Lars Eidinger, Porträt

Lars Eidinger, Sören Kittel, Foto: Reto Klar

Berlin.  Wer den Infinitiv benutzt, habe ich einmal gelernt, weist auf den Moment hin und gleichzeitig auf die Ewigkeit. Zum Beispiel „Sein oder nicht sein“, das ist so ein Infinitiv. Hamlet sagt das auf der Bühne nicht nur zu sich selbst, sondern er meint auch jeden anderen Menschen. Wie ist das, wenn man sich als Schauspieler immer auf dieser Ebene bewegt, man selbst zu sein und gleichzeitig potenziell noch ganz viele andere?

Kurz, wie ist das, zu fühlen wie Lars Eidinger – zu brüllen, zu flüstern, mit Dreck zu werfen, mit einem Blick zu morden, sich nackt auszuziehen und dann über sich zu lesen, was für ein Mensch man sei? Ist das ein 24-Stunden-Job, von dem man eine Pause bräuchte? Oder ist das ein totaler Rausch, dafür bezahlt zu werden, was ohnehin leichtfällt: permanent zu spielen?

Bevor wir spazieren gehen und darüber reden, will Lars Eidinger auf die Toilette. So stehe ich kurz allein vor dem Hotel „Michelberger“ an der Warschauer Straße, diesem umtosten Ort der größten Hipness, der auch in New York oder Kopenhagen sein könnte. Da sitzen Menschen, die sich den ganzen Sommer auf den Winter gefreut haben, um die schönen Mäntel, Tücher und Wollmützen anzuziehen. Das angegliederte Restaurant erfüllt alle Kriterien, um in diesem Teil der Stadt für voll besetzte Tische zu sorgen: geschmackvolle, zurückhaltende Einrichtung, sehr leckeres Öko-Essen und von den Kellnern ein kosmopolites „Sorry, I don’t speak German“.

Passend dazu steht über der Tür „The past is over“. Lars Eidinger kommt vom Klo, erzählt, dass es „total irre“ war, „bunte Lampen“ und „Walgesänge“. Dann zeigt Eidinger auf den Spruch über der Tür: „Die Vergangenheit ist vorbei.“ „Schon komisch“, sagt er, „dass ausgerechnet jetzt das über uns steht.“ Schließlich gehe es in seinem neuen Film „Die Blumen von gestern“ genau darum, dass die Vergangenheit eben nicht vorbei ist. „Die Gegend hier war wichtig für unseren Film“, sagt er. „Adèle Haenel und ich haben hier in einem Raum mit dem Regisseur Chris Kraus zusammen viele Szenen geprobt.“ Er schaut nach oben, entweder in eines der Fenster, oder er blickt direkt in jene Zeit vor mehr als einem Jahr, als sie da saßen, zu dritt, und improvisierten. Bei diesem Film heißt das: zu schreien, zu weinen, zu schlagen und zu küssen.

„Die Blumen von gestern“ hat trotz des etwas ungelenken Titels alle Elemente, um wirklich etwas aufzurütteln in diesem Land. Jede Person im Film ist ein gestörter Charakter, exzentrische Emotionsbündel, die aufeinander losgelassen werden: ein misanthropischer Holocaustforscher (Eidinger) und sein überehrgeiziger Kollege (Jan Josef Liefers) treffen auf eine bipolare spontan-schreiende Französin (Adèle Haenel) und eine nymphomanische Borderlinerin (Hannah Herzsprung). Im Zentrum steht der millionenfache Mord in den KZs und was das heute für uns bedeutet. Vergangenheit? Vorbei? Niemals. Und dazwischen: Sex, Sex, Sex. Der Film hat den „Grand Prix“ in Tokio gewonnen und den „Baden-Württembergischen Filmpreis“ in der Kategorie „Bester Spielfilm“. Dabei wird es nicht bleiben.

