Berlin. Ich habe in dieser Woche den Fehler gemacht, den Roman „Die Pest“ von Albert Camus zu lesen. Es ist ein alarmierendes Buch aus dem Jahr 1947 über das Versagen der Behörden angesichts der Epidemie in einer Stadt in den 1940ern. Erst sterben die Ratten, dann die Menschen. Es ist furchtbar. Die Zeitungen der Stadt versuchen, eine Panik in der Bevölkerung zu verhindern. Im ersten Teil des Buches heißt es: „Die Ratten sterben eben auf der Straße, die Menschen in den Häusern. Zeitungen befassen sich nur mit der Straße.“
Natürlich ist Camus’ Roman eine fiktive Geschichte, die mehr über die Gesellschaft kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erzählt als über das Gesundheitssystem einer Stadt. In Frankreich ist „Die Pest“ Schulliteratur, aber derzeit ist das Buch auch in Italien vergriffen. Die Parallelen zum gegenwärtig kursierenden Virus Sars-CoV-2 drängen sich auf. Es gibt kein Heilmittel, die Symptome gleichen einer Grippe. In China gab es über 3000 Tote, und auch die Übertragung verläuft ähnlich leicht. Es reicht, jemandem die Hand zu geben. Die Infektion kann innerhalb von Millisekunden stattfinden.
Seit dieser Woche gibt es Infizierte in Berlin. Oder besser: Seit dieser Woche gibt es positiv auf das Coronavirus getestete Patienten, die es in sich tragen und möglicherweise in den Tagen davor verbreitet haben, in der U-Bahn, im Bus, beim Bäcker. Was ist in dieser Woche mit Berlin passiert? Was sagen Berliner, die gerade aus China zurückgekehrt sind? Und wie bleiben wir gesund? Das Protokoll einer Woche, in der irgendwie die ganze Stadt unter erhöhter Temperatur litt.
Montag. Eine seltsam beruhigende Stimme verkündet gegen 7.30 Uhr im Deutschlandfunk: „Mittlerweile wurde auch die erste Infektion aus Berlin gemeldet.“ Es ist der letzte Satz der letzten Meldung in den Nachrichten. Nachdem ich meinem Sprachassistenten die etwas umständliche Frage stelle: „Was ist meine Nachrichtenzusammenfassung?“, plärrt mir das Gerät die Neuigkeiten über den Berliner Patient Null entgegen. Es sind Schlagworte, die bald Stadtgespräch sein werden: 22 Jahre, Stadtteil Mitte, Praktikant im Großraumbüro, regelmäßiger Nutzer der U-Bahn. Das heißt: Theoretisch könnten wir alle längst angesteckt sein.
Das Berlin, das ich kurz darauf an meiner Haustür betrat, hätte ein anderes sein können. Das Virus könnte überall sein, vielleicht am Laternenpfahl oder am Treppengeländer zur U-Bahnhaltestelle. Der Überträger ist 0,1 Millionstelmeter groß. Was ich zuerst sehe, ist ein junger Mann, der in einem Lastenfahrrad seine Tochter zum Kindergarten fährt. Das Gesicht kommt mir bekannt vor. Ich glaube ihn im Film „Inglourious Basterds“ gesehen zu haben. Prenzlauer Berg eben.
Berlin. In dieser Woche ist mir das Lachen über Klopapierwitze vergangen. Zum einen, weil wir am Ende der Woche den ersten Toten in Berlin zu verzeichnen hatten, die Einschläge kommen wirklich näher. Zum anderen, weil ich einfach zu viele Witze gesehen habe. Natürlich verstehe ich, dass Humor diese bleierne Zeit überhaupt erst erträglich macht. Zum dritten ist mir aufgefallen, dass ich automatisch weniger lache, wenn ich den ganzen Tag allein zu Hause verbringe. Auch lachen ist eine soziale Handlung, die allein irgendwie keinen Spaß macht.
Das ist so ein Nebeneffekt vom Homeoffice, den man erst kennenlernt, wenn man ihn wirklich erlebt. Dieses ständige Alles-mit-sich-selbst-ausmachen. Hat man früher wegen einer Schreibweise schnell mal zu einem Kollegen hinübergerufen („Wie schreiben wir Homeoffice, zusammen oder gekoppelt?“), frage ich jetzt meine „Homie“-Gruppe auf Whatsapp. Zum Glück gibt es diese und die Telefonkonferenzen, die darüber hinwegtrösten und für einen Moment das Gefühl der Gemeinschaft und Gleichzeitigkeit erzeugen. Das ist wichtig, wenn man sich in einer Art kollektivem Alptraum befindet.
Montag. Die Woche beginnt damit, dass die Telefonkonferenz nicht funktioniert. Irgendwas ist mit der Leitung schief gelaufen, und alle mussten sich über E-Mail behelfen. Für einen Moment ist es kein „Wunder“ mehr, dass die Technik für über 60 Mitarbeiter so schnell ein Homeoffice ermöglicht hatte, sondern ich merke, dass es wirklich harte Arbeit ist, das alles am Laufen zu halten.
Als die Aufgaben verteilt sind, müsste ich eigentlich los, in die Restaurants Berlins und sie befragen, wie sie mit der Krise umgehen. Aber ich kann mich nicht loseisen vom Nachrichtenstrom: Trump, Johnson, Merkel, Drosten, Steingart und Anne Will. Auf allen Kanälen gibt es Corona-Nachrichten, und ich will alles lesen. Ständig passiert etwas bei Twitter, Facebook, Instagram, das ich vorher nicht wusste.
Dann sehe ich, wie eine sehr gute Freundin um Hilfe ruft. Sie sitzt in New York fest und will so schnell wie möglich nach Kanada. Trump schüttelt weiterhin überall die Hände. Die Infektionszahlen schießen in die Höhe. Sie kommt ursprünglich aus Königs Wusterhausen und hat große Teile ihrer Kindheit in einer Lungenklinik am Wannsee verbracht. Ich habe sie während des Studiums dort besucht, weil sie einen Rückfall hatte und wir zusammen einen Vortrag ausarbeiten sollten. Sie sieht sich völlig zurecht als Risikopatientin und fürchtet um ihr Leben. Ich fürchte mit.
Selten sind Entscheidungen von Regierungen so spürbar. Die Straßen und Straßenbahnen in Berlin sind leer, als ich auf dem Weg zu Restaurants noch einen Köfte kaufe. Der Imbissverkäufer sagt, dass er nicht weiß, wie es weitergehen soll, aber er sagt auch etwas Gutes: „Wir leben in Deutschland, bestimmt fällt denen etwas ein.“
Ich hatte Ende letzter Woche erzählt, dass mein Klavierlehrer am Sonnabend auf einen Skiausflug fahren wollte. Ich hatte ihm noch mittags gesagt, dass er das besser lassen solle. Geflogen ist er dann trotzdem. Noch beim Abflug, sagt er, hieß es, dass das Skigebiet im Süden Frankreichs offen bleibe. „Als ich ankam, war alles dicht.“ Er packte seine Sachen und war am Montagmorgen wieder in Berlin.
Natürlich kann man sich über eine solche Aktion lustig machen, aber je länger wir redeten, umso mehr verstand ich ihn auch. „Ich hatte alles bezahlt“, sagt er, „und es wäre einfach verfallen.“ Jetzt musste er „nur“ 100 Euro für die Umbuchung draufzahlen. Er hatte die Reise lange geplant. Er ist Brite, und er wollte seine Freunde aus England endlich wiedersehen. „Ich glaube, ich war auch von ihnen beeinflusst, die wiederum von Boris Johnson beeinflusst waren.“ Wir verabreden für Donnerstag einen Skype-Unterricht.
Infizierte in Berlin: 332.
Dienstag. Die Telefonkonferenzen funktionieren tadellos. Ich wechsle schon am Morgen auf Kopfhörer. Alle Interviews erledige ich per Telefon, alle Anfragen per E-Mail. Als ich diesen Text schreibe, stelle ich Musik der 90er-Jahre ein. UB40 schafft es, mich in gute Stimmung zu bringen. Nach zwei Stunden kommt mir alles nur noch wie Lärm vor, egal welche Musik.
