Alexander Ljung, Porträt

Alexander Ljung wird als kleiner blauer Punkt angezeigt, der sich auf der Straße „Maybachufer“ langsam in Richtung eines Taxisymbols bewegt. Der echte Alexander Ljung läuft auch wirklich in Person das Maybachufer in Richtung Türkischer Markt, wie der Punkt auf der Mobiltelefon-Landkarte. Aber etwas stimmt mit dem blauen Punkt nicht. Er ist etwas „verrutscht“, das heißt, das Telefon hat Alexander ein paar hundert Meter zu weit westlich verortet. Dorthin aber hat Ljung ein Taxi für seine Mitarbeiterin hinbestellt. Die muss doch jetzt sofort in Tegel zu ihrem Flug in Richtung London… Da klingelt das Telefon und der Taxifahrer ruft an – sein gelbes Auto ist von Weitem zu sehen. Ob er noch warten solle? „Ja, wir sind gleich da.“

Das ist so eine typische Alexander-Ljung-Szene. Zum einen, weil der 32 Jahre alte Firmenchef etwas Analoges wie das Taxi-Rufen lieber digital macht und außerdem, weil dieser Moment mit der Schnittstelle zwischen Realität und Virtueller Welt zu tun hat: Dem abstrakten Punkt auf der Landkarte und dem realen Taxi in Kreuzberg, das dort vorn wartet. Gleichzeitig geht es noch um einen Flug in irgendeine Metropole, dorthin, wo die Mitarbeiter seiner Firma eben arbeiten. Und wie in allen Metropolen dieser Welt, ob Tokio oder New York, ob Karachi oder Melbourne, ob Lima oder Johannisburg – es gibt sie inzwischen überall, die Nutzer von „Soundcloud“.

Ljung ist zusammen mit Eric Wahlforss Gründer dieses mobilen Netzwerks, der wichtigsten Musik- und Klang-Community für Mobiltelefone und Computer. Jeder der rund 250 Millionen Webseiten-Besucher kann Klänge, Töne oder ganze Alben in die Datenwolke hochladen – ob Profis wie die Band „Sonic Youth“ und einfacher Ton-Bastler zuhause – und kann diese mit anderen Netzwerken verlinken. Diese Klänge werden dann nicht als Punkte dargestellt, sondern als Klangkurven, wie früher in Synthesizern. Diese Kurven können an jeder Stelle angeklickt, vorgespielt und vorgespult sowie gestoppt und kommentiert werden. Das Programm wächst nicht von allein, es wächst durch die Benutzer. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Soundcloud das „Youtube“ für Töne geworden ist.

Alexander Ljung lässt sich von diesem Druck nichts anmerken, als er aus der „Arena“ in Treptow kommt. Er hat in der alten Fabrikhalle an diesem Morgen einen Vortrag vor Hunderten Technikfans auf der „Techcrunch“-Konferenz gehalten. Er kündigte auf der Bühne an, dass Soundcloud mit dem Foto-App-Riesen „Instagram“ zusammenarbeiten werde.

Er ist gut gelaunt, fast wie diese jungen Startupper, die gerade erst ihre große Firmen-Idee hatten und diese deshalb mit 200 Prozent vertreten müssen. Er sagt, dass seine Schuhe nicht unbedingt auf das Foto müssten. „Da sind Flecken drauf, die stammen aus einer Nacht in einem Club.“ Emma, seine Assistentin, die in einer Stunde zum Flieger muss, fragt: „Rotwein?“ Alexander Ljung sagt: „Nein, Blut, mein eigenes.“ Schon sind wir mittendrin in der wilden Welt, in der er lebt oder leben könnte. Tagsüber Millionen Menschen über Klänge miteinander verknüpfen und abends auch mal im Club zu Klängen engagiert tanzen, vielleicht angesprochen werden, wie auf Tech-Veranstaltungen hier in der Arena. „Das kommt vor“, sagt er, „aber natürlich eher bei solchen Treffen oder im Club.“ Aber er gehe schon lange nicht mehr intensiv in Berlin aus, dazu fehle ihm schlicht die Zeit.

