Jochen Busse, Porträt

Jochen Busse hat sich gerade auf den Stromkasten neben die Straße gesetzt. Es ist ein bisschen eklig, weil der Kasten oben schmutzig ist und klebt, aber da will er jetzt durch. „Alles kein Problem.“ Auf dem Bild werden viele verschiedene Blautöne zu sehen sein: der Himmel, die leichten Stoffschuhe, die hellen Jeans, das luftige karierte Hemd. Alles macht gute Laune. Hinter ihm hupt ein Auto, damit der Wagen davor in der Schlange an der Ampel („Grün! Mann!“) weiterfährt. Jochen Busse merkt nicht, dass er auf diesem Stromkasten zum Verkehrshindernis wird.

Bis vor Kurzem sah man sein Gesicht in Berlin überall auf Plakaten. Er spielte im Theater am Kurfürstendamm den US-Präsidenten. Das Stück hieß „November“, und es ging um den Kampf um die Wiederwahl ins Weiße Haus und was das mit dem Leben eines Truthahns zu tun hat. Busse war also jeden Tag für zwei Stunden der mächtigste Mann der Welt. Aber jetzt genau in diesem Moment, auf dem Stromkasten, kurz bevor die Fotos gemacht werden, antwortet dieser Mann auf zwei eher unangenehme Fragen:

Wäre Ihr Vater stolz auf Sie gewesen?

„Nein, mein Vater fand, dieser Beruf sei kein Beruf. Des is’ ja alles nischt.“

Hat er Sie je im Fernsehen gesehen?

„Ja, da lag er schon krank im Bett. Meine Mutter hat ihm gesagt, dass ich im Fernsehen sei, als ein Mörder. Da hat er bitterlich geweint.“

Jochen Busse hat sich über eine Stunde warmgeredet, bis er zum Stromkasten kommt. Dabei erwartet man bei einem Spaziergang mit ihm eher leichte Themen. Schließlich ist er ein Komiker, hat mit Rudi Carrell in Sketchen gespielt, mit Dieter Hildebrandt bei der Münchner Lach- und Schießgesellschaft die 70er-, 80er- und 90er-Jahre kabarettistisch begleitet.

Er ist der Mann, der mit Mike Krüger bei „7 Tage, 7 Köpfe“ die acht Jahre Kanzlerschaft von Gerhard Schröder kommentierte. Rund sechs Millionen Menschen fanden das damals unterhaltsam, jede Woche. Er spielte in Filmen nicht nur Verbrecher, sondern auch Kommissare und Außerirdische. Noch heute ist er häufig in Talkshows eingeladen. Meist ist er dann der unterhaltsamste Gast in der Runde, hat zu allem eine Meinung: NSA-Affäre, Merkel oder chinesische Dissidenten.

Doch zu Beginn des Spaziergangs am Branitzer Platz will er von der Zeit bei „7 Tage“ erzählen, die Show, die ihn am bekanntesten machte. „Natürlich habe ich ,7 Tage‘ viel zu verdanken“, sagt er. „Aber es war auch hart, weil meine Aufgabe doch eher das Anklingeln der Straßenbahnhaltestelle war.“ Er meint, dass er meist nur das Thema einer Gesprächsrunde ankündigte und damit die Grundlage für die Pointen der anderen sechs Komiker schuf. Aus dieser Rolle kam er bis zur letzten Sendung 2005 nicht heraus. Dabei hatte er so hoch gesteckte Ziele: „Ich wollte immer die ultimative Komik erreichen, auch wenn das eigentlich unmöglich ist.“ Vielleicht arbeitet er deshalb noch mit 72 Jahren an diesem Ziel, das so viel abverlangt – unter anderem dieses Herumlaufen mit fremden Menschen durch eine vertraute Gegend.

Er sagt, er sei seiner Frau Constanze zuliebe nach Westend gezogen und fühle sich hier wohl. Er kenne hier inzwischen die Nachbarn, die Frau vom Bio-Supermarkt und weiß noch, wo Karl Dall gewohnt hat. „Ein schönes Haus, da laufen wir später vorbei!“ Er wird hier häufig erkannt: von Bauarbeitern, die gerade eine Pause machen, oder einer jungen Johanniter-Schwester, die ihn auf der Straße anspricht: „Herr Busse, ich habe gehört, Sie wollen bei uns lesen!“ Offenbar hat er sich zum Lesen im Seniorenheim angemeldet. Er macht mit ihr einen Termin aus, plaudert noch über seinen Hund und läuft dann weiter.

