Besuch bei zwei Ostermärschen in Berlin

Heiko G. in Berlin am Oranienplatz (Sören Kittel)

Heiko Gaekel will, dass das Sterben aufhört, er will für den Frieden demonstrieren, aber gerade weiß er nicht, ob er hier am Oranienplatz richtig ist. „Das ist doch verrückt“, sagt er, „Tausende Tote, ein zerstörtes Land, niemand kann das wollen.“ Der 65-Jährige ist deshalb zum Oranienplatz gekommen, weil hier eine Friedensdemonstration angekündigt war, der traditionelle Ostermarsch der Friedensbewegung. „Aber ich bin gerade angesprochen worden, ob ich denke, ich sei hier richtig.“ Der Grund: Gaekel trägt eine Gelbe Jacke über einem blauen Hoodie. Und auf seinem Schild steht: „Frieden für Ukraine – Putin go home“.

Im besten Sinne vielfältig sind die Meinungen auf dem Platz. Geladen hatte zum Ostermarsch die Friedenskoordination, ein Zusammenschluss aus „friedenspolitisch Interessierten“. Laut Polizeisprecher waren es zu Beginn rund 400 Menschen, die sich trafen und anschließend zu einem Zug durch den Bezirk verabredet hatten. Später sollen nach Polizeiangaben bis 1200 Menschen bei dem Marsch dabei gewesen sein. Sie halten Schilder in die Luft, auf denen steht:„Desertiert alle!“, „Keine Waffen für Ukraine!“, „Klimaschutz statt Rüstung!“, „Hände weg von Russland!“, „Für ein vereintes Eurasien!“.
Als kurz nach 12 Uhr die Reden auf dem Podium beginnen, wird noch einmal deutlich, wie unterschiedlich das Publikum ist, dass hier zusammengekommen ist.

Almut W. gehört wohl zum Kernpublikum. Die 65-Jährige kommt fast jedes Jahr hierher, heute hält sie ein Schild in die Höhe: „Kein Krieg. Nirgends“. „Ich bin zunächst einmal froh, dass in diesem Jahr ein paar Menschen gekommen sind.“ Sie finde es schlimm, dass im Moment alles so polarisiert sei, sagt Almut W. „Warum muss man jetzt Putin verteufeln, weil alle das gerade tun.“ Sie ist der Meinung, dass man doch recht lange auf Handel mit Russland gesetzt habe, weil da beide etwas davon haben. „Und warum ist Putinversteher plötzlich ein Schimpfwort?“, fragt sie. Solange man versuche, einander zu verstehen, könne das nicht schlecht sein. Außerdem gelte natürlich der Ukraine als angegriffenem Land ihre Solidarität.

Auch sie ist nicht mit allem einverstanden, was durch das Mikrofon auf den Platz schallt. Zum Beispiel die Stelle, als Christiane Reimann von der Linken sagt, dass der ukrainische Botschafter, Andrej Melnyk, „Hass und Propaganda verbreite“. Danach deutet Reimann in ihrer Rede immer wieder an, die Ukraine sei selbst Schuld an der aktuellen Situation. „Hätte sie das Angebot von Putin angenommen, wäre Europa jetzt nicht in dieser Situation“, sagt sie. Vereinzelt ist dabei Kopfschütteln zu sehen.

Zum Beispiel bei Max M. aus Dahlem. „Die Rede war kacke“, sagt er, „während literallygenau in diesem Moment Überschallraketen auf ein Land fallen, kann man das dem Land doch nicht vorwerfen. Das ist schon mehr als weird.“ Der 26-Jährige ist mit zwei Freunden zum Oranienplatz gekommen, weil sie gehört hatten, dass es hier um Frieden gehe. „Aber ein bisschen komisch ist die Mischung hier schon“, sagt Max und meint die Impfgegner und Russland-Freunde, die durch Plakate auf sich aufmerksam machen.

