Moni Zhang, Comedian aus Wuhan

Berlin – Moni Zhang hat als Treffpunkt ein Café in Friedrichshain ausgesucht, das etwas von einer gemütlichen Hippie-Höhle hat: Kerzen, Kachelofen, Möbel aus zweiter Hand. Alles wie in den 90ern, nur mit WLAN. Mitarbeiter müssen erst ihr Gespräch beenden, bevor sie eine Bestellung aufnehmen und kontrollieren irgendwann etwas nachlässig die Corona-Nachweise. Überall liegt irgendetwas rum. An jedem Tisch sitzen zwischen 20 und 30 Menschen, die an Projekten arbeiten oder sich an ihre Tassen klammern.

„Ich bin hier gern“, sagt Moni Zhang über diesen Ort und kuschelt sich in ihr Nest aus Pullover, Jacke und Schal, das sie sich auf der Couch aufgebaut hat. „Es repräsentiert, warum mir Berlin so gut tut.“ Zhang kommt recht schnell und offen auf ihre Depression zu sprechen. „Ich habe meinen Frieden mit meinen Problemen gemacht.“ Sie sei inzwischen von ihrem Psychologen „graduiert“ – auch wenn das klinge, als sei es ein Kurs, den man auf der Universität des Lebens abschließen muss. „Aber so ist das auch mit geistiger Gesundheit“, sagt sie. „Sich damit auseinanderzusetzen, wird für mich immer eine Reise sein.“

Zuschauer können jetzt an dieser Reise teilnehmen. Am 28. Januar hat Moni Zhangs neues englisches Programm „Child from Wuhan“ Premiere im Friedrichshainer Comedy Club „The Wall“, und sie wird es dann immer wieder in Berlin aufführen. Es wird ein ernstes Programm, das das Publikum gleichzeitig zum Lachen bringen soll. Bei Testdurchläufen haben Leute geweint und sind anschließend zu ihr gekommen, um von sich zu erzählen. Ihr Programm, das sei wie eine Therapie, sagt sie.

Es handelt grob: von ihr. Wie sie als Chinesin nach Europa kam, um in Rotterdam einen Abschluss in Buchhaltung zu machen. Wie sie dann eher durch Zufall nach Berlin zog und erst hier auf die Idee kam, Stand-up-Comedian zu werden. Sie wird auch davon erzählen, wie sie den ersten Preis in einem Berliner Newcomer-Wettbewerb gewann, als sie noch nicht einmal ein Jahr dabei war. Sie wird auch von ihrer Depression reden, von ihrer schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter und sicherlich auch von ihrer Katze, die Panda heißt.

Doch eines macht sie klar: Obwohl sie aus Wuhan stammt und auch ihr Programm nach der Stadt benannt hat, spricht Moni Zhang kaum über China. Einer ihrer wenigen Auftritte vom Jahr 2020 in Berlin ist noch immer im Internet zu sehen. Er beginnt mit dem Satz: „Ich komme aus einer Stadt, die zwar 14 Millionen Einwohner hat, aber bisher…“, sie hustet demonstrativ ins Mikrofon, „niemand kannte.“ Das Lachen im Publikum klingt ein wenig schüchtern, es war Anfang 2020, es gab noch nicht viele Witze über Corona. Zhang sagt weiter: „Mein Land ist mit der Krise sehr gut umgegangen.“ Sie macht eine lange Pause und sagt: „Mehr werde ich dazu nicht sagen, es sei denn, ich bekomme einen deutschen Pass.“

Auch im Gespräch im Café möchte sie nicht über China reden. Sie sei nicht Ai Weiwei, der alle Brücken zu seiner Heimat abgebrochen hat. „Ich komme auch nicht aus einem reichen Elternhaus, wie viele meiner chinesischen Freunde in Europa oder aus der Schulzeit.“ Diese könnten noch immer nicht verstehen, warum sie nicht längst eine Wohnung in Deutschland gekauft habe. „Das machen doch jetzt alle, sagen diese Freunde.“ Sie sei stattdessen schon froh, wenn sie eine Wohnung in Friedrichshain gefunden hat, die unter 1000 Euro im Monat kostet, auch wenn sie keine Küche hat.

Moni Zhang wurde inspiriert zu ihrer Karriere von Besuchen in Comedy Clubs in Berlin. Noch vor zehn Jahren fand vielleicht ein englischer Abend statt. Inzwischen gibt es vier englischsprachige Clubs, die Stand-up vor allem auf Englisch anbieten. Die Menschen auf der Bühne erzählen von ihrem Leben mit der Ausländerbehörde, von Dinner-Abenden mit Deutschen. Das Leben in Berlin bietet viele lustige Angriffsstellen. Im Publikum sitzen viele Deutsche, aber auch ein Mix aus anderen Ländern. Ihr gefalle das.

„Berlin ist perfekt für Leute wie mich“, sagt sie. „Ich kann hier sehr viel ausprobieren, ohne einen großen Druck.“ Die meisten Witze müsse man eben vor Publikum ausprobieren, um zu sehen, ob sie funktionieren. „In New York oder London würde ich niemals so viel Bühnenzeit bekommen.“ Dort müsse man auch Geld bezahlen, um auf die Bühne zu gelangen. „In Berlin ist das Publikum ehrlich, aber nicht unhöflich“, sagt sie, „und sie haben kein Problem damit, dass sich jemand über sie lustig macht.“

Sie wolle dieses Jahr mindestens 31 Auftritte bestreiten. Nur so könne sie besser werden. Dabei hilft hier, dass sie mitten in der Pandemie ein eigenes Festival gegründet hat: Das Berlin Mental Health Festival (BMHF). Es fand im Jahr 2021 zum ersten Mal statt und ließ Künstler, Comedians und Psychologen zusammenkommen – und über ihre Erfahrungen reden. Die Non-Profit-Organisation spendet alle Überschüsse an die Depressionshilfe. Es geht vor allem darum, Aufmerksamkeit auf psychische Probleme zu lenken.

„Es ist bisher immer noch ein Tabu, über geistige Gesundheit zu sprechen“, sagt Zhang. Das sei natürlich nicht immer leicht und am Anfang fühlt es sich auch noch etwas ungewohnt an. „Aber das ist sowieso ein Klischee, dass Comedians immer selbstsichere Menschen seien“, sagt sie. „Die meisten sind wie ich eher zurückhalten und benutzen die Stand-up wie eine Rüstung, wie eine Rolle, in der sie alles einmal aussprechen können.“ Das öffne manchmal alte Wunden, aber sie bekomme eben auch viel zurück.

Sie hat deshalb auch einen Podcast gestartet und spricht dort einmal wöchentlich mit anderen Comedians über deren psychische Probleme. In den bisherigen 25 Folgen von „It’s Mental“ berichtet unter anderem der ostdeutsche Comedian Richard Schäfer von seiner Pornosucht. Die Sängerin Lucy Straathof erzählt von ihrem Burnout. Andere berichten von Selbstmordgedanken, Anti-Depressiva, Drogen, Alkohol und wie sie es aus ihrem Loch herausgeschafft haben – oftmals mit Hilfe der Bühne und der Zuhörer.

„Comedy hat mir soviel gegeben in meinem Leben“, sagt Moni Zhang. Berlin habe ihr die Möglichkeit geboten, das auszudrücken. „Mein Therapeut ist Chinese“, erzählt sie und fragt: „Wo kann man das so leicht finden in der Welt?“ Trotzdem möchte sie als nächstes gern Deutsch lernen. Ihr Ziel ist es, bis Ende des Jahres auf dem Niveau B2 angelangt zu sein. „Mein Akzent wird bleiben“, sagt sie, „aber der ist doch ganz hübsch, nein?“

Yaakov Baruch, der einzige Rabbi Indonesiens

Dabei war so etwas wie eine Feier zum Holocaust-Gedenktag in Indonesien bisher undenkbar. Im Land der 13.477 Inseln bedeutete der 27. Januar bisher nur wenig. Als die Deutschen Konzentrationslager errichteten, hatten die Einwohner Indonesiens mit der japanischen Besatzung zu kämpfen. In den Jahren nach der Unabhängigkeit wurde das Land von der Hauptinsel Java regiert, die zu beinahe 100 Prozent muslimisch ist. Die anderen Inseln sind weit weniger dicht besiedelt, dafür aber religiös sehr divers: Christen, Hindus, einige wenige Buddhisten und Naturreligionen kommen vor. Judentum wurde — mehr aus Solidarität mit dem arabischen Raum — nicht anerkannt, die letzte Synagoge 2009 geschlossen.

Das Material wurde von der Gedenkstätte Yad Vashem zur Verfügung gestellt. (Foto: Yaakov Baruch)

Dann kam Yaakov Baruch. Der 39 Jahre alte Indonesier wurde in Manado geboren und gründete vor acht Jahren wieder eine jüdische Gemeinde in Indonesien. Sie befindet sich rund 20 Kilometer vor der Stadt, in einem Neubau, der von außen unscheinbar aussieht. Jeden Freitag treffen sich zwischen 10 bis 20 Gläubige zum Shabbat. Selbst die Nachbarn wussten lange nicht, was der Stern mit den sechs Zacken bedeuten soll, der in den Zaun eingearbeitet ist. Seit dieser Woche steht dort ein weiteres Gebäude: das erste Holocaust-Museum in einem südostasiatischen Land.

„Ich habe in vielen Gesprächen gemerkt“, sagt Yaakov Baruch der Berliner Zeitung am Wochenende, „dass viele Indonesier nichts wissen über den Holocaust.“ Es ärgerte ihn, wenn er manchmal Witze hören musste über Adolf Hitler, dabei kennen die wenigsten Indonesier die genauen Ereignisse rund um die Vernichtungslager und den Massenmord. Sie stellen ihn selten in Frage, aber sie wissen einfach zu wenig darüber. „Am schlimmsten ist, wenn Indonesier sagen, es sei schade, dass Hitler seine Arbeit nicht vollenden konnte.“ Er weiß, in Deutschland sind solche Aussagen verboten, in Indonesien nicht. „Aber in diesem Fall betreffen diese Aussagen auch mich“, sagt der Indonesier, „31 meiner Verwandten kamen im Holocaust um.“

Yaakov Baruch ist gelernter Hochzeitsfotograf und wurde von seinen Eltern lange Zeit als Christ erzogen. Doch eines Tages vor rund 20 Jahren erfuhr er von seiner Tante, dass er nicht die ganze Wahrheit kennt. Sie stritten um das Leben Mohammeds, was nicht ungewöhnlich war, er stritt mit seiner Tante oft über den Propheten. Doch dieses Mal beendete sie den Streit wütend mit dem Satz: „Ach, hör doch auf, du bist sowieso eigentlich ein Jude.“ Dann zeigte sie ihm Fotos aus dem Familienalbum, die mütterliche Linie seiner Familie war jüdisch. Seine Großmutter war noch regelmäßig in die Synagoge gegangen, seine Mutter schon nicht mehr.

Baruchs Familie stammte aus Surabaya. In dieser Stadt auf Java war bis zur Unabhängigkeit Indonesiens die größte jüdische Gemeinde gewesen, zum großen Teil geflüchtete Juden aus den Niederlanden oder Deutschland. Zwischen den beiden Weltkriegen lebten rund 2000 Juden auf den Inseln. Als die Japaner 1942 Indonesien okkupierten, behandelten sie Juden ähnlich schlecht wie es die Nazis taten: Juden wurden interniert oder mussten Zwangsarbeit leisten. Die, die fliehen konnten, bauten sich ein neues Leben in Australien, den USA oder Israel auf. Baruchs Familie floh nach Manado und tauchte unter.

Yaakov Baruch in seiner Ausstellung am Holocaust-Gedenktag (Foto: privat)

Dass er ausgerechnet in dieser Stadt sein Judentum ausleben kann, ist kein Zufall. Manado hat einen doppelten Ruf, wird als die „betende Stadt“ bezeichnet, weil die Menschen dort als sehr fromm gelten — und gilt als sehr tolerant. Seit Jahrzehnten leben Muslime und Christen zu gleichen Teilen in der Stadt und es kam bisher zu keinen nennenswerten Spannungen. Weil die Menschen hier so fromm sind, haben viele Mekka und Bethlehem besucht. Bei einem dieser Besuche in Israel sah ein Politiker den siebenarmigen Kerzenleuchter – und ließ eine 13 Meter hohe Statue errichten: Die weltgrößte Menora steht aktuell also in Indonesien. Und Yaakov Baruch setzt sich sehr für den interreligiösen Dialog in der Region ein.

Das Holocaust-Museum soll dafür auch ein Zeichen sein. „Derzeit besteht es vor allem aus Spenden aus Yad Vashem“, sagt Yaakov Baruch. „Nach meinem Besuch in Israel habe ich den Kontakt zur Gedenkstätte gesucht und um Hilfe beim Herstellen dieser Poster gebeten.“ Er hat sie bekommen. Bei den Führungen, die er selbst gibt, kann er auch seine Geschichte erzählen. Die Familie seiner Mutter und Tante lebte in Den Haag und im Norden Deutschlands. „Ihr Vater, ihr Onkel, sämtliche Verwandten sind in Auschwitz und Sobibor umgekommen.“ Baruch wollte dieses Museum auch für sie eröffnen.

Als ihre Namen am Donnerstag verlesen werden, weint Yaakov Baruch. Neben ihm ist noch ein weiterer Indonesier zu Gast, der ebenfalls Familienmitglieder im Holocaust verloren hatte. Hier drei der Namen: Dina van Beugen wurde mit 35 Jahren in Sobibor ermordet, Betje Mool wurde mit 62 Jahren in Sobibor ermordet, Henrietta Francina van Beugen wurde mit 29 Jahren in Auschwitz ermordet.

Die Ausstellung besteht aus zwei Räumen, nebeneinander, der größere misst 40 Quadratmeter und enthält die Dauerausstellung. Der kleinere soll für Treffen zur Verfügung stehen. Der indonesischen Regierung kommt das Engagement des Rabbis sehr entgegen. War das Land doch in den vergangenen Jahre von allem in die Schlagzeilen geraten, weil es einen Hitler als Wachsfigur in einem Selfie-Museum aufgestellt hatte. Einige Jahre zuvor hatte ein Mann ein Café schließen müssen, weil dort alle Kellner in SS-Uniform bedienten. Beides hatte einen internationalen Aufschrei hervorgerufen. Yaakov Baruchs Museum, das dem Massenmord einen Gedenkort schafft, auch wenn dieser Massenmord in 11.000 Kilometern Entfernung stattgefunden hat, könnte ein Anfang sein.

