Reinhard Mey, Porträt

Da gibt es diesen Sven Kaiser, ein ungefähr zehn Jahre alter Junge. Vielleicht heißt er anders und Reinhard Mey hat ihn nur so genannt, weil es sich auf „heiser“ reimt. Sven Kaiser also steht mit seinem Vater Hans-Peter in einer Schlange in der Friedrichstraße und wartet auf das Autogramm eines Comiczeichners. Die beiden wissen nicht, dass Reinhard Mey hinter ihnen steht, zuhört, zuschaut. Nach einer Weile wird der Vater ungeduldig, ist genervt. Dann sagt er: „Mir reicht’s, sieh zu, wie du allein nach Hause kommst.“ Reinhard Mey beobachtet, wie Sven dem Vater hinterherblickt, als müsse er gleich weinen. Als er dann bei seinem Star angekommen ist, fragt er nicht nach der Widmung „Für Sven“. Im Lied heißt es: „Sven sagt heiser: ,Für Hans-Peter Kaiser’“.

Reinhard Mey hat sein Lied „Sven“ vor rund zehn Jahren geschrieben, aber diese Szene könnte auch gestern passiert sein. Man kann es als eines von rund 500 Liedern von Reinhard Mey beim Internetportal Spotify hören, sich als MP3 herunterladen, bei YouTube als Video anschauen oder auf „www.reinhard-mey.de“ den Text lesen. Man kann auch eine CD oder Schallplatte hervorkramen, egal, wie man es hört, immer nur mit Gitarre und Stimme, man möchte es gern besser machen als Hans-Peter. Mehr wollen Meys Lieder vielleicht auch nicht. Nur anregen dazu, sich mehr Mühe zu geben im Alltag, den Eltern auch mal einen Brief zu schreiben und zu danken für die Kindheit, wenn sie schön war.

Als Reinhard Mey in Tegel vor seiner ehemaligen Grundschule ankommt, kann er sich noch an die Szene mit Sven erinnern. „Sie ist genauso passiert“, sagt er, „wie ich es im Lied erzähle.“ Das habe ihn berührt, wie der Vater die Gefühle des Sohnes verletzte, weil er gestresst war. Dann spricht er davon, wie wichtig dieses Alter sei und wie schön er es hatte, hier in diesem Backsteinbau, seiner alten Schule. Reinhard Mey weiß auch mit seinen 70 Jahren noch, wie er hier zum Unterricht gegangen ist, schon als Erstklässler mit der S-Bahn fahren durfte. Heute will er diesen Schulweg noch einmal rückwärts laufen, mit einem kleinen Umweg an den Tegeler See. Damals war er Sohn und Enkel, heute ist er Vater und Großvater.

Es ist nicht ungewöhnlich, auf solche nostalgischen Gedanken zu kommen, wenn man mit Reinhard Mey unterwegs ist. Man muss ihn eigentlich nur anschauen; wie er da steht mit dem grauem Mantel, einem Erbstück des Schwiegervaters, und dem roten Schal. Sofort kommen Gedanken an besonders schöne oder traurige Dinge, eben solche, aus denen Mey Lieder gemacht hat. Jeder Deutsche kann mindestens zwei oder drei sofort singen. Zum Beispiel das von einer gewissen Annabelle, die „so herrlich intellektuell“ sei. Oder das, in dem sich „hätte“ auf „Zigarette“ reimt und das seit mehr als 30 Jahren eine niederländische Radiosendung jeden Abend einleitet: „Gute Nacht, Freunde“. Die größte Berühmtheit hat Mey wohl erreicht, weil er der erste war, der ein Lied dichtete, in dem negative Worte so gesungen werden, dass sie ganz leicht klingen: „Alle Ängste alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann…“

Ein Flugzeug vom nahen Flughafen rauscht über Wolken vorbei, als wir Richtung Tegeler See loslaufen. Er erzählt von seiner Schulzeit, wie nahe ihm das alles noch sei, obwohl jetzt Ferien sind und diese Schule ohne Kinder etwas trostlos wirkt. Seine Klassenlehrerin hieß Frau Aust. Die Schüler haben sie immer nur „die Auster“ genannt. „Die war super nett“, sagt er und: „Damals war ich wirklich glücklich.“ Er weiß noch, wie er einmal zu dem Kunstlehrer, einem gewissen Herrn Adomeit, gesagt habe: „Herr Adomeit, ich habe heute keine Lust auf Unterricht.“ Der Lehrer habe dann gesagt: „Gut, dann singen wir doch jetzt was.“ Später, als er dann auf das Französische Gymnasium kam und der Leistungsdruck größer wurde, sei er lange nicht mehr gern zur Schule gegangen. „Das war der Horror, besonders am Anfang, als ich noch keine Freunde hatte.“

Doch letztlich half ihm genau dieses Gymnasium, auf das ihn seine Eltern schickten. Seine frühen Erfolge hatte er – nach ersten Erfahrungen auf Berliner Bühnen – auch in Frankreich. Dort heißen Liedermacher „Chansonniers“, das klingt nicht nur besser, sondern ihre Musik wird auch häufiger im Radio gespielt. Bis heute hat er sieben Alben auf Französisch aufgenommen, 26 auf Deutsch. Nach seiner endgültigen Rückkehr nach Berlin in den 70er-Jahren wurde er „der deutsche Jacques Brel“, auch wenn sein Genre es hier schwer hat. Seine Plattenfirma ließ ihn machen, einfach so. Doch es funktioniert bis heute, wenn Reinhard Mey pünktlich alle drei Jahre eine Tour durch 60 Städte macht, dann sind die Konzerte noch immer ausverkauft.