Von den Parteien sind nur Marxisten (MLDP), die DKP, die Linke und die SPD vor Ort. Die Grünen werden nur auf Plakaten erwähnt: „Ampeln zu Pflugscharen“ oder „Liebe Grüne, wollt ihr den totalen Krieg?“. Ein Flyer von „Spartacist“ ruft die Ukrainer auf Deutsch auf, ihre Gewehre gegen die eigenen Herrscher zu richten. Eine Zeitschrift „Solidarität“ wird verteilt, mit der Bitte um 1 Euro: „Nur für die Druckkosten.“ Darin gibt es einen Text über den „wahren Selenskyj“, wo er als „Feind der Arbeiter“ bezeichnet wird. Kostenlos wird die linke Tageszeitung „Junge Welt“ verteilt, deren Titelgeschichte die Nato als Kriegstreiber bezeichnet. Vielleicht wird hier am deutlichsten, warum es in Zeiten des Krieges zwei Friedensdemonstrationen gibt.

Ein paar Kilometer nördlich könnte die Stimmung nicht anders sein. Rund 500 Menschen laufen an der russischen Botschaft vorbei und rufen: „Buuh“, gefolgt von „Stop Russian War!“. Viele von Ihnen tragen ukrainische Farben oder die Flagge mit sich. Während in Kreuzberg der Altersdurchschnitt eher bei 60 lag, sind die Menschen, die sich am Bebelplatz getroffen haben und Richtung Brandenburger Tor ziehen, deutlich jünger.

Die Ukrainerin Ganna Boitsova lebt seit zwölf Jahren in Berlin. Vom Ostermarsch in Kreuzberg hat sie gehört, aber wäre da nicht hingegangen. „Wir brauchen keine Flower-Power“, sagt sie. „Wir brauchen Waffen.“ Sie wirft den Friedensbewegten vor, dass das Blut der Toten auch an ihren Händen klebt, wenn sie weiter gegen Waffenlieferungen demonstrieren. Sie habe gehört, dass Linke dem ukrainischen Präsidenten vorwerfen, dass er den Krieg vorantreibe. „Das kenne ich als Frau, dass man den Opfern die Schuld gibt“, sagt sie, „das wundert mich nicht, aber es ärgert mich trotzdem.“ Ihr Land sei angegriffen worden, und wenn die Ukraine sich nicht verteidige, ist bald das nächste Land dran, da ist sie sich sicher.

Es ist deutlich lauter in Berlin-Mitte als in Kreuzberg. Dort am Oranienplatz wurde mehr Klezmer-Musik gespielt und es tanzte ein älteres Paar im Kreis und sang Hava Nagila. Hier auf dem Boulevard bleiben die Touristen fast erschrocken stehen, weil die Stimmen der Demonstranten so wütend klingen: „Kein Handel mit Russland!“ und „Slava Ukraini“. Die Plakate am Bebelplatz sprechen ebenfalls für sich: „Es ist Genozid“, „Embargo für russisches Gas – Jetzt!“, „Putin = Killer“.

Eine, die früher auf die Demonstration am Oranienplatz gegangen wäre und jetzt mit den Ukrainern in Mitte demonstriert, ist Juliane Fischer. Die 70-Jährige bezeichnet sich selbst als friedensbewegt. „Das war in den 80er-Jahren aber etwas anderes“, sagt sie. „Jetzt, mit der aktuellen Entwicklung, kann ich doch nicht die Augen verschließen, wer hier der Aggressor ist.“ Militärische Übergriffe auf andere Länder müssen vermieden werden, aber es sei zynisch, keine Waffen zu liefern. „Frieden wollen alle, aber für uns ist es doch bequem hier aus Berlin zu sagen: Keine Waffen — unser Leben steht ja gerade nicht auf dem Spiel.“ Dieses Mal sei es anders, es müsse mehr passieren, auch von unserer Seite.

Alle, die für diesen Text befragt wurden, beantworteten am Ende der Gespräche noch die Frage, ob sie gerade Angst haben.
Juliane Fischer: „Angst nein, aber ich bin beunruhigt, wenn es einen Flächenbrand gibt.“
Ganna Baitsova: „Ja, nach der Ukraine sind wir hier dran.“
Max M.: „Angst? Vorm Krieg? Nö! Eher vor der Spaltung, wir waren doch dabei, zusammen in den Weltraum zu fliegen, zum Beispiel.“
Almut W.: „Selbstverständlich habe ich Angst, aber mehr um meine Kinder und meine Enkelkinder.“
Heiko Gaekel: „Ich hab meiner Tochter schon gesagt, wenn es eng wird, gehen wir nach Australien, ich war noch nie, aber dort ist es sicher.“