„Ich fühle mich hier inzwischen sehr sicher“, sagt Yaakov Baruch, „und weiß, dass dieser Weg der richtige ist.“ Er wolle weiterhin Gästen aus aller Welt seine Religion hier in Manado näher bringen – und wenn es die Zeit erlaubt, auch mal einen Shabbat auf Bali feiern. Neben der deutschen meldeten sich in dieser Woche auch die spanische, portugiesische und die amerikanische Botschaft bei ihm. Überrascht hat ihn die positive Rückmeldung der Anwohner und der Lokalregierung. Die große Anzahl der Besucher bei der Eröffnung – es waren mehr als 100 Gäste gekommen – machte ihm Mut.

Es gab einmal eine Zeit, in der das anders war. Das war, als Yaakov Baruch noch in Jakarta lebte. In der Zeit war er Ende 20 und trug meist seine Kippa offen in der Stadt. Doch plötzlich sprach ihn ein Teenager an, was dieser Hut zu bedeuten hatte. Der 11. September 2001 war noch nicht lange her und auch in Indonesien waren damals Bombendrohungen von Islamisten an der Tagesordnung. Er floh damals vor drei Angreifern quer durch eine Mall. Er konnte entkommen.

Was die Botschafterin beim Dinner nach der Eröffnung gegessen hat, ist nicht überliefert. Sicher ist nur, dass Manado noch für eine dritte Spezialität bekannt ist. Es gibt den „Extremen Markt“; dort wird frisches Rattenfleisch am Spieß neben gegarter Hauskatze und geräucherter Python verkauft. Für Europäer ist das ziemlich schwer erträglich. Yaakov Baruch zuckt nur mit den Schultern: „Früher mochte ich all das“, sagt er, „aber keines der Gerichte ist kosher.“

Porträt Julian Reichelt, Ex-Chef der BILD

Kommt ein Chefredakteur in ein Großraumbüro voller Mitarbeiter, an seiner Hand die Tochter, fünf Jahre alt. Sie schaut zu ihrem Vater hoch und fragt: „Du, Papa, was machst du jetzt?“ Der Chefredakteur antwortet laut hörbar für alle: „Jetzt schreie ich jemanden zusammen – und weißt du, was? Du kannst dir jetzt aussuchen, wen Papa zusammenschreit.“ Die Pause, die dann folgt, beschreiben Mitarbeiter aus der Redaktion als absurd lang. Das Kind schaut in die Gesichter von Journalisten, die zum Teil seit Jahrzehnten für die Bild-Zeitung arbeiten – bis irgendwann der Chefredakteur sagt: „War nur Spaß, komm, wir gehen in mein Büro.“

Geschichten wie diese gibt es viele über Julian Reichelt, einen Chefredakteur, der wie kein zweiter die Redaktion und das Land spaltete. Mit nur 41 Jahren kann er auf fast fünf Jahre an der Spitze der größten deutschen Boulevardzeitung zurückblicken. Er hat zwar den Rückgang der Printauflage nicht aufhalten können, aber er hat die Transformation der Marke zum Online- und TV-Medium durchgesetzt. Im August hatte Bild 24 Millionen Online-Nutzer, seit acht Jahren gibt es Bild-Plus, das unter Reichelt die Abozahlen steigern konnte – und er hat den Start des Senders Bild TV begleitet und damit einen Traum des Verlagsgründers Axel Springer vollendet.

Zu Beginn dieser Woche wurde der Bild-Chefredakteur jedoch aller Aufgaben entbunden, weil er offenbar den Vorstand des Verlags Axel Springer belogen hatte über seine privaten Beziehungen zu Mitarbeiterinnen. Da in einem Compliance-Verfahren vor rund einem halben Jahr bereits Vorwürfe von Machtmissbrauch gegenüber Frauen laut geworden waren, zog der Verlag jetzt die Reißleine. Damit endet vorerst die Karriere eines Journalisten, den selbst ärgste Gegner immer als einen Mann mit Instinkt und großem Einsatzwillen einschätzten.

Sein Büro sei immer offen gewesen, sagt ein männlicher Kollege über ihn, der bis vor kurzem gern mit ihm zusammengearbeitet hat. „Er hat sich immer erinnert, wenn man vor Jahren einmal eine Wette mit ihm abgeschlossen hatte und einen dann mit einem Kasten Bier überrascht.“ Auch viele ehemalige Mitarbeiterinnen äußern sich positiv über ihn, erzählen, dass sie nie das Gefühl hatten, von Reichelt nach ihrer „Fuckability“ bewertet zu werden, wie es in dieser Woche im Spiegel zu lesen war. Aber ja, viele hätten das Geraune mitbekommen, dass es immer wieder Frauen gab, die enger mit Reichelt in Kontakt waren und dann versetzt wurden, in andere Teile des Springer-Konzerns oder der Bild.

Das allerdings hat, wie die New York Times es in ihrem Sittengemälde vom vergangenen Wochenende nachzeichnet, im Verlag Tradition. Springer ließ Frauen mit dem Helikopter nach Sylt fliegen und schickte ihnen vorgedruckte Briefe mit seiner Unterschrift, in denen er ihnen für die Nacht dankte. Wer durch die Verlagsgeschichte des Hauses geht, wird immer wieder auf leitende Redakteure treffen, die ihre Frauen verließen, um junge Kolleginnen zu heiraten oder mit ihnen Kinder zu zeugen. Und wer ehrlich ist, weiß, dass da der Springer-Verlag keine Ausnahme macht, wenn es auch in einem Boulevard-Umfeld vielleicht länger dauert, bis die derbe Sprache auffällt.

Begonnen hat Julian Reichelt seine Karriere beim Haus Axel Springer im Jahr 2000, als er die gleichnamige Journalistenschule besuchte. Seine Mitschüler aus der Zeit haben noch den Journalisten Reichelt kennengelernt, den man als „besessen“ beschreiben kann. „Er wurde angehimmelt“, sagt einer. Reichelt hatte ihnen erzählt, dass er immer zur Bild wollte, dass er den Boulevardjournalismus für den einzig echten Journalismus hielt. Also die Welt allen zugänglich zu machen, dem Bauarbeiter und der Friseurin. Als der Volo-Kurs Besuch vom Betriebsrat bekam, „bombardierte ihn Reichelt derart mit Fragen“, sagt ein Kollege, „die ihn als Feind des Unternehmens entlarven sollten“.

Die Jahre als Kriegsreporter, so sagte er selbst in Interviews, waren für Reichelt die „formative years“, die prägendste Zeit. Da wurde er zu dem, was ihn ausmacht. Er berichtet von Müttern, die ihre Babys begraben. Von Menschen, die nicht nur ihr Zuhause hinter sich lassen müssen, sondern ihr Leben, von Soldaten, die am Krieg zerbrechen. Er schreibt darüber ein Buch bei Bastei Lübbe mit dem bezeichnenden Titel „Ich will von den Menschen erzählen“. In einem Interview über diese Zeit sagt er: „Es fällt schwer, in einem Krieg, bei dem immer wieder gegen die eigenen Werte verstoßen wird, objektiv zu bleiben.“ Er glaube auch nicht, dass das überhaupt möglich sei, denn es gebe auch keine „neutralen Schicksale“. Reichelt weiter: „Das Ziel ist es, wahrhaftig zu bleiben.“

Die Kriegsmetaphern, sie tauchen auch wieder auf in der Amazon-Dokumentation, die vor einem Jahr erschien und in sieben Folgen den Alltag der Redaktion erstaunlich offenherzig zeigte. Da wurde einmal das Nasenspray auf dem Tisch des Chefredakteurs in Szene gesetzt, da werden die Kollegen laut kritisiert, und als der „Wirrologe“ (O-Ton Reichelt) die Handynummer eines Bild-Mitarbeiters twittert, sagt er in die Kamera: „Das ist das Kriegsbeil.“ Man kann diesen Satz auch so lesen: Reichelt setzt sich für seine Mitarbeiter ein. In dieser Amazon-Doku bezeichnete er seinen Beruf als „first row seat in history“ — in der ersten Reihe sitzen und die Weltgeschichte beschreiben. Kleiner ging’s nicht.

Vor rund einem Jahr sollte ein Mitarbeiter einen Fotografen mit in den Bundestag nehmen, um einen Abgeordneten mit einer Aussage zu konfrontieren. Der Mitarbeiter verstand das falsch und fragte Bild-Live an, die jedoch nicht schnell genug antworteten. Solche Ablauffehler wurden in der Redaktion immer wieder festgestellt. Aber Reichelt platzte der Kragen, er ließ gegen Mittag die gesamte Redaktion antreten. Er stellte sich an das Panoramafenster und zeigte auf den Bundestag . „Wenn wir nicht in der Lage sind, innerhalb von vier Stunden einen Bild-Reporter dorthin zu bekommen“, schrie er, „dann können wir dichtmachen!“

Sein Büro beschrieben Besucher als eine Imitation vom Deutschland der 80er-Jahre. Ein großer Schreibtisch, voller Akten und Papiere, der Aschenbecher, in dem immer eine Zigarette glomm, die zerrissene amerikanische Flagge im Rahmen, das rote Sofa und das berühmte und seit dieser Woche berüchtigte Feldbett. „Es sah eher aus wie ein Feldbett, das sich Manufaktum ausgedacht hatte“, sagt ein Besucher.

Doch selbst die kritischsten Kritiker kommen nicht umhin, den Fleiß, den Willen zur großen Schlagzeile, zum politischen Mitmischen bei Reichelt zu sehen. Er sei hart gewesen, gegen sich und andere. Er konnte einstecken, wenn man ihn kritisierte, ja, er schien Menschen erst dann wirklich wahrzunehmen, wenn sie ihn kritisierten. Nicht umsonst gilt sein bester Freund Paul Ronzheimer auch als sein schärfster Kritiker. Er soll Texte verhindert haben, die Reichelts Ansehen noch mehr geschadet hätten. Als Pinky und Brain bezeichneten sich die beiden einst in einem Interview.

Zuletzt waren es wohl zu viele Gegner geworden, die sich in Gesprächen immer weniger zurückhielten mit Geschichten aus dieser Redaktion der Angst. So stand einer dieser Mitarbeiter neben Friede Springer, als sie ein kleines Fest im Journalistenclub im 18. Stock des Springer-Verlages eröffnen sollte. Alle waren da, nur Julian Reichelt fehlte noch. Als Mathias Döpfner sie bat, noch kurz auf Reichelt zu warten, soll sie gesagt haben: „Ach der …“ Sie winkte ab und sagte: „Wir fangen an!“

Porträt des Schauspielers Max Mauff

Berlin – Metin weiß, dass er nicht mehr lange durchhalten wird. Er hat eine Erkältung, sein kleines Baby ist gesund, aber es gibt niemanden, der sich um dieses Baby kümmern kann. Er hat noch die Nachbarin um Hilfe gebeten, aber weil er sie vorher mal als „Nazi“ beschimpft hat, schlägt sie ihm die Tür zu. Seine Mutter will er aus Stolz nicht fragen, seine Schwester war schon früher keine Hilfe, als sie ihn zum Koksen verführen wollte. Und was ist mit seiner Freundin, der Mutter des Babys? Die ist vor einem halben Jahr ganz plötzlich gestorben. Im Erdgeschoss wird Metin schwindelig. Und dann liegt er einfach auf den kalten Fliesen.

Als die Serie „MaPa“ im April 2020 auf Joyn anlief, waren viele verwundert, was der Streaming-Ableger von ProSieben mit diesen sechs Folgen beweisen will. Ein alleinerziehender Witwer in Berlin zwischen Trauer und Babybrei? Die Kritik war überwiegend positiv, aber auch irgendwie verwirrt, weil „MaPa“ eben sehr quer steht zum sonstigen Unterhaltungsprogramm des Senders. Im vergangenen Jahr hat ProSieben immer wieder durch Aktionen zu beweisen versucht, dass der Sender nicht mehr sklavisch auf die Quoten schaut – nicht zuletzt in dieser Woche durch die sieben Stunden dauernde Live-Reportage aus einem Krankenhaus von Joko & Klaas. In der kommenden Woche läuft „MaPa“ zum ersten Mal auch im RBB.

Max Mauff ist das Gesicht dieser Serie, er spielt Metin, der in jeder Folge irgendwann überfordert ist von allem. „Diese Serie löst nicht viel Freude aus“, sagt er, „das ist mir klar.“ Er meint die Trauer um die tote Freundin, die Metin in jeder Szene im Gesicht abzulesen ist. Aber die Zusammenarbeit mit dem Team, die habe ihn wirklich glücklich gemacht. „Ich hatte das Gefühl, ich bin in der Zukunft angekommen.“ Solch eine Rolle sei doch vor zehn Jahren noch überhaupt nicht denkbar gewesen: Ein junger Mann mit einem nichtdeutschen Namen, der nicht zum Helden wird, sondern einfach scheitert und ohne Hilfe von Frauen zusammenbricht. „Wenn man so etwas erzählt, provoziert man auch.“

Mauff ist 34 Jahre alt und läuft durch den Treptower Park, als er das sagt. Das ist kein Zufall, er hat sich diese Gegend ausgesucht, um über Männerbilder zu sprechen. Seine Beziehung zum Park rührt nicht nur daher, dass er in der Charité in Ost-Berlin geboren wurde und in Friedrichshain aufgewachsen ist. Er mag auch diese große Statue im Zentrum des Parks, das Sowjetische Ehrenmal. Ein 30 Meter hoher Mann mit einem Schwert und einem Mädchen im Arm. Die Statue erinnert an die 80.000 russischen Soldaten, die im Kampf um Berlin während des Zweiten Weltkrieges gefallen sind.

Er war oft im Treptower Park als Jugendlicher, hat sich mit seinen Freunden hier getroffen. Die Initialen von einigen von ihnen sind in seinem Knöchel eingeritzt. „Das haben wir uns damals mit 18 einfallen lassen“, sagt er, „weil wir dachten, wir würden unser Leben zusammen verbringen.“ Irgendwie seien die Wege dann aber doch auseinandergegangen, in den vergangenen zehn Jahren.

Der Osten ist für Mauff immer ein Thema geblieben. Er weiß genau, wo die Schauspieler seiner Generation herkommen: Ludwig Trepte (Ost), Florian Bartolomäi (West), Tom Schilling (Ost) und so weiter. Seine erste Hauptrolle hatte Mauff mit 15 in einem Jugendfilm – dann kamen in den Nullerjahren die ersten großen Kinofilme: „Die Welle“, „Der Vorleser“, „Berlin Calling“. In den 2010ern wurde er vielen durch seine Rollen in den Serien „Stromberg“ und „Sense8“ bekannt sowie in dem One-Shot-Film „Victoria“.

