Porträt der koreanischen Autorin Bae Suah

Bae Suah sitzt in Mecklenburg-Vorpommern in einem Haus, allein, mit Blick auf die Seenplatte und das Grün und Rot und Grau der Landschaft im Herbst. Sie denkt nach über Seoul, die Hauptstadt ihrer Heimat Südkorea, über Geister und über Menschen, die Schmerzen aushalten. Es ist Spätherbst an der deutschen Küste, aber Bae denkt an die Hitze im koreanischen Hochsommer, die sich in jede Pore des Körpers bohrt und dazu führt, dass über den Betten von schlafenden Menschen kleine Dampfsäulen entstehen. So ungefähr schreibt sie das dann auch auf: „Die hochsommerliche Metropole glich einem Tempel der betäubenden Mattigkeit, der vor Tausenden Jahren von einem lange verschollenen, dem Hitzekult frönenden Volk errichtet worden war.“

Die südkoreanische Autorin hat mit dem Buch „Weiße Nacht“ dieses Jahr einen Überraschungshit gelandet. Es ist ein absurd-schöner Roman über eine Frau, die unabhängig leben will und dabei doch immer wieder an ihre Wurzeln erinnert wird. Sie trifft auf Schriftsteller, auf ein altes Ehepaar, bei dem es sich vielleicht um ihre Eltern handelt, und schließlich auf einen Mann, der ihr Freund sein könnte. Und während all das geschieht, führt die Hitze des Sommers dazu, dass nicht nur die Gedanken sich auflösen, sondern auch die Grenzen zwischen den Menschen verschwimmen. Halt gibt der Wetterbericht, der wie klare Halterungen im Halbrealen ihren Text umgibt.

Darauf angesprochen sagt die 55-Jährige Autorin erst mal nichts. Sie sieht so aus, als erinnert sie sich an das Schreiben vor rund zehn Jahren. „Ich weiß gar nicht mehr, ob es ein Hörspiel war oder ein wirklicher Wetterbericht“, sagt sie, „aber es klang sehr abgehackt und dadurch so theatralisch oder: musikalisch.“ Dann erzählt sie vom Entstehungsprozess ihres Buches: „Zunächst muss ich gestehen, dass ich das Buch weder in Korea noch in Sommer geschrieben habe.“ Sie habe vielmehr im Winter in einem Häuschen in Mecklenburg-Vorpommern gesessen, vi

Bae spricht leise, in einem schönen Deutsch, das sorgfältig zwischen Dativ und Genetiv unterscheidet und jedes Wort einzeln betont. Bae Suah will Auskunft geben über ihr Schreiben, ihr Werk und Leben. 25 Menschen sind in das Koreanisches Kulturzentrum geladen, als sie über ihr Buch „Weiße Nacht“ spricht. Mehr sind aufgrund der strengen Corona-Regeln nicht zugelassen, es ist wenige Tage bevor die ganze Welt wegen „Squid Game“ einmal mehr auf Südkorea blickt.

Doch schon vor ihrem Roman, der in den deutschen Feuilletons euphorisch besprochen wird, haben südkoreanische Autorinnen wie Han Kang („Die Vegetarierin“) und Cho Nam-Joo („Kim Jiyoung, born 1982“) für Aufsehen auf dem deutschen Buchmarkt gesorgt, der in diesen Tagen trotz Corona sein wichtigstes Fest begeht: die Frankfurter Buchmesse.

Bae Suah aber sind diese Vergleiche eher unangenehm. „Ich schreibe seit mehr als 20 Jahren“, sagt sie, „aber ich lag nie im Trend, wie man so sagt, und ich glaube, ich möchte das auch nicht.“ Ihre Romane sind in Korea in kleinerer Auflage erschienen als dieses Buch in Deutschland. „Das kann daran liegen, dass koreanische Leser vielleicht gerne Geschichte mit einer klaren Story und Inhalt lesen möchten.“ Sie aber möge gerade Bücher, die sie verwirren. Sie erzähle in „Weiße Nacht“ mehr in Bildern, von Assoziationen und Fantasien, wie Szenen in einem surrealen Film. „Beim Schreiben sehe ich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht getrennt, ich sehe alles zugleich“, sagt Bae Suah und fährt nach einer Pause fort: „Ich möchte nicht für jeden schreiben.“

