Egon Bahr, Porträt

Egon Bahr, Wikimedia

Ungeheuer! Fabelhaft! Toll! Unglaublich! Gewaltig! Faszinierend! Oder auch: schrecklich!

Das sind die Wörter, die Egon Bahr oft benutzen wird auf unserem Spaziergang durch das Berlin seiner Vergangenheit. Dieser Mann ist mit seinen 90 Jahren noch immer sehr begeisterungsfähig, für die Dinge, die in der Stadt, in Deutschland und eigentlich in der ganzen Welt passieren.

Wenn er diese großen Wörter ausspricht, dann meist gedehnt, etwa so: “Uuuungeheuer.” Sie zeigen, wie präsent ihm die Vergangenheit noch ist, als ob er nur zur Seite in den Rückspiegel eines Autos blicken müsste. An US-amerikanischen Rückspiegeln ist immer eine Warnung aufgedruckt: “Objekte, die Sie im Rückspiegel sehen, können näher erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind.”

Wie nah Egon Bahr diese Geschichten aus der Vergangenheit wirklich noch sind, wird schon nach den ersten drei Minuten in seinem Büro deutlich, als er begründet, warum er auf diesem Spaziergang nicht viel laufen werde. Er sagt: “Ich bin Anfang 1942 zur Wehrmacht eingezogen worden, zu den sogenannten Stoppelhopsern.” Das war die Kompanie, die nach Russland marschieren sollte und mit viel Glück wieder zurück.

Er aber meldete sich freiwillig zur Luftwaffe. “Diese Neigung, nicht zu laufen, war damals schon da und hat sich gehalten, auch wenn ich es sehr bedaure.” Er fühle sich behindert, aber nicht begrenzt. Dieser Unterschied ist ihm wichtig. Dabei sei ihm heute klar, was Laufen sei: “Kosssstbar.”

Zum Spaziergang liegt deswegen eine Berliner Straßenkarte auf dem Tisch. Bahrs Reiseproviant daneben: ein Glas Wasser und eine Marlboro-Packung mit drei Zigaretten. Er ist neben Altkanzler Helmut Schmidt einer der wenigen, die hier in der Berliner SPD-Parteizentrale rauchen dürfen.

Das riecht man sofort, wenn man das Zimmer betritt. Es wird ein gemütlicher Spaziergang werden. Egon Bahr setzt sich seine “richtige Brille” auf, die, mit der er Dinge erkennen kann, die ganz nah bei ihm sind.

Wir beginnen in dem Haus, das nach dem Mann benannt ist, der über viele Jahre Egon Bahrs Partner in der Politik und guter Freund war: Willy Brandt. Er, der Bürgermeister, Bahr sein Sprecher, Brandt der Kanzler, Bahr sein Staatssekretär, er, der zurücktritt, Bahr, der vor laufender Kamera weint. Unter Brandt hat Bahr die Ostverträge ausgearbeitet, hat mit dem Passierscheinabkommen die Besuche zwischen Ost- und Westdeutschland möglich gemacht, hat das berühmte Schlagwort “Wandel durch Annäherung” geprägt.

Nach Egon Bahr ist bisher kein Haus benannt worden, wohl aber eine Straße in Treffurt in Thüringen. Dort wurde er 1922 geboren, bei der Einweihung war er dabei. Doch wenn er darauf zurückschaut, sagt er kein großes, gedehntes Wort, sondern einfach: “Ja, man freut sich.”

Egon Bahr nimmt die Straßenkarte zur Hand. “Augenblick”, sagt er. Die erste Station der kleinen Karten-Reise soll seine Schule sein. Er sucht sie. “Wir sind ja nicht in Eile.” Er zündet sich eine Zigarette an und: “Hier, am Perelsplatz, da war es.” Er meint das Friedenauer Gymnasium, heute heißt es Friedrich-Bergius-Oberschule. Er verknüpfe viele gute Erinnerungen mit diesem Ort.

Er habe hier Peter Bender kennengelernt, mit dem ihn eine “ungebrochene Freundschaft” verband. “Weder Peter noch ich waren in der Hitlerjugend”, sagt er, “und deshalb mussten wir am Sonnabend nachsitzen, während die anderen beim Wehrdienst waren.”

Wieder blitzt er auf, dieser Krieg. Ja, er träume noch davon, am meisten vom Silvesternachmittag 1943: Er hatte den Auftrag, Post von einem Flugfeld zu holen, als plötzlich eine feindliche Maschine auf ihn zuflog und schoss. “Ich habe mich auf den Boden geworfen und gemerkt, wie beruhigend ein kleines Grashügelchen sein kann.” Er schaute auf. “Das Ferkel kam noch einmal zurück.” Er sagt, er habe das als eine Gemeinheit empfunden, an Silvester Jagd auf einen Soldaten zu machen. Das war: “Uuuungeheuer.”

