Porträt Julian Reichelt, Ex-Chef der BILD

Julian Reichelt by Berliner Zeitung

Kommt ein Chefredakteur in ein Großraumbüro voller Mitarbeiter, an seiner Hand die Tochter, fünf Jahre alt. Sie schaut zu ihrem Vater hoch und fragt: „Du, Papa, was machst du jetzt?“ Der Chefredakteur antwortet laut hörbar für alle: „Jetzt schreie ich jemanden zusammen – und weißt du, was? Du kannst dir jetzt aussuchen, wen Papa zusammenschreit.“ Die Pause, die dann folgt, beschreiben Mitarbeiter aus der Redaktion als absurd lang. Das Kind schaut in die Gesichter von Journalisten, die zum Teil seit Jahrzehnten für die Bild-Zeitung arbeiten – bis irgendwann der Chefredakteur sagt: „War nur Spaß, komm, wir gehen in mein Büro.“

Geschichten wie diese gibt es viele über Julian Reichelt, einen Chefredakteur, der wie kein zweiter die Redaktion und das Land spaltete. Mit nur 41 Jahren kann er auf fast fünf Jahre an der Spitze der größten deutschen Boulevardzeitung zurückblicken. Er hat zwar den Rückgang der Printauflage nicht aufhalten können, aber er hat die Transformation der Marke zum Online- und TV-Medium durchgesetzt. Im August hatte Bild 24 Millionen Online-Nutzer, seit acht Jahren gibt es Bild-Plus, das unter Reichelt die Abozahlen steigern konnte – und er hat den Start des Senders Bild TV begleitet und damit einen Traum des Verlagsgründers Axel Springer vollendet.

Zu Beginn dieser Woche wurde der Bild-Chefredakteur jedoch aller Aufgaben entbunden, weil er offenbar den Vorstand des Verlags Axel Springer belogen hatte über seine privaten Beziehungen zu Mitarbeiterinnen. Da in einem Compliance-Verfahren vor rund einem halben Jahr bereits Vorwürfe von Machtmissbrauch gegenüber Frauen laut geworden waren, zog der Verlag jetzt die Reißleine. Damit endet vorerst die Karriere eines Journalisten, den selbst ärgste Gegner immer als einen Mann mit Instinkt und großem Einsatzwillen einschätzten.

Sein Büro sei immer offen gewesen, sagt ein männlicher Kollege über ihn, der bis vor kurzem gern mit ihm zusammengearbeitet hat. „Er hat sich immer erinnert, wenn man vor Jahren einmal eine Wette mit ihm abgeschlossen hatte und einen dann mit einem Kasten Bier überrascht.“ Auch viele ehemalige Mitarbeiterinnen äußern sich positiv über ihn, erzählen, dass sie nie das Gefühl hatten, von Reichelt nach ihrer „Fuckability“ bewertet zu werden, wie es in dieser Woche im Spiegel zu lesen war. Aber ja, viele hätten das Geraune mitbekommen, dass es immer wieder Frauen gab, die enger mit Reichelt in Kontakt waren und dann versetzt wurden, in andere Teile des Springer-Konzerns oder der Bild.

Das allerdings hat, wie die New York Times es in ihrem Sittengemälde vom vergangenen Wochenende nachzeichnet, im Verlag Tradition. Springer ließ Frauen mit dem Helikopter nach Sylt fliegen und schickte ihnen vorgedruckte Briefe mit seiner Unterschrift, in denen er ihnen für die Nacht dankte. Wer durch die Verlagsgeschichte des Hauses geht, wird immer wieder auf leitende Redakteure treffen, die ihre Frauen verließen, um junge Kolleginnen zu heiraten oder mit ihnen Kinder zu zeugen. Und wer ehrlich ist, weiß, dass da der Springer-Verlag keine Ausnahme macht, wenn es auch in einem Boulevard-Umfeld vielleicht länger dauert, bis die derbe Sprache auffällt.

Begonnen hat Julian Reichelt seine Karriere beim Haus Axel Springer im Jahr 2000, als er die gleichnamige Journalistenschule besuchte. Seine Mitschüler aus der Zeit haben noch den Journalisten Reichelt kennengelernt, den man als „besessen“ beschreiben kann. „Er wurde angehimmelt“, sagt einer. Reichelt hatte ihnen erzählt, dass er immer zur Bild wollte, dass er den Boulevardjournalismus für den einzig echten Journalismus hielt. Also die Welt allen zugänglich zu machen, dem Bauarbeiter und der Friseurin. Als der Volo-Kurs Besuch vom Betriebsrat bekam, „bombardierte ihn Reichelt derart mit Fragen“, sagt ein Kollege, „die ihn als Feind des Unternehmens entlarven sollten“.