Nur wenige Meter neben der Schule zeigt er auf eine Kirche mit einer leuchtend rot angestrichenen Tür. Der Bau erinnert ihn wieder an seine Kindheit. „Hier hab ich einmal eine Schleppe getragen“, sagt er und es wirkt, als könne er die Szene für ein Drehbuch ganz genau nachstellen. Er stand dort, die Braut dort. Neben ihm lief ein Mädchen aus seiner Straße, die ihm beim Tragen der Schleppe half. Er war nur das eine Mal in dieser Kirche, für diese Hochzeit, sonst seien seine Eltern mit ihm in eine Schulzendorfer Gemeinde gegangen. Später sei er ausgetreten und zum Kirchenkritiker geworden. Als jetzt aber vor Kurzem der Papst gewählt wurde und die Tagesschau zehn Minuten darüber berichtete, habe er schon gedacht: „Leben wir in einem Gottesstaat?“ Nicht umsonst habe er einmal gedichtet: „Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm: Halt du sie dumm, ich halt sie arm!“

Es geht schnell bei Reinhard Mey, dass man auf Gegenstände oder Orte zeigt, die irgendwie zu einem Lied von ihm führen, kein Wunder bei über 500 Songs, ab Mai sind es noch 17 mehr. Wenn ein Spaziergänger mit seinem Hund entgegenkommt, könnte dazu dieses Lied laufen: „Es gibt Tage, da wünscht‘ ich, ich wär mein Hund“. Darin beneidet er das Haustier für seine Gleichmütigkeit. Als die Kälte ihm Tränen in die Augen treibt, denkt er an sein Lied „Das Taschentuch“, das auf seinem neuen Album sein wird. Darin geht auch darum, dass am Abend die Tränen der Kanzlerin „rinnen“, wie bei „Klein-Eisprinzessinen“. Wieder so ein Moment, in dem sich jemand unbeobachtet fühlt, wie Hans-Dieter Kaiser. Und als wir die Bäume am See betrachten, fällt einem das fast 30 Jahre alte Lied ein: „Wie ein Baum, den man fällt, eine Ähre im Feld, möcht’ ich im Stehen sterben.“

Ja, dieses Sterben, das war schon Thema auf fast allen Alben, sagt er. „Es geht eigentlich immer um Liebe, Schnaps und Tod bei meiner Musik.“ Auch sein neues Album hat ein Lied, das wie für eine Beerdigung geschrieben ist. „Aber ich singe nie auf Beerdigungen“, sagt Reinhard Mey. „Die Tatsache, dass dort jemand, der mir nahe steht, gerade gestorben ist, da wäre schon sprechen zu viel.“ Das neue Album wird „Dann mach’s gut“ heißen, wieder ein Abschied, aber Mey legt Wert darauf, dass es kein „Adieu“ sein wird. „Ich mache weiter, es gibt ja noch so viele Lieder, die ich schreiben will.“

Er erreicht das Wasser und geht wieder 60 Jahre zurück in seine Kindheit. Wir stehen zwischen dem halb zugefrorenen See und einer Minigolfanlage, in der die Stationen noch eingepackt sind. Ein übergroßer Schwan, ein Miniatur-Leuchtturm, alles wartet hier, dass der Frühling beginnt. Mey erzählt vom Haus seines Großvaters am Heegermühler Weg. Er zückt ein Smartphone und zeigt, wo das genau lag, zoomt so nah heran, dass es nicht mehr näher geht. „Das war das Paradies“, sagt er, „Dort haben wir immer Stachelbeeren und Johannisbeeren gepflückt.“ Doch auf dem Rückweg in den französischen Sektor, wo seine Eltern wohnten, sei es ihnen mehrfach passiert, dass die Volkspolizei ihren vollen Eimer beschlagnahmte.