Am Nachmittag gehe ich zum Zahnarzt. Am Wochenende war mir eine Füllung herausgefallen, und ich hatte um einen Termin gebeten. Die Sprechstundenhilfe war gestresst. „Sind Sie gesund?“ – „Dann morgen Nachmittag, ich muss auflegen!“ Beim Zahnarzt selbst war dann alles sehr steril, aber gewohnt freundlich. Ich musste nur grinsen, als sich die beiden Gesichter mit Masken über mich beugten, es hatte etwas Surreales. Aber weil mein Mund weit geöffnet war, merkte es niemand.
Abends sprach ich mit Sara, einer Freundin aus den USA. Sie lebt in Wedding mit ihrem deutschen Freund Max, studiert aber eigentlich gerade in London. Ich hatte gehört, dass sie Großbritannien fluchtartig verlassen hat. „Ja, es ist absurd, was gerade in London passiert“, sagt sie. Noch auf dem Weg zum Flughafen seien die U-Bahnen voll gewesen, und am Wochenende fand der Halbmarathon statt, als sei nichts gewesen. „In meiner Uni waren die Chinesen die ersten, die nach Hause fliegen wollten.“ Auch Sara fand das Vorgehen der Briten beängstigend. „Nirgendwo an der Uni gab es Desinfektionsmittel“, sagt sie, „und wenn ich jemanden darauf ansprach, hieß es nur, das betreffe nur alte Leute.“ Sie beschloss, nach Berlin zu ziehen. „Ich wollte in einer Stadt sein, die mit dieser Krise besonnen umgeht.“
Infizierte in Berlin: 383.
Mittwoch. Ich stehe morgens vor dem Spiegel. Es ist ja nicht so, dass es jemand merken würde, wenn ich mich nicht rasiere. Aber ich telefoniere gerade jeden Tag mit meinen Eltern. Sie halten sich an alle Regeln, genießen die Spaziergänge mit dem Hund, es sind sehr fröhliche Gespräche, oft per Video-Telefon. Mein Vater kann nie an sich halten, wenn er sieht, dass ich am Hals „sorgfältiger sein könnte“ beim Rasieren. Lächelnd rasiere ich mich also doch, und vielleicht habe ich dabei sogar gesungen. Anschließend ziehe ich Jeans und Hemd an, ich hatte gelesen, dass man das tun solle für eine „Arbeitsstimmung“.
Später skype ich mit Christian Y. Schmidt. Das wöchentliche Treffen mit dem Schriftsteller fand bisher in einem Café statt. In dieser Woche erscheint uns das Videotelefon besser. Er wollte nach China zu seiner Frau zurückfliegen, aber hat das im Kopf schon auf Mai oder Juni verschoben. „Ich wäre wirklich lieber in einem Land, das nach anfänglichen Fehlern alles richtig gemacht und die größte Krise schon hinter sich hat.“ In Berlin regen sich immer noch Menschen über die „Panikmache“ auf. „Solange niemand im Bekanntenkreis betroffen ist, fühlen sie sich so, als ginge es sie nichts an.“ In Peking, wo Schmidt einen Teil des Jahres wohnt, war zum Teil das Ausgehen ohne Maske nicht erlaubt. „In Deutschland wird verbreitet, dass Nichtinfizierte keine Masken zu tragen brauchen. Aber woher weiß man, dass man infiziert ist, wenn das Virus oft keine Symptome hervorruft?“
Er glaubt, dass die Maßnahmen, die im Augenblick gelten, nicht ausreichen. „Selbst als der komplette Lockdown in Hubei durchgesetzt war, dauerte es noch drei Wochen, bis die Zahl der Infizierten zurückging.“ Er rechnet damit, dass schon in der nächsten Woche die Zahl der Todesfälle deutlich steigen wird. Er wartet in dieser Woche auf ein Paket aus China, seine Frau hat ihm noch einmal 100 Masken geschickt. „In China glaubt man, dass viele in Europa aus der Post gestohlen werden.“
Am Nachmittag klingelt es an der Tür. Das passiert nie. Freunde haben ihr Homeoffice verlassen und wollen ein Eis essen. Am Eisladen ist ein Zentimetermaß an der Tür angebracht. Die Kunden sollen sehen, wie viel eineinhalb Meter sind. Noch ungewöhnlicher: nur Kartenzahlung erlaubt. Ich löffle Limone-Kokos und Himbeere-Pfeffer, und wir reden im Sicherheitsabstand über den einsamen Alltag.
Am Abend gehe ich noch einmal in die sozialen Netze. Meine Freundin in New York ist in Montreal gelandet und hat eine Bleibe gefunden. Kanada hat sehr früh Maßnahmen wie Europa eingeführt. Dann sehe ich ein Video eines Freundes, der filmt, wie Eltern mit ihren Kindern auf dem Spielplatz sind. Unter das Video schreibt er: „Ekelhaft“. Ich klappe den Computer zu. Es ist wieder zwei Uhr geworden. Ich muss mir Corona-freie Stunden vornehmen.
Infizierte in Berlin: 519.
Donnerstag. Sascha Lobo hat auf spiegel.de einen ganz wunderbaren Text darüber geschrieben, wie gut es sich anfühlt, andere auf ihr Fehlverhalten hinzuweisen. Er schreibt: „Wer Leute beschimpft, die sich falsch verhalten, trägt faktisch dazu bei, dass die ihr Verhalten nicht ändern werden. Was funktioniert: geduldige Appelle an Empathie und Einsicht, am besten von unmittelbar Betroffenen. Und das immer und immer wieder und bestimmt, aber freundlich“.
Ich nehme mich da nicht aus. Ich habe in dieser Woche auch ein paar Mal überreagiert, wenn mir Freunde Fake-News geschickt haben. Außerdem hatte ich vor zwei Wochen an dieser Stelle einen Freund zitiert, der noch stolz davon berichtete, Konzerte besuchen zu wollen: „Dass ich nicht lache!“ Erst jetzt am Telefon erfahre ich, dass er damals gerade in Lissabon gelandet war. Inzwischen hat er eine andere Meinung. „Als Jugendlicher habe ich in Bayern die Schweinegrippe miterlebt.“ Seine Eltern hatten einen Bauernhof, und damals ging es um ihre Existenz. „Jeden Tag neue Katastrophen aus dem Fernseher.“ Er macht sich Sorgen um seine Eltern und die Selbstständigen ohne Einkommen. Er überlegt, etwas zu spenden.
Am Abend sitze ich trotz meines Vorhabens wieder zu lange am Bildschirm. Eine Freundin aus Berlin schreibt, ihr Arbeitskollege sei positiv getestet worden und liege nur noch zu Hause im Bett. Wie eine normale Grippe fühle es sich nicht an, schreibe er. Draußen vor meinem Fenster wird es laut: „Ihr Idioten, was macht ihr hier in so einer großen Gruppe!“ Eine Frau maßregelt Jugendliche, die sich nicht an die Bleib-zuhause-Regel halten. Die pöbeln zurück: „Das betrifft doch sowieso nur Alte …!“ Ich schließe das Fenster, als sie ruft: „Ich ruf jetzt die Polizei!“.
Infizierte in Berlin: 688
Freitag. Der Tag beginnt fröhlich. Ein Kollege hustet in der Telefonschalte. Jemand fragt: „Wer war das?!“ Das Lachen von allen dauert wie in einer „Simpsons“-Folge drei oder vier Sekunden zu lang. Als wollten alle aus diesem kleinen Moment mehr Freude ziehen, als er eigentlich bereithält. Es war eine wirklich anstrengende Woche bis hierher.
Dann kommt der Bericht vom ersten Toten in Berlin. Ich tue etwas zum ersten Mal in dieser Woche: Ich schließe Facebook. Ich will jetzt auf gar keinen Fall lesen, dass er „ja schon“ 95 Jahre alt war und mehrere Vorerkrankungen hatte. Auch wenn das stimmt, schwingt dann oft so ein Ton mit, den ich gerade nicht ertragen kann.