„Ich lese ohnehin viel laut“, sagt er dann. Den „Zauberberg“ von Thomas Mann zum Beispiel habe er sich selbst laut vorgelesen. Und seine Frau will gerade, dass er jeden Morgen den Söhnen etwas vorliest. Das ist jetzt Teil des Morgenrituals, wie der Yoga-Kopfstand, den er seit mehr als 20 Jahren täglich macht. „Das kann eine Stunde Schlaf ersetzen und mich für den ganzen Tag fit machen.“

Plötzlich stehen wir vor dem Haus, das erst vor wenigen Wochen häufig in der Zeitung zu sehen war. „Mord im Westend“ war die Schlagzeile auf den Titelseiten. In diesem grünen Haus in der Leistikowstraße wurde ein Steuerberater ermordet. Direkt neben Büros von Rechtsanwälten, Zahnärzten und Familientherapeuten. Die Polizei untersucht derzeit noch die Schmauchspuren der Waffe. Gerüchte sagten erst, dass die Familie „ganz normal“ gewesen sei, aber Tag für Tag änderte sich das. Plötzlich war über Neid, Ehebetrug, Gier und Hass zu lesen. Eine Frau kommt heraus, mit einer Mülltüte. Sie schaut misstrauisch. Busse sagt: „Was die mitgemacht haben müssen in den letzten Tagen …“ Noch einmal zwei Fragen, zwei Antworten:

Hat Ihr Vater Sie geschlagen?

„Ja, natürlich. Das habe ich ihm auch nie vergessen. Das ist demütigend, und dass diese Person, die du am stärksten liebst, das an dir ausführt, das geht letztlich nicht.“

Jetzt haben Sie selbst Kinder …

„Ja, ich kann das mit dem Handausrutschen schon nachvollziehen, aber ich mache das nicht. Die Schmerzen sind schlimm genug, aber ich weiß: So etwas, das verzeiht man nicht. Ich dachte damals, der kann dich umbringen.“

Düstere Geschichten überraschen Jochen Busse in der Gegend nicht. Erst neulich musste er bei einem Spaziergang seinen zehnjährigen Söhnen erklären, warum eines der Häuser in der Nachbarschaft Polizeischutz mit Maschinengewehr hat. Es ist eine andere Krimi-Geschichte, die von Morddrohungen gegen den Sohn eines Architekten handelt. Außerdem sei diese Gegend ja so aufgeladen mit Geschichte. Er sei deshalb extra in einen Neubau gezogen, weil er nicht in einem Haus mit schlimmer Geschichte wohnen wolle. „Ich sehe hier überall die Stolpersteine, die von Ermordeten der Nazis erzählen.“

Wir gelangen zur Reichsstraße, die seit mehr als 100 Jahren so heißt. Hier ist Jochen Busses Lieblingsitaliener, in dem er abends gern mit Freunden sitzt, hier ist sein Lieblingscafé, wo er so gern Waldbeertörtchen isst, dass die Bedienung ihm lieber etwas anderes anbieten möchte. Er sagt aber, wenn er sich einmal „eingegessen habe“, dann bleibe er dabei. Hier spricht er dann ausführlicher von seinen frühen Jahren, als er als junger Mann zum ersten Mal in diese Gegend kam, als noch keine Stolpersteine in den Straßenpflastern lagen.

Zusammen mit Theaterkollegen hat er hier in Berlin den ersten Jahrestag des Mauerbaus erlebt, den 13. August 1962. Da habe es eine Demonstration gegeben im Westen. „Die Mauer hat uns auch ganz praktisch betroffen“, sagt er, „weil doch viele Zuschauer aus dem Osten ins Ku’damm-Theater gekommen sind.“ Hier am Theater hat er auch viele Geschichten von jüdischen Kollegen über ihre Vertreibung oder das Exil gehört. „Einer meiner Kollegen, den ich nicht einmal mochte, hat vier Jahre in einer Kiste gelebt.“ Belgier hatten ihn so vor den Nazis versteckt. Erfolgreich. Aber: „Sein Körper war so verkrümmt, dass er nach dem Krieg neu laufen lernen musste.“

Er schaut lange vor sich hin, schüttelt den Kopf.

Dann erzählt er schließlich von seinem Vater, gegen dessen Meinung er letztlich zur Bühne ging. Er habe so einen Kasernenton gehabt, sagt er über ihn, das habe ihm immer Angst gemacht. „Ich kam immer besser mit den Freunden meines Vaters klar.“ Einer von diesen Freunden habe in Berlin gelebt und sich eine Aufführung von Busse angeschaut. „Als der mir danach sagte, er fand es gut, war das ein größerer Ritterschlag als jede Zeitungsrezension.“

Für den Vater war das ja: „nischt“. Das sagt er hier auf dem Stromkasten an der Ecke Reichsallee, Kastanienallee. Sein Vater sei eben eine schwierige Person gewesen. Als Fabrikant habe er auch nach dem Krieg noch sein Parteiabzeichen benutzt. Das war noch hilfreich für die Kundenakquise. Busse habe sich häufig mit ihm gestritten, vor allem über politische Themen. „Er sagte immer, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, dass Hitler den Krieg verloren habe.“ In solchen Diskussionen fiel der Vater dann auch manchmal ins Berlinerische. „Die Sache mit den Juden“, äfft er seinen Vater nach, „da hadda eb’n Quatsch jemacht.“