Dabei war genau dieser Ruf Berlins als tolerantes Techno-Mekka einer der Gründe für die beiden Schweden, hier das Startup aufzubauen. So wie viele junge Unternehmer noch heute haben sie im Café St. Oberholz in Mitte angefangen. Dort gab es freies W-Lan und guten Kaffee, dort war es, wo sich die beiden fragten, warum es so kompliziert sein müsse, große Sound-Dateien zu verschicken. Also gründeten sie eine Plattform, um das zu ändern. Damals kannten den Begriff der Datenwolke, der sogenannten Cloud, nur ganz wenige Internet-Spezialisten. Sie überlegten lange über den Namen und am 12. November 2008 gründeten die beiden das kleine Startup „Klangwolke“: Soundcloud.

Als wir die Puschkinallee erreichen, treffen wir auf Frauen und Männer der Parkreinigung. Sie blasen mit einem Schlauch die heruntergefallenen Blätter zu einem großen Haufen zusammen. Es wirkt wie der Einbruch des Realen im Gespräch über Dateien und virtuelle Millionen Euro. Wir laufen auf die rechte Uferseite, vorbei an jungen Eltern mit Kindern, die sichtlich gerade erst Laufen gelernt haben. Es ist diese Generation, die schon mit drei Jahren Multifunktionsjacken tragen und auch mit dem Digitalen ganz selbstverständlich umgehen werden. Für einen Moment reden wir nicht von Startups und Dateien, sondern von seinem Lieblingsbuch, dass Ljung in diesem Winter zum zweiten Mal lesen will. Es heißt „West of Jesus“ von Steven Kotler.

Es geht darin um einen Surfer, der genau wie Alexander Ljung durch die Welt reist, allerdings nur zu Orten, an denen man surfen kann. Auf Wellen, nicht im Internet. Ljung ist selbst Windsurfer und Skateboarder. „Surfen ist anders als Tennis oder Skifahren“, sagt er, „weil viele Surfer eine spirituelle Suche mit ihrem Hobby verbinden.“ Dieser Autor jedenfalls begibt sich auf die Suche nach einer Legende, einem Surfer, der das Wetter kontrollieren kann. Diesen Mythos erzählen sich Surfer in Bali genauso wie an den Stränden Mexikos. „Auf dieser Suche trifft er interessante Menschen und beschreibt diese sehr genau.“ Das Buch sei eine Mischung aus Wissenschaft und Erzählung, sagt Ljung und sagt dann noch diesen schönen Satz: „Ich mag dieses Gott-Leben-Ding.“

Mit Glück und Glauben hatte auch die erste erste Zeit der Soundcloud-Gründung zu tun. Schließlich wurden im gleichen Jahr 2008 noch mindestens 400 andere Startups in Berlin gegründet, für die vielen Investoren war Soundcloud damals nur ein kleiner orangener Punkt zwischen so vielen anderen Berliner Kleinst-Unternehmen. „Anfang 2009 war eine Zeit, zu der es in Berlin niemanden gab, der investieren wollte“, sagt er. „Wir hatten damals nur das Versprechen, dass Soundcloud einmal groß werden könnte.“ Aber es gab erst wenige Tausend Nutzer. Die beiden Gründer hatten erst ein kleines Büro angemietet, damals schon mit Dachterrasse, auf der Alexander Ljung viele Zigaretten zur Beruhigung rauchte. „Es war wirklich hart damals“, sagt er. Er habe mit Eric Wahlforss immer wieder zusammen gesessen und sich gefragt, wie lange das noch so weiter gehen könne. Sie konnten den Mitarbeitern für zwei oder drei Monate kein Gehalt zahlen. „Dass sie dabei geblieben sind, war für uns der größte Vertrauensbeweis.“

Der Rest ist eine Geschichte, die sich Berliner Startupper immer wieder zur gegenseitigen Motivation erzählen, wenn es mal nicht so gut läuft: Die beiden Schweden bekamen dann doch einen Investor, der ihnen eine 2,5 Millionen Euro große Anschubfinanzierung gewährte. Und nur ein Jahr später hatten sie die erste Mitglieder-Million geknackt. Von da an ging es weiter aufwärts mit der orangenen Klang-Wolke: Fünf Millionen Nutzer im Jahr 2011. Der US-Schauspieler Ashton Kutcher investierte in die beiden Schweden und die Büroräume wurden größer: Sie zogen in die Torstraße, wo alle Startups ihre Büros hatten. Sie eröffneten später mehrere Geschäftsräume in Berlin und zogen erst vor wenigen Monaten alle zusammen in die Greifswalder Straße in Friedrichshain. Im Januar dieses Jahres nimmt Ljung den Chrunchie-Preis für das „Beste Internationale Startup“ entgegen – und im kommenden zieht die Firma mit ihren rund 200 Mitarbeitern in die „Factory“ in Mitte. Sie wird dort fast zwei Drittel der Räume einnehmen.