Ich rufe meine Großmutter an. Sie ist die einzige in meiner Familie, die in Berlin geboren wurde. Kurz vor Kriegsende wachte sie neben ihrer Mutter auf, die in der Nacht gestorben war. Ihr Vater war im Krieg gefallen. Mit zwölf Jahren musste sie ihre Wohnung in der Apostel-Paulus-Straße in Schöneberg verlassen. Den Berliner Humor hat diese Kämpferin und Friseurin nie hinter sich gelassen. Als ich sie frage, wie es ihr geht, sagt sie: „Was willste machen, schießen darfste nicht.“ Dann lacht sie.
Meine Tante hat ihr mit Nachdruck verboten, einkaufen zu gehen. „Da hab ich mir eben einen Morgenmantel nach Hause bestellt“, sagt sie. „Wenn ich ins Krankenhaus komme, will ich mich nicht schämen wegen des alten Dings.“ Ach, Omi. Sie ist traurig, dass ihr 88. Geburtstag abgesagt wurde. Anfang April wollten wir zu ihrem Lieblings-Inder in ihrer Brandenburger Kleinstadt. Sie verträgt das Essen so gut.
Zum Abschied schärft sie mir ein, genug Obst und Gemüse zu essen. „Und wenn du das Gemüse in Wasser gekocht hast“, sagt sie, „dann schüttest du das Wasser nicht weg, sondern trinkst es dann später.“ Ich lache, aber sie ist ganz ernst: „Junge, wenn ich nicht auf mich achten würde, wäre ich nicht mehr.“ Und bevor wir auflegen, sagt sie noch einmal: „Obst und Gemüse!!!“
Infizierte in Berlin: 868. Tote: 1.
Sonnabend. Am Sonnabend schickt mir eine koreanische Künstlerin ein Foto ihrer neuesten Installation. Kim Hyon-Soo stellt sonst in der Münchner Pinakothek aus, im Mai ist sie nach Seoul eingeladen. Sie hat das Kunstwerk namens “Time to Meditate” in Moabit in ihrer Wohnung aufgebaut. Es kommt eine Toilettenrolle darin vor, zum Lachen ist das nicht. Als ich den Müll zum Mülleimer bringe, sehe ich im Hausflur einen Zettel hängen. Eine Nachbarin hatte vor ein paar Tagen um Schlafsäcke gebeten, weil sie einem Obdachlosen helfen wollte, den sie traf. Auf dem Zettel steht: „1000 Dank für die Schlafsäcke! Ihr seid super!!!“ Darunter hat sie einen Regenschirm gemalt, der vor kleinen Viren schützt. Und ein lachendes Gesicht.
Infizierte in Berlin: 1025. Tote: 1.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 22. 3. 2020
Berlin. In dieser Woche ist irgendwie ein Wendepunkt erreicht. Ich meine, kein zeitlicher Wendepunkt, denn wir wissen ja noch nicht, wann wieder alles wie vorher wird. Ich meine eher einen Wendepunkt für das Gefühl für diese Krise. Hat sich vorher jeder Tag ein bisschen wie Sonnabend angefühlt (zu Hause bleiben, arbeiten, allein fernsehen), ist es jetzt, als wäre es permanent Montag: Man könnte eigentlich immer irgendetwas arbeiten, aber gleichzeitig passt das Bild der Stadt nicht dazu. Die Menschen in meiner Straße stehen jetzt zu lange auf ihren Balkonen, zu jeder Tageszeit. Haben sie mir früher noch zugewunken, machen sie das jetzt auch nicht mehr.
Wendepunkt heißt auch, dass ich merke, wie die Tage auseinanderfallen, wenn man sie nicht zusammenhält. Dabei helfen natürlich Rituale, Dinge, die ich täglich wirklich gleich tue. Aber die gibt es kaum. Eine Zeit lang war es ja ein fast kollektives Ritual, jeden Tag zuerst zu überprüfen, wie die Zahlen liegen. USA, Frankreich, Schweden, und auch die Zahlen für Berlin. Aber wenn ich nicht dieses Tagebuch führen würde, wäre mir nicht aufgefallen, dass in dieser Woche über 100 Menschen in Berlin am Virus gestorben sind. Wenn ich daran denke, mit welchem Entsetzen ich Artikel vor zwei Monaten zu diesem Thema gelesen habe, ist dieses Gefühl definitiv einer Gelassenheit gewichen. Denn alles geht ja auch irgendwie weiter, oder?
Montag. Die Woche hatte mit dem besten Ritual überhaupt angefangen: Morgensport. Ich habe immer dieses Bild von mir als ein Morgenjogger vor mir. Besonders abends. Morgens bin ich dann eher der, der mit Kaffeetasse in Jogginghose erstmal auf den Balkon tritt und blinzelt. Ab heute soll das anders sein: Ich bin mit einer Freundin im Volkspark Friedrichshain an einem polnischen Denkmal verabredet.
Dort angekommen wundere ich mich, dass schon Skater morgens um 8 Uhr ihre Sache sehr ernst nehmen. Meine Freundin hat schon angefangen: springen, rennen, Liegestütze. Und diese eine Übung, die Jane Fonda immer in ihren Videos gemacht hat: seitlich liegend das Bein heben. Ich sage ihr, dass Männer solche Übungen nicht machen, und weise sie auf jenes Workout-Video von Jane Fonda hin. Sie: „Jane hat die Übung auch falsch gemacht. Und jetzt zeige ich dir, wie das geht.“
Und so liege ich also im Friedrichshain, hebe das Bein und bin noch nicht überzeugt. Es ist kalt, ich bin müde und würde jetzt lieber einen Kaffee trinken. Dann laufen wir im Sprint die Treppe nach oben auf den kleinen Berg im Park. Dort hat ein Mann sich abgesägte Baumstämme aus dem Gebüsch geholt und hebt diese in verschiedenen Position in die Höhe.
Ich schaue an mir herunter und sehe mit einem Blick, dass ich seit Wochen weder irgendwelche Treppen nach oben gejoggt bin, noch Baumstämme gestemmt habe. Ich bin sicher nicht der einzige mit Corona-Bauch. Vielleicht sollte ich jetzt damit anfangen, den Vorher-Zustand wieder herzustellen?
Am Abend bin ich nach Kreuzberg eingeladen. Eine Freundin feiert Geburtstag, und ich habe es den Rest der Woche bisher vermieden, anderen von diesem an sich netten Abend zu erzählen. Selbst bei meinen guten Freunden sind dann einige dabei, die mich auf eine sehr freundschaftliche Art doch zurechtweisen. Wer ist dann eigentlich der Schlimmere: Sie, die trotz Corona ein Essen für vier Leute organisiert in ihrer Wohnung? Oder ich, der hingeht?
Als ich abends um zehn Uhr nach Hause fahre, ist die U-Bahn leer. Ja, jetzt ist wirklich jeder Tag wie Montagabend. Morgen ist ein neuer Arbeitstag. Ich hatte mir ein Radler mitgebracht zur Party, und mehr Rausch braucht es dieser Tage auch nicht. Ich muss nur die Nachrichten-Apps meines Mobiltelefons öffnen, und bin sofort wieder komplett nüchtern. Das sind sie wieder, diese Zahlen.
Infizierte in Berlin: 5265, Tote: 97.
Dienstag. Ich sage den Morgensport ab, denn heute ist ein großer Tag. Mein Internetzugang sollte wieder hergestellt werden. Dank freundlicher Nachbarn und dem Passwort „ImmerAnDenKanzlerDenken“ hatte ich zwar eine Zwischenlösung, aber war schon sehr froh, dass der Techniker meines Internet-Providers sich angekündigt hatte. Im Jahr 2020 haben sich selbst diese Providerfirmen etwas einfallen lassen, um das Warten erträglich zu machen. Der Termin war zwischen acht und elf Uhr morgens vereinbart, aber gegen halb zehn bekomme ich eine SMS, dass er jetzt unterwegs sei. Dann öffnet sich eine Straßenkarte, und mein Techniker blinkt als kleiner roter Punkt, der noch weit weg ist.