Mit jeder Rolle wurde Mauffs schmales Gesicht mit den charakteristischen großen Augen bekannter. Aber das ist eigentlich gar keine Kategorie für ihn. „Ich arbeite für meine Biografie“, sagt er. Das mache er ähnlich wie andere Schauspieler. „Ich möchte, dass irgendwann die Menschen auf meine Filmografie blicken und sich fragen, warum ich diese oder jene Rolle übernommen habe.“ Wenn ihn doch jemand auf der Straße erkenne, findet es Mauff interessant, aus welchem Projekt. „Ob sie jetzt ‚Sense8‘ oder ‚Stromberg‘ gesehen haben, das sagt ja mehr über den Zuschauer aus, als über mich.“ Wenn es gut laufe irgendwann, sagt er, dann schauen sich vielleicht die Menschen „Sense8“ an, weil ihnen „Victoria“ gefallen habe.

Die vielen Drehs, die er in den vergangenen Jahren hatte, kamen mit Corona zu einem abrupten Stopp. Mauff konnte glücklicherweise an Hörspielen weiterarbeiten, aber ansonsten war auch er gezwungen, seine Zeit anders zu verbringen. Neben viel Zeit mit seiner Tochter, die aktuell den „Traumzauberbaum“ hört, verbringt er seine Tage seit einigen Wochen auch auf seinem 250 Quadratmeter großen Kleingarten. Umgraben, pflanzen, wässern – und warten. Ein Kleingarten, das sei einer der wenigen Dinge, wo Geduld sich auszahle, sagt Mauff.

Inzwischen haben wir das Ehrenmal im Treptower Park erreicht. Obwohl die Sonne an diesem Vorfrühlingstag sehr stark scheint, ist fast niemand unterwegs in diesem Park. Auf dem Gelände um die Statue herum stehen nur einige bunt gekleidete Brasilianer, die laut auf Portugiesisch von eins bis vier zählen und jedes Mal einen anderen Tanzschritt vollführen: „Um, dois, três, quatro.“ Es ist eine seltsame Szene, die sich so fast deckungsgleich in „MaPa“ abspielen könnte. In der Serie geht Metin zu Ikea, alle um ihn herum sprechen nur „Blabla“. Die Welt aus der Sicht eines Depressiven kann eben manchmal auch sehr lustig sein.

„Darauf kommt es doch an“, sagt Mauff, „auf das Müh an Verrücktheit.“ Auch wenn die Geschichte von „MaPa“ traurig ist, solle es schließlich kein „Misery Porn“ werden. Deshalb sei die Beziehung von Metin mit seiner Freundin, die in Rückblenden erzählt wird, eben keine idealisierte romantische Zeit voller Glück. „Wir wissen doch alle, dass junge Eltern Schlafprobleme haben und nicht die ganze Zeit nur im Glück schweben“, sagt er. Das Gute am Drehbuch sei, dass die Mutterfigur auch Fehler haben darf und dennoch noch überraschende Wendungen und Twists bereithält. Damit schaffe man sich aber auch Gegner.

Schließlich ist auch Mauff mit einem Bild von Männern und Frauen aufgewachsen, das sich innerhalb recht starrer Grenzen bewegt. Väter kamen da nur als ständig arbeitende Ackerer vor und Mütter meist als idealisierte Heldinnen. Mauffs Mutter bekam den Job, das Kind und die Zeit im Ruderverein irgendwie alleinerziehend hin. Und wenn Mauff die Abende beim Großvater verbrachte, schauten sie dort zusammen Western. Für ihn waren das Bilder einer großen Welt, in die er eintauchen konnte. Das war zwar einerseits eine schöne Zeit, doch sie prägte auch ein Bild, das man wohl heute als „toxische Männlichkeit“ bezeichnen muss: Männer, die einen Raum betreten und sich der Frauen und anderer Kulturen „bemächtigen“ – ohne dass das jemals hinterfragt wird.

„MaPa“ ist das glatte Gegenteil davon. Die Serie war für den Grimme-Preis nominiert und dennoch hat ProSieben sich vorerst gegen eine zweite Staffel entscheiden. Max Mauff findet das schade, zumal viel von der zweiten Staffel schon feststand. Es sollte um Heldenbilder gehen und jetzt kommt diese Statue ins Spiel, hinter ihm, dieser Koloss mit Kind im Arm. „Ich hätte gern eine Szene hier gedreht“, sagt er. „Denn das sind schließlich die Heldenbilder, gegen die wir uns mit Figuren wie Metin auflehnen.“ Es könne nicht darum gehen, zum Helden des Alltags zu werden. „Ich selbst muss meine Anforderungen auch ständig anpassen als Vater.“ Aber er finde es beruhigend, dass er in einer Zeit lebt, wo diese Bilder nicht mehr so ungefragt übernommen werden wie früher.

Ein weiterer Film, der gegen diese Bilder angeht, ist Terrence Malicks „Ein verborgenes Leben“. Darin spielt August Diehl einen Österreicher, der nicht mitmachen will beim Zweiten Weltkrieg. Es ist ein Film über einen Mann, dessen Nein zur Gewalt ihn schließlich in den Tod führt. Max Mauff bewunderte Malick schon lang und wollte unbedingt mitspielen, selbst wenn es nur eine kleine Rolle war.

Als er jedoch zu keinem Vorspiel eingeladen wurde, machte er sich auf eine Wanderung. „Ich ging in die Alpen“, sagt er, „ich wollte für mich sein und zehn Tage in den Bergen die Natur anschauen.“ Als er am Tag acht in Südtirol in einer Hütte ankam, erreichte ihn der Anruf von Malicks Regieassistenten, ob er ein Foto von sich schicken könnte, Sie brauchten einen verwahrlosten Typen für die Rolle eines Deserteurs, der n einem Halbsatz im Briefwechsel zwischen Jägerstätter und seiner Frau erwähnt ist und sich in den Bergen vor der Armee versteckt, sagt Mauff. Ich kniete mich in den nächstbesten Bach und schickte Ihm Fotos von mir.  Ein paar Stunden später hatte er die Rolle des Sterz. Die Dreharbeiten fanden in den Südtiroler Bergen statt. Nur ein paar Stunden entfernt von dem Ort, wo Mauff gerade telefonierte. Er erarbeitete sich diese Rolle, die übrigens mit dem Metin aus „MaPa“ rein gar nichts zu tun hat.

Porträt der koreanischen Autorin Bae Suah

Bae Suah sitzt in Mecklenburg-Vorpommern in einem Haus, allein, mit Blick auf die Seenplatte und das Grün und Rot und Grau der Landschaft im Herbst. Sie denkt nach über Seoul, die Hauptstadt ihrer Heimat Südkorea, über Geister und über Menschen, die Schmerzen aushalten. Es ist Spätherbst an der deutschen Küste, aber Bae denkt an die Hitze im koreanischen Hochsommer, die sich in jede Pore des Körpers bohrt und dazu führt, dass über den Betten von schlafenden Menschen kleine Dampfsäulen entstehen. So ungefähr schreibt sie das dann auch auf: „Die hochsommerliche Metropole glich einem Tempel der betäubenden Mattigkeit, der vor Tausenden Jahren von einem lange verschollenen, dem Hitzekult frönenden Volk errichtet worden war.“

Die südkoreanische Autorin hat mit dem Buch „Weiße Nacht“ dieses Jahr einen Überraschungshit gelandet. Es ist ein absurd-schöner Roman über eine Frau, die unabhängig leben will und dabei doch immer wieder an ihre Wurzeln erinnert wird. Sie trifft auf Schriftsteller, auf ein altes Ehepaar, bei dem es sich vielleicht um ihre Eltern handelt, und schließlich auf einen Mann, der ihr Freund sein könnte. Und während all das geschieht, führt die Hitze des Sommers dazu, dass nicht nur die Gedanken sich auflösen, sondern auch die Grenzen zwischen den Menschen verschwimmen. Halt gibt der Wetterbericht, der wie klare Halterungen im Halbrealen ihren Text umgibt.

Darauf angesprochen sagt die 55-Jährige Autorin erst mal nichts. Sie sieht so aus, als erinnert sie sich an das Schreiben vor rund zehn Jahren. „Ich weiß gar nicht mehr, ob es ein Hörspiel war oder ein wirklicher Wetterbericht“, sagt sie, „aber es klang sehr abgehackt und dadurch so theatralisch oder: musikalisch.“ Dann erzählt sie vom Entstehungsprozess ihres Buches: „Zunächst muss ich gestehen, dass ich das Buch weder in Korea noch in Sommer geschrieben habe.“ Sie habe vielmehr im Winter in einem Häuschen in Mecklenburg-Vorpommern gesessen, vi

Bae spricht leise, in einem schönen Deutsch, das sorgfältig zwischen Dativ und Genetiv unterscheidet und jedes Wort einzeln betont. Bae Suah will Auskunft geben über ihr Schreiben, ihr Werk und Leben. 25 Menschen sind in das Koreanisches Kulturzentrum geladen, als sie über ihr Buch „Weiße Nacht“ spricht. Mehr sind aufgrund der strengen Corona-Regeln nicht zugelassen, es ist wenige Tage bevor die ganze Welt wegen „Squid Game“ einmal mehr auf Südkorea blickt.

Doch schon vor ihrem Roman, der in den deutschen Feuilletons euphorisch besprochen wird, haben südkoreanische Autorinnen wie Han Kang („Die Vegetarierin“) und Cho Nam-Joo („Kim Jiyoung, born 1982“) für Aufsehen auf dem deutschen Buchmarkt gesorgt, der in diesen Tagen trotz Corona sein wichtigstes Fest begeht: die Frankfurter Buchmesse.

Bae Suah aber sind diese Vergleiche eher unangenehm. „Ich schreibe seit mehr als 20 Jahren“, sagt sie, „aber ich lag nie im Trend, wie man so sagt, und ich glaube, ich möchte das auch nicht.“ Ihre Romane sind in Korea in kleinerer Auflage erschienen als dieses Buch in Deutschland. „Das kann daran liegen, dass koreanische Leser vielleicht gerne Geschichte mit einer klaren Story und Inhalt lesen möchten.“ Sie aber möge gerade Bücher, die sie verwirren. Sie erzähle in „Weiße Nacht“ mehr in Bildern, von Assoziationen und Fantasien, wie Szenen in einem surrealen Film. „Beim Schreiben sehe ich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht getrennt, ich sehe alles zugleich“, sagt Bae Suah und fährt nach einer Pause fort: „Ich möchte nicht für jeden schreiben.“

Begonnen hat sie mit dem Schreiben eher zufällig. Als sie mit 23 Jahren als Beamtin am Flughafen in Seoul arbeitete, schrieb sie ihre erste Kurzgeschichte für einen Wettbewerb – sie wollte sich selbst das Zehnfingersystem beibringen. Koreanisch ist eine Alphabet-Schrift. Diese Geschichte hieß „Dunkles Zimmer“ und gewann den Hauptpreis bei dem Wettbewerb. Seitdem sind viele Bücher entstanden, die häufig sehr rätselhafte Namen tragen: „Landstraße mit grünen Äpfeln“, „Club der roten Hände“ oder „Windpuppe“.

Obwohl sie im Jahr 2001 nach Deutschland ging und schließlich sogar dauerhaft Zeit hier verbrachte und die Sprache perfekt spricht, ist es ihr erstes Buch auf Deutsch. Sie hat sich mit der Sprache vor allem als Übersetzerin beschäftigt: Sie hat berühmte Autoren ins Koreanische übersetzt – Franz Kafka, W.G. Sebald, Jenny Erpenbeck, Christian Kracht.

„Ich bin keine Wissenschaftlerin“, sagt Bae Suah. „Ich arbeite sehr intuitiv, auch als Übersetzerin.“ Wörter wie Geister und Seele würden in Korea definitiv anders verstanden, sagt sie. „Aber es sind manchmal auch einfache Wörter wie ‚Mutter‘, ‚Sterne‘ oder ‚Liebe‘, die ganz anders verstanden werden in anderen Sprachen.“ Sie habe den Glauben, dass es eine perfekte Übersetzung nicht gebe. „Ich will nicht ewig forschen oder überlegen, sondern es muss sich richtig anfühlen.“ Sie war einmal auf der Buchmesse bei einem Treffen von Übersetzern von Christian Kracht. Dort ging es lange um das Wort „levantinisch“. „Manche konnten das ganz leicht übersetzen, andere, wie ich, haben dafür lange gebraucht.“

In ihrem Buch, zumindest in der deutschen Übersetzung, ist die Sprache sehr klar, doch häufig verändert sich mitten im Absatz plötzlich die beschriebene Realität und alles steht Kopf: „Als die junge Ayami eine Straße entlangging, entdeckte sie einen bläulichen Stein auf dem Boden und hob ihn auf. Unter dem Stein tat sich ein tiefes Loch auf, es führte zur Welt auf der anderen Seite des Spiegels, die parallel zur hiesigen existierte …“ Immer wieder kommt ihre Hauptperson an solch eine Stelle, wie ein DJ mixt Bae Suah dabei einige Texte in fast identischer Form immer wieder ein. Eines dieser Bilder ist der Kopf mit einem Nagel drin, ein sehr brutales Bild.

Bae Suah erzählt, dass sie mit dieser Erwähnung ein Trauma ihrer Kindheit verarbeitet. „Eine Schuldfreundin hat mir einst ein Geheimnis anvertraut“, sagt sie, „dass ich hier aufgeschrieben habe.“ Es habe einmal einen Onkel gegeben, der plötzlich verschwunden sei. „In seinem Abschiedsbrief stand, dass er den Weltschmerz nicht ertrage und in die Berge gegangen sei.“ Der Mann war Apotheker, hatte eine junge Frau und einen Assistenten. „Im Dorf erzählte man sich, dass der Leichnam unter dem Dach der Apotheke versteckt sei, weil der Assistent die Frau des Apothekers liebte.“ Der Assistent habe ihn ermordet, mit einem Nagel im Kopf. „Doch die Polizei fand die Leiche nie, und so blieb es ein Gerücht.“ Die Apotheke wurde geschlossen und der Assistent zog mit der Frau in eine andere Stadt.