Doch diese Räume wird Alexander Ljung wohl nur selten sehen, da er wie auch jetzt die meiste Zeit des Jahres in der Welt unterwegs ist. „Wenn mich Freunde anrufen“, sagt er, „fragen sie meist zuerst, wo ich denn sei.“ Er reise viel, zu anderen Büros und möglichen Kooperationspartnern. „Es ist für mich normaler geworden, in einem Raum plötzlich dem US-Rapper Dr. Dre zu begegnen oder einem Mitglied des britischen Königshauses.“ Wenn seine Eltern ihn dann in der gedruckten Tageszeitung zu Hause in Stockholm sehen, dann ahnen sie, dass ihr Sohn zwar bei einer Firma arbeitet, die vor allem virtuell existiere, die aber offenbar wichtig sei. „Ich kann meinen Eltern nur schwer erklären, dass meine Arbeit eine Viertelmilliarde Menschen erreicht“, sagt Ljung, „aber Sie haben eine Ahnung davon.“

Seine Mutter hat eine „Alexander-App“ aus dem Internet geladen. Es ist nicht Soundcloud, sondern „Foursquare“, eine App, mit der man sehen kann, wer sich gerade wo aufhält. Sie nimmt also in Stockholm immer wieder ihr Mobiltelefon in die Hand, ihr Sohn ist ihr einziger „Freund“ in diesem Netzwerk. Sie schaltet die App ein, um zu sehen, wo er ist. Er wird dann als kleiner Punkt angezeigt und je nachdem, ob in Amerika, Asien oder Europa, sie weiß dann, ob er gerade einen Sonnenauf- oder -untergang erlebt und ob er auf eine Nachricht schnell antworten wird.

Das erzählt er, als wir schon die Brücke vom Paul-Lincke- zum Maybachufer überquert haben. Wir reden über seine Lieblingsserie („Twin Peaks“ und „West Wing“), seine Lieblings-Podcast („The Bugle“ und „99% Invisible“) und in welchen Netzwerken außer Soundcloud er überall vertreten sei: Twitter, Foursquare, Facebook, Instagram. Seit Neuestem nutze er aber vor allem „Path“, eine in Deutschland noch wenig verbreitete mobile Facebook-Alternative, bei der nicht mehr als 150 Freunde erlaubt sind. „Ich bin dort wirklich privater und habe auch auf Facebook einige Freunde gelöscht.“ Er versuche zudem, nicht zu viele Apps auf seinem Telefon zu haben. „Für jede neue App, die ich herunterlade, muss ich erst eine andere löschen.“

Der Internet-Unternehmer, der seine Firma auf Wachstum auslegt, ist selbst also auf dem Entschleunigungs-Pfad. Er trägt fast ausschließlich schwarze Kleidung, weiß wie der „aufrechte Hund“ beim Yoga geht und ist online eben vorsichtig: Bei vielen kostenlosen Applikationen bezahlt der Nutzer schließlich mit privaten Informationen über sich selbst, die außerdem noch von Geheimdiensten mitgelesen werden. Privates ist über ihn nur wenig zu lesen, außer, dass er nach vielen Jahren in Mitte jetzt hier in der Gegend um das Maybachufer wohnt und seit kurzem einmal mehr mit dem Rauchen aufgehört habe. Zu dieser Zurückhaltung passt seine eigene sehr knappe Selbstbeschreibung in seinem Soundcloud-Profil: „Ich bin Alex. Ich mag Sound.“

Es ist einer der wenigen Spaziergänge dieser Serie, in dem kein Café aufgesucht wird, sondern der Spaziergang ohne Pause fast zwei Stunden lang in schnellem Schritt durch Berlin führt. Es ist fast eine Wanderung, vorbei am türkischen Wochenmarkt, an einer Straßensperrung und Männern, die Boccia spielen – alles Dinge, die keine Karte im Mobiltelefon anzeigen kann, wenn man als Punkt auf der Landkarte daran vorbeiläuft.