Als er hereinkommt, trete ich zwei Meter zurück, routiniert lehnt er das angebotene Wasser und den Kaffee ab. Sicherlich auch aus Sicherheitsgründen. Mit Handschuhen drückt er am Router herum und schüttelt häufig den Kopf. Eine halbe Stunde tut sich fast nichts, und obwohl er viele Dinge austauscht, hat er den Fehler nicht gefunden. Ich frage ihn, ob er denn viel Kundenkontakt hat. „Logo, wir sind ja systemrelevant.“ Er mache seinen Job genauso wie bisher, nur, dass er eben so wenig wie möglich anfasse in den Wohnungen.
Ohne Internet fühlte es sich wirklich komisch an. Ich hatte am Wochenende abends statt Netflix Sat.1 eingestellt. Ich dachte, etwas Harry Potter würde mich aufmuntern. Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass ich schon sehr lange keine Fernsehwerbung mehr gesehen habe. Unglaublich, wie oft ein Film unterbrochen wird! Gefühlt alle zwölf Minuten. Seltsam auch, dass fast jede zweite Werbung das Corona-Virus schon mitgedacht hatte. „Wir bringen Sie sicher durch die Krise“ verspricht ein Unternehmen nach dem anderen. Ich hatte keine Lust mehr auf Harry Potter.
Infizierte in Berlin: 5341, Tote: 105.
Mittwoch. Morgens laufe ich durch den Mauerpark, ich bin der einzige im Park. Es ist niemand hier, der meine langsame Geschwindigkeit kommentieren könnte oder die kurze Pause, die ich langsam laufend einlege. Ist das der Anfang von einem neuen Verhältnis zu meinem Körper und Bedürfnisse? Mir war aufgefallen, dass ich über die vergangenen sechs Wochen irgendwie sorgfältiger umging mit meiner Zeit. Und dieses morgendliche Laufen durch den Mauerpark, mitten in der Woche, morgens um sieben Uhr, das war bisher immer nur eine Idee gewesen. Ich hatte es mir so oft vorgenommen, dass es sich nicht einmal wie das erste Mal anfühlte.
Auf dem Rückweg belohne ich mich mit „Butterhörnchen“, dem Croissant des Ostens. Es darf nur ein Kunde ins Geschäft zur gleichen Zeit. Erst als ich wieder zu Hause bin, fällt mir auf, dass ich seit über einer Woche nicht einkaufen war. Ich hatte genug eingefroren, dass ich noch mindestens zwei weitere Wochen aushalten konnte. Auch sonst brauchte ich selten Bargeld. Keine Kneipenbesuche, keine Eintrittskarten, keine zwei Euro für die Garderobe.
Dafür erschrecke ich, als ich im Briefkasten meine Telefonrechnung finde. Ich hatte öfter mit einem Freund in Österreich telefoniert und erst beim zehnten einstündigen Telefonat gemerkt, dass die Anrufe ins Ausland zwar günstiger geworden sind, aber ich noch immer 29 Cent pro Minute zahlen muss. 130 Euro Lehrgeld. Es versetzt mir schon einen kurzen Stich, weil diese Telefonate mir wichtig sind und ich nicht ans Geld denken möchte, wenn ich die Nummer wähle. Ich schreibe ihm, dass er sich doch bitte WhatsApp herunterladen soll. Er schreibt mir eine SMS zurück: „Nein“. Er vertraut dem Unternehmen nicht und möchte das nicht. Erst ärgere ich mich, dann finde ich es gut, dass sich manche Menschen treu bleiben.
Infizierte in Berlin: 5355, Tote: 105.
Donnerstag. Ich habe so schlecht geschlafen, dass ich auf keinen Fall heute schon wieder Sport machen kann. Ich beginne also ziemlich direkt mit der Homeoffice-Arbeit und werde mich später am Tag darüber noch ärgern. Ich hatte direkt einen Muskelkater und mich selten darüber so gefreut wie über dieses Anzeichen, dass mein Körper die Bewegung merkt, die ich für ihn gerade geplant habe.
Am Nachmittag fahre ich an die Spree. Die Sonne scheint, und ich merkte fast physisch, dass die Wohnung mir zu klein geworden ist. Gegen 16 Uhr ist sonst immer die Zeit, auf der ich von meinem Balkon hören kann, wie irgendjemand in der Straße das Klavierstück aus dem Film „Amélie“ spielt. Dieses verträumte Stück hat mir die ersten Male noch gefallen, er bekam oft Applaus dafür. Aber mit jedem Tag mehr dachte ich irgendwann: „Kann er auch etwas anderes spielen oder zumindest das Fenster schließen?“
Schon deshalb war es gut, an die Spree zu fahren. Es war nicht mehr so leer wie zu Beginn der Ausgangssperre, die nicht Ausgangssperre genannt werden kann. Ich setzte mich an die Spree gegenüber der Botschaft Chinas. Es ist eine Ecke von Berlin, in der ich sonst selten bin. Ein älterer Mann nickt mir im Abstand von vier Metern zu. Ich denke noch, warum ist der nicht zu Hause? Aber vielleicht geht es ihm genauso wie mir: Einfach mal unter Menschen sein. Vielleicht wäre dieser Mann jetzt hier nicht lang gelaufen, wenn er nicht gewusst hätte, dass es „sicher“ für ihn, also weitgehend leer sein wird.
Bevor ich heimfahre, schaue ich noch einmal die chinesische Botschaft an, vor der ich mein Fahrrad geparkt hatte. Der Bau hat trotz der vielen Fenster etwas Festungsartiges. In dieser Woche hat der Chefredakteur der Bild-Zeitung, Julian Reichelt, dem Präsidenten Chinas einen offenen Brief geschrieben. Darin waren allerlei Vorwürfe, dass China schuld sei an dieser weltweiten Krise. Dabei hatte doch China versucht, schon im Januar die Welt zu warnen. Bis heute sind 4600 Menschen in China an dem Virus gestorben, in Deutschland sind wir mit 5700 weit darüber hinaus. Die Vorstellung, dass die „Schuldfrage“ noch eine wichtige sein wird, wenn die Krise vorbei ist, macht mir Angst. Ich schlafe spät und schlecht.
Infizierte in Berlin: 5476, Tote: 112.
Freitag. Die Morgensport-Idee wird auf die kommende Woche verlegt. Wieder muss ich zu viel schon morgens telefonieren und vorbereiten. Seit 8 Uhr sitze ich fast täglich schon bei der Arbeit, in der Mittagspause höre ich Drostens Podcast. Sein Podcast kommt jetzt nur noch jeden zweiten Tag, es ist, als ob auch er dafür sorgen möchte, dass wir uns wieder mit anderen Dingen beschäftigen.
Gegen Mittag schaue ich den Livestream der „größten Online-Demonstration der Geschichte“. Die Bewegung „Fridays for Future“ hat sich vor dem Reichstag aufgebaut und sendet live von dort. Immer wieder bricht die Übertragung kurz ab, oder die Moderatoren stehen direkt neben einem Rasenmäher, der ausgerechnet an diesem Tag die Wiese vor dem Bundestag mähen muss. Die Plakate, die eigentlich auf der Wiese ausgelegt werden sollen, werden ständig vom Wind herumgewirbelt.
