir falten die Karte zusammen und gehen dann doch noch einmal vor die Tür. Im Fahrstuhl erzählt er, was ihn gerade noch alles beschäftigt: die Wahlen in Mexiko, die “Occupy”-Bewegung in den USA, die Jugend in Russland, das nervöse Handeln von China im Fall von Ai Weiwei. Und dann der Cyberwar. Das Internet ermögliche eine “unkontrollierbare Grenzenlosigkeit”. Er sei gespannt, wie die Politik damit umgehen werde. Denn wie solle man Grenzenloses kontrollieren? Auf dem Tisch hätte genauso gut eine Weltkarte liegen können.

Im Foyer laufen wir vorbei an der großen Statue von Willy Brandt. Bahr sagt: “So verlottert ist der doch niemals rumgelaufen, aber man gewöhnt sich daran.” Draußen am Büroeingang werden Postkarten mit Fotos von Willy Brandt verkauft, keine mit Egon Bahr. Er winkt ab: “Aber es hängt doch nicht an Postkarten!”

Dann steht Egon Bahr auf der Stresemannstraße. Es ist drückend heiß. Er steht an einem Fenster, das von außen verspiegelt ist. Darin sieht er nur: die Gegenwart. Wenn er genau hinschaut, könnte er in der Fensterscheibe auch sehen, dass die Menschen, die an ihm vorbeilaufen, sich nach ihm umdrehen. Manche bleiben stehen. Aber er will jetzt nicht mehr in irgendwelche Spiegel schauen, er hat noch viel zu tun heute.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 14.7.2012

Daniel Hope, Porträt

Wer Daniel Hope trifft, muss wissen, dass er an Karma glaubt, also an jenes 2600 Jahre alte, indische Lebenskonzept, das besagt, dass jede Handlung, jeder Satz und letztlich jeder Gedanke immer eine Folge hat. Diese Konsequenz muss nicht unmittelbar folgen, sondern kann Jahre oder sogar Jahrhunderte später eintreten. Selbst in deutschen Kinderbüchern taucht Karma auf: Wenn ein Held im Märchen einer Ratte das Leben rettet und genau diese Ratte den Helden später vor dem Tod bewahrt.

Daniel Hope ging als Zehnjähriger zum Konzert eines berühmten Musikers. Er fuhr allein durch London, suchte sich im Saal einen Platz und hörte die fantastische Musik. Danach stellte sich er in die Schlange für ein Autogramm. Es waren sehr viele Menschen, sie drängelten – und als Daniel Hope schließlich vor dem Künstler stand und ihm eine Schallplatte zum Signieren reichte, sagte dieser nur genervt: „Ich habe keine Zeit“ und schloss die Tür vor ihm.

Obwohl das alles mehr als 30 Jahre her ist, kann Daniel Hope diese Szene großer Verehrung und Enttäuschung so erzählen, dass die Gefühle noch einmal da sind, hier in Berlin, im Regen, auf der Kantstraße. „Ich sehe es noch vor mir“, sagt er, „ich habe weinend in der U-Bahn gesessen, ich hatte meinen Glauben an ein Vorbild verloren.“ Er hat inzwischen diesen Musiker häufiger getroffen, sein Name spiele hier keine Rolle, aber er sei für viele noch immer ein Weltstar. „Wir haben noch nie zusammen gespielt. Und werden es auch in Zukunft gewiss nicht tun.“

Daniel Hope ist mittlerweile einer der größten Violinisten der Welt. Geboren in Südafrika, in London aufgewachsen, später nach Paris, Wien und Amsterdam gezogen – und dabei immer wieder Alben aufgenommen, bekannte Hits wie Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ oder Mendelssohns Violinkonzerte. Aber er entdeckte auch die zeitgenössischen Werke des Deutsch-Russen Alfred Schnittke. Seit fast 14 Jahren ist er Künstlerischer Leiter des Savannah Music Festivals, seit 2016 außerdem Musikdirektor des Zürcher Kammerorchesters. Erst diesen September wurde er noch beim Kammerorchester in San Francisco beschäftigt – und ist gerade auch zum Künstlerischen Leiter der Dresdner Frauenkirche ernannt worden.

Man kann sagen, der Mann kommt viel rum, und so ist es kein Wunder, dass er erst eine Stunde vor unserem Treffen am „Schwarzen Café“ in Tegel gelandet ist. „Ich hatte einen Auftritt in Genf“, sagt er, dieser Abend sei wieder einer der sehr besonderen Art gewesen. „In der ersten Reihe saß eine Dame in meinem Alter – im Rollstuhl“, sagt der 44-Jährige, „sie war schwerbehindert und machte Geräusche beim Atmen, wie ein lautes Stöhnen. Das Konzert ging also brisant los.“ Nicht alle Gäste konnten die Dame sehen und fühlten sich unwillkürlich von den Geräuschen gestört. „Aber so ist das manchmal: Wir konnten nicht anders als spielen, sie konnte nicht anders als geräuschvoll zuhören – man muss damit umgehen. Auch sie hat, wie jeder andere, ein Recht darauf, Musik zu hören.“