Am Ende des Spaziergangs erzählt er dann doch noch etwas von sich und der Gefahr, dass dieser Erfolg und all der Zuspruch von Millionen Menschen auch eine Gefahr darstellt. Zum Beispiel für die Freundschaft. „Das war nicht immer leicht“, sagt Alexander Ljung und meint seine Freundschaft zu Eric Wahlforss, dem anderen Chef der Firma. Sie fordern einander heraus, sagt er, und sind beide sehr obsessiv in ihrer Arbeit. Immer gibt es Geschichten in der Startup-Welt, wie Freunde eine Firma gründen und einander über Details zerfleischen. „Wir aber haben eher als Co-Unternehmer begonnen“, sagt er, „und sind jetzt wirklich zu engen Freunden geworden.“

Gerade erst haben sie gemeinsam ihren Geburtstag gefeiert und irgendwie auch die fünf Jahre Soundcloud. Sie waren in Brooklyn, sie waren vorher gut essen, sie gingen in eine große Fabrikhalle, steckten die Mobiltelefone weg, es lief laut Musik und die Wolken am Himmel waren einfach nur: Wolken.

Spaziergang mit Nora Bossong

Das „Spiel mit den Nilpferden“ geht so: Junge Mitarbeiter, die einen Bericht für ihre Chefs bei den Vereinten Nationen erstellen, versuchen darin ein Wort zu verstecken, das nichts mit dem Inhalt des Berichts zu tun hat. „Badewannenstöpsel“ in einem Bericht über Kindersoldaten zum Beispiel oder „Sesamstraße“ in einem Text über ein überfülltes Flüchtlingslager – oder eben das Wort „Nilpferd“, wenn es um Völkermord in Burundi geht.

Gewonnen ist das Spiel, so schreibt Nora Bossong in ihrem neuesten Roman „Schutzzone“, wenn der Text an die höchste Instanz gegangen ist, ohne dass das Wort jemandem aufgefallen ist. Es ist natürlich ein zynisches Spiel, weil es brisante Texte plötzlich zu einem Spielbrett für gelangweilte Nachwuchs-Diplomaten macht. Und ganz nebenbei zeigt es, wie wenig solche Texte wirklich gelesen werden. Oder gilt das für alle längeren Texte?

Als ich Nora Bossong beim Spaziergang durch den Park neben dem Rathaus Schöneberg auf das Spiel mit den Nilpferden anspreche, sagt sie, dass es wirklich einige spielen. Überhaupt habe sie viele Erlebnisse von Freunden und Bekannten bei den Vereinten Nationen eingebaut. „Einige haben sich wiedererkannt“, sagt sie, „andere fanden die Arbeit in Afrika zum Teil noch aussichtsloser, als ich sie im Buch beschrieben habe.“ Sie wollte mit „Schutzzone“ auf die Misere hinweisen, in der Mitarbeiter in Krisengebieten immer wieder stecken: Zwischen Hilfe und Paternalismus, zwischen der Armut der Bevölkerung und dem Privileg, mit dem Taxi in ein Luxushotel oder mit dem nächsten Flug nach Genf oder New York fliegen zu können.

An dieser Stelle des Gesprächs, noch ganz am Anfang, treffen wir auf eine Ratte. Wir sind soeben die Treppe beim Brunnen mit dem goldenen Hirsch hinuntergelaufen, auf einer Bank sitzen zwei Damen und reden ungerührt miteinander. Nur drei Meter hinter ihnen läuft das Tier unter einem Mülleimer entlang, schaut kurz zu uns nach oben. „Die sieht genügsam aus“, sagt Nora Bossong – und tatsächlich: Das Tier kümmert sich um die Gegenstände, die neben dem Mülleimer liegen. Als die Schriftstellerin „Oh, jetzt kommt sie auf uns zu“ sagt, beschließen wir, die Treppen wieder nach oben zu gehen.

Nora Bossong kennt den Park gut. Aufgewachsen ist sie in Bremen und Hamburg, aber sie wohnt seit 15 Jahren in Berlin, die Gegend um das Schöneberger Rathaus ist ihr Kiez. Genauso lange ist die 38-Jährige inzwischen Schriftstellerin. Nach ihrem ersten Jahr in Berlin erschien im Jahr 2006 ihr Debüt „Gegend“. Er behandelt Verletzungen, die durch Patchworkfamilien entstehen und den Versuch einer Tochter, sich vom Vater abzunabeln. Die FAZ nannte den Roman „überfrachtet“, attestierte ihm aber auch „atmosphärische Dichte“.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 30.8.2020