Als der Livestream endet, ruft Christian Y. Schmidt an, China-Kenner und inzwischen mein Freitags-Ritual. Er beginnt unser Telefonat mit einem Ausruf: „Es ist ja alles so fürchterlich langweilig!“ Selbst ihm geht die Dauer der Ausgangssperre auf die Nerven. „Ich will nur noch, dass es vorbei ist.“ Es ist diese Leere, dieses Zuviel an Zeit, die auch ihn gerade angreift, sagt er. „Meine Frau ist in China, und je früher das hier zu Ende geht, umso eher kann ich auch raus.“
Dabei war Schmidt in den vergangenen Wochen häufig gerade der gewesen, der die Maßnahmen der Regierung als zu kurz gegriffen oder zu spät kritisiert hat. Jetzt ist er mittlerweile auch die meiste Zeit allein, da er keine Kinder hat. „Noch nicht mal einer, der mich nervt“. Wir reden über die USA („Werden es doch über 100.000 Tote?“), Schweden („kein leuchtendes Beispiel in dieser Krise“) und den Brief von Julian Reichelt an Chinas Präsident. „Das war nicht nur Kalte-Kriegs-Rhetorik, die sich gegen die chinesische Regierung richtete. Der Brief enthielt auch Vorurteile, wie etwa, die Chinesen könnten nur kopieren und seien nicht innovativ.“
Aber auch wenn die Länge unseres Telefongesprächs nicht anders ist als sonst: Es fehlt die Wut. Es regt ihn nicht mehr auf, wenn Leute noch sagen, dass Corona eben doch wie eine Grippe sei. „Einige wirst du nie überzeugen“, sagt er. „Man richtet da nichts mehr aus, die werden erst ihre Meinung ändern, wenn sie es selbst haben. Immer öfter denke ich: Macht doch, was ihr wollt.“
Am Abend treffe ich Freunde, und ich fühle mich noch nicht einmal wirklich schlecht. Wir sitzen zu viert, wir reden im Abstand in einem Park, nur einmal fangen wir an, uns lauthals zu streiten. Es geht wieder um China und was sein wird, wenn diese Lockerungen die Zahlen wieder steigen lassen. Einig sind wir uns nur, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann.
Infizierte in Berlin: 5532, Tote: 113.
Sonnabend. Bisher war das ein Tag komplett ohne Rituale. Aber es ist wie Montag: aufstehen, Kaffee, arbeiten, später in den Park oder auch nicht. Als ich mein Telefon zur Hand nehmen will, kann ich es erst nicht entsperren. Ich brauche eine Weile, bis ich merke, dass es die Maske ist. Die Gesichtserkennung erkennt mein Gesicht nicht wieder. Dann rufe ich in Österreich an. Es wird ein gutes, viel zu langes Gespräch.
Infizierte in Berlin: 5607, Tote: 123.
Erschienen in der Berliner Morgenpost, 26. 4. 2020.
Berlin. In dieser Woche habe ich Bilanz gezogen. Die vergangenen drei Monate haben mich verändert. Das lag vor allem an einer Tatsache, die ich bisher verschwiegen habe, weil sie mir auch ein bisschen peinlich ist – und weil ich sicher bin, dass meine Lektorin das hier auch liest. Corona hat dafür gesorgt, dass ich so viel geschrieben habe wie noch nie zuvor. Ich bin sozusagen „fremdgegangen“: Wenn ich meine Tagesarbeit für die Zeitung beendet hatte, habe ich noch an meinem Buch geschrieben, zumindest sehr oft. Ich hätte es vor der Corona-Pandemie fertig haben müssen, aber ich… – könnte jetzt irgendwas von Schreibkrise erzählen, aber das klingt nach Ausrede, und vielleicht ist es das auch.
Im Rückblick ist es vielleicht gerade das Schreiben dieser insgesamt zwölf langen Texte – also im Grunde eines zweiten Buches –, die mir erst ermöglichten, das andere Projekt zu beenden. Ich bin in der unangenehmen Situation, dass es wohl einer weltweiten Pandemie zu verdanken ist, wenn im Herbst ein Buch mit dem Namen „Inselhopping Indonesien“ erscheint, in dem ich von meinen Erlebnissen zwischen Sumatra und West-Papua im vergangenen Jahr erzähle.
Jetzt fehlt nicht mehr viel. Zumal ab Montag mein erster richtiger Urlaub beginnt. Schon in dieser Woche konnte ich mich darauf einstimmen und hatte mehrere freie Tage. Deswegen muss ich in dieser Woche auch am Sonntag vor einer Woche beginnen. Und da sind wir wieder beim Thema Corona.
Sonntag. Ich wache mit einem Kater auf, ich hatte am Abend zuvor endlich einem Freund sein Geburtstagsgeschenk gegeben, das wunderbare Buch „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara. Ein Roman über vier New Yorker Freunde, die sich in ihren 20ern kennenlernen und bis zu ihrem jeweiligen Lebensende begleitet werden – sie werden sehr alt. Ich hatte es per Post zu ihm nach Wedding geschickt, aber das Paket kam zurück. Da wir uns jetzt wieder treffen dürfen, habe ich es ihm vorbeigebracht, und wir haben mit sehr gutem Weißwein angestoßen. Er schreibt am Sonntagmittag, er sei auf Seite 36 und könnte es nicht weglegen.
Am Nachmittag kommt eine Freundin von mir vorbei, die gerade ebenfalls an einem Buch arbeitet. Auch sie sagt, dass sie die Pandemie vor Ablenkung schützt. Sie habe das Virus auch von Anfang an ernst genommen. Ein Bekannter von ihr liegt im Krankenhaus in München. Sie sagt: „Er war wochenlang an der Beatmungsmaschine, und die Ärzte haben seiner Freundin gesagt, dass es nicht sicher sei, dass er überlebt.“
Abends nehme ich den letzten Zug nach Dresden, zu meinen Eltern. Alle in meinem Abteil tragen eine Maske. Als ich im Zug ein Brot essen will, öffne ich den Mund und merke erst in letzter Sekunde, dass ich mit Maske im Gesicht nicht essen kann. Ich hoffe, es hat keiner gesehen. Als ich ankomme, bin ich froh, dass die Haare meines Vaters wieder gewachsen sind. Er hatte den Rasierer zu kurz eingestellt und hatte zwischendurch eine Corona-Glatze, eher unabsichtlich.
Doch mich besorgt, dass der Hund mich nicht mehr erkennt und bellt, als sei ich ein Fremder. Luna ist die dreijährige Berner Sennenhündin meiner Eltern. Mit ihnen konnte ich telefonieren, aber der Hund hat mich zum letzten Mal zu Weihnachten gesehen. Er versteckt sich den ganzen Abend vor mir.
Infizierte in Berlin: 6454, Tote: 182.
Montag. Ich bin um halb neun an der S-Bahn mit meiner ältesten Freundin verabredet. Ihre Kinder sind zum ersten Mal wieder im Kindergarten. Das bedeutet: Sie darf wieder draußen frühstücken. Es ist sonnig in der Dresdner Neustadt, und wir sind die ersten Gäste auf der Terrasse. Als ich ohne nachzudenken einen „Flat White mit Hafermilch“ bestelle, schaut die Bedienung mich an, als hätte ich meine Quarantäne auf Alpha Centauri verbracht. „Ein Milchkaffee ist okay, wirklich.“
Danach laufen wir durch die Geschäfte in der Gegend. Ich staune vor allem über die bunten Masken, die nicht nur überall selbstverständlich getragen werden, sondern in allen Formen und Farben in den Fenstern hängen. Als ich mich vor ein Schmuckgeschäft setze und warte, bis meine Freundin ihre drei Kleider für die Saison gekauft hat, höre ich, wie zwei Frauen im Laden auf sächsisch diskutieren: „Mich nerven die, die sich weigern, das Ding aufzusetzen, so schlimm is das do ni.“ — „Die demonstrieren ja jetzt sogar, heute Abend wieder in der Innenstadt, so’n Quatsch.“
Mir fällt ein, dass es ja Montag ist und damit klassischer Pegida-Spaziergangs-Tag. Ach Dresden, du herausgeputztes Schmuddelkind. Ich kaufe noch eine Maske in meiner Lieblingsfarbe und fahre nach Hause an meinen Indonesienschreibtisch. Mein Bruder kommt spät abends noch vorbei. Er sagt, er habe jeden Sonntag dieses Tagebuch gelesen. Er habe sich manchmal Sorgen um meine Stimmung gemacht, „du so allein in deiner Wohnung“. Ab und zu hat er dann angerufen und gefragt, ob alles okay sei. Wir sind beide froh, dass unsere Eltern die „erste Welle“ gut überstanden haben.