Das Lesen von „Weiße Nacht“ führt subtil in solch grausige Welten. Inspiriert, sagt sie, sei sie von dem iranischen Autor Sadegh Hedayat. Dessen Buch „Die blinde Eule“ wolle sie einmal ins Koreanische übersetzen. Es wird in „Weiße Nacht“ mehrfach erwähnt, Bae glaubt, dass es in Korea viele Leser finden könnte. Das liegt vielleicht auch an der gemeinsamen Erfahrung von Iran und Korea mit dem Krieg. „Als ich Kind war, war es noch wie ein Alptraum, immer hat man von Kriegsgefahr gehört.“

Sie habe unter großer Angst gelitten. „Bis heute hat sich diese Lage nicht sehr geändert, die Angst bleibt immer im Hinterkopf, weil Korea eben getrennt wurde und bis heute getrennt ist.“ Auch darüber wollte sie schreiben, von diesem Alptraum aller Koreaner – von ihrem Häuschen im wiedervereinten Deutschland aus.

Hans-Dietrich Genscher, Porträt

Hans-Dietrich Genscher beugt sich in einem Sessel im Hotel „Adlon“ nach vorn und malt mit der Spitze des Zeigefingers einen kleinen Kreis auf seine Stirn. „Kopfschuss“, sagt er. „Mitten in die Stirn haben sie ihn getroffen.“ Der Mann neben ihm sei in sich zusammengesunken, als der Schuss fiel. Der Schütze hatte verborgen auf einem Balkon gestanden.

Der Tote war ein Kamerad aus der Kompanie, in die Genscher im Jahr 1944 als 17-Jähriger eingezogen wurde. Er selbst hatte zum Zeitpunkt des Schusses einen Stahlhelm auf, der andere nicht. Genscher sagt, dass ihn der Helm gerettet habe. „Ohne Helm hätte er möglicherweise auf mich gezielt, dann würde ich heute hier nicht sitzen.“

Genscher erzählt an diesem Nachmittag sowohl vom Krieg als auch vom Tod, und das nicht nur einmal. Er wird später sagen, dass sich ein Gespräch verändert, wenn man den Tod erwähnt, und dass es einen Menschen für immer verändert, wenn man das erlebt hat, was er erlebt hat.

Er wird nichts überdramatisieren, aber es wird klar werden, dass Hans-Dietrich Genscher auch Glück hatte. Er hat nicht nur den Krieg überstanden, sondern auch Lungentuberkulose und einen „Vernichtungsschmerz“, alles in anderen Jahrzehnten, aber Zeitsprünge macht er an diesem Nachmittag viele.

Den ersten gleich zu Beginn des Spaziergangs. Kurz nach der Begrüßung im Foyer des „Adlon“ läuft Hans-Dietrich Genscher für das Foto ans Brandenburger Tor. Es heißt, er laufe nicht mehr so viel. Dafür aber macht er sehr schnelle Schritte, als er das Hotel verlässt. Er ist alt geworden, ja, aber so forsch, wie er jeden Meter nimmt, könnte er auch einen Staatsbesuch absolvieren.

Das Einzige: Er wirkt missgelaunt, hat offenbar keine Lust für das Foto zu posieren. Hände erst „so“ halten, dann „so“, hören, wie Fotografen seine Aufmerksamkeit wollen: „Herr Innenminister!“ (von 1969 bis 1974), „Herr Außenminister!“ (von 1974 bis 1992) oder einfach: „Herr Genscher!!!“.

Fotograf Martin Lengemann bittet Genscher leise, sich ein bisschen zu drehen, der aber grummelt. Fünf Mädchen in seinem Rücken haben derweil viel Spaß, sie springen alle gleichzeitig vor dem Brandenburger Tor für ein Foto in die Höhe. Wenn Genscher sich noch etwas weiter drehen würde, könnte er sie sehen.

Eines von ihnen trägt einen Mantel in derselben Farbe wie Genschers Schal und Pullunder. FDP-Gelb. Genscher-Gelb. Legenden-Gelb. Dann reicht es ihm. Im Abstand von etwa acht Sekunden sagt er:

„Sie haben noch drei Minuten.“

„Jetzt noch zwei Minuten.“

„Noch eine Minute.“

„Eine Minute Zugabe.“

„So“, sagt er und geht. „Machen Sie”s gut.“

Der kurze Spaziergang ist zu Ende. Wir laufen schnell zum „Adlon“ zurück, in dem er immer übernachtet, wenn er in Berlin ist, mindestens ein oder zwei Nächte pro Woche. Hier hat er Besprechungen mit Politikern, Interviews mit Journalisten, Treffen mit Freunden. Das Hotel gefalle ihm, die zentrale Lage, die schweren Teppiche, vor allem die Architektur. „Sie haben es so aufgebaut, wie es war.“

Da erwähnt er indirekt zum ersten Mal den Krieg, in diesem Fall das 1945 ausgebrannte Hotel. Genau wie dieses Gebäude oder das Brandenburger Tor oder der Potsdamer Platz ist auch Hans-Dietrich Genscher ein Zeitzeuge. Der einzige lebendige. Kein Wunder, dass er sich an diesem Ort wohlfühlt.

Es kann auch daran liegen, dass er längst kein normaler Hotelgast mehr ist. Die Rezeption muss nicht nachschlagen, unter welcher Nummer sie ihn erreichen kann, der Mann an der Tür sagt „Guten Tag, Herr Genscher“ so, als sei es das dritte Mal in dieser Woche, und die Frau im Lift weiß, dass sie nicht erklären muss, wie er diese Zimmerschlüsselkarte an den Sensor halten muss.

Doch es gibt noch andere Gäste, solche, die täglich wechseln. Im Fahrstuhl trifft Genscher auf eine Frau mittleren Alters, die ganz aufgeregt und etwas zu laut sagt: „Sie sind der Herr Genscher!“ Er beginnt ein Gespräch, höflicher Small Talk.

Erster Stock. Er: „Sie kommen aus Süddeutschland, oder?“ Sie: „Aus Göppingen, ja, aber ich wohne jetzt in Hof.“

Zweiter Stock. Er: „Aus Göppingen!“ Kurze Pause. Dann sie: „Ich würde Ihre Partei so gern wählen, aber Sie müssen sie auffrischen!“ Er: „Ja, Sie müssen dabei helfen!“

Dritter Stock. Sie: „Wir müssen was tun! Sonst haben wir Pech!“ Er: „Ja, ich muss jetzt hier raus.“

Solche Situationen passieren ihm oft, sagt er, als er sein Zimmer betritt, aber diese Frau habe ihm gefallen. Positiv sei ihre Einstellung gewesen. Schließlich habe es die FDP nie leicht, sei nie eine Mehrheitspartei gewesen. Doch ohne sie wären Entscheidungen wie die Westintegration oder die Ostpolitik nicht zustande gekommen.

Leicht sei es auch für ihn damals nicht gewesen, die Koalition mit Kanzler Helmut Schmidt zu beenden. Die FDP wollte mehr von ihren wirtschaftspolitischen Vorhaben durchsetzen, und das ging mit der CDU unter Helmut Kohl leichter als mit Helmut Schmidt, der in einigen Fragen die SPD nicht hinter sich hatte.

Zehn Minuten mit Hans-Dietrich Genscher kommen einem Galopp durch die deutsche Geschichte gleich. Er spricht gern über den Liberalismus, den Begriff der Freiheit, das „Sich-nicht-verbiegen-Lassen“. Aber er kann dieses Reden über abstrakte Begriffe mit Geschichten füllen.

Er trat der FDP vor 50 Jahren bei, saß 33 Jahre lang für sie im Bundestag, 23 Jahre im Bundeskabinett. Er war Teil der Bonner Republik, einer anderen Politikergeneration mit Kurt Schumacher, Konrad Adenauer oder Theodor Heuss. Eine Zeit, in der Politiker nicht über 25.000-Euro-Vortragshonorare, Kanzlergehalt oder Promotionsplagiate diskutierten. Er sagt diplomatisch: „Jede Zeit hat ihre anderen Typen.“

Derzeit tritt er häufig mit Christian Lindner auf, einem Politiker, der 50 Jahre jünger ist als er und mit dem Genscher jetzt ein Buch schreiben will. Auf seinen Einfluss angesprochen, sagt Genscher: „Ich weiß nicht, wie wichtig ich heute für die Partei bin, aber ich weiß, dass die Partei für mich wichtig ist.“

Derzeit liegt die FDP mit vier bis fünf Prozent gleichauf mit den Piraten, doch er sagt, dass man in Nordrhein-Westfalen gesehen habe, dass aus zwei Prozent in kurzer Zeit acht Prozent werden können, wenn die Menschen – so wie die Frau im Fahrstuhl – sich für die Idee des Liberalismus begeistern.

An dieser Stelle holt er wieder weit aus, weiter, als es Christian Lindner, Philipp Rösler oder Guido Westerwelle jemals könnten. Die Idee sei ihm zum ersten Mal am 7. Mai 1945 gekommen, dem letzten Kriegstag.

Er hatte den Tod eines Kameraden direkt neben sich erlebt, war Soldat der Armee „Wenck“, jener 80.000 Mann, die sich von der sowjetischen Umklammerung befreiten und bei Tangermünde an die Elbe kamen. Ihr Ziel war nicht, den Krieg zu gewinnen – daran glaubte niemand. Sie wollten in amerikanische Gefangenschaft, alle hatten Angst vor den Sowjets, zu Recht, wie sich zeigte.

Damals konnten sie den Fluss nur auf Holzstegen überqueren. „Neben mir ging einer, mit dem ich von Anfang an auf einer Stube war.“ Der Mann habe zu ihm gesagt: „Was ist los, du sinnierst so?“ Genscher antwortete: „Ich habe eben zwei Entscheidungen getroffen. Die erste: Ich haue hier so schnell wie möglich ab. Die zweite: Ich will nur noch machen, was ich will.“

Hans-Dietrich Genscher lacht auf, als er daran zurückdenkt. Als ob er sich noch einmal freut, dass er nicht erschossen oder in Gefangenschaft gefoltert wurde, jetzt hier sitzen kann. Der Krieg war vorbei, und kurz darauf hörte er auf einer Versammlung den für ihn inzwischen berühmten Ausspruch: „Der Liberalismus ist die umfassendste Alternative zu jeder Form der Unfreiheit.“

In diesem Moment habe er gewusst: Das ist mein Verein. Er trat am gleichen Tag den Liberaldemokraten bei. „Demnächst ist das…“, er überlegt, schaut nach oben, winkt ab, „…na ja, unendlich viele Jahre her.“

Es ist leicht, mit Hans-Dietrich Genscher über Geschichte und Weltpolitik zu reden, fragt man ihn aber nach Freunden und Familie, schaut er, als ob sich das nicht gehöre. Dann erzählt er doch von seinem ältesten Freund, einem Hallenser, mit dem er nicht nur Kriegserinnerungen teilte, sondern: Kindheit, Jugend, Krieg, Alter. Vor zwei Jahren starb er. „Das war der seltene Fall“, sagt er, der Überlebende, „dass ich am Grabe gesprochen habe.“

Er sei immer sparsam mit dem Wort „Freund“ gewesen, aber für Roland Dumas, Frankreichs Außenminister in den 80er- und frühen 90er-Jahren, habe er ihn verwendet. Dabei hatte Dumas zunächst das Amt abgelehnt. Er wollte nichts mit den Deutschen zu tun haben, sein Vater war von der Gestapo ermordet worden.

Wenn man Genscher fragt, wie die beiden trotzdem Freundschaft schlossen, sagt er etwas, das nur ehemalige Außenminister so formulieren können: „Sie können sich vorstellen, wie das ist, da ist so ein langweiliges Abendessen in einem großen, hellen Raum, und man redet über Asien und die USA und zu später Stunde kommt plötzlich die Frage auf: Wo warst du eigentlich am letzten Tag des Krieges?“

Die Frage hat er heute schon beantwortet. Es muss so ähnlich wie in diesem Raum abgelaufen sein. So entstand damals die Basis für eine Freundschaft – und auf lange Sicht vielleicht eine Grundlage für Europa.

Eben jener Roland Dumas war auch im Jahr 1989 Außenminister Frankreichs, ein Jahr, das Genscher beinahe nicht überlebt hätte. Er saß im Juli 1989 beim Friseur, wollte danach in den Urlaub fahren. „Plötzlich Ende, Aus“, sagt er. „Ich hatte einen Vernichtungsschmerz im Unterkiefer.“

Von solch einem Schmerz hatte er kurz zuvor in einem Flyer der Herzstiftung gelesen, den seine Frau ihm gezeigt hatte. Nur dadurch habe er gewusst, dass sich ein Infarkt ankündigte. Zum Friseur, der ihn trotzdem nicht gehen lassen wollte, sagte er: „Schneiden Sie hinten ein bisschen gerade, ich muss ins Krankenhaus.“

Wenige Wochen später kommt es zu einer Szene, die noch heute 100.000-fach auf YouTube angeschaut wird: Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft, nicht einmal ausreden kann er, weil die Menschen so jubeln.

Er sagt, er habe nie geweint bei öffentlichen Auftritten, aber wenn, dann wäre es dieser Moment gewesen. „Doch dafür war die Anspannung viel zu groß.“ Nun sitzt er im „Adlon“ und wiederholt den Satz von damals: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“

Weiter spricht er nicht. Selbst in seiner Erinnerung ist dieser Satz abgebrochen. Außerdem klingelt das kleine Telefon auf dem Tisch. Er bittet um Rückruf. Fünf Minuten, sagt er. Wenn das Genscher-Minuten sind, werden es nur Sekunden sein.

Bald auf Twitter

Für einen Augenblick geht es nicht um schwere Momente vor langer Zeit, sondern um die Gegenwart. US-Wahl? „Ich war klar für Obama, Bush junior hat Amerika durch seine Politik so verheerend geschadet.“ Angela Merkel? „Ich kenne sie noch vom Kabinettstisch, sie ist sehr originär und sich selbst treu.“ Twitter? „Das Phänomen nehme ich wahr, aber ich nutze es noch nicht, werde das aber ändern.“

Die Zeit ist eigentlich abgelaufen, aber dann erzählt er noch eine letzte Geschichte, es ist die mit dem größten Zeitsprung, fast 80 Jahre zurück. Es ist nur eine kleine Anekdote, aber sie handelt wieder von einer freien Entscheidung, und an ihrem Ende steht die Vorstellung, dass ohne diesen Moment für ihn und für Deutschland vielleicht vieles anders gekommen wäre.