Begonnen hat sie mit dem Schreiben eher zufällig. Als sie mit 23 Jahren als Beamtin am Flughafen in Seoul arbeitete, schrieb sie ihre erste Kurzgeschichte für einen Wettbewerb – sie wollte sich selbst das Zehnfingersystem beibringen. Koreanisch ist eine Alphabet-Schrift. Diese Geschichte hieß „Dunkles Zimmer“ und gewann den Hauptpreis bei dem Wettbewerb. Seitdem sind viele Bücher entstanden, die häufig sehr rätselhafte Namen tragen: „Landstraße mit grünen Äpfeln“, „Club der roten Hände“ oder „Windpuppe“.

Obwohl sie im Jahr 2001 nach Deutschland ging und schließlich sogar dauerhaft Zeit hier verbrachte und die Sprache perfekt spricht, ist es ihr erstes Buch auf Deutsch. Sie hat sich mit der Sprache vor allem als Übersetzerin beschäftigt: Sie hat berühmte Autoren ins Koreanische übersetzt – Franz Kafka, W.G. Sebald, Jenny Erpenbeck, Christian Kracht.

„Ich bin keine Wissenschaftlerin“, sagt Bae Suah. „Ich arbeite sehr intuitiv, auch als Übersetzerin.“ Wörter wie Geister und Seele würden in Korea definitiv anders verstanden, sagt sie. „Aber es sind manchmal auch einfache Wörter wie ‚Mutter‘, ‚Sterne‘ oder ‚Liebe‘, die ganz anders verstanden werden in anderen Sprachen.“ Sie habe den Glauben, dass es eine perfekte Übersetzung nicht gebe. „Ich will nicht ewig forschen oder überlegen, sondern es muss sich richtig anfühlen.“ Sie war einmal auf der Buchmesse bei einem Treffen von Übersetzern von Christian Kracht. Dort ging es lange um das Wort „levantinisch“. „Manche konnten das ganz leicht übersetzen, andere, wie ich, haben dafür lange gebraucht.“

In ihrem Buch, zumindest in der deutschen Übersetzung, ist die Sprache sehr klar, doch häufig verändert sich mitten im Absatz plötzlich die beschriebene Realität und alles steht Kopf: „Als die junge Ayami eine Straße entlangging, entdeckte sie einen bläulichen Stein auf dem Boden und hob ihn auf. Unter dem Stein tat sich ein tiefes Loch auf, es führte zur Welt auf der anderen Seite des Spiegels, die parallel zur hiesigen existierte …“ Immer wieder kommt ihre Hauptperson an solch eine Stelle, wie ein DJ mixt Bae Suah dabei einige Texte in fast identischer Form immer wieder ein. Eines dieser Bilder ist der Kopf mit einem Nagel drin, ein sehr brutales Bild.

Bae Suah erzählt, dass sie mit dieser Erwähnung ein Trauma ihrer Kindheit verarbeitet. „Eine Schuldfreundin hat mir einst ein Geheimnis anvertraut“, sagt sie, „dass ich hier aufgeschrieben habe.“ Es habe einmal einen Onkel gegeben, der plötzlich verschwunden sei. „In seinem Abschiedsbrief stand, dass er den Weltschmerz nicht ertrage und in die Berge gegangen sei.“ Der Mann war Apotheker, hatte eine junge Frau und einen Assistenten. „Im Dorf erzählte man sich, dass der Leichnam unter dem Dach der Apotheke versteckt sei, weil der Assistent die Frau des Apothekers liebte.“ Der Assistent habe ihn ermordet, mit einem Nagel im Kopf. „Doch die Polizei fand die Leiche nie, und so blieb es ein Gerücht.“ Die Apotheke wurde geschlossen und der Assistent zog mit der Frau in eine andere Stadt.