Lars Eidinger sagt, dass für ihn der Film besonders sei, weil er mit seiner Filmpartnerin eine ungewöhnliche Beziehung aufgebaut habe. „Das ist ja nicht selbstverständlich“, sagt er, „dass man eine Verbindung zwischen zwei Menschen behauptet, die dann auch wirklich stattfindet.“ Diese Chemie könne man nicht künstlich herstellen. „Da hatten wir Glück, dass Adèle und ich uns da so gefunden haben, auf der spielerischen Ebene.“ Wie ein Wunder sei das gewesen, als sei sie sein weibliches Pendant. „Ich meine das in der Bereitschaft, weit zu gehen, in der Tiefe der Emotionalität, der Aufrichtigkeit, ohne dass man dem anderen etwas vormachen muss.“

Wir sind gerade erst losgelaufen auf der Warschauer Straße, und schon haben wir das Grundthema von Eidingers Schaffen berührt: Wie weit kann man gehen? Den Körper zu benutzen, jeden beweglichen Muskel, zu spielen und doch immer der gleiche Mensch zu bleiben: Geboren vor 40 Jahren im Klinikum Steglitz, irgendwann Schauspielschule „Ernst Busch“ (im gleichen Jahrgang wie Devid Striesow, Nina Hoss und Fritzi Haberlandt), sofort zur Schaubühne als Schauspieler und inzwischen dort auch Regisseur. Ab dann Filmrollen als Serienmörder („Tatort“), verunsicherter Liebhaber („Alle Anderen“) und aktuell auch als Journalist mit Kristen Stewart in „Personal Shopper“.

Natürlich hat das alles zu einer Popularität geführt, die er nicht abschalten kann. Wir laufen zur Mitte der Straße, da, wo die Strecke der M10 an einem Poller endet, da winken von der anderen Seite Menschen, die ihn wohl erkannt haben. Oder winken sie, weil er gewunken hat? Es ging so schnell.

Als hätte er Gedanken gelesen: „Deshalb schätze ich meinen Beruf auch so“, sagt er, „weil es keinen Unterschied macht, ob man sich in der Realität oder Fiktion begegnet, weil es im Grunde immer meine Wirklichkeit ist.“ Er meint damit wieder das Auftreten als Hamlet oder Richard oder Holocaustforscher – das Brüllen, das Dreck-Werfen, das Nackt-Ausziehen. „Die Frage, wie viel davon mit mir zu tun hat und wie ich privat bin, ist eigentlich keine Frage, weil ich ja immer mich selbst ausdrücke, es gibt nur eine Form von Expressivität.“

Wir laufen eine Treppe hinunter und stehen plötzlich im Nirgendwo. Die ganze Gegend um die Warschauer Brücke ist eine perfekte Kulisse für triste Drogenhändler-Filme und Obdachlosen-Reportagen. Heute fährt hier nur laut die Müllabfuhr vorbei, donnert die S-Bahn entlang und von der S-Bahn-Brücke winken wieder ein paar Passanten. Zu uns?

Eidinger sagt, dass er auf der Bühne immer versucht, zu sehen, wie das Publikum ihn wahrnimmt. Auch seine Frau habe er so kennengelernt. Er war damals neu an der Schaubühne, spielte den Griechen Diomedes in „Penthesilea“, er sitzt auf einer Anhöhe und schaut auf die Schlacht der Amazonen. „Der Vorhang geht auf, noch ist es dunkel und ich kann das Publikum sehen“, sagt er, „da sitzt eine Frau und schaut mich an. Scheinwerfer blenden auf, und es geht los.“ Mit dieser Frau sei er seit 18 Jahren zusammen. Lars Eidinger kann das ganz gut, dieses Erzählen, als sei das ein magischer Moment gewesen: Zwei Augenpaare treffen sich und lassen einander danach nie wieder los.

Wir verlassen die Einöde zwischen Graffiti, umgestürzten Fuselflaschen und S-Bahn-Schienen, und laufen Richtung Friedrichshain. Mir fallen all die Texte ein über Lars Eidinger, in denen immer wieder steht, was für ein „großer Schauspieler“ er sei. So, als ob diese immer frühere Texte über Eidinger zitieren und so eine Geschichte über Jahre tragen, wie toll er sei.

Klar gebe es andere Texte über ihn, aber darauf einzugehen sei langweilig. Er bereite sich auf eine Rolle als Anwalt auch nicht mit zehn Anwaltsfilmen vor. „Sondern ich gehe ins Gericht“, sagt er, „und orientiere mich an der Realität.“ Er meint „Terror“, das „TV-Ereignis“ vom Herbst, in dem er den Verteidiger spielt. Er ist es, der darin die großen Sätze sagen darf, die nach dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt anders klingen: „Wir müssen begreifen, dass wir im Krieg sind, wir können es nicht ändern. Kriege gibt es nicht ohne Opfer.“

