Corona-Tagebuch: Teil 1

Berlin. Ich habe in dieser Woche den Fehler gemacht, den Roman „Die Pest“ von Albert Camus zu lesen. Es ist ein alarmierendes Buch aus dem Jahr 1947 über das Versagen der Behörden angesichts der Epidemie in einer Stadt in den 1940ern. Erst sterben die Ratten, dann die Menschen. Es ist furchtbar. Die Zeitungen der Stadt versuchen, eine Panik in der Bevölkerung zu verhindern. Im ersten Teil des Buches heißt es: „Die Ratten sterben eben auf der Straße, die Menschen in den Häusern. Zeitungen befassen sich nur mit der Straße.“

Natürlich ist Camus’ Roman eine fiktive Geschichte, die mehr über die Gesellschaft kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erzählt als über das Gesundheitssystem einer Stadt. In Frankreich ist „Die Pest“ Schulliteratur, aber derzeit ist das Buch auch in Italien vergriffen. Die Parallelen zum gegenwärtig kursierenden Virus Sars-CoV-2 drängen sich auf. Es gibt kein Heilmittel, die Symptome gleichen einer Grippe. In China gab es über 3000 Tote, und auch die Übertragung verläuft ähnlich leicht. Es reicht, jemandem die Hand zu geben. Die Infektion kann innerhalb von Millisekunden stattfinden.

Seit dieser Woche gibt es Infizierte in Berlin. Oder besser: Seit dieser Woche gibt es positiv auf das Coronavirus getestete Patienten, die es in sich tragen und möglicherweise in den Tagen davor verbreitet haben, in der U-Bahn, im Bus, beim Bäcker. Was ist in dieser Woche mit Berlin passiert? Was sagen Berliner, die gerade aus China zurückgekehrt sind? Und wie bleiben wir gesund? Das Protokoll einer Woche, in der irgendwie die ganze Stadt unter erhöhter Temperatur litt.

Corona-Tagebuch: Teil 3

Berlin. In dieser Woche ist mir das Lachen über Klopapierwitze vergangen. Zum einen, weil wir am Ende der Woche den ersten Toten in Berlin zu verzeichnen hatten, die Einschläge kommen wirklich näher. Zum anderen, weil ich einfach zu viele Witze gesehen habe. Natürlich verstehe ich, dass Humor diese bleierne Zeit überhaupt erst erträglich macht. Zum dritten ist mir aufgefallen, dass ich automatisch weniger lache, wenn ich den ganzen Tag allein zu Hause verbringe. Auch lachen ist eine soziale Handlung, die allein irgendwie keinen Spaß macht.

Das ist so ein Nebeneffekt vom Homeoffice, den man erst kennenlernt, wenn man ihn wirklich erlebt. Dieses ständige Alles-mit-sich-selbst-ausmachen. Hat man früher wegen einer Schreibweise schnell mal zu einem Kollegen hinübergerufen („Wie schreiben wir Homeoffice, zusammen oder gekoppelt?“), frage ich jetzt meine „Homie“-Gruppe auf Whatsapp. Zum Glück gibt es diese und die Telefonkonferenzen, die darüber hinwegtrösten und für einen Moment das Gefühl der Gemeinschaft und Gleichzeitigkeit erzeugen. Das ist wichtig, wenn man sich in einer Art kollektivem Alptraum befindet.

Montag. Die Woche beginnt damit, dass die Telefonkonferenz nicht funktioniert. Irgendwas ist mit der Leitung schief gelaufen, und alle mussten sich über E-Mail behelfen. Für einen Moment ist es kein „Wunder“ mehr, dass die Technik für über 60 Mitarbeiter so schnell ein Homeoffice ermöglicht hatte, sondern ich merke, dass es wirklich harte Arbeit ist, das alles am Laufen zu halten.

Als die Aufgaben verteilt sind, müsste ich eigentlich los, in die Restaurants Berlins und sie befragen, wie sie mit der Krise umgehen. Aber ich kann mich nicht loseisen vom Nachrichtenstrom: Trump, Johnson, Merkel, Drosten, Steingart und Anne Will. Auf allen Kanälen gibt es Corona-Nachrichten, und ich will alles lesen. Ständig passiert etwas bei Twitter, Facebook, Instagram, das ich vorher nicht wusste.