Infizierte in Berlin: 6474, Tote: 182.
Dienstag. Morgens lese ich in der Zeitung, dass es tatsächlich einen Pegida-Marsch in Dresden gab. Allerdings war es keine angemeldete Demonstration, und deshalb fanden sich „zufällig“ ein paar Hundert Menschen zusammen und liefen stumm durch die Innenstadt in Richtung Frauenkirche, die meisten ohne Maske. Als die Polizei per Lautsprecher fragte, wer der Anführer sei, erhielten sie keine Antwort. In ganz Sachsen gibt es bis heute insgesamt rund 5000 Infizierte und 200 Tote.
Nachmittags besuche ich meinen Bruder außerhalb von Dresden. Er ist arbeiten, aber seine Familie ist zu Hause. Mit beiden Schulkindern lerne ich ein Kartenspiel mit Einhörnern und Vampiren. Der Zehnjährige gewinnt sofort und ruft: „Der Verlierer muss aufräumen!“ Von der Schule sind beide etwas genervt. Vor allem die Pausen seien viel anstrengender. „Wir müssen beim Essen allein sitzen!“, ruft der eine. Und seine Schwester: „Wir müssen auf dem Parkplatz stehen und dürfen andere Kinder nicht sehen.“
Bevor ich fahre, lerne ich endlich, was es bedeutet, wenn mein jüngster Neffe in den Raum hineinwatschelt und „Igugin“ ruft. Das hatte ich einmal auf einem Video gesehen und mich nur gewundert. Meine Nichte klärt auf: „Er kann das Wort Pinguin noch nicht.“ Dafür ruft mich meine Schwägerin den ganzen Tag so lange bei meinem Namen, bis der Kleine beim Abschied leise „Ssssörn“ sagt. Ich schmelze.
Infizierte in Berlin: 6503, Tote: 186.
Mittwoch. Morgens schreibt mir der Freund, der jetzt „Ein wenig Leben“ liest. Er ist auf Seite 325 und leidet mit der Hauptfigur, die gerade von ihrem Freund verprügelt wird. Ich wünschte ich könnte ihm sagen, es wird besser, aber es wird noch schlimmer werden. Die Hauptfigur macht viel durch. Ich bekomme noch jetzt Gänsehaut, wenn ich daran denke. Vielleicht ist es das beste Buch für diese ungewisse Zeit, weil es von dem Wert von Freundschaft erzählt.
Als meine Mutter vom Friseur wiederkommt, sagt sie, dass im Salon alle ihre Masken abgesetzt hatten, zumindest in dem Teil des Ladens, der von der Straße aus nicht einsehbar ist. Sie verbietet mir, darüber zu schreiben, aber ich bin ja schon groß und setze mich darüber hinweg. Ich bin auch etwas besorgt, weil diese Regeln ja nicht dazu da sind, mich zu schützen, sondern gerade die Generation 60+, der sie angehört.
Eigentlich wollte ich am Nachmittag schon zurückfahren, aber ich habe mich in meiner Schreibstube ganz gut eingelebt. Der kuschelige Hund hat sich wieder vollständig an meine Gegenwart gewöhnt, und wenn wir als Familie abends einen Film schauen, liegt er vor dem Flachbildschirm und schaut uns dabei zu. Bei meinem Nachtspaziergang mit Luna durch einen wilden Park braucht es keine Leine mehr.
Infizierte in Berlin: 6552, Tote: 186.
Donnerstag. Auf der Rückfahrt nach Berlin merkt man kaum, dass es Vatertag ist. Meine Tochter ruft per Facetime an und zeigt mir ein Foto von einem Superhelden. „Das bist du!“, ruft sie, und ich freue mich so laut, dass das gesamte Großraumabteil das wohl mitbekommen hat. Zum Glück ist es wieder fast leer, wie auch schon am Sonntag. Schräg gegenüber sitzt eine Frau mit einer Maske, auf der deutlich „Fuck Corona“ geschrieben steht. Der Schaffner hat ein Joker-Lächeln mit gefletschten Zähnen über Mund und Nase gezogen.
In Berlin bin ich am Nachmittag eingeladen auf eine Fest in die Hasenheide. Die Party heißt „Transmissions“, und der DJ sendet seine Musik über Funk auf alle Radios in der Nähe, die die Frequenz 87,5 eingeschaltet haben. Freunde schicken Bilder, und es sieht alles sehr friedlich aus. Die Regeln für die Party sind auf der Rückseite des Flyers angegeben: „Keep distance“ und „There is no leader“. Außerdem sollen alle bitte nicht so laut machen und keinen Müll hinterlassen.
Ich entscheide mich trotzdem für das Schreiben zu Hause. Die Freundin vom Sonntag schreibt, dass ihr Münchner Bekannter von den Maschinen befreit ist, aber noch sehr schwach. „Er wird es überleben, aber noch mehrere Wochen im Krankenhaus sein.“ Obwohl ich die Person nie gesehen habe, freue ich mich über diese Erfolgsmeldung. Sie schreibt: „Hatte das Gefühl, die Information war ich dir schuldig.“
Infizierte in Berlin: 6582, Tote: 190.
Freitag. Ich chatte morgens mit einem Freund in New York. Ich hatte ihn Ende März hier im Tagebuch erwähnt. Er schrieb damals, dass die Maßnahmen lächerlich und übertrieben seien. Jetzt schreibt er, dass er sich über einen Kollegen angesteckt hatte und zwei Wochen nur im Bett lag. „Es war die Hölle“, schreibt er knapp. Jetzt sei er seit einem Monat symptomfrei.
Dann treffe ich Christian Y. Schmidt, den Mann, der mich über die vergangenen drei Monate durch diese „erste Welle“ begleitet hat. Wir sitzen wie am Anfang im Café „La Tazza“, wieder in einem großen Abstand. Nicht weil wir müssen, eher aus automatischer Höflichkeit. Als ich ihn bitte, Bilanz zu ziehen, sagt er keine Infektionszahlen, sondern: „Ich bin von meiner Frau getrennt.“ Sie lebt in Peking, und er habe sie zuletzt im Februar gesehen. Wenn ich zurückblicke in die früheren Folgen dieses Tagebuchs, fällt auf, dass sie es fast immer in diese Zeilen geschafft hat. „Sie hat vorgestern gesagt, dass mein Visum vielleicht erst wieder im Oktober gültig ist.“ Er bläht seine Lippen resigniert auf und sagt auf seine zurückhaltende Art: „So langsam wird es Zeit, dass ich hier rauskomme.“
Ansonsten hat er sein Buch „Der kleine Herr Tod“ noch vor Beginn der Corona-Krise beendet und musste Buchpremiere und Marketing in Zeiten von Corona erleben. „Das Angenehme war, dass sich durch das Buch und diese Pandemie eine Blase in meinem Online-Netzwerk gebildet hat, die einander auf dem Laufenden hielt.“ Unter diesen Leuten seien keine Verschwörungstheoretiker gewesen. „Ich bin ganz froh, dass ich mich wenig mit solchen Dingen auseinandersetzen musste.“ Sein nächstes Buchprojekt sollte in China recherchiert werden, das liegt erst einmal auf Eis.
Vor uns liegt ein anstrengender Sommer, da sind wir uns beide einig. Wir haben mitbekommen, wie einige in der U-Bahn sorgfältig ihre Masken tragen und andere wie aus Protest keine. „Wenn ich in den letzten drei Monaten etwas gelernt habe“, sagt er, „dann, dass viele Dinge, die man für undenkbar gehalten hat, plötzlich beschlossen werden können.“ Daraus könnte man ja Lehren für die Bewältigung der Klimakatastrophe ziehen. „Ob die zweite Welle kommt, kann keiner sagen“, sagt er, „trotzdem sollten wir vorsichtig sein.“ Die Berichte aus Ostasien, die er liest, lassen über den Charakter einer zweiten Welle keine Schlüsse zu. Kurz bevor er geht, sagt er noch, dass eine der Veränderungen dieser Pandemie auch unsere Treffen waren. Wir kannten uns vorher kaum und haben auch bei diesem Treffen zunächst kaum über Corona gesprochen. Wir verabreden uns lose für die nächsten Wochen, und ich verspreche ihm eine Ausgabe von „Inselhopping“.