Es war an einem Adventssonntag 1936, an dem seine Eltern spazieren gingen, wie immer am Sonntag. „Ich hatte mir überlegt“, sagt er und klingt selbst dabei fast staatstragend, „es wäre an der Zeit für meine erste Zigarette.“ Er hatte sich eine Packung Lloyd gekauft, zehn Pfennig für vier Zigaretten. Der neunjährige Genscher setzte sich in den Lehnstuhl des Vaters.

Genscher lehnt sich jetzt genauso im Hotel in seinem Sessel zurück. Plötzlich kam der Vater herein – er hatte etwas vergessen – und sah seinen Sohn dort. Genscher sprang hoch, bekam eine Ohrfeige, die erste und einzige. Schon am Abend war das vergessen, aber der Vater sagte, er wolle das nie wieder sehen. Diese Szene habe sich bei Hans-Dietrich Genscher eingebrannt. „Dieser Blick…“ Kurz darauf wurde der Vater ins Krankenhaus eingeliefert, er starb im Januar des darauffolgenden Jahres an Blutvergiftung.

Hans-Dietrich Genscher habe nie wieder in seinem Leben eine Zigarette geraucht. „Bei den Krankheiten, die ich hatte – wäre ich Raucher, säße ich vielleicht jetzt nicht hier.“

Reinhard Mey, Porträt

Da gibt es diesen Sven Kaiser, ein ungefähr zehn Jahre alter Junge. Vielleicht heißt er anders und Reinhard Mey hat ihn nur so genannt, weil es sich auf „heiser“ reimt. Sven Kaiser also steht mit seinem Vater Hans-Peter in einer Schlange in der Friedrichstraße und wartet auf das Autogramm eines Comiczeichners. Die beiden wissen nicht, dass Reinhard Mey hinter ihnen steht, zuhört, zuschaut. Nach einer Weile wird der Vater ungeduldig, ist genervt. Dann sagt er: „Mir reicht’s, sieh zu, wie du allein nach Hause kommst.“ Reinhard Mey beobachtet, wie Sven dem Vater hinterherblickt, als müsse er gleich weinen. Als er dann bei seinem Star angekommen ist, fragt er nicht nach der Widmung „Für Sven“. Im Lied heißt es: „Sven sagt heiser: ,Für Hans-Peter Kaiser’“.

Reinhard Mey hat sein Lied „Sven“ vor rund zehn Jahren geschrieben, aber diese Szene könnte auch gestern passiert sein. Man kann es als eines von rund 500 Liedern von Reinhard Mey beim Internetportal Spotify hören, sich als MP3 herunterladen, bei YouTube als Video anschauen oder auf „www.reinhard-mey.de“ den Text lesen. Man kann auch eine CD oder Schallplatte hervorkramen, egal, wie man es hört, immer nur mit Gitarre und Stimme, man möchte es gern besser machen als Hans-Peter. Mehr wollen Meys Lieder vielleicht auch nicht. Nur anregen dazu, sich mehr Mühe zu geben im Alltag, den Eltern auch mal einen Brief zu schreiben und zu danken für die Kindheit, wenn sie schön war.

Als Reinhard Mey in Tegel vor seiner ehemaligen Grundschule ankommt, kann er sich noch an die Szene mit Sven erinnern. „Sie ist genauso passiert“, sagt er, „wie ich es im Lied erzähle.“ Das habe ihn berührt, wie der Vater die Gefühle des Sohnes verletzte, weil er gestresst war. Dann spricht er davon, wie wichtig dieses Alter sei und wie schön er es hatte, hier in diesem Backsteinbau, seiner alten Schule. Reinhard Mey weiß auch mit seinen 70 Jahren noch, wie er hier zum Unterricht gegangen ist, schon als Erstklässler mit der S-Bahn fahren durfte. Heute will er diesen Schulweg noch einmal rückwärts laufen, mit einem kleinen Umweg an den Tegeler See. Damals war er Sohn und Enkel, heute ist er Vater und Großvater.

Es ist nicht ungewöhnlich, auf solche nostalgischen Gedanken zu kommen, wenn man mit Reinhard Mey unterwegs ist. Man muss ihn eigentlich nur anschauen; wie er da steht mit dem grauem Mantel, einem Erbstück des Schwiegervaters, und dem roten Schal. Sofort kommen Gedanken an besonders schöne oder traurige Dinge, eben solche, aus denen Mey Lieder gemacht hat. Jeder Deutsche kann mindestens zwei oder drei sofort singen. Zum Beispiel das von einer gewissen Annabelle, die „so herrlich intellektuell“ sei. Oder das, in dem sich „hätte“ auf „Zigarette“ reimt und das seit mehr als 30 Jahren eine niederländische Radiosendung jeden Abend einleitet: „Gute Nacht, Freunde“. Die größte Berühmtheit hat Mey wohl erreicht, weil er der erste war, der ein Lied dichtete, in dem negative Worte so gesungen werden, dass sie ganz leicht klingen: „Alle Ängste alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann…“

Ein Flugzeug vom nahen Flughafen rauscht über Wolken vorbei, als wir Richtung Tegeler See loslaufen. Er erzählt von seiner Schulzeit, wie nahe ihm das alles noch sei, obwohl jetzt Ferien sind und diese Schule ohne Kinder etwas trostlos wirkt. Seine Klassenlehrerin hieß Frau Aust. Die Schüler haben sie immer nur „die Auster“ genannt. „Die war super nett“, sagt er und: „Damals war ich wirklich glücklich.“ Er weiß noch, wie er einmal zu dem Kunstlehrer, einem gewissen Herrn Adomeit, gesagt habe: „Herr Adomeit, ich habe heute keine Lust auf Unterricht.“ Der Lehrer habe dann gesagt: „Gut, dann singen wir doch jetzt was.“ Später, als er dann auf das Französische Gymnasium kam und der Leistungsdruck größer wurde, sei er lange nicht mehr gern zur Schule gegangen. „Das war der Horror, besonders am Anfang, als ich noch keine Freunde hatte.“

Doch letztlich half ihm genau dieses Gymnasium, auf das ihn seine Eltern schickten. Seine frühen Erfolge hatte er – nach ersten Erfahrungen auf Berliner Bühnen – auch in Frankreich. Dort heißen Liedermacher „Chansonniers“, das klingt nicht nur besser, sondern ihre Musik wird auch häufiger im Radio gespielt. Bis heute hat er sieben Alben auf Französisch aufgenommen, 26 auf Deutsch. Nach seiner endgültigen Rückkehr nach Berlin in den 70er-Jahren wurde er „der deutsche Jacques Brel“, auch wenn sein Genre es hier schwer hat. Seine Plattenfirma ließ ihn machen, einfach so. Doch es funktioniert bis heute, wenn Reinhard Mey pünktlich alle drei Jahre eine Tour durch 60 Städte macht, dann sind die Konzerte noch immer ausverkauft.

Nur wenige Meter neben der Schule zeigt er auf eine Kirche mit einer leuchtend rot angestrichenen Tür. Der Bau erinnert ihn wieder an seine Kindheit. „Hier hab ich einmal eine Schleppe getragen“, sagt er und es wirkt, als könne er die Szene für ein Drehbuch ganz genau nachstellen. Er stand dort, die Braut dort. Neben ihm lief ein Mädchen aus seiner Straße, die ihm beim Tragen der Schleppe half. Er war nur das eine Mal in dieser Kirche, für diese Hochzeit, sonst seien seine Eltern mit ihm in eine Schulzendorfer Gemeinde gegangen. Später sei er ausgetreten und zum Kirchenkritiker geworden. Als jetzt aber vor Kurzem der Papst gewählt wurde und die Tagesschau zehn Minuten darüber berichtete, habe er schon gedacht: „Leben wir in einem Gottesstaat?“ Nicht umsonst habe er einmal gedichtet: „Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm: Halt du sie dumm, ich halt sie arm!“

Es geht schnell bei Reinhard Mey, dass man auf Gegenstände oder Orte zeigt, die irgendwie zu einem Lied von ihm führen, kein Wunder bei über 500 Songs, ab Mai sind es noch 17 mehr. Wenn ein Spaziergänger mit seinem Hund entgegenkommt, könnte dazu dieses Lied laufen: „Es gibt Tage, da wünscht‘ ich, ich wär mein Hund“. Darin beneidet er das Haustier für seine Gleichmütigkeit. Als die Kälte ihm Tränen in die Augen treibt, denkt er an sein Lied „Das Taschentuch“, das auf seinem neuen Album sein wird. Darin geht auch darum, dass am Abend die Tränen der Kanzlerin „rinnen“, wie bei „Klein-Eisprinzessinen“. Wieder so ein Moment, in dem sich jemand unbeobachtet fühlt, wie Hans-Dieter Kaiser. Und als wir die Bäume am See betrachten, fällt einem das fast 30 Jahre alte Lied ein: „Wie ein Baum, den man fällt, eine Ähre im Feld, möcht’ ich im Stehen sterben.“

Ja, dieses Sterben, das war schon Thema auf fast allen Alben, sagt er. „Es geht eigentlich immer um Liebe, Schnaps und Tod bei meiner Musik.“ Auch sein neues Album hat ein Lied, das wie für eine Beerdigung geschrieben ist. „Aber ich singe nie auf Beerdigungen“, sagt Reinhard Mey. „Die Tatsache, dass dort jemand, der mir nahe steht, gerade gestorben ist, da wäre schon sprechen zu viel.“ Das neue Album wird „Dann mach’s gut“ heißen, wieder ein Abschied, aber Mey legt Wert darauf, dass es kein „Adieu“ sein wird. „Ich mache weiter, es gibt ja noch so viele Lieder, die ich schreiben will.“

Er erreicht das Wasser und geht wieder 60 Jahre zurück in seine Kindheit. Wir stehen zwischen dem halb zugefrorenen See und einer Minigolfanlage, in der die Stationen noch eingepackt sind. Ein übergroßer Schwan, ein Miniatur-Leuchtturm, alles wartet hier, dass der Frühling beginnt. Mey erzählt vom Haus seines Großvaters am Heegermühler Weg. Er zückt ein Smartphone und zeigt, wo das genau lag, zoomt so nah heran, dass es nicht mehr näher geht. „Das war das Paradies“, sagt er, „Dort haben wir immer Stachelbeeren und Johannisbeeren gepflückt.“ Doch auf dem Rückweg in den französischen Sektor, wo seine Eltern wohnten, sei es ihnen mehrfach passiert, dass die Volkspolizei ihren vollen Eimer beschlagnahmte.

Als wir zurück in Richtung S-Bahnhof Tegel laufen, erzählt er von der Mauer, die er von ihrem Bau bis zum Abriss der Mauerteile an der East Side Gallery vor ein paar Tagen immer begleitet hat. Er sang in den 80ern „Ich würde gern einmal in Dresden singen“ und verbrachte den Mauerfall dann zufälligerweise genau dort. Am 10. November 1989 sang er im Dresdener Kulturpalast das Lied mit den „Sorgen und Ängsten“ und der „grenzenlosen Freiheit“. Er hatte ein Kindermädchen im Ostteil der Stadt, die Eltern schickten nach 1961 immer Pakete, Mey hat sie als 50-jährige Frau wiedergesehen. Auch wegen solcher Geschichten ist er gegen den Teil-Abriss, der gerade in Friedrichshain passiert: „Es ist wie alles in Berlin, es geht daneben.“ Der Investor zeige mangelndes Fingerspitzengefühl. „Er wird doch nie glücklich mit dem Bau“, sagt er. „Ich sehe heute schon die Farbbeutel auf die Fassade fliegen.“

Gerade, als er sich in Rage reden will, denn er könne sich noch immer herrlich aufregen, kommt eine ältere Frau auf ihn zu. „Schön, dass ich Sie treffe, Herr Mey“, sagt sie. „Ich suche eines ihrer Lieder schon so lange, irgendetwas mit ‚Nacht‘.“ Er fragt verblüfft, ob sie „Schenk mir diese Nacht“ meine? Sie: „Genau das! Es ist ganz tolles Lied, wenn man den Hintergrund weiß…“ Mey fragt, ob sie schon im Internet gesucht habe? Sie sagt: „Ich bin 82 Jahre alt, ich bin doch nicht im Internet.“ Dann bittet er sie um ihre Adresse, er werde sich kümmern. Als sie geht, ruft er ihr hinterher: „Sie bauen mich auf!“

Als er weiterläuft, erzählt er, dass solche Begegnungen nicht häufig seien. Die Berliner seien ja eher zurückhaltend, aber er freue sich wirklich über so etwas. „Man ist ja doch immer mit seinen Zweifeln…“, er zögert, „auch … dass man sich klein… und man sich hässlich fühlt.“ Dagegen helfe nichts, nur solche Begegnungen. „Auch wenn es nicht lange dauert, bis das alte Grübeln zurückkommt.“

Seine Familie hat ihm in den vergangenen Jahren viel Anlass zum Grübeln gegeben. Max, sein zweiter Sohn, ist mit 27 Jahren im März 2009 in ein Wachkoma gefallen und bisher nicht wieder aufgewacht. Mey spricht nicht davon, aber er hat darüber Lieder gesungen, leise, mit der Gitarre. „Drachenblut“ ist eines davon, darin heißt es, er sei entschlossen, „ihn in die Welt zurückzulieben“. Umso wichtiger ist ihm jetzt der Kontakt zu seinen anderen beiden Kindern, die beide in der Berliner Umgebung wohnen. Seine Tochter Victoria-Luise eröffnet gerade ein eigenes Geschäft, und sein Sohn Frederik hat nach seiner Zimmermannslehre noch einen Pilotenschein gemacht, fliegt jetzt Luftfracht durch die Welt.

An der Berliner Straße zeigt er plötzlich nach oben. „Hier hat mein Schulfreund Detlef gewohnt“, sagt er, „hier habe ich häufig nach der Schule eine Stulle bekommen.“ Er zeigt auf den Zahnarzt, wo er als Kind gelitten hat, und auf den Spielwarenladen, den es damals schon gab. „Wenn ich beim Zahnarzt tapfer war, gab es dort eine Belohnung, zum Beispiel ein Spielzeugauto von Schuco. Wir gehen weiter in Richtung S-Bahnhof, der eigentlich nur wenige Meter hinter der Berliner Straße liegt. Er schaut die Treppen hinunter in den Gang, der zum Bahnsteig führt. Er geht nicht hinunter. Auch er will es mit der Nostalgie offenbar nicht zu weit treiben.