Florian Schröder, Porträt

Berlin. Der Florian Schroeder, den ich treffe, trägt einen Anzug. Das ist wichtig und wird auch im Laufe unseres Spaziergangs noch eine Rolle spielen. Der Anzug steht ihm fantastisch, er könnte damit in dem neuen Christopher-Nolan-Film „Tenet“ mitspielen und Kugeln in die Vergangenheit schießen. Oder fängt er mit der Waffe dann die Kugeln nur ein, weil sie rückwärts fliegt? Das einzige, was an Florian Schroeder als Held in diesem unironischen Welt-Retter-Film vielleicht stören würde, wäre sein Lachen. Das Lachen passt nicht ganz zum Anzug, weil es so auffällig laut ist. Und es verändert die Stimmung sofort.

Verabredet haben wir uns an der Zionskirche, jener Kirche der Helden von Berlin, die so wichtig war für den Beginn der friedlichen Revolution im Jahr 1989. Zum ersten Mal fällt mir eine Straßenlampe aus DDR-Zeiten auf, die gleich neben der Kirche steht, als zwinkere die Vergangenheit kurz in die Gegenwart. Aber inzwischen ist die Zionskirche ein Ort im hippsten Teil Berlins und hat neulich auch einen „Star Wars“-Gottesdienst veranstaltet. Wir haben uns für diesen Treffpunkt entschieden, weil wir beide morgens nicht zu weit fahren wollten – zumal für diesen Tag der BVG-Streik angekündigt ist und uns ohnehin alle Pläne verdorben hätte.

Schroeder kommt mit einem Rad, das er, wie er sagt, seit 15 Jahren besitzt. Es hat 21 Gänge und Metallic-Look. Als er abgestiegen ist, wirkt das Rad fast zu zierlich für den 1,93-Meter-Mann. Da unser Fotograf gleich weiter muss, will er schnell die Bilder machen. Als Profi war er schon vorher zur Kirche gekommen, um die Gegend zu erkunden: Welches Graffito (ein trauriger Clown?), welche Restaurantdekoration (eine indische Kuh?), welche schmuddelige Hauswand passt am besten und drückt die Stimmung eines der bekanntesten Comedians Deutschlands aus, der gerade ziemlich viel um die Ohren hatte?

Florian Schroeder hat gerade mit seinem Kollegen Serdar Somuncu einen neuen Podcast gestartet. Die erste Folge war drei Stunden lang. Sie redeten über alles, was derzeit so um uns passiert und auf Twitter gute Hashtags bringen würde: #Trump, #Klimawandel, #AFD, #Bildzeitung. Irgendwann beim Thema #Feminismus bogen die beiden falsch ab, ein unschönes Wort fiel, Schroeder lachte sehr laut darüber. Schroeder entschuldigte sich auf Twitter für sein Gelächter. Der Sender RadioEins entschuldigte sich ebenfalls, und die beiden Comedians willigten ein, den nächsten Podcast vorher zur Abnahme vorzulegen. Die zweite Folge dauerte nur noch eine Stunde und behandelte zu einem Drittel nur die Probleme mit der ersten Folge – zurecht.

Während die beiden Fotos machen, halte ich den Boss-Mantel von Florian Schroeder in der Hand. In seiner Innentasche vibriert es unaufhörlich. Ich habe mein Telefon zum Glück auf Flugzeug-Modus gestellt, damit wir ungestört sind. Er wird einmal kurz ans Telefon gehen, ansonsten wird er das Brummen auch später ignorieren.

Als wir loslaufen, reden wir zunächst über den Humor an sich, und das heißt: über die Kollegen. Florian Schroeder sagt, dass die US-Komiker mag: „Seth Meyers, Stephen Colbert sind super, nur Jimmy Fellon ist mir ein bisschen zu seicht manchmal.“ Schon vor Jahren hat er David Letterman geschaut, aber er findet auch, dass Deutschland einiges an guter politischer Comedy zu bieten hat: Die „Heute-Show“ und „Extra-3“ schaut er regelmäßig. „Schon allein, um zu sehen, was die Kollegen gerade so machen.“ Da sei viel Gutes dabei. „Aber es ist eben ein Abbild der Arbeit“, sagt er, „da sind mal geniale Ideen dabei, aber egal wie geil die Sendung oder wie geil das Team ist, man kann nicht immer das Maximum herausholen.“ Dann sagt er einen Satz, bei dem ich später zu Hause googeln muss: „Kahnemann nennt das die Regression zum Mittel.“

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 4. 10. 2020