Die Jahre als Kriegsreporter, so sagte er selbst in Interviews, waren für Reichelt die „formative years“, die prägendste Zeit. Da wurde er zu dem, was ihn ausmacht. Er berichtet von Müttern, die ihre Babys begraben. Von Menschen, die nicht nur ihr Zuhause hinter sich lassen müssen, sondern ihr Leben, von Soldaten, die am Krieg zerbrechen. Er schreibt darüber ein Buch bei Bastei Lübbe mit dem bezeichnenden Titel „Ich will von den Menschen erzählen“. In einem Interview über diese Zeit sagt er: „Es fällt schwer, in einem Krieg, bei dem immer wieder gegen die eigenen Werte verstoßen wird, objektiv zu bleiben.“ Er glaube auch nicht, dass das überhaupt möglich sei, denn es gebe auch keine „neutralen Schicksale“. Reichelt weiter: „Das Ziel ist es, wahrhaftig zu bleiben.“

Die Kriegsmetaphern, sie tauchen auch wieder auf in der Amazon-Dokumentation, die vor einem Jahr erschien und in sieben Folgen den Alltag der Redaktion erstaunlich offenherzig zeigte. Da wurde einmal das Nasenspray auf dem Tisch des Chefredakteurs in Szene gesetzt, da werden die Kollegen laut kritisiert, und als der „Wirrologe“ (O-Ton Reichelt) die Handynummer eines Bild-Mitarbeiters twittert, sagt er in die Kamera: „Das ist das Kriegsbeil.“ Man kann diesen Satz auch so lesen: Reichelt setzt sich für seine Mitarbeiter ein. In dieser Amazon-Doku bezeichnete er seinen Beruf als „first row seat in history“ — in der ersten Reihe sitzen und die Weltgeschichte beschreiben. Kleiner ging’s nicht.

Vor rund einem Jahr sollte ein Mitarbeiter einen Fotografen mit in den Bundestag nehmen, um einen Abgeordneten mit einer Aussage zu konfrontieren. Der Mitarbeiter verstand das falsch und fragte Bild-Live an, die jedoch nicht schnell genug antworteten. Solche Ablauffehler wurden in der Redaktion immer wieder festgestellt. Aber Reichelt platzte der Kragen, er ließ gegen Mittag die gesamte Redaktion antreten. Er stellte sich an das Panoramafenster und zeigte auf den Bundestag . „Wenn wir nicht in der Lage sind, innerhalb von vier Stunden einen Bild-Reporter dorthin zu bekommen“, schrie er, „dann können wir dichtmachen!“

Sein Büro beschrieben Besucher als eine Imitation vom Deutschland der 80er-Jahre. Ein großer Schreibtisch, voller Akten und Papiere, der Aschenbecher, in dem immer eine Zigarette glomm, die zerrissene amerikanische Flagge im Rahmen, das rote Sofa und das berühmte und seit dieser Woche berüchtigte Feldbett. „Es sah eher aus wie ein Feldbett, das sich Manufaktum ausgedacht hatte“, sagt ein Besucher.

Doch selbst die kritischsten Kritiker kommen nicht umhin, den Fleiß, den Willen zur großen Schlagzeile, zum politischen Mitmischen bei Reichelt zu sehen. Er sei hart gewesen, gegen sich und andere. Er konnte einstecken, wenn man ihn kritisierte, ja, er schien Menschen erst dann wirklich wahrzunehmen, wenn sie ihn kritisierten. Nicht umsonst gilt sein bester Freund Paul Ronzheimer auch als sein schärfster Kritiker. Er soll Texte verhindert haben, die Reichelts Ansehen noch mehr geschadet hätten. Als Pinky und Brain bezeichneten sich die beiden einst in einem Interview.

Zuletzt waren es wohl zu viele Gegner geworden, die sich in Gesprächen immer weniger zurückhielten mit Geschichten aus dieser Redaktion der Angst. So stand einer dieser Mitarbeiter neben Friede Springer, als sie ein kleines Fest im Journalistenclub im 18. Stock des Springer-Verlages eröffnen sollte. Alle waren da, nur Julian Reichelt fehlte noch. Als Mathias Döpfner sie bat, noch kurz auf Reichelt zu warten, soll sie gesagt haben: „Ach der …“ Sie winkte ab und sagte: „Wir fangen an!“