Auf dem Rückweg greift er zum Mobiltelefon, seine Frau hat ihm ein Foto geschickt mit einem Osterstrauß und einer Kaffeetasse. „Das ist wohl ein Hinweis“, sagt er, „dass ich kommen soll.“ Weil er gerade das Telefon in der Hand hält, will er noch zeigen, wo sein Sohn Frederik gerade ist. Dafür gibt es eine App, „Flightradar24“ heißt sie. Sie zeigt in Echtzeit alle Flugzeuge als kleine Symbole an. Er tippt auf eines. Flugnummer „BOX513“, Lahore–Leipzig. „Da ist er ja.“ Wenn er gelandet sei, schicke er immer eine SMS.

Eigentlich kann sich so etwas niemand ausdenken: Der Vater, der mit einem Flugzeug-Lied in die Musikgeschichte eines Landes eingeht. Und der Sohn, der mehrmals in der Woche Frachtflugzeuge durch die Welt steuert. Einmal hat er den Vater mitgenommen. Der konnte natürlich nicht widerstehen, hat ein Lied für sein neues Album daraus gemacht. Es ist sentimental, nostalgisch, aber „Sorgen und Ängste“ kommen nicht vor. Dafür ein Reim mit „und dann“. Es ist der Moment, wenn das Flugzeug landet, aber wenn man genau liest, geht es auch um Liebe, Schnaps und Tod: „Und wenn wir landen werden, heimgekehrt von unserer Reise / wirst du zu deinem kleinen Sohn fahren und dann / wird er dir um den Hals fallen und dich auf die selbe Weise / ausfragen wie du mich einst und alles fängt von vorne an.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 31.3.2013

Jochen Busse, Porträt

Jochen Busse hat sich gerade auf den Stromkasten neben die Straße gesetzt. Es ist ein bisschen eklig, weil der Kasten oben schmutzig ist und klebt, aber da will er jetzt durch. „Alles kein Problem.“ Auf dem Bild werden viele verschiedene Blautöne zu sehen sein: der Himmel, die leichten Stoffschuhe, die hellen Jeans, das luftige karierte Hemd. Alles macht gute Laune. Hinter ihm hupt ein Auto, damit der Wagen davor in der Schlange an der Ampel („Grün! Mann!“) weiterfährt. Jochen Busse merkt nicht, dass er auf diesem Stromkasten zum Verkehrshindernis wird.

Bis vor Kurzem sah man sein Gesicht in Berlin überall auf Plakaten. Er spielte im Theater am Kurfürstendamm den US-Präsidenten. Das Stück hieß „November“, und es ging um den Kampf um die Wiederwahl ins Weiße Haus und was das mit dem Leben eines Truthahns zu tun hat. Busse war also jeden Tag für zwei Stunden der mächtigste Mann der Welt. Aber jetzt genau in diesem Moment, auf dem Stromkasten, kurz bevor die Fotos gemacht werden, antwortet dieser Mann auf zwei eher unangenehme Fragen:

Wäre Ihr Vater stolz auf Sie gewesen?

„Nein, mein Vater fand, dieser Beruf sei kein Beruf. Des is’ ja alles nischt.“

Hat er Sie je im Fernsehen gesehen?

„Ja, da lag er schon krank im Bett. Meine Mutter hat ihm gesagt, dass ich im Fernsehen sei, als ein Mörder. Da hat er bitterlich geweint.“

Jochen Busse hat sich über eine Stunde warmgeredet, bis er zum Stromkasten kommt. Dabei erwartet man bei einem Spaziergang mit ihm eher leichte Themen. Schließlich ist er ein Komiker, hat mit Rudi Carrell in Sketchen gespielt, mit Dieter Hildebrandt bei der Münchner Lach- und Schießgesellschaft die 70er-, 80er- und 90er-Jahre kabarettistisch begleitet.

Er ist der Mann, der mit Mike Krüger bei „7 Tage, 7 Köpfe“ die acht Jahre Kanzlerschaft von Gerhard Schröder kommentierte. Rund sechs Millionen Menschen fanden das damals unterhaltsam, jede Woche. Er spielte in Filmen nicht nur Verbrecher, sondern auch Kommissare und Außerirdische. Noch heute ist er häufig in Talkshows eingeladen. Meist ist er dann der unterhaltsamste Gast in der Runde, hat zu allem eine Meinung: NSA-Affäre, Merkel oder chinesische Dissidenten.

Doch zu Beginn des Spaziergangs am Branitzer Platz will er von der Zeit bei „7 Tage“ erzählen, die Show, die ihn am bekanntesten machte. „Natürlich habe ich ,7 Tage‘ viel zu verdanken“, sagt er. „Aber es war auch hart, weil meine Aufgabe doch eher das Anklingeln der Straßenbahnhaltestelle war.“ Er meint, dass er meist nur das Thema einer Gesprächsrunde ankündigte und damit die Grundlage für die Pointen der anderen sechs Komiker schuf. Aus dieser Rolle kam er bis zur letzten Sendung 2005 nicht heraus. Dabei hatte er so hoch gesteckte Ziele: „Ich wollte immer die ultimative Komik erreichen, auch wenn das eigentlich unmöglich ist.“ Vielleicht arbeitet er deshalb noch mit 72 Jahren an diesem Ziel, das so viel abverlangt – unter anderem dieses Herumlaufen mit fremden Menschen durch eine vertraute Gegend.

Er sagt, er sei seiner Frau Constanze zuliebe nach Westend gezogen und fühle sich hier wohl. Er kenne hier inzwischen die Nachbarn, die Frau vom Bio-Supermarkt und weiß noch, wo Karl Dall gewohnt hat. „Ein schönes Haus, da laufen wir später vorbei!“ Er wird hier häufig erkannt: von Bauarbeitern, die gerade eine Pause machen, oder einer jungen Johanniter-Schwester, die ihn auf der Straße anspricht: „Herr Busse, ich habe gehört, Sie wollen bei uns lesen!“ Offenbar hat er sich zum Lesen im Seniorenheim angemeldet. Er macht mit ihr einen Termin aus, plaudert noch über seinen Hund und läuft dann weiter.

„Ich lese ohnehin viel laut“, sagt er dann. Den „Zauberberg“ von Thomas Mann zum Beispiel habe er sich selbst laut vorgelesen. Und seine Frau will gerade, dass er jeden Morgen den Söhnen etwas vorliest. Das ist jetzt Teil des Morgenrituals, wie der Yoga-Kopfstand, den er seit mehr als 20 Jahren täglich macht. „Das kann eine Stunde Schlaf ersetzen und mich für den ganzen Tag fit machen.“

Plötzlich stehen wir vor dem Haus, das erst vor wenigen Wochen häufig in der Zeitung zu sehen war. „Mord im Westend“ war die Schlagzeile auf den Titelseiten. In diesem grünen Haus in der Leistikowstraße wurde ein Steuerberater ermordet. Direkt neben Büros von Rechtsanwälten, Zahnärzten und Familientherapeuten. Die Polizei untersucht derzeit noch die Schmauchspuren der Waffe. Gerüchte sagten erst, dass die Familie „ganz normal“ gewesen sei, aber Tag für Tag änderte sich das. Plötzlich war über Neid, Ehebetrug, Gier und Hass zu lesen. Eine Frau kommt heraus, mit einer Mülltüte. Sie schaut misstrauisch. Busse sagt: „Was die mitgemacht haben müssen in den letzten Tagen …“ Noch einmal zwei Fragen, zwei Antworten:

Hat Ihr Vater Sie geschlagen?

„Ja, natürlich. Das habe ich ihm auch nie vergessen. Das ist demütigend, und dass diese Person, die du am stärksten liebst, das an dir ausführt, das geht letztlich nicht.“

Jetzt haben Sie selbst Kinder …

„Ja, ich kann das mit dem Handausrutschen schon nachvollziehen, aber ich mache das nicht. Die Schmerzen sind schlimm genug, aber ich weiß: So etwas, das verzeiht man nicht. Ich dachte damals, der kann dich umbringen.“

Düstere Geschichten überraschen Jochen Busse in der Gegend nicht. Erst neulich musste er bei einem Spaziergang seinen zehnjährigen Söhnen erklären, warum eines der Häuser in der Nachbarschaft Polizeischutz mit Maschinengewehr hat. Es ist eine andere Krimi-Geschichte, die von Morddrohungen gegen den Sohn eines Architekten handelt. Außerdem sei diese Gegend ja so aufgeladen mit Geschichte. Er sei deshalb extra in einen Neubau gezogen, weil er nicht in einem Haus mit schlimmer Geschichte wohnen wolle. „Ich sehe hier überall die Stolpersteine, die von Ermordeten der Nazis erzählen.“

Wir gelangen zur Reichsstraße, die seit mehr als 100 Jahren so heißt. Hier ist Jochen Busses Lieblingsitaliener, in dem er abends gern mit Freunden sitzt, hier ist sein Lieblingscafé, wo er so gern Waldbeertörtchen isst, dass die Bedienung ihm lieber etwas anderes anbieten möchte. Er sagt aber, wenn er sich einmal „eingegessen habe“, dann bleibe er dabei. Hier spricht er dann ausführlicher von seinen frühen Jahren, als er als junger Mann zum ersten Mal in diese Gegend kam, als noch keine Stolpersteine in den Straßenpflastern lagen.

Zusammen mit Theaterkollegen hat er hier in Berlin den ersten Jahrestag des Mauerbaus erlebt, den 13. August 1962. Da habe es eine Demonstration gegeben im Westen. „Die Mauer hat uns auch ganz praktisch betroffen“, sagt er, „weil doch viele Zuschauer aus dem Osten ins Ku’damm-Theater gekommen sind.“ Hier am Theater hat er auch viele Geschichten von jüdischen Kollegen über ihre Vertreibung oder das Exil gehört. „Einer meiner Kollegen, den ich nicht einmal mochte, hat vier Jahre in einer Kiste gelebt.“ Belgier hatten ihn so vor den Nazis versteckt. Erfolgreich. Aber: „Sein Körper war so verkrümmt, dass er nach dem Krieg neu laufen lernen musste.“

Er schaut lange vor sich hin, schüttelt den Kopf.

Dann erzählt er schließlich von seinem Vater, gegen dessen Meinung er letztlich zur Bühne ging. Er habe so einen Kasernenton gehabt, sagt er über ihn, das habe ihm immer Angst gemacht. „Ich kam immer besser mit den Freunden meines Vaters klar.“ Einer von diesen Freunden habe in Berlin gelebt und sich eine Aufführung von Busse angeschaut. „Als der mir danach sagte, er fand es gut, war das ein größerer Ritterschlag als jede Zeitungsrezension.“

Für den Vater war das ja: „nischt“. Das sagt er hier auf dem Stromkasten an der Ecke Reichsallee, Kastanienallee. Sein Vater sei eben eine schwierige Person gewesen. Als Fabrikant habe er auch nach dem Krieg noch sein Parteiabzeichen benutzt. Das war noch hilfreich für die Kundenakquise. Busse habe sich häufig mit ihm gestritten, vor allem über politische Themen. „Er sagte immer, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, dass Hitler den Krieg verloren habe.“ In solchen Diskussionen fiel der Vater dann auch manchmal ins Berlinerische. „Die Sache mit den Juden“, äfft er seinen Vater nach, „da hadda eb’n Quatsch jemacht.“

Er sagt auch, dass er nicht will, dass Wahlplakate im Hintergrund zu sehen sind. „Das lesen doch die Leute dann nicht.“ Er hat sich traditionell immer als Linker bezeichnet. „Die Wahl ist doch ohnehin schon entschieden.“ Interessant wäre noch, ob Angela Merkel vielleicht in diesem Jahr allein regieren kann. Dann müsse einmal eine Partei wirklich ihr Programm umsetzen. Plötzlich wird Busse von zwei Kindern angesprochen. Sie stellen sich artig auf und fragen: „Sind Sie aus dem Fernseher?“

Nachdem er den Kindern erklärt, woher sie ihn kennen, laufen wir langsam zurück in Richtung Branitzer Platz. Er wolle noch das Haus von Karl Dall zeigen. „Das hat er gekauft, als es noch richtig günstig war.“ Es steht an der Kastanienallee, und Jochen Busse war dort auch mehrfach zu Gast. „Im Erdgeschoss hat er gewohnt“, sagt er, „und im obersten Stock seine Tochter.“ Das sei alles so unkompliziert gewesen mit dem Karl. „Man wurde nie eingeladen, man ging einfach vorbei.“ Jetzt wohne Karl Dall in Hamburg, man hört gerade nicht so viel von ihm, und auf dem Dach seines ehemaligen Berliner Hauses weht jetzt die Flagge von Kasachstan.

Er könnte noch weiter erzählen, von dieser Gegend, dass hier auch Lilli Palmer gelebt habe, eine andere Schauspielerin, die immerhin mit dem US-Star Rex Harrison zusammen war. In ihrer Wohnung ist jetzt auch eine deutsche Schauspielerin … „Aber das muss vielleicht nicht jeder wissen.“ Er könnte auch über das deutsche Humorfernsehen erzählen, dessen wichtiger Teil er einmal war. Er verfolgt es noch.

Mario Barth sei nicht so sein Geschmack, Kurt Krömer mache seine Sache doch sehr gut, Oliver Welke in der „Heute-Show“ sei fabelhaft – und dann sei es schade, dass man Harald Schmidt nicht mehr sehe. „Das ist es doch, was es heute fast nicht mehr gibt. Jemanden wie Harald Schmidt, der nur nach seinem Geschmack geht und sich nicht verwässern lässt.“ Jochen Busse war bei Schmidts erster Sendung im Publikum. Die war so unglaublich gut, sagt er. „Und Harald ist der beste Jochen-Busse-Imitator, den es gibt.“ Bei allen anderen würde er immer klingen, als habe er Verdauungsschwierigkeiten.

Am Ende des Spaziergangs kommen wir noch einmal auf den Vater zu sprechen. Aber über Umwege: Busse hat eine Narbe am Kopf. „Die habe ich mir 1951 geholt“, sagt er. Da habe es eine Sprengung im Ort gegeben, und als die Warnsirene losging, stieß er in Panik mit einem Jungen mit dem Kopf zusammen. „Es gibt wohl über der Schläfe eine Stelle, die ganz empfindlich ist.“ Es war sein Vater, der darauf bestand, dass der zehnjährige Jochen ins Krankenhaus muss. Die Ärzte untersuchten ihn und mussten den Schädel öffnen, um ihn zu retten.