Das Lesen von „Weiße Nacht“ führt subtil in solch grausige Welten. Inspiriert, sagt sie, sei sie von dem iranischen Autor Sadegh Hedayat. Dessen Buch „Die blinde Eule“ wolle sie einmal ins Koreanische übersetzen. Es wird in „Weiße Nacht“ mehrfach erwähnt, Bae glaubt, dass es in Korea viele Leser finden könnte. Das liegt vielleicht auch an der gemeinsamen Erfahrung von Iran und Korea mit dem Krieg. „Als ich Kind war, war es noch wie ein Alptraum, immer hat man von Kriegsgefahr gehört.“

Sie habe unter großer Angst gelitten. „Bis heute hat sich diese Lage nicht sehr geändert, die Angst bleibt immer im Hinterkopf, weil Korea eben getrennt wurde und bis heute getrennt ist.“ Auch darüber wollte sie schreiben, von diesem Alptraum aller Koreaner – von ihrem Häuschen im wiedervereinten Deutschland aus.

Wie zwei Koreaner in Berlin Rassismus erleben

Berlin. Am U-Bahnhof Fehrbelliner Platz ist Hyuneun Kim ohnmächtig geworden. „Ich war wohl unter Schock“, sagt sie. „Es war wohl einfach alles zu viel.“ Sie sackte in sich zusammen, und ihr Ehemann Sejin Lee konnte ihren Fall bremsen.

Die beiden Koreaner waren zu diesem Zeitpunkt, kurz nach Mitternacht, auf dem Bahnsteig. Sie hatten die U7 verlassen, weil sie von drei jungen Männern belästigt und geschubst worden waren. Sejin Lee konnte sich noch dagegen wehren, wieder in die U-Bahn hineingezogen zu werden. Er wurde bespuckt. Dann kümmerte er sich um seine Frau. Die drei Männer rannten in Richtung des Bahnsteigs der U3 – Sejin Lee rief die Polizei.

Die U-Bahn fuhr weiter, die Polizei kam, und die beiden versuchten, den Beamten zu erklären, was gerade passiert war. Doch was die gebürtigen Koreaner dann erlebten, war nicht die erhoffte Erleichterung. Sie beschrieben den Beamten, was in der U-Bahn passiert war, wie sie in dem Waggon erst von drei Männern angesprochen wurden mit „Happy Corona“ und ob sie eine „Corona-Party“ feiern wollen. Zwei Frauen hätten die Szene beobachtet, aber nicht geholfen. Als sie dann mit ihrem Mobiltelefon die Szene filmen wollten, eskalierte die Situation schnell, es kam zu Beleidigungen und Tätlichkeiten. Sejin Lee: „Doch die Polizei sagte uns, das sei keine rassistische Beleidigung.“

Es kommt derzeit immer wieder vor, dass Asiaten in Europa und den USA im Zusammenhang mit Corona beleidigt werden. Es gibt Menschen, die Asiaten die Schuld am Ausbruch des Virus geben. Die Berliner Polizei sagt auf Anfrage der Berliner Morgenpost, dass es seit Beginn der Pandemie sieben Fälle von Beleidigung gegeben habe. Das seien zumindest die Fälle, die zur Anzeige gebracht worden seien. Der Fall der Koreaner sei einer davon. Doch die Polizei schränkt ein, dass es schwierig war, diese Fälle zuzuordnen, weil in Berlin das Aussehen eines Geschädigten normalerweise nicht registriert werde. Häufig könne man aber am Namen des Opfers feststellen, dass es sich um einen Asiaten aus China, Vietnam, Japan, Thailand oder Korea handele, aber wenn sie hier geboren sind, werde es schon schwierig.

Sejin Lee und Hyuneun Kim leben seit vier Jahren in Berlin. Sie kommen beide aus Südkorea, haben einander aber erst in Berlin kennengelernt. Die 25-Jährige studiert Gesang, ihr 31 Jahre alter Ehemann Architektur. Beide leben in Charlottenburg und hatten bisher keine schlechten Erfahrungen in Berlin. Sie werden ihr Studium auch hier fortsetzen. Doch auf die nächtlichen Spaziergänge, die in den Wochen der Pandemie für das Paar zu einem Ritual geworden waren, verzichten sie derzeit.

