Würzburg nach dem Anschlag 2016

Besuch in Würzburg

Würzburg/Ochsenfurt.  Früher waren die Güterzüge die „bösen Züge“ für Melanie Göttle, weil die so laut ratterten hinter ihrem Haus in Würzburg-Heidingsfeld. Das Rattern ist bis in ihr Wohnzimmer zu spüren. Jetzt sind die Personenzüge „böse“. Erst gestern, sagt sie, habe sie Unkraut gejätet. Nur eine Hecke trennt ihr Grundstück von den Bahnschienen. „Als ein Regionalexpress kam, musste ich weg. Mir ist fast das Herz stehen geblieben.“ Ihr Leben sei nicht mehr dasselbe seit einem Monat.

Göttle war eine der Ersten, die am 18. Juli am Tatort waren, in dem Regionalexpress, der auf offener Strecke hielt, hinter ihrem Haus. Jemand hatte gegen 20 Uhr die Notbremse gezogen, nachdem der 17 Jahre alte Flüchtling Riaz A. mit einer Axt und einem Messer auf eine chinesische Touristenfamilie eingeschlagen hatte, auf Kopf und Körper. Vier der fünf wurden schwer verletzt.

Riaz A. verließ dann den Zug und lief in das Wohngebiet am Mainufer. Dort schlug er auf eine Spaziergängerin mit der Axt ein, wohl in der Absicht, sie zu köpfen. Als er dann auf zwei Polizisten losging, erschossen sie ihn mit mindestens vier Schüssen. Riaz A. soll vorher Kontakt zu Mitgliedern des sogenannten Islamischen Staats (IS) gehabt haben. Seine letzte Nachricht vor der Tat an seine Kontaktmänner enthielt den Satz: „Wir sehen uns im Paradies.“

Seit einem Monat hat Deutschland damit auch den ersten Anschlag des IS im eigenen Land. Eine Woche später folgte das erste Selbstmordattentat in Ansbach, auch dort gab es mehrere Verletzte, der Täter starb. Auch wenn es in beiden Fällen schlimmer hätte kommen können – die Menschen sind nun in Habachtstellung, sind gewarnt, dass der Terror sie nun jederzeit auch hierzulande erreichen kann.

Auch Melanie Göttle weiß, wie knapp die Sache für sie war. Von einem Nachbarn erfuhr sie, dass Riaz A. direkt an ihrem Haus vorbeilief. „Er hat ihn gesehen, mit der blutverschmierten Axt“, sagt sie, „eine halbe Stunde früher und mein elfjähriger Sohn hätte noch im Garten gespielt.“ Das sind Dinge, die ihr nicht aus dem Kopf gehen.

Als sie hörte, dass im Zug noch Verbandsmaterial gebraucht werde, wollte sie es zunächst nur an die Tür des Zuges bringen. Doch der Schaffner wandte sich ab und wies auf das Großraumabteil, wo sonst Reisende mit ihren Fahrrädern stehen. Sie ging hinein. „Da war alles voller Blut“, erinnert sie sich, „egal wo ich mit meinen Händen hingefasst habe.“ Sie erzählt von den schlimmen Wunden der Verletzten am Kopf und am Bauch, von den Handtüchern, dem Verbandszeug. Sie sagt: „Und dann erst der Geruch.“

Melanie Göttle besuchte in den Tagen nach der Tat das Uniklinikum Würzburg. Sie wollte erfahren, wie es den Opfern geht. Doch aus Datenschutzgründen konnte man ihr keine Auskunft geben. Das Krankenhaus sagt jetzt auf Nachfrage, dass alle vier schwer verletzten Touristen noch in Behandlung seien. Der Vater der Familie werde gerade aus dem Koma zurückgeholt. „Dieser Prozess kann Tage dauern“, sagt Susanne Just vom Uniklinikum. Er bleibe weiter auf der Intensivstation.

Die deutsche Spaziergängerin aus Heidingsfeld lebt inzwischen wieder zu Hause. Sie selbst möchte nicht mit den Medien sprechen. Nachbarn beschreiben sie als „von der Tat gezeichnet“, sie habe eine große Narbe am Hals und eine im Gesicht. Doch sie sei schon wieder mit dem Hund unterwegs gewesen, auch dort, wo es passierte. Die 51 Jahre alte Frau habe den Nachbarn erzählt, dass sie erst dachte, der junge Flüchtling wolle sie etwas fragen oder brauche Hilfe. Doch er drehte sich zu ihr um und schlug auf sie ein, mit der Axt.

