Berlin. In dieser Woche habe ich Bilanz gezogen. Die vergangenen drei Monate haben mich verändert. Das lag vor allem an einer Tatsache, die ich bisher verschwiegen habe, weil sie mir auch ein bisschen peinlich ist – und weil ich sicher bin, dass meine Lektorin das hier auch liest. Corona hat dafür gesorgt, dass ich so viel geschrieben habe wie noch nie zuvor. Ich bin sozusagen „fremdgegangen“: Wenn ich meine Tagesarbeit für die Zeitung beendet hatte, habe ich noch an meinem Buch geschrieben, zumindest sehr oft. Ich hätte es vor der Corona-Pandemie fertig haben müssen, aber ich… – könnte jetzt irgendwas von Schreibkrise erzählen, aber das klingt nach Ausrede, und vielleicht ist es das auch.
Im Rückblick ist es vielleicht gerade das Schreiben dieser insgesamt zwölf langen Texte – also im Grunde eines zweiten Buches –, die mir erst ermöglichten, das andere Projekt zu beenden. Ich bin in der unangenehmen Situation, dass es wohl einer weltweiten Pandemie zu verdanken ist, wenn im Herbst ein Buch mit dem Namen „Inselhopping Indonesien“ erscheint, in dem ich von meinen Erlebnissen zwischen Sumatra und West-Papua im vergangenen Jahr erzähle.
Jetzt fehlt nicht mehr viel. Zumal ab Montag mein erster richtiger Urlaub beginnt. Schon in dieser Woche konnte ich mich darauf einstimmen und hatte mehrere freie Tage. Deswegen muss ich in dieser Woche auch am Sonntag vor einer Woche beginnen. Und da sind wir wieder beim Thema Corona.
Sonntag. Ich wache mit einem Kater auf, ich hatte am Abend zuvor endlich einem Freund sein Geburtstagsgeschenk gegeben, das wunderbare Buch „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara. Ein Roman über vier New Yorker Freunde, die sich in ihren 20ern kennenlernen und bis zu ihrem jeweiligen Lebensende begleitet werden – sie werden sehr alt. Ich hatte es per Post zu ihm nach Wedding geschickt, aber das Paket kam zurück. Da wir uns jetzt wieder treffen dürfen, habe ich es ihm vorbeigebracht, und wir haben mit sehr gutem Weißwein angestoßen. Er schreibt am Sonntagmittag, er sei auf Seite 36 und könnte es nicht weglegen.
Am Nachmittag kommt eine Freundin von mir vorbei, die gerade ebenfalls an einem Buch arbeitet. Auch sie sagt, dass sie die Pandemie vor Ablenkung schützt. Sie habe das Virus auch von Anfang an ernst genommen. Ein Bekannter von ihr liegt im Krankenhaus in München. Sie sagt: „Er war wochenlang an der Beatmungsmaschine, und die Ärzte haben seiner Freundin gesagt, dass es nicht sicher sei, dass er überlebt.“
Doch mich besorgt, dass der Hund mich nicht mehr erkennt und bellt, als sei ich ein Fremder. Luna ist die dreijährige Berner Sennenhündin meiner Eltern. Mit ihnen konnte ich telefonieren, aber der Hund hat mich zum letzten Mal zu Weihnachten gesehen. Er versteckt sich den ganzen Abend vor mir.
Infizierte in Berlin: 6454, Tote: 182.
Montag. Ich bin um halb neun an der S-Bahn mit meiner ältesten Freundin verabredet. Ihre Kinder sind zum ersten Mal wieder im Kindergarten. Das bedeutet: Sie darf wieder draußen frühstücken. Es ist sonnig in der Dresdner Neustadt, und wir sind die ersten Gäste auf der Terrasse. Als ich ohne nachzudenken einen „Flat White mit Hafermilch“ bestelle, schaut die Bedienung mich an, als hätte ich meine Quarantäne auf Alpha Centauri verbracht. „Ein Milchkaffee ist okay, wirklich.“
Danach laufen wir durch die Geschäfte in der Gegend. Ich staune vor allem über die bunten Masken, die nicht nur überall selbstverständlich getragen werden, sondern in allen Formen und Farben in den Fenstern hängen. Als ich mich vor ein Schmuckgeschäft setze und warte, bis meine Freundin ihre drei Kleider für die Saison gekauft hat, höre ich, wie zwei Frauen im Laden auf sächsisch diskutieren: „Mich nerven die, die sich weigern, das Ding aufzusetzen, so schlimm is das do ni.“ — „Die demonstrieren ja jetzt sogar, heute Abend wieder in der Innenstadt, so’n Quatsch.“
Mir fällt ein, dass es ja Montag ist und damit klassischer Pegida-Spaziergangs-Tag. Ach Dresden, du herausgeputztes Schmuddelkind. Ich kaufe noch eine Maske in meiner Lieblingsfarbe und fahre nach Hause an meinen Indonesienschreibtisch. Mein Bruder kommt spät abends noch vorbei. Er sagt, er habe jeden Sonntag dieses Tagebuch gelesen. Er habe sich manchmal Sorgen um meine Stimmung gemacht, „du so allein in deiner Wohnung“. Ab und zu hat er dann angerufen und gefragt, ob alles okay sei. Wir sind beide froh, dass unsere Eltern die „erste Welle“ gut überstanden haben.
Infizierte in Berlin: 6474, Tote: 