Dann sehe ich, wie eine sehr gute Freundin um Hilfe ruft. Sie sitzt in New York fest und will so schnell wie möglich nach Kanada. Trump schüttelt weiterhin überall die Hände. Die Infektionszahlen schießen in die Höhe. Sie kommt ursprünglich aus Königs Wusterhausen und hat große Teile ihrer Kindheit in einer Lungenklinik am Wannsee verbracht. Ich habe sie während des Studiums dort besucht, weil sie einen Rückfall hatte und wir zusammen einen Vortrag ausarbeiten sollten. Sie sieht sich völlig zurecht als Risikopatientin und fürchtet um ihr Leben. Ich fürchte mit.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 22. 3. 2020

Corona-Tagebuch: Teil 8

Berlin. In dieser Woche ist irgendwie ein Wendepunkt erreicht. Ich meine, kein zeitlicher Wendepunkt, denn wir wissen ja noch nicht, wann wieder alles wie vorher wird. Ich meine eher einen Wendepunkt für das Gefühl für diese Krise. Hat sich vorher jeder Tag ein bisschen wie Sonnabend angefühlt (zu Hause bleiben, arbeiten, allein fernsehen), ist es jetzt, als wäre es permanent Montag: Man könnte eigentlich immer irgendetwas arbeiten, aber gleichzeitig passt das Bild der Stadt nicht dazu. Die Menschen in meiner Straße stehen jetzt zu lange auf ihren Balkonen, zu jeder Tageszeit. Haben sie mir früher noch zugewunken, machen sie das jetzt auch nicht mehr.

Wendepunkt heißt auch, dass ich merke, wie die Tage auseinanderfallen, wenn man sie nicht zusammenhält. Dabei helfen natürlich Rituale, Dinge, die ich täglich wirklich gleich tue. Aber die gibt es kaum. Eine Zeit lang war es ja ein fast kollektives Ritual, jeden Tag zuerst zu überprüfen, wie die Zahlen liegen. USA, Frankreich, Schweden, und auch die Zahlen für Berlin. Aber wenn ich nicht dieses Tagebuch führen würde, wäre mir nicht aufgefallen, dass in dieser Woche über 100 Menschen in Berlin am Virus gestorben sind. Wenn ich daran denke, mit welchem Entsetzen ich Artikel vor zwei Monaten zu diesem Thema gelesen habe, ist dieses Gefühl definitiv einer Gelassenheit gewichen. Denn alles geht ja auch irgendwie weiter, oder?

Montag. Die Woche hatte mit dem besten Ritual überhaupt angefangen: Morgensport. Ich habe immer dieses Bild von mir als ein Morgenjogger vor mir. Besonders abends. Morgens bin ich dann eher der, der mit Kaffeetasse in Jogginghose erstmal auf den Balkon tritt und blinzelt. Ab heute soll das anders sein: Ich bin mit einer Freundin im Volkspark Friedrichshain an einem polnischen Denkmal verabredet.

Dort angekommen wundere ich mich, dass schon Skater morgens um 8 Uhr ihre Sache sehr ernst nehmen. Meine Freundin hat schon angefangen: springen, rennen, Liegestütze. Und diese eine Übung, die Jane Fonda immer in ihren Videos gemacht hat: seitlich liegend das Bein heben. Ich sage ihr, dass Männer solche Übungen nicht machen, und weise sie auf jenes Workout-Video von Jane Fonda hin. Sie: „Jane hat die Übung auch falsch gemacht. Und jetzt zeige ich dir, wie das geht.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 26. 4. 2020.

Corona-Tagebuch: Teil 12

Berlin. In dieser Woche habe ich Bilanz gezogen. Die vergangenen drei Monate haben mich verändert. Das lag vor allem an einer Tatsache, die ich bisher verschwiegen habe, weil sie mir auch ein bisschen peinlich ist – und weil ich sicher bin, dass meine Lektorin das hier auch liest. Corona hat dafür gesorgt, dass ich so viel geschrieben habe wie noch nie zuvor. Ich bin sozusagen „fremdgegangen“: Wenn ich meine Tagesarbeit für die Zeitung beendet hatte, habe ich noch an meinem Buch geschrieben, zumindest sehr oft. Ich hätte es vor der Corona-Pandemie fertig haben müssen, aber ich… – könnte jetzt irgendwas von Schreibkrise erzählen, aber das klingt nach Ausrede, und vielleicht ist es das auch.