Melanie Göttle sagt, sie kenne über Freunde die Pflegefamilie von Riaz A. „Die schlagen ihr Holz noch selbst für den Winter, die Axt ist sehr scharf.“ Sie kann aber nicht verstehen, warum jemand einem Krieg entkommt und dann bei denen, die ihn aufnehmen, eine derart schlimme Tat anrichtet. Ihr Nachbar, der auch im Zug geholfen hatte, schrieb ihr noch in der Nacht eine SMS: „Was der Junge durchgemacht haben muss, um so etwas zu tun.“ Göttle sieht das anders: „Er hat das Leben von vielen Menschen zerstört und meines zur Hölle gemacht.“ Warum nur habe keiner aus seinem Umfeld etwas bemerkt?

Das ist eine Frage, die Ochsenfurt derzeit zerreißt, jene pittoreske Fachwerkstadt, in der Riaz A. rund ein Jahr lang lebte. In dem orangefarbenen Kolpinghaus bei der Innenstadt wohnen noch immer 23 unbegleitete Flüchtlinge. Anwohner sagen, dass sie die Jugendlichen seltener auf der Straße sehen. Schüchterner seien sie geworden.

Vom Kolpinghaus selbst heißt es, es gab Absagen von Praktikumsbetrieben und verbale Beleidigungen. Aber angegriffen wurde niemand. „Wir sind froh, dass etwas Ruhe einkehrt“, sagt ein Mitarbeiter. „Viele hier kannten ihn ja, haben mit ihm gebetet.“ Riaz A. wollte Bäcker werden, spielte im Fußballverein, dann starb ein Freund in Afghanistan und Riaz A. – so die Ermittler – habe sich „turboradikalisiert“. Die Mitarbeiter von Kolping, so sagen sie, sind jetzt „stärker sensibilisiert“, was „mögliche Radikalisierungstendenzen“ betrifft.

Simone Barrientos vom Helferkreis in Ochsenfurt kannte Riaz A. nur flüchtig. Sie grüßte ihn, wie sie noch jetzt auf einem Spaziergang durch Ochsenfurt ständig junge Flüchtlinge grüßt. Die resolute Berlinerin zog vor drei Jahren in die Kleinstadt und hat es nie bereut. Es ist ein Ort, in dem jeder so leben könne, wie in Berlin eigentlich auch. „Sie sind sehr tolerant hier“, sagt sie, „und vor allem pragmatisch“. Sie habe noch in der gleichen Woche des Attentats Deutsche und Flüchtlinge Fußball spielen sehen. „Da hätte ich heulen können.“

Barrientos musste in diesem Monat auch Kritik einstecken, weil sie eine der wenigen war, die sich überhaupt äußerte. Sie bleibt dabei: „Für die, die Riaz kannten, war er auch ein Freund.“ Ein Bekannter von ihr wollte zwei Tage nach der Tat ein paar Kerzen für den Toten aufstellen. Der Flüchtling hatte bei ihm gearbeitet, er mochte ihn. Die Polizei hinderte ihn daran. Viele Anwohner verstehen die Sympathie für den Attentäter nicht.

Auch die Pflegefamilie in Gaukönigshofen, wo Riaz A. zur Tatzeit wohnte, möchte sich nicht äußern. Als sie die Tür öffnen, sagen sie nur: „Wir sind froh, dass es jetzt vorbei ist, und möchten unsere Ruhe.“

Für Melanie Göttle ist nichts vorbei. Sie hatte vor wenigen Tagen ihren 44. Geburtstag, es war der erste, den sie nicht feierte. Sie war auf keinem Weinfest in diesem Monat, meidet Gruppen, den Regionalzug sowieso. Auch ihr Sohn durfte nicht zum Sportfest. Am Montag war sie im Kino, im Film „Pets“, aber sie ging erst in den Saal, als alle anderen Besucher an ihr vorbeigelaufen sind. „Ich weiß, das ist irrational, aber ich kann nicht anders.“ Sie hat psychologische Hilfe beantragt, beim Weißen Ring, bei der Polizei. Das LKA hat sie vor zwei Wochen angerufen, seitdem ist nichts passiert. „Das Attentat“, sagt sie am Ende, „war in meinem Wohnzimmer.“