Bahr will weiterlaufen. Er nimmt wieder die Karte in die Hand, rückt die Nahsehbrille zurecht und sucht einen Ort in Weißensee. Rennbahnstraße 113, dort wohnte er in der Zeit, als er zur Schule ging. Drei Zimmer, die Straßenbahn fuhr nicht weit davon, hier hat er Brötchen geholt, von hier ist er in den Krieg gezogen. Und er hat noch Jahre später von dieser Ortskenntnis profitieren können.

Als er nach dem Mauerfall wöchentlich drei Tage in Straußberg bei dem Abrüstungsminister Rainer Eppelmann saß, konnte er dem ostdeutschen Fahrer, der ihn zum Flughafen Tegel bringen sollte, Schleichwege in Weißensee zeigen, die der nicht kannte.

Von Weißensee aus führt Bahr seinen Finger in Richtung Ostseestraße, die zur Wisbyer, dann Bornholmer, Osloer und schließlich Seestraße wird. Dann beschreibt er den 20. April 1945, der Krieg war noch nicht zu Ende, und es war Hitlers Geburtstag. An diesem Tag also zog er mit seiner Mutter und vielen Kartons und Taschen in eine neue Wohnung.

“Ich weiß noch, wie hinter uns die russischen Granaten in die Stadt flogen.” Mit Fahrrädern liefen sie bis zur Ecke Seestraße/Müllerstraße. “Da plötzlich wackelte eine Straßenbahn, Linie 28, vor uns in Richtung Tegelort – gewalllltig!” Seine Mutter und er stiegen ein und fuhren in das Haus in Tegelort von Dorothea Grob, seiner späteren Frau.

Sie war damals schwanger, und er spricht heute noch von Glück, dass die Sowjets sie nicht vergewaltigten. Sie kamen bewaffnet in den Luftschutzkeller in der Wohnung. Alle hatten Angst, Bahr auch, aber er stellt sich vor seine Frau. Sie blieb verschont, die Russen nahmen andere. “Keine schöne Erinnerung, nein.” Er schaut zur Seite, als könne das dieses Bild im Rückspiegel vertreiben.

Bahr war bis zu ihrem Tod mit Dorothea verheiratet, trennte sich in den 70er-Jahren, ließ sich nie von ihr scheiden. Vor einem Jahr starb sie. Für die Beerdigung hatte sie sich bestellt: “What a Wonderful World” von Louis Armstrong. “Ein tolles Lied”, sagt er. Für ihn war dieses Lied ein Zeichen, dass sie im Frieden aus der Welt schied. Bei seinem letzten Treffen hat sie ihm das Ende angedeutet. Sie hatte beim Abschied ein Wort benutzt, dass sie noch nie gesagt hatte … Er will das Wort aber nicht gedruckt sehen.

Für einen Moment ist es still im Büro. Wie weiter, wenn der Tod im Raum steht? Bahr winkt mit Zigarette in der Hand ab: Er habe ein entspanntes Verhältnis zum Tod. Dem entkomme sowieso niemand. “Die Vorstellung, schmerzlos zu sterben, das ist ein Ziel, das ich noch erreichen will”, sagt er.

Aber richtig, die Einschläge seien näher gekommen. Willy Brandt vor 20 Jahren, Peter Bender vor vier Jahren. Doch es sei schön, wenn noch Post komme, wie neulich vom Klassenkameraden, der jetzt auch 90 Jahre alt sei, wie er.

Egon Bahr nimmt die Karte wieder zur Hand: Schulenburgring 5, gleich beim Flughafen Tempelhof. Dort hat er später gelebt, während der Luftbrücke. Auch die ist ihm: ganz nah. “Ich hörte natürlich ständig die Flugzeuge.” Ein “unglaaaublich” angenehmes Geräusch sei das gewesen. “Wenn plötzlich Stille war, wachte man auf und fragte sich, was ist los, funktioniert die Luftbrücke nicht mehr?”

Vielleicht sind es Erlebnisse wie diese, die für ihn den Wandel durch Annäherung so unbedingt nötig machten. Dieses Gefühl, dass Berlin nicht für immer geteilt sein darf. Noch heute erreichen ihn Anfragen von Doktoranden dazu. “Immer mehr sind auch Anfragen aus dem Ausland dabei”, sagt er. Zum Beispiel aus Südkorea, deren Verhältnis zum Nachbarn Nordkorea noch immer sehr gespannt ist. Zuletzt war er im Jahr 2005 dort. Man kennt seinen Namen in Südkorea. Dessen früherer Präsident, Kim Dae-jung, wurde wegen seiner Politik der “Egon Bahr Südkoreas” genannt.

Doch wir sind in Berlin, und der nächste Schritt auf Bahrs Reiseroute ist der S-Bahnhof Köpenick. Dort hat er am eigenen Leib erfahren, was das Passierscheinabkommen im Jahr 1963 bewirkt hat. 700.000 West-Berliner sind damals nach Ost-Berlin gereist. Egon Bahr war einer von ihnen, besuchte seine Tante Valerie, die er nur Tante Wally nannte.