Im Rückblick ist es vielleicht gerade das Schreiben dieser insgesamt zwölf langen Texte – also im Grunde eines zweiten Buches –, die mir erst ermöglichten, das andere Projekt zu beenden. Ich bin in der unangenehmen Situation, dass es wohl einer weltweiten Pandemie zu verdanken ist, wenn im Herbst ein Buch mit dem Namen „Inselhopping Indonesien“ erscheint, in dem ich von meinen Erlebnissen zwischen Sumatra und West-Papua im vergangenen Jahr erzähle.

Jetzt fehlt nicht mehr viel. Zumal ab Montag mein erster richtiger Urlaub beginnt. Schon in dieser Woche konnte ich mich darauf einstimmen und hatte mehrere freie Tage. Deswegen muss ich in dieser Woche auch am Sonntag vor einer Woche beginnen. Und da sind wir wieder beim Thema Corona.

Sonntag. Ich wache mit einem Kater auf, ich hatte am Abend zuvor endlich einem Freund sein Geburtstagsgeschenk gegeben, das wunderbare Buch „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara. Ein Roman über vier New Yorker Freunde, die sich in ihren 20ern kennenlernen und bis zu ihrem jeweiligen Lebensende begleitet werden – sie werden sehr alt. Ich hatte es per Post zu ihm nach Wedding geschickt, aber das Paket kam zurück. Da wir uns jetzt wieder treffen dürfen, habe ich es ihm vorbeigebracht, und wir haben mit sehr gutem Weißwein angestoßen. Er schreibt am Sonntagmittag, er sei auf Seite 36 und könnte es nicht weglegen.

Am Nachmittag kommt eine Freundin von mir vorbei, die gerade ebenfalls an einem Buch arbeitet. Auch sie sagt, dass sie die Pandemie vor Ablenkung schützt. Sie habe das Virus auch von Anfang an ernst genommen. Ein Bekannter von ihr liegt im Krankenhaus in München. Sie sagt: „Er war wochenlang an der Beatmungsmaschine, und die Ärzte haben seiner Freundin gesagt, dass es nicht sicher sei, dass er überlebt.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 24. 05. 2020

Corona-Tagebuch: Dezember 2020

Berlin. In dieser Woche habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, ab und an an sich herunterzuschauen und seinen Füßen dabei zuzusehen, wie sie das so hinkriegen: einen Schritt vor den anderen zu setzen, so ganz ohne stolpern. Ich hatte das neulich in einem Popsong der Kanadierin Veda Hille gehört: „Wenn du dich verloren glaubst, schau auf deine Füße“ singt sie im Song „Oh Precious Heart“. Ich will jetzt nichts überdramatisieren, wozu ich zugegebenermaßen neige, aber nach dieser Woche habe ich das Gefühl, dass uns die dunkelsten Kapitel dieser Krise noch bevorstehen.

Montag. Mein erster Gang geht jeden Morgen zuerst an die beiden Adventskalender, die ich in der Wohnung in zwei Zimmern verteilt habe. Am Montag ist das Öffnen der Türen zu einem Ritual geworden, noch am Tag zuvor hatte ich eine Tür vergessen. Wie überhaupt immer mal ganze Tage durchgerutscht sind seit November. Wieder Lockdown, wieder Tagebuch, nur dieses Mal ohne den Frühling vor der Haustür. Dafür immerhin mit Adventskalender. Ich hole ein Stück Apfelstollen aus dem Adventskalender und esse es direkt zum Morgenkaffee.

Und noch etwas hat sich verändert, seit ich im Frühjahr zwölf Wochen lang diese Seite am Sonntag betreut habe: Ich schlafe besser. Das könnte daran liegen, dass ich vor ein paar Wochen das Rauchen aufgegeben habe und mir jetzt jeden Morgen eine App verkündet, welche weiteren Vorzüge dieser Tag ohne Rauchen mit sich bringen wird. Nur beim morgendlichen Kaffee auf dem Balkon fehlt es mir noch ein kleines bisschen.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 13. 12. 2020.