Die Beziehung zum Vater ist kompliziert. Busse weiß, dass sie vielleicht nie aufhört, wichtig zu sein, auch wenn er lange tot ist. Die Mutter hat ihn noch lange gepflegt. Sie hatte ihrem Mann nie widersprochen, immer sei ihr wichtiger gewesen, was die Leute denken. Als der Vater starb, rief die Mutter ihn in München an. „Danach wurde sie dement“, sagt er, „als ob sie ihre Aufgabe verloren habe.“ Noch zwei Fragen, Herr Busse:

Was wissen Sie von Ihrer Geburt?

„Der Arzt war ein Antifaschist und riet meiner Mutter, mich abzutreiben. In diese Welt könne man doch kein Kind bringen. Für meinen Vater kam das nicht infrage.“

Wie hieß Ihr Vater?

„Klaus.“

Nach diesem Spaziergang ist es nicht schwierig, sich den Komiker Jochen Busse bei seinem täglichen Yoga-Kopfstand vorzustellen. Hände gefaltet zusammendrücken, die Unterarme bilden ein gleichschenkliges Dreieck auf dem Boden, die Füße kerzengerade nach oben. Die Decke ist 2,80 Meter hoch, da ist noch Luft nach oben. Auch an diesem Morgen hat er sicher den Kopfstand gemacht. Unten ist oben, oben unten. Für einen Komiker, der sich so viel mit Geschichte auseinandersetzt, vielleicht die beste Ausgangslage.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 27.8.2013

Christopher von Deylen, “Schiller”, Porträt

Es macht wirklich Freude, den Ausführungen von Christopher von Deylen zuzuhören, wenn er Sätze baut, in denen jedes Komma, jeder Gedankenstrich hörbar ist, in denen ganz selbstverständlich Worte wie „Chimäre“ oder „Vignette“ vorkommen, Sätze, die lang sind und trotzdem am Ende immer einen Punkt haben. Und es gibt Fragen, die im Prinzip nur dazu da sind, noch einen von diesen verschnörkelten Sätzen aus ihm herauszufordern. Eine dieser Fragen, an einer Brücke mit Blick auf die Spree gestellt, lautet: Was sagen Sie zum Beispiel… zum Wasser?

Ohne den Hauch eines Zögerns sagt Christopher von Deylen in seiner nachdenklichsten Stimme: „Das, was unter der Wasseroberfläche ist, ist uns sehr fern, aber andererseits macht es einen Großteil der Welt aus; wir aber neigen dazu, das, was an Land geschieht, als tendenziell zu wichtig zu nehmen – auch in diesem Falle ist es nur ein Ausschnitt, den wir sehen, es schimmert, es glitzert, aber reingucken können wir nicht.“

Jetzt könnte man sagen, Christopher von Deylen hat einen Ruf zu verlieren. Schließlich tritt er seit 15 Jahren mit dem Namen „Schiller“ als sehr erfolgreiches elektronisches Musikprojekt auf. Sein achtes Album „Opus“ ist vor genau einem Monat erschienen und belegt aus dem Nichts plötzlich Platz 1 der Charts. Als „Schiller“ wird er vom (Achtung!) „Goethe“-Institut in die Welt eingeladen, tritt in Asien, den USA und vielen Städten Europas auf, seine Shows gelten als legendär, wegen der Lichtanlage, aber vor allem wegen der Stimmung, die er erzeugt. „Schiller“ hat er das Projekt genannt, weil er den Dichter so gut findet. Vor allem das Gedicht „Die Glocke“, passend dazu war sein erster und bis heute größter Hit „Das Glockenspiel“.

Jetzt aber steht dieser 43-jährige Mann an der Schillingbrücke und sieht aus wie eines seiner Lieder, selbstbewusst, zurückhaltend, in sich versunken. Er schaut auf das Wasser, dessen Lichtreflexe Muster auf sein Gesicht zeichnen. Bevor wir loslaufen, sagt er noch einmal zum Wasser und zu sich und zu allen: „Umso geheimnisvoller ist, was darunter verborgen ist.“

Man könnte ihn sich jetzt gut rauchend vorstellen, weil das so existenzialistisch ist, wenn der Mensch Dampf produziert, der Dinge aus der Erde in Luft verwandelt. Aber er sagt, er habe nie geraucht. Das heißt, er sagt wörtlich einen Satz mit zwei Genitiven: „Das Bedürfnis des Rauchens entzieht sich meines Erfahrungshorizontes.“ Beim zweiten Teil des Satzes, hätte Von Deylen auch den Dativ verwenden können („meinem Erfahrungshorizont“), aber der Genitiv klingt eleganter. Der Genitiv ist ein echter „Schiller“-Fall.

Wir laufen los, vorbei am Club „Magdalena“, der entstanden ist, als die „Maria am Ostbahnhof“ schließen musste. Er sagt, er war noch nie in diesem Club und auch in den anderen, für den diese Gegend hier am Wasser berühmt ist. „Das ist ohnehin nicht mehr das Friedrichshain, in dem ich einmal gelebt habe“, sagt er. Die ersten zehn Jahre seiner Berliner Zeit habe er hier verbracht, damals gab es das „Ostgut“ und keine O2-World oder ein Mercedes-Gebäude, auf dem sich jetzt jener Stern dreht, der in den 90er-Jahren von Autos abgebrochen wurde. Gerade wegen dieser Veränderungen hat von Deylen sich diese Gegend auch für den Spaziergang ausgesucht. „Man kommt hier ja höchstens mit Besuchern her“, sagt er, „aber auch das bin ich lange nicht mehr.“

Wir laufen zuerst in den Yaam-Club. Es ist einer dieser Orte, die noch übrig geblieben sind: Holzhütten, Sandstrand, Metalltonnen, auf denen, man Karibik-Klänge herstellen kann. Das Yaam strahlt den Charme jener Zeit aus, als sich einfach jemand mit einem Bierkasten an die Spree gesetzt hat und meinte: Ok, wir machen hier einen Club auf. So ungefähr ist vor 19 Jahren wohl das Yaam entstanden und später die Bar25 und all die anderen Strandbars. Jetzt braucht es schon David Hasselhoff, damit sich noch Leute für dieses Gebiet interessieren. Der war vor einigen Monaten hier, um für den Erhalt der East Side Gallery einzutreten. Diese Gegend jedenfalls ist für Christopher von Deylen mit Erinnerung verbunden, hier hat er Kulturwissenschaft studiert, was er aber 1998 abbrach, um zusammen mit einem Freund „Schiller“ zu gründen. Anfangs noch ganz ohne Erfolg, eine Zeit, die er heute noch wichtig findet, um sich nicht im Ruhm zu wohl zu fühlen.

Auch das hat für Christopher von Deylen wieder mit der Stadt zu tun, mit Orten wie dem Yaam oder der Eastside Gallery: „Man neigt bei Berlin immer dazu, die Patina der Stadt als Katalysator für Kreativität zu interpretieren.“ Er könne dieses ganze Gerede um dieses Potenzial manchmal schon nicht mehr hören, ja wird sogar skeptisch, wie sehr das nicht vielleicht nur noch eine Fassade sei. „Vielleicht gibt es sogar eine Art Geheimkomitee, das nachts durch die Straßen geht und Graffiti an die Wände sprüht“, sagt er, „damit dieser vermeintlich kreative Charme der Stadt erhalten bleibt.“ Er bleibe bei vielem, offensichtlich „Alternativen“, doch skeptisch. „Es gibt auch ein Bevölkerungssegment, das zwei Stunden vor dem Spiegel steht um dann auszusehen wie Andreas Baader und dann doch zu seinem Portugiesen geht.“ Er sei eher jemand, der immer auch eine Erneuerung suche.

Zumindest sein neues Album erfüllt diesen Wunsch in vielerlei Hinsicht. Es ist das erste, das nicht in Berlin, sondern in New York aufgenommen wurde, erschienen ist es trotzdem beim deutschen Traditions-Label „Deutsche Grammofon“. Von Deylen hat sich klar mit der klassischen Musik beschäftigt, sich von ihr inspirieren lassen. Er stand zusammen mit Größen wie der Pianistin Hélène Grimaud, der Sopranistin Anna Netrebko und dem Oboisten Albrecht Mayer im Studio. Bei früheren Alben hat er eher mit Pop-Künstlern wie Xavier Naidoo, Unheilig oder der Schauspielerin Anna Maria Mühe zusammengearbeitet. Es könnte also bedeuten, dass es nun ernster wird bei „Schiller“, aber wer sich durch die Alben hört, dem erscheint der Schritt zur Klassik wie eine logische Konsequenz aus früheren Projekten wie der Zusammenarbeit mit dem chinesischen Pianisten Lang Lang.

Aber solche Kategorien mochte Von Deylen ohnehin nie. „Zuschauer und Zuhörer haben ja doch eine wesentlich breitere oder tiefere Bereitschaft zur Rezipienz als gemeinhin angenommen“, sagt er. „Es muss nicht immer einfach und schubladisierbar sein.“ Bei der Arbeit mit den klassischen Künstlern habe ihn vor allem gereizt, dass beide Seiten ihre Komfortzonen verlassen mussten, also etwas tun, was für sie neu ist. „Ich finde ja, dass man jeden Tag im Leben irgendetwas tun sollte, das man noch nie gemacht hat.“ So stand er eben mit Hélène Grimaud in einem Raum ohne Tageslicht, und schon dadurch habe das etwas Losgelöstes von der Realität gehabt. Mit welcher Neugier und Offenheit sie an dieses Projekt herangegangen sei, habe ihn überrascht. Für sich habe er in dieser Zeit den Satz geprägt: „Das Leben beginnt da, wo die Komfortzone aufhört.“

Als wir durch eine Tür an der Spree die Wiese hinter der Mauer betreten, fällt auf, dass man tatsächlich zu selten an diese Orte geht. Menschen sitzen auf der Wiese unter blauem Himmel, rauchen, trinken, lesen, spielen Karten. Aber Christopher von Deylen bewegt sich durch sie hindurch, als wären sie nicht da. Seine Bewegungen sind lässig wie die von allen hier, die Augen schauen schlau in die Welt, aber eher vor sich hin oder in die Augen seines Gegenübers. Nie aber wandern sie zu den Vorbeilaufenden, den Sitzenden. Was ihm entgeht: da läuft ein schlanker Bärtiger mit bunter Pudelmütze und Jute-Beutel mit einem Monstergesicht darauf (so Berlin!), ein älterer Herr, der von oben bis unten in Gelb gekleidet ist (total Berlin!) und eine Gruppe Spanier, die mit ihrem Bier in der Hand laut diskutieren, in welchen Club sie jetzt gehen (dieses verrückte Berlin!).

Er sagt, dass er schon ein Auge für diese Dinge hat, aber nur, wenn er allein unterwegs sei. Er sagt es mit einem Genitiv: „Ich mag diese Momente, deren Protagonisten nicht die Absicht haben einen poetischen Moment zu erzeugen.“ Leider gehe auch er zu selten noch an solche Orte, auch, weil sie inzwischen schon eher touristisch sind. „Hier gibt es Ecken, an denen Berlin so ist, wie die Menschen außerhalb der Stadt denken, wie es hier überall sei.“ Am liebsten mag er deshalb den frühen Morgen, nicht um 7 Uhr, wenn die Jogger aufstehen, sondern um fünf Uhr oder noch früher. „Da bin ich für mich auf der Welt.“ Das sei er am Abend auch, aber es gelinge ihm dann nicht so gut, den Tag abzuschütteln. Manchmal höre er dann Deutschlandfunk, das Nachtprogramm oder ab fünf Uhr die Morgennachrichten. Oder er komponiert. Ein Großteil von „Opus“ sei in den frühen Morgenstunden entstanden.

Das zu wissen ist ein Schlüssel für einen Zugang zum neuen Album: Dieses Bild, wie er morgens vor seinem PC sitzt, Musik hört, zurückspult, noch einmal hört. Dann Tee. Vielleicht einen Apfel. Diese Morgenfrische steckt zum Beispiel im Stück „Rhapsody on a theme by Paganini“ von Sergij Rachmaninoff. Es ist ein sehr bekanntes, sehr schwelgerisches klassisches Werk, das die Nummer 13 auf „Opus“ und in das der Sonnenaufgang fast eingebaut ist. Zumindest der Neuanfang, der, den „Schiller“ so mag.

Tatsächlich ist es dieses Stück, was für Christopher von Deylen zu dem besten gehört, was er an klassischer Musik kennt. „Die Rhapsody enthält eine Poppigkeit, die sehr schnell zum emotionalen Vollzug schreitet – aber so, dass man immer aufs neue wie durch feinen Sprühnebel sehen kann, was der dieses Stück erschaffende Geist durchlebt haben muss, um so etwas komponieren zu können.“ Er gerät ins Schwärmen, vergleicht das Werk mit „Enjoy the Silence“ von Depeche Mode, das er für ähnlich perfekt hält, ausgerechnet ein Lied, das die Stille lobt. „Das Tolle an Rachmaninoff ist“, sagt er, „dass es eben nicht aufhört, es fällt nicht zusammen wie ein aufblasbarer Delfin, dem die Luft ausgeht.“

Wir haben den Punkt erreicht, an dem die Mauer durchbrochen ist, und laufen wieder auf der Straße entlang, vorbei an bunten Mauerstücken mit Graffiti von echten Kreativen, ein Stück bewahrte Alternativ-Kultur, die plötzlich zum Kanon gehört und für die man kämpft. Christopher von Deylen erzählt hier, wie er zuerst mit Pop in Berührung kam. Das war, als er in Berlin als Studio-Helfer anfing und dafür in Studiozeit bezahlt wurde. Damals lernte er die Produzentin Annette Humpe kennen, die mit „Ideal“ bekannt wurde und bis 2010 bei „Ich + Ich“ mitsang. Sie habe gesagt, das Wesen der Popmusik sei die Kunst des Weglassens. „Das braucht keiner“, war einer ihrer Lieblingssätze, oder: „Das hört keiner.“ Es gehe schlicht darum, in drei Minuten eine gute Geschichte zu erzählen.

An diesen Purismus hat er sich auch für „Opus“ erinnern wollen. „Es geht mir um diesen Moment, wenn der grau melierte Ehemann im Konzertsaal seiner Frau die Hand auf den Oberschenkel legt, weil er zum ersten Mal gemerkt hat, dass sie eine neue Frisur hat.“ Das sei ein Moment, den das Orchester sich mühsam erarbeiten müsse. „Das ist schließlich ein großes Gefühl.“ Er aber habe sich die Freiheit genommen, die Musik von diesem Arbeitsrahmen zu befreien. Er will gleich die ganz große Emotion, die „authentische Gefühlswelt“.