Er sagt auch, dass er nicht will, dass Wahlplakate im Hintergrund zu sehen sind. „Das lesen doch die Leute dann nicht.“ Er hat sich traditionell immer als Linker bezeichnet. „Die Wahl ist doch ohnehin schon entschieden.“ Interessant wäre noch, ob Angela Merkel vielleicht in diesem Jahr allein regieren kann. Dann müsse einmal eine Partei wirklich ihr Programm umsetzen. Plötzlich wird Busse von zwei Kindern angesprochen. Sie stellen sich artig auf und fragen: „Sind Sie aus dem Fernseher?“

Nachdem er den Kindern erklärt, woher sie ihn kennen, laufen wir langsam zurück in Richtung Branitzer Platz. Er wolle noch das Haus von Karl Dall zeigen. „Das hat er gekauft, als es noch richtig günstig war.“ Es steht an der Kastanienallee, und Jochen Busse war dort auch mehrfach zu Gast. „Im Erdgeschoss hat er gewohnt“, sagt er, „und im obersten Stock seine Tochter.“ Das sei alles so unkompliziert gewesen mit dem Karl. „Man wurde nie eingeladen, man ging einfach vorbei.“ Jetzt wohne Karl Dall in Hamburg, man hört gerade nicht so viel von ihm, und auf dem Dach seines ehemaligen Berliner Hauses weht jetzt die Flagge von Kasachstan.

Er könnte noch weiter erzählen, von dieser Gegend, dass hier auch Lilli Palmer gelebt habe, eine andere Schauspielerin, die immerhin mit dem US-Star Rex Harrison zusammen war. In ihrer Wohnung ist jetzt auch eine deutsche Schauspielerin … „Aber das muss vielleicht nicht jeder wissen.“ Er könnte auch über das deutsche Humorfernsehen erzählen, dessen wichtiger Teil er einmal war. Er verfolgt es noch.

Mario Barth sei nicht so sein Geschmack, Kurt Krömer mache seine Sache doch sehr gut, Oliver Welke in der „Heute-Show“ sei fabelhaft – und dann sei es schade, dass man Harald Schmidt nicht mehr sehe. „Das ist es doch, was es heute fast nicht mehr gibt. Jemanden wie Harald Schmidt, der nur nach seinem Geschmack geht und sich nicht verwässern lässt.“ Jochen Busse war bei Schmidts erster Sendung im Publikum. Die war so unglaublich gut, sagt er. „Und Harald ist der beste Jochen-Busse-Imitator, den es gibt.“ Bei allen anderen würde er immer klingen, als habe er Verdauungsschwierigkeiten.

Am Ende des Spaziergangs kommen wir noch einmal auf den Vater zu sprechen. Aber über Umwege: Busse hat eine Narbe am Kopf. „Die habe ich mir 1951 geholt“, sagt er. Da habe es eine Sprengung im Ort gegeben, und als die Warnsirene losging, stieß er in Panik mit einem Jungen mit dem Kopf zusammen. „Es gibt wohl über der Schläfe eine Stelle, die ganz empfindlich ist.“ Es war sein Vater, der darauf bestand, dass der zehnjährige Jochen ins Krankenhaus muss. Die Ärzte untersuchten ihn und mussten den Schädel öffnen, um ihn zu retten.

Die Beziehung zum Vater ist kompliziert. Busse weiß, dass sie vielleicht nie aufhört, wichtig zu sein, auch wenn er lange tot ist. Die Mutter hat ihn noch lange gepflegt. Sie hatte ihrem Mann nie widersprochen, immer sei ihr wichtiger gewesen, was die Leute denken. Als der Vater starb, rief die Mutter ihn in München an. „Danach wurde sie dement“, sagt er, „als ob sie ihre Aufgabe verloren habe.“ Noch zwei Fragen, Herr Busse:

Was wissen Sie von Ihrer Geburt?

„Der Arzt war ein Antifaschist und riet meiner Mutter, mich abzutreiben. In diese Welt könne man doch kein Kind bringen. Für meinen Vater kam das nicht infrage.“

Wie hieß Ihr Vater?

„Klaus.“

Nach diesem Spaziergang ist es nicht schwierig, sich den Komiker Jochen Busse bei seinem täglichen Yoga-Kopfstand vorzustellen. Hände gefaltet zusammendrücken, die Unterarme bilden ein gleichschenkliges Dreieck auf dem Boden, die Füße kerzengerade nach oben. Die Decke ist 2,80 Meter hoch, da ist noch Luft nach oben. Auch an diesem Morgen hat er sicher den Kopfstand gemacht. Unten ist oben, oben unten. Für einen Komiker, der sich so viel mit Geschichte auseinandersetzt, vielleicht die beste Ausgangslage.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 27.8.2013