“Sie lebte in einem Haus, das eher eine Laube war.” Er sucht auf der Karte die Gegend um den S-Bahnhof ab und findet nur Straßen mit sehr seltsamen Namen: Dornröschenstraße, Rotkäppchenstraße, Frau-Holle-Straße. “Die haben sicher anders geheißen, aber da in der Gegend war es.” Es habe Gans gegeben. “Faaaabelhaft” habe die geschmeckt.

Er nimmt die Karte noch einmal in die Hand und schaut einfach so darauf, raucht, verschafft sich einen Überblick über Berlin. Er sagt: “Wissen Sie, es gibt für mich so viele Orte hier, die eine Bedeutung haben.” Er kenne die Stadt ja noch aus der Vorkriegszeit.

Auch den Potsdamer Platz. Heute sei dieser Platz für ihn “ein Stück vollzogener Einheit, angenommen von den Menschen”. Imposant sei es dort, aber von Schönheit könne keine Rede sein. Berlin sei nie eine wirklich schöne Stadt gewesen. “Aber sie war immer: fassssszinierend!”

Egon Bahr und Berlin sind eben miteinander verbunden. Er hat den Mauerbau und den Mauerfall miterlebt. Diesen Tag wird er nicht vergessen, auch, weil es für ihn mit einem seiner wichtigsten Wirkungsstätten in Berlin verknüpft ist: dem Schöneberger Rathaus, wo Willy Brandt von 1957 bis 1966 Bürgermeister war, wo Egon Bahr 1960 sein Sprecher wurde. Seine letzte große Erinnerung an dieses Haus geht auf den 10. November 1989 zurück.

Er habe im Zimmer von Walter Momper gestanden, dem damaligen Regierenden Bürgermeister, während unten die Kundgebung stattfand. Brandt hielt eine Rede: “Jetzt wächst zusammen …”. Die Stimmung im Zimmer war einig: “Jetzt müsse man sehr aufpassen, dass das nicht außer Kontrolle gerät.”

Dann hörte Egon Bahr, mit welcher Selbstverständlichkeit “dieser Momper” plötzlich darüber sprach, dass er mit seinem Kollegen aus Ostberlin neue Übergänge vereinbart hatte. “Toll!”, sei das gewesen und auch: “Unglauuublich!” Er habe so lange kämpfen müssen, um einen oder zwei zu kriegen! Für ihn war das ein Symbol für diese völlig neue Situation. Für das Zusammenwachsen. “Dabei sind wir übrigens immer noch.”

Er spricht dann davon, dass er die Stasi-Unterlagenbehörde noch immer im Jahr 2019 schließen würde, etwas, das ihm auch Kritik eingebracht habe. Er wird laut: “Niemand kann erwarten, dass ich nun in meinen ausgehenden Jahren taktisch und gegen meine Überzeugung argumentiere!” Dieses Einsetzen für die Versöhnung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit brachte ihn wieder in die Zeitungen, die er, der ehemalige Journalist, noch immer mit Begeisterung liest.

Den aktuellen Streit um die Flughafeneröffnung verfolge er. “Es ist nicht das erste Mal”, sagt er, “dass wir für etwas Großes, Unabweisbares eine lange Zeit brauchen.” Wir, das meint, wir Berliner. Er erinnert an die Stadtautobahn oder das ICC. Er tippt auf die Karte, in die Nähe des Funkturms. “Schreeecklich unpopulär” seien diese Bauprojekte gewesen.

Wir falten die Karte zusammen und gehen dann doch noch einmal vor die Tür. Im Fahrstuhl erzählt er, was ihn gerade noch alles beschäftigt: die Wahlen in Mexiko, die “Occupy”-Bewegung in den USA, die Jugend in Russland, das nervöse Handeln von China im Fall von Ai Weiwei. Und dann der Cyberwar. Das Internet ermögliche eine “unkontrollierbare Grenzenlosigkeit”. Er sei gespannt, wie die Politik damit umgehen werde. Denn wie solle man Grenzenloses kontrollieren? Auf dem Tisch hätte genauso gut eine Weltkarte liegen können.

Im Foyer laufen wir vorbei an der großen Statue von Willy Brandt. Bahr sagt: “So verlottert ist der doch niemals rumgelaufen, aber man gewöhnt sich daran.” Draußen am Büroeingang werden Postkarten mit Fotos von Willy Brandt verkauft, keine mit Egon Bahr. Er winkt ab: “Aber es hängt doch nicht an Postkarten!”

Dann steht Egon Bahr auf der Stresemannstraße. Es ist drückend heiß. Er steht an einem Fenster, das von außen verspiegelt ist. Darin sieht er nur: die Gegenwart. Wenn er genau hinschaut, könnte er in der Fensterscheibe auch sehen, dass die Menschen, die an ihm vorbeilaufen, sich nach ihm umdrehen. Manche bleiben stehen. Aber er will jetzt nicht mehr in irgendwelche Spiegel schauen, er hat noch viel zu tun heute.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 14.7.2012