Seit dem Vorfall vor zwei Wochen wollen sie nicht mehr mit der U-Bahn fahren und gehen generell selten allein aus dem Haus. „Ich war nach dem Angriff beim Arzt, weil ich immer wieder Panikattacken bekomme“, sagt Hyuneun Kim. „Ich bin inzwischen schon ängstlich, wenn mich auf der Straße jemand länger anschaut.“ Hyuneun Kim wird psychologisch betreut. Die beiden haben inzwischen Anzeige erstattet und sind froh, dass sie die Aufnahmen mit ihrem Mobiltelefon gemacht haben – auch, weil in der U-Bahn ihnen niemand half.

Auf dem Video, das der Berliner Morgenpost vorliegt, sieht man, wie sich nicht nur die drei Männer lustig machen über das koreanische Ehepaar und gewaltbereit auf sie zukommen, sondern auch, wie zwei Frauen ebenfalls in der Gruppe sitzen und den drei Männern beipflichten. „Sie haben uns ausgelacht“, sagt Hyuneun Kim. „Auch dann, als ich gesagt habe, dass sie aufhören und uns lieber helfen sollen.“ Sie verstehen offenbar nicht, dass sich die Asiaten wirklich bedrängt fühlen. Der Vorfall fand in der Nacht von Freitag auf Sonnabend Ende April statt, es war 0.30 Uhr, ihrem Verhalten nach sind die Männer alkoholisiert.

Nicht immer gehen die Zwischenfälle so vergleichsweise glimpflich aus wie dieser Vorfall am Fehrbelliner Platz. Rund 165.000 Asiaten leben in Berlin, und in den jeweiligen Communities häufen sich die Berichte, dass Menschen auf der Straße oder in Geschäften beleidigt werden. Das begann schon einige Wochen vor der Coronavirus-Krise im Februar, als asiatische Restaurants als erste einen starken Umsatzeinbruch verzeichneten. Als dann sämtliche Restaurants schließen mussten, ging die Diskriminierung auf den Straßen der Stadt und in den öffentlichen Verkehrsmitteln weiter. Inzwischen trauen sich einige Asiaten nicht mehr ohne Begleitung in die Öffentlichkeit, schreiben sie in einigen Beiträgen in den sozialen Medien.

Sejin Lee und Hyuneun Kim haben auch viel Zuspruch für ihren Schritt in die Öffentlichkeit bekommen. Nachdem sie die Videos bei Facebook geteilt haben, äußerten viele ihr Mitgefühl und verurteilten rassistische Angriffe. Die Botschaft der Republik Korea hat sich ebenfalls der Sache angenommen. Selbst in Korea, einem Land mit 57 Millionen Einwohnern in Ost-Asien, schlägt der Berliner Fall hohe Wellen. Vor allem das Detail, dass ihr Anruf bei der Polizei zunächst nicht ernst genommen wurde, zeigt Wirkung. „Als die Beamtin uns aber sagte, dass nicht jeder Corona-Witz eine rassistische Beleidigung sei, dachte ich, sie versteht mich nicht richtig.“

Vergangene Woche waren die beiden Koreaner noch einmal eingeladen zu einem Gespräch bei der Polizei, wo sie erneut von dem Vorfall erzählten. Sie erschienen mit ihrem Anwalt und verbrachten sieben Stunden auf der Polizeistation. „Das war anstrengend“, sagt Sejin Lee, „aber ich hatte das Gefühl, dass die Polizei den Fall sehr ernst nimmt.“ Es gehe ihnen beiden auch sehr viel besser nach dem Gespräch.

Jetzt werden sich Juristen mit der Attacke vom Fehrbelliner Platz auseinandersetzen. Auch die beiden Frauen aus dem U-Bahnwagen haben Anzeige erstattet, wegen Beleidigung. Sie wollten sich nicht als Rassisten bezeichnen lassen. Dass sie aber gelacht und nicht geholfen haben, in einer Situation, in der sich zwei Menschen bedrängt gefühlt haben, ist auf dem Video deutlich zu sehen. Sie werden sicherlich als Zeugen noch einmal aussagen müssen.

 

Erschienen am 12.5.2020 in der Berliner Morgenpost