Als wir zurück in Richtung S-Bahnhof Tegel laufen, erzählt er von der Mauer, die er von ihrem Bau bis zum Abriss der Mauerteile an der East Side Gallery vor ein paar Tagen immer begleitet hat. Er sang in den 80ern „Ich würde gern einmal in Dresden singen“ und verbrachte den Mauerfall dann zufälligerweise genau dort. Am 10. November 1989 sang er im Dresdener Kulturpalast das Lied mit den „Sorgen und Ängsten“ und der „grenzenlosen Freiheit“. Er hatte ein Kindermädchen im Ostteil der Stadt, die Eltern schickten nach 1961 immer Pakete, Mey hat sie als 50-jährige Frau wiedergesehen. Auch wegen solcher Geschichten ist er gegen den Teil-Abriss, der gerade in Friedrichshain passiert: „Es ist wie alles in Berlin, es geht daneben.“ Der Investor zeige mangelndes Fingerspitzengefühl. „Er wird doch nie glücklich mit dem Bau“, sagt er. „Ich sehe heute schon die Farbbeutel auf die Fassade fliegen.“

Gerade, als er sich in Rage reden will, denn er könne sich noch immer herrlich aufregen, kommt eine ältere Frau auf ihn zu. „Schön, dass ich Sie treffe, Herr Mey“, sagt sie. „Ich suche eines ihrer Lieder schon so lange, irgendetwas mit ‚Nacht‘.“ Er fragt verblüfft, ob sie „Schenk mir diese Nacht“ meine? Sie: „Genau das! Es ist ganz tolles Lied, wenn man den Hintergrund weiß…“ Mey fragt, ob sie schon im Internet gesucht habe? Sie sagt: „Ich bin 82 Jahre alt, ich bin doch nicht im Internet.“ Dann bittet er sie um ihre Adresse, er werde sich kümmern. Als sie geht, ruft er ihr hinterher: „Sie bauen mich auf!“

Als er weiterläuft, erzählt er, dass solche Begegnungen nicht häufig seien. Die Berliner seien ja eher zurückhaltend, aber er freue sich wirklich über so etwas. „Man ist ja doch immer mit seinen Zweifeln…“, er zögert, „auch … dass man sich klein… und man sich hässlich fühlt.“ Dagegen helfe nichts, nur solche Begegnungen. „Auch wenn es nicht lange dauert, bis das alte Grübeln zurückkommt.“

Seine Familie hat ihm in den vergangenen Jahren viel Anlass zum Grübeln gegeben. Max, sein zweiter Sohn, ist mit 27 Jahren im März 2009 in ein Wachkoma gefallen und bisher nicht wieder aufgewacht. Mey spricht nicht davon, aber er hat darüber Lieder gesungen, leise, mit der Gitarre. „Drachenblut“ ist eines davon, darin heißt es, er sei entschlossen, „ihn in die Welt zurückzulieben“. Umso wichtiger ist ihm jetzt der Kontakt zu seinen anderen beiden Kindern, die beide in der Berliner Umgebung wohnen. Seine Tochter Victoria-Luise eröffnet gerade ein eigenes Geschäft, und sein Sohn Frederik hat nach seiner Zimmermannslehre noch einen Pilotenschein gemacht, fliegt jetzt Luftfracht durch die Welt.

An der Berliner Straße zeigt er plötzlich nach oben. „Hier hat mein Schulfreund Detlef gewohnt“, sagt er, „hier habe ich häufig nach der Schule eine Stulle bekommen.“ Er zeigt auf den Zahnarzt, wo er als Kind gelitten hat, und auf den Spielwarenladen, den es damals schon gab. „Wenn ich beim Zahnarzt tapfer war, gab es dort eine Belohnung, zum Beispiel ein Spielzeugauto von Schuco. Wir gehen weiter in Richtung S-Bahnhof, der eigentlich nur wenige Meter hinter der Berliner Straße liegt. Er schaut die Treppen hinunter in den Gang, der zum Bahnsteig führt. Er geht nicht hinunter. Auch er will es mit der Nostalgie offenbar nicht zu weit treiben.

Auf dem Rückweg greift er zum Mobiltelefon, seine Frau hat ihm ein Foto geschickt mit einem Osterstrauß und einer Kaffeetasse. „Das ist wohl ein Hinweis“, sagt er, „dass ich kommen soll.“ Weil er gerade das Telefon in der Hand hält, will er noch zeigen, wo sein Sohn Frederik gerade ist. Dafür gibt es eine App, „Flightradar24“ heißt sie. Sie zeigt in Echtzeit alle Flugzeuge als kleine Symbole an. Er tippt auf eines. Flugnummer „BOX513“, Lahore–Leipzig. „Da ist er ja.“ Wenn er gelandet sei, schicke er immer eine SMS.

Eigentlich kann sich so etwas niemand ausdenken: Der Vater, der mit einem Flugzeug-Lied in die Musikgeschichte eines Landes eingeht. Und der Sohn, der mehrmals in der Woche Frachtflugzeuge durch die Welt steuert. Einmal hat er den Vater mitgenommen. Der konnte natürlich nicht widerstehen, hat ein Lied für sein neues Album daraus gemacht. Es ist sentimental, nostalgisch, aber „Sorgen und Ängste“ kommen nicht vor. Dafür ein Reim mit „und dann“. Es ist der Moment, wenn das Flugzeug landet, aber wenn man genau liest, geht es auch um Liebe, Schnaps und Tod: „Und wenn wir landen werden, heimgekehrt von unserer Reise / wirst du zu deinem kleinen Sohn fahren und dann / wird er dir um den Hals fallen und dich auf die selbe Weise / ausfragen wie du mich einst und alles fängt von vorne an.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 31.3.2013