Unser Spaziergang fand vor dem Attentat statt. Aber geht es nicht genau auch darum in den „Blumen von gestern“, um die Allgegenwart von Gewalt? Eidinger sagt, dass die meisten heute davon ausgehen, sich nicht schuldig gemacht zu haben. Aber es hänge eben alles zusammen: unser Frieden mit dem Krieg an anderen Orten. Und unsere Gegenwart mit dem Dritten Reich von damals. „Es kann ja nicht sein“, sagt er, „dass die meisten unserer Vätergeneration im Widerstand gewesen sind.“ Das sei natürlich totaler Quatsch, weil der Nationalsozialismus eine Massenbewegung war. „Jemand, der mit einer Waffe in den Krieg zieht, tut das, um zu töten“, sagt er. Wegen der Holocaustthematik habe er auch über seine Familie recherchiert, aber nicht viel gefunden. Er sagt nur: „Mein Opa war bei der Artillerie.“

Wir laufen über die Oberbaumbrücke. Einige Obdachlose haben sich hier richtige Schlafzimmer eingerichtet, mit Weihnachtsbaum und Lichterkette. Das wirkt bizarr privat und brutal arm, inmitten dieser feuchtkalten Gegend voller Touristen mit dem „Berghain“ im Blick. Es wird langsam dunkel, oder wird es hier im Winter überhaupt hell?

Lars Eidinger bleibt auf der Brücke stehen. Er erzählt von einem Erlebnis während eines Gastspiels in Jerusalem. „Es war Sabbat und ich stand im Aufzug mit einer älteren Frau, die den Knopf nicht drücken wollte.“ Für Strenggläubige gibt es am Sabbat viele Gebote. „Als der Fahrstuhl losfuhr, sagte sie, sie habe in Deutschland gelebt.“ Es sei eine Pause entstanden und er habe gedacht, dass sie in dem Alter sein könnte, Zeuge oder Opfer des Holocaust gewesen zu sein. Er habe gefragt, ob sie noch einmal dorthin fahren werde. Sie habe den Kopf geschüttelt und gesagt: niemals. „Das hat mich extrem bedrückt damals.“ Für einige ist Vergangenheit nie, nie, nie vorbei.

Auf der Kreuzberger Seite ist es fast noch hektischer als in Friedrichshain. Wir reden über den Film „Alle Anderen“ („Die Leute haben mir damals Briefe geschrieben, weil sie sich so wiedererkannt haben“), über seine Narbe auf der Lippe („Ich habe als Kind eine Brücke über den Badewannenrand gemacht und bin abgerutscht“) und über den Moment der Geburt seiner Tochter: „Das Erste, was meine Frau gesagt hat, als sie unsere Tochter sah: ‚Das bist ja du!‘“. Und wirklich: Es sei für ihn so gewesen, wie bei seiner eigenen Geburt zuzuschauen. Vielleicht ist dieses heute etwa zehn Jahre alte Mädchen der einzige andere Mensch, der ein bisschen weiß, wie das ist, das Lars-Eidinger-Sein.

Als wir wieder am Ausgangspunkt des Spaziergangs stehen, vor dem Hotel, das keine Vergangenheit kennt, sagt Eidinger, er müsse noch einmal. Er fragt: „Musst du auch?“ Ich verneine und ärgere mich, weil ich vielleicht eine schöne Szene verpasse. Schließlich gibt es kaum einen Film, in dem Eidinger die Hosen anbehält. Warum also in diesem Text? Aber ich hatte den Film „Code Blue“ gesehen und damit mehr von Eidinger, als ich je wollte. Ich blicke also auf das riesige Plakat von „Star Wars“, als ich erschrecke. Es bewegt sich, als ob wir wirklich mitten im Krieg wären. Doch gerade als die Gedanken richtig düster werden, kommt Lars Eidinger und sagt: „Die wurden doch von Disney gekauft, vielleicht wird Darth Vader bald durch Mickey Mouse ersetzt.“

Später gehe ich doch auf die Toilette, allein. Ich will diesen „irren Ort“ auch sehen. Vorbei an einem Tischfußballspiel, bei dem alle Figuren weiß sind, stehe ich im Herrenklo. Die Spiegel sind riesig, ich sehe mich selbst, umgeben von grellem Weiß und Silber. Schön ausgeleuchtet. Ich höre dieses Geräusch, den endlosen Walgesang, den Infinitiv des Lebens. Das wird immer so weitergehen: Lars Eidinger ist jemand, der nicht anders kann als spielen. Er macht das auch jetzt, solange jemand zuschaut.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 8.1., 2017