Abends gehe ich wieder nicht in den Park, um dort mit Freunden um ein Radio zu sitzen, das sanfte Housemusik spielt. Stattdessen höre ich das befriedigende Geräusch einer gesendeten E-Mail mit einem weiteren fertigen Kapitel.
Infizierte in Berlin: 6611, Tote: 190.
Sonnabend. Mein Freund in Wedding hat in weniger als einer Woche „Ein wenig Leben“ beendet. Der Tod eines der Protagonisten hat ihn so mitgenommen, dass er die 720 Seiten fast nicht beendet hätte. Wir diskutieren, ob das Ende ein Happy End ist, was Freundschaft ist und kann. Hanya Yanagihara schreibt: „Der Trick ist, Menschen zu finden, die besser sind als man selbst, und dann ihnen zuzuhören, wenn sie etwas über dich sagen, egal, ob es gut oder schlecht ist.“
Es gab in den vergangenen Wochen Tage, da habe ich niemandem getroffen und selbst wenn sich mein Tagebuch manchmal anders liest, waren es doch nur eine Handvoll Freunde, die ich regelmäßig traf. Wie wichtig das war, zu sehen, wie andere mit dieser Situation umgehen, merke ich erst jetzt. Vielen Dank für die Treue bis hierher – und für die Leserbriefe. Hoffen wir, dass wir alle gut durch den Sommer kommen.
Infizierte in Berlin: 6636, Tote: 191.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 24. 05. 2020
Berlin. In dieser Woche habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, ab und an an sich herunterzuschauen und seinen Füßen dabei zuzusehen, wie sie das so hinkriegen: einen Schritt vor den anderen zu setzen, so ganz ohne stolpern. Ich hatte das neulich in einem Popsong der Kanadierin Veda Hille gehört: „Wenn du dich verloren glaubst, schau auf deine Füße“ singt sie im Song „Oh Precious Heart“. Ich will jetzt nichts überdramatisieren, wozu ich zugegebenermaßen neige, aber nach dieser Woche habe ich das Gefühl, dass uns die dunkelsten Kapitel dieser Krise noch bevorstehen.
Montag. Mein erster Gang geht jeden Morgen zuerst an die beiden Adventskalender, die ich in der Wohnung in zwei Zimmern verteilt habe. Am Montag ist das Öffnen der Türen zu einem Ritual geworden, noch am Tag zuvor hatte ich eine Tür vergessen. Wie überhaupt immer mal ganze Tage durchgerutscht sind seit November. Wieder Lockdown, wieder Tagebuch, nur dieses Mal ohne den Frühling vor der Haustür. Dafür immerhin mit Adventskalender. Ich hole ein Stück Apfelstollen aus dem Adventskalender und esse es direkt zum Morgenkaffee.
Und noch etwas hat sich verändert, seit ich im Frühjahr zwölf Wochen lang diese Seite am Sonntag betreut habe: Ich schlafe besser. Das könnte daran liegen, dass ich vor ein paar Wochen das Rauchen aufgegeben habe und mir jetzt jeden Morgen eine App verkündet, welche weiteren Vorzüge dieser Tag ohne Rauchen mit sich bringen wird. Nur beim morgendlichen Kaffee auf dem Balkon fehlt es mir noch ein kleines bisschen.
Ich habe an diesem Tag einen Bürotag eingeplant, und auf dem Weg zum Kudamm werde ich von diesen Menschen angesprochen, die mit gelben oder lila Jacken von einer Hilfsorganisation am Hackeschen Markt stehen. Sie sind immer einen Tick zu gut gelaunt für die Tageszeit, das Wetter oder die Pandemie, die gerade Millionen von Menschenleben gefährdet. Ich stelle mir vor, wie die Marketing-Chefs im Zoom-Meeting darüber bestimmt haben, dass diese Erstsemester auf Berliner Plätzen für neue Mitglieder werben sollen – als wäre alles ganz normal. Als eine 20-Jährige einen Satz auf mich zu macht – sie springt mich buchstäblich an – schaue ich demonstrativ in die andere Richtung und fühle mich wie Ebenezer Scrooge aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens.
Morgens gehe ich zu einem Friseur in Wilmersdorf, der 100 Krankenschwestern und Pflegern die Haare kostenlos schneiden will. Wir berichten darüber in der Zeitung – weil man auch nicht genug von den Frontarbeitern in dieser Krise berichten kann. Eine der Krankenschwestern hat sehr lange rote Haare und ist sehr dankbar für diese Geste des Friseurs. Das Bonusgeld für Pfleger kenne sie nur aus der Zeitung. Sie sagt, sie hatte außerdem eigentlich schon abgeschlossen mit Friseuren. „Mein letzter Besuch vor drei Jahren war ein Desaster, bei dem mir meine Haare angesengt wurden, und ich musste noch 100 Euro dafür zahlen.“ Dieser Besuch hat sie versöhnt. Sie rückt ihre Maske zurecht, die sie während des gesamten Besuchs getragen hat, und verlässt das Geschäft, ohne zu bezahlen.
Der Friseur sagt, dass viel geredet werde, die Angst vor Aerosolen, die in den ersten Wochen nach dem Lockdown für gespenstische Stille beim Friseur gesorgt habe, sei weg. Die Leute hätten ja oft sonst niemanden mehr, der ihnen zuhört. Ich denke an meinen Adventskalender, dessen Inhalt ich mir mit niemandem teilen muss, und nicke.
Ja, die Einsamkeit und der offene Umgang hat bei vielen etwas verändert. Bevor ich ins Büro fahre, rufe ich einen Freund an, der zwischenzeitlich Hilfe in einer psychiatrischen Klinik suchte. Heute ist sein letzter Tag, bevor er für sechs Wochen zur Kur fährt, ausgerechnet nach Chemnitz, das doch eben erst zur Kulturhauptstadt 2025 gekürt wurde. Doch er ist traurig, ausgerechnet dann nicht in Berlin zu sein, wenn das Humboldt Forum eröffnet wird. Er hat wie viele Berliner dessen Entstehung verfolgt und hätte das gern gesehen. Andererseits ist die Eröffnung, die es jetzt geben soll, auch alles andere als festlich. Ich esse einen wirklich entsetzlichen Burger, der im Regal noch ganz lecker ausgesehen hatte. Mein guter Freund hat keinen Hunger. Wir reden und schweigen und hoffen auf bessere Zeiten.
Infizierte in Berlin: 20.118, Tote: 699.
Dienstag. Hinter Türchen „8“ ist ein weiterer Stollen, und in der Zeitung sehe ich den Inhaber einer Kneipe bei mir um die Ecke. Er sagt, dass er doch nichts dafür könne, wenn die Menschen mit einem Glühwein stehen bleiben. Ich telefoniere mit dem Ordnungsamt, und die sagen, sie werden versuchen, die Menschen an die Regeln zu erinnern, aber es würde keine „Knöllchen für Grüppchen“ geben. Ich denke, dass inzwischen selbst Beamte eine humorvolle Art gefunden haben, mit der Pandemie umzugehen.
In der Mittagspause lese ich den Text zweier Kollegen, die am Montag den Reporterpreis für eine Lokalreportage bekommen haben, über eine Corona-Station in Hamburg im ersten Lockdown. Der Text „Der Ausbruch“ ist online leicht zu finden und geht wirklich unter die Haut. Es beginnt mit einer Seebestattung, und es wird noch mehr Tote geben in dem Text. Er rekonstruiert, wie drei Menschen am Coronavirus starben, die vielleicht hätten überleben können. Auf Twitter lese ich, dass der Vater eines berühmten Influencers an Covid-19 gestorben ist. „Er ist jetzt bei Mama“, schreibt der erwachsene Mann.