Letztlich geht es also auch im Hause Von Deylens immer um diese endlose Aufgabe. Man werde diesen „perfekten Sound einer Zeit“ nie ganz erreichen, nie erspüren können. In diesem Sommer sei es ohnehin schwierig gewesen, weil es keinen klaren Sommerhit gab, sagt er. Am nächsten komme dem vielleicht „Get Lucky“ von Daftpunk, darin geht es aber um die Suche nach Glück in der Nacht. Bei „Schiller“ findet diese Suche aber morgens statt und natürlich findet er dafür ein Bild, in dem eine Glocke vorkommt. Er sagt: „Über allem hängt die Glücksglocke, die muss läuten, man hat es leider nicht unter Kontrolle.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 29.9.2013

Christian Göke, Porträt

Es gibt Sätze, die passen besser zu einem Hippie als zu Christian Göke. Dabei war er sicher schon einiges in seinem Leben, Soldat zum Beispiel oder Jäger oder Geschäftsbereichsleiter oder Unternehmensberater. Aber diese Flower-Power-Sache, die hat er mit Sicherheit nie ausprobiert. Christian Göke steht also am Ende eines Spaziergangs auf dem Messegelände, seinem Messegelände, und sagt diesen Hippie-Satz: „Die Hauptaufgabe eines jeden Menschen ist es doch …“

Er unterbricht sich: „Haben Sie Kinder?“ Kopfschütteln.

Wieder ansetzen: „Die Hauptaufgabe ist es also, herauszufinden, was man machen will mit seinem Leben.“

Das ist ein großer Satz, und Göke sagt ihn so nachdenklich, dass man ihm glaubt, dass es mehr gibt für ihn als Zahlen und Diagramme und Bilanzen, denen er als Berliner Messe-Chef sein halbes Leben verschrieben hat. Da gibt es Freundschaft und Liebe, wichtige Gespräche, Rotwein, gute Literatur jenseits von „Meine-erste-Million“-Ratgebern. „Wir wissen doch im Grunde nichts“, sagt er noch. Aber warum will ein Manager mit knapp 500.000 Euro Jahresgehalt und, wie er sagt, „einem der spannendsten Jobs in Berlin“, Mitglied mehrerer Aufsichtsräte (unter anderem Hertha und Visit Berlin) – warum will dieser Mann der Messe bei einem Spaziergang das „Leben an sich“ diskutieren? Um im Bild zu bleiben: Lässt sich das Leben denn „vermessen“?

Das Berliner Jahr lässt sich zumindest ganz gut in Messen, Festivals und Kongresse einteilen. Es gibt die typischen Besucher der Grünen Woche (Latzhose), der Internationalen Tourismus-Börse (Rollkoffer) und der Internationalen Funkausstellung (Freisprechknopf im Ohr). Abseits vom Messegelände in Charlottenburg gibt es noch die Fashion Week, das Theatertreffen und die Berlinale. In Berlin gibt es zu fast allen Lebensbereichen ein Großereignis. Selbst die Jugend (YOU!), der ungehemmte Sex (Venus!) und der ordinäre Fruchtsalat (Fruit Logistica) haben ihre eigenen Messen. Für Christian Göke sind all das Märkte, in denen es Spaß macht, sich auszukennen.

Dem ersten Eindruck nach, als Göke aus dem Fahrstuhl kommt, ist er zunächst ein Mann, der schnell läuft, Hände fest drückt, Augenkontakt hält und auffällig deutlich spricht. Der Mantel sitzt, das Lachen auch, um die Frisur muss er sich keine Sorgen machen und die gute Laune ist nicht aufgesetzt. Alles drückt Verbindlichkeit und Optimismus aus. Das sind so viele „Softskills“ auf einmal, dass es einschüchternd wirkt. Auf die Frage, wie es ihm gehe, sagt er mit langem „ie“: „Ziemlich gut.“ Dann aber auf dem Weg zum Funkturm geht es schon um seinen Job. Seit einem Jahr ist er jetzt Vorsitzender der Geschäftsführung bei der Messe. Er sagt, das sei wie „permanenter Bildungsurlaub“. „Ich muss die Themen der Branche antizipieren“, sagt er, „damit die Messen weiterhin relevant bleiben.“ Hinzu komme, dass alles global geworden sei und somit sein Geschäft noch komplexer und schnelllebiger. Das schließt natürlich mobile Applikationen ein, Apps, die es inzwischen zu jeder Messe einzeln gibt. „Als ich hier 2000 herkam“, sagt er, „gab es noch nicht einmal E-Mail oder einen ordentlichen Internetauftritt.“

Doch gerade als er vom Stress des Alltags erzählt, gelangt er zu einem Ort etwas abseits auf dem Messegelände: Ein japanischer Garten. „Ist das nicht sonderbar hier?“, fragt er. Er zeigt auf die Bäume, den Teich mit Koi-Karpfen, die Brücke. Er komme hier viel zu selten her. Nur der Verkehrslärm erinnert daran, dass gleich nebenan der am stärksten befahrene Verkehrsknotenpunkt Deutschlands ist: die Avus. Dann muss Christian Göke doch lachen und sagt: „Das ist schon irre, in Berlin war soviel Geld damals“, sagt er, „dass sie einfach nicht wussten, wohin damit.“ Diesen Garten habe er trotzdem erst einmal so gelassen. „Das ist herrlich für unsere Mitarbeiter, aber für die Messe kann man ihn nicht einbinden.“

Dabei würde es gerade an diesem Wochenende passen, wenn die Besuchertage der Internationalen Tourismus-Börse (ITB) zum 48. Mal stattfinden. Wieder sind alle Hallen ausgebucht, wieder ist es die größte Messe ihrer Art weltweit: 10.147 Aussteller aus 189 Ländern zeigen fünf Tage lang, wo es noch richtig schön ist in der Welt. So ein Zen-Garten könnte da für gestresste Gäste eine Erholung sein. Doch es gibt keine Verbindung von den Messehallen. Der Park wirkt aber nicht vernachlässigt, eher unendlich geduldig, in sich ruhend.

Im Gegensatz dazu wirkt das Kunstwerk von Ursula Sax „Looping“ fast aufregend. Göke geht an der großen gelben Spirale vorbei in Richtung Funkturm und schaut auf das ICC gegenüber. Er mag auch dieses Gebäude, das Raumschiff. „Es wurde gebaut in einer Zeit, als man nicht dachte, dass es 40 Jahre später umgebaut werden könnte.“ Die Haustechnik sei unter dem Erdgeschoss verlegt, üblich für die Zeit, aber heute unpraktisch. Insgesamt habe das Gebäude nur 16 Prozent Nutzfläche. „Der City Cube, den wir in diesem Jahr öffnen, hat 80 Prozent Nutzfläche.“ Ja, der Eröffnungstermin steht fest, und: „Man braucht ein Datum, auf das man hinarbeitet.“

Als Christian Göke oben auf der Aussichtsplattform des Funkturms steht, könnte das auch der Tower eines Flughafens sein. Zu diesem Ausblick passen Sätze mit Superlativen: „Diese Gebäude sind im Prinzip der größte Brückenbau der Welt.“ Er meint damit, dass fast 80.000 der insgesamt 160.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche auf Stelzen gebaut wurden. Dann zeigt er auf die einzelnen Gebäude, die ersten Messehallen aus Sandstein aus der Nazi-Zeit, das frisch renovierte Marshall-Haus aus den 50er-Jahren, die späteren Messegebäude aus den 70er- und 90er-Jahren. Doch einen Superlativ hat er sich aufgespart: „Nirgendwo in Deutschland wird mehr Umsatz pro Quadratmeter Hallenfläche gemacht als an diesem Ort.“

Zahlen sind sein Element, mit ihnen kann er gut umgehen, er schaut auf Orte und ihm fallen sie sofort ein. Der Südeingang: „Bis zu 70 Prozent nutzen ihn jetzt.“ Mitarbeiter: „Wir haben rund 8000, die hier Tag und Nacht eine Messe aufbauen.“ Hotels: „Berlin hat 130.000 Betten, 40.000 mehr als New York.“ So könnte man das weitertreiben, jeder Mensch produziert ja ständig Werte, Zahlen, Fakten, Kurvendiagramme. Doch seine Freundin – so hat er einmal gesagt – erinnere ihn daran, dass er nicht alles in Zahlen ausdrücken könne. Und wenn er für ein paar Sekunden auf dem Turm steht, auf die Messe schaut, keine Zahl erwähnt, dann kann man das sehen, kein Hippie, aber …

Auf dem Weg nach unten erzählt Göke von seinem Morgenritual. „Ich stehe früh auf und mache die fünf Tibeter“, sagt er, „dann ist mein ganzer Körper einmal gedehnt.“ Früher sei er Fußballer gewesen, habe während seines Jurastudiums in Italien in der B-Liga gespielt. Sport habe ihm viel über das Leben gezeigt: die eigenen Grenzen, die Leistungsfähigkeit, auch den Respekt vor dem Altern. Nach einer Verletzung und jetzt mit 48 Jahren ist für Christian Göke Yoga der wichtigste Sport.

Statt Leistungsorientierung (Tore schießen) konzentriert er sich jetzt auf die Verbindung zwischen Körper und Geist. Die erste Übung der „fünf Tibeter“ geht so: Die Arme anheben und sich um die eigene Achse drehen. Nach einigen Umdrehungen die Augen schließen und auf sein Schwindelgefühl achten. Überhaupt: Auf sich achten. Einatmen, ausatmen. Wenn er so nachdenklich dasteht, oben auf dem Funkturm und auf die Messe herabschaut, ist es gar nicht mehr so schwer sich vorzustellen, woher diese Konzentration kommt, die man Managern als wichtigste Eigenschaft nachsagt.

Auf dem Weg zum Sommergarten sagt er, dass er immer einen Beruf ausüben wollte, in dem er etwas bewegen kann. „Lange Zeit dachte ich, Unternehmensberater sei der einzige Beruf, in dem man das kann.“ Man reise um die Welt, gestalte sie mit, bereite klare Entscheidungen vor. Inzwischen sehe er das anders. „Manchmal glaube ich, das ist alles ein ganz schöner Mist.“ Das Leben lasse sich nicht so einfach einteilen. Die einzige Grundregel sei eben, dass man herausfinden müsse, was man im Leben wolle. „Wenn ich Kindern beim Spielen zuschaue, dann kann man das sehen: Der eine will etwas bauen, der nächste blättert in einem Bilderbuch, ein Baby malt am liebsten oder planscht im Wasser.“ Das klingt verträumt, ist es aber nicht. Bei Christian Göke hat selbst das Sprechen über Kinderspiele etwas mit seinem Nachdenken über die beste Managementform zu tun. Jeder ist in einer Sache gut. Er muss nur herausfinden worin und dann noch besser werden. Göke zitiert dann gern die beiden Pulitzer-Preis-Gewinner Will und Ariel Durant, die 1965 das Buch „Lessons of history“ geschrieben haben. Darin geht es um den Vergleich von Freiheit und Gleichheit.

Göke sagt: „Wenn die Gleichheit groß ist, geht die Freiheit des Einzelnen zurück und dann schließlich die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft.“ Das könne man an den kommunistischen Beispielen bestätigt finden, extrem in Nordkorea. „Lasse man aber der Freiheit zu viel Raum, dann geht es plötzlich nur noch nach Darwin und dem Recht des Stärkeren.“ Kurz: „Der Gleichheitsgedanke wirft den Freiheitsdenkenden einen Knüppel zwischen die Beine.“ Zwischen diesen beiden Begriffen könne man alles durchdeklinieren: Volksentscheide, Rekommunalisierung, Freiheitsbewegung.

Bei Christian Göke klingt es manchmal so, als ginge es immer um die Optimierung von Prozessen, um das „Beste und Meiste rauszuholen“ aus einer Sache, sei das eine Messe oder eine künstlerische Fertigkeit. Dabei ist es bei ihm offensichtlich so, dass er sich nicht nur mit Messen beschäftigt, weil er dafür Geld bekommt. Er kann mühelos begründen, warum solche Geschäftstreffen nie an Reiz verlieren werden, fernab des Rituals. „Face to Face kann nie ersetzt werden“, sagt er, „einen Rechtsanwalt, Arzt oder Psychologen will man schließlich auch immer in Person treffen.“ Und er kann dann schnell eine ITB mit Beethoven vergleichen. „In zehn Jahren wird jeder noch Beethoven hören“, sagt er, „aber Lady Gaga vielleicht nicht mehr.“ Der Komponist sei länger am Markt gewesen und habe sich etabliert. Der „Lindy-Effekt“ gelte auch für Messen.

Plötzlich kommen ihm im Sommergarten einige Mitarbeiter entgegen. Zu einem ruft er: „Hallo, wie war die Krisenstabübung?“ Ein paar Meter weiter sagt er zu einer Kollegin auf Krücken: „Hey! Geht es besser?“ – Sie sagt grinsend: „Die Arme sind jedenfalls stark.“ Er zeigt auf die Kantine, zu der sie alle unterwegs sind: „Das ist der Haupttreffpunkt, nirgendwo wird so viel gequatscht.“ Aber das sei gut, sagt er, jeder könne vom anderen lernen, aber eben nur, wenn man spricht und zuhört. Er macht das wirklich immer wieder, diese Vermischung von privatem Vergnügen und Optimierung von Prozessen.

Am Ende steht Christian Göke wieder vor dem Kunstwerk von Ursula Sax, dem „Looping“, der aussieht wie ein gefrorener Geistesblitz. Zahlen, die er so mag, gibt es nur wenige zu diesem Werk: 50 Meter lang, seit 22 Jahren hier. Vielleicht schauen es manchmal Autofahrer verträumt an, wenn sie mal wieder im Stau auf der Avus stehen und die hässliche Tribüne auf der anderen Seite nicht sehen wollen. Oder ITB-Besucher, wenn sie mit Rollkoffer abends in Richtung S-Bahn laufen. Dass dahinter noch ein Zen-Garten liegt, wissen nur die Messemitarbeiter und ihr Chef. „Was weiß ich denn?“, fragt er noch. „Vielleicht hat der Gärtner des japanischen Gartens genauso viel bewegt wie ich in meinem Büro da oben.“ Die Frage ist doch, ob er jetzt in diesem Moment genau das tue, was er immer tun wollte? Christian Göke kennt die Antwort auf diese große Frage. Aber nur für sich selbst.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 9.3.2014