Am Abend treffe ich durch Zufall einige Bewohner meines Hauses im Flur. Wir sind seit dem Frühjahr in einer WhatsApp-Gruppe miteinander vernetzt, und so habe ich auch erfahren, dass unser Haus in Prenzlauer Berg dem gleichen Vermieter gehört wie die kürzlich geräumte „Liebig34“ in Friedrichshain. Als wir bei Glühwein im Innenhof mit Abstand beisammen stehen, erzählt eine Frau, dass ihre Nachbarwohnung leer stehe. Seit Monaten. Das sei zwar illegal, aber es machen viele Vermieter, weil sie noch abwarten wollen, was mit dem Mietendeckel werde.
Infizierte in Berlin: 20.033, Tote: 732.
Mittwoch. Geweckt werde ich seit Beginn des Lockdowns nicht mehr durch eine normale App. Ich benutze eine App namens Sleeptown. Die App soll Menschen daran erinnern, wie gut regelmäßige Schlaf ist. Als Belohnung erhält man nach einer gut geschlafenen Nacht ein virtuelles Häuschen. Am Mittwoch habe ich für meine Schlafstadt die erste Feuerwehr „erschlafen“. Das Anwachsen dieser kleinen Stadt in meinem Telefon erinnert mich jeden Tag ganz konkret an die Dauer dieses Wahnsinns.
Da sich mein Klavierstimmer angekündigt hat, arbeite ich bis zum Mittag von zu Hause aus. Er sagt, dass sich sein Beruf nicht groß verändert habe. Er hat ein Häuschen in Brandenburg und könne jetzt noch öfter Zeit dort verbringen. Doch insgesamt bekommt er auch mit, dass die Krankheit sich jetzt wirklich durch die Freundeskreise frisst. Seien es im April nur wenige Betroffene gewesen, höre man jetzt immer wieder davon. Er erzählt von meinem Klavierlehrer, der gerade Vater geworden ist. Es könnte eines der ersten Lockdown-Babys sein. Hauptsache, der kleine Orlan ist gesund.
Am Nachmittag laufe ich mit einer Kollegin über den Breitscheidplatz. Wir sehen zuerst die Kerzen und Fotos am Mahnmal für das Attentat von 2016. Wir suchen eine Weihnachtsmütze, die Kollegin vermutet, im Europa-Center gebe es eine. Ich kannte dort bis dahin nur den Saturn, für die anderen Geschäfte in dem Center hatte ich bislang kein Auge. Umso erstaunter bin ich, als ich kurz darauf in einem Geschäft voller Ein-Euro-Schund aus China stehe, in dem es stark nach Rauch riecht. Meine Kollegin hat ebenfalls vor wenigen Wochen aufgehört. Aber sie hat jetzt eine Weihnachtsmann-Mütze für 4,95 Euro, bei der die aufgenähten Sterne auf Knopfdruck blinken.
Doch neben diesem Geschäft gibt es noch einen Comic-Laden (geöffnet), einen Hertha-Fanshop (geschlossen) und eine Uhr, die mit fließendem Wasser betrieben wird. Man muss es gesehen haben. Das Ungewöhnlichste finden wir im Shopping-Keller. In einem Waffengeschäft liegen Pistolen Marke „Walther“ im Schaufenster, für rund 170 Euro wäre sie meine. Dahinter ist ein Plakat aufgehängt, das für Schreckschusswaffen wirbt und auf dem ernsthaft steht: „Warum warten? Jetzt schon an Silvester denken!“ Die Diskussion um Feuerwerksverbot ist noch nicht bis zu diesem Keller vorgedrungen. Die Kunden (Kundinnen waren nicht zu sehen) tragen denn auch ihr Maske so, dass mindestens die Nase immer gut zu sehen ist. So stelle ich mir Texas vor.
Infizierte in Berlin: 19.635, Tote: 749.
Donnerstag. Am Morgen habe ich ein Gespräch mit einer Mutter, die ihren Sohn vor sechs Jahren verloren hat. Wir treffen uns in ihrem Büro, auf Abstand, sitzen an verschiedenen Tischen und reden über ihren Sohn. Sie sagt, dass ihr Bücher geholfen haben. Sie habe noch nie soviel gelesen wie in den Monaten nach dem Unfalltod ihres 20-jährigen Kindes. Das Gespräch findet statt, weil am heutigen Sonntag internationaler Tag der verwaisten Eltern ist. An der Marienkirche können Betroffene jedes Jahr eine Kerze entzünden. Die Frau sagt, dass sie den Termin eigentlich selten wahrgenommen habe, weil man auf dem Weg zur Kirche an den Feiernden des nahe gelegenen Weihnachtsmarktes vorbeilaufen müsse. Das sei für sie immer anstrengend gewesen. Dieses Jahr gehe sie vielleicht hin.
Direkt danach treffe ich zwei Mitarbeiterinnen der Berliner Telefonseelsorge. Wieder ein sehr ernster Themenkomplex: Weihnachten, Einsamkeit, Selbstmordrate in Berlin. Und dann noch Corona. Ich lerne, dass Berlin die erste Stadt Deutschlands mit einer Seelsorge-Telefonnummer war und auch die erste Corona-Hotline geschaltet hatte. Eine der Leiterinnen sagt etwas, das bei mir nachwirkt: Sie habe das Gefühl, dass auch während der Weihnachtszeit der Höhepunkt der Pandemie noch nicht erreicht sein werde. Vor allem die Effekte auf die Psyche hätten eine ganz eigene „Inkubationszeit“. Die Seelsorger bemerken gerade eine erste Welle. „Da kommt noch einiges auf uns zu.“
Infizierte in Berlin: 19.782, Tote: 768.
Weihnachten im Lockdown: Die halbe Republik führt komplizierte Gespräche
Freitag. Ich habe kein Haus gebaut. „Sleeptown“ lässt mich nur bis acht Uhr morgens auf „bauen“ drücken. Wenn ich die Taste zu spät drücke, erscheint eine Ruine. Die lasse ich von einem Bulldozer wegräumen. Nur weil ich zu spät aufwache, kann ja meine Stadt trotzdem schön sein. Ich habe in dieser Woche häufig mit meinen Eltern telefoniert, weil wir noch unschlüssig sind, was wir mit Weihnachten anstellen. Ich glaube, die halbe Republik führt diese Gespräche. Sachsen stellt auf Lockdown, aber theoretisch könnte ich wohl nach Dresden einreisen. Aber sollte ich?
Das Büro ist am Abend wie ausgestorben. In einer Schreibpause gehe ich über den Kudamm. Es ist ungewöhnlich viel los, Menschen mit dem oft erwähnten Glühwein in der Hand. Sie stehen Schlange vor Elektronik- und Mode-Geschäften. Ich habe in dieser Woche abends kaum mit Freunden telefoniert oder mich gar zu einem Spaziergang getroffen. Ein Freund lud zum Abendessen, und ich wusste nicht, ob ich das annehmen sollte. Ich schreibe noch am Abend ein paar Freunde an und vereinbare Treffen.
Infizierte in Berlin: 19.380, Tote: 790.
Sonnabend. Als erstes erreicht mich morgens eine Absage für ein geplantes Treffen. „Wir sind in Quarantäne“, heißt es aus dem zweiten Haushalt. Es könnte nur übertrieben sein, aber man halte sich an die Regeln. Ich gehe auf meinen Balkon und sehe auf der gegenüberliegenden Seite die Frau rauchen, die ich immer beim Rauchen gesehen habe. Ich fühle mich wie ein Verräter und schließe das Fenster. In meinem Adventskalender war eine Mozartkugel. Sie schmeckte fantastisch.
Infizierte in Berlin: 19.782, Tote: 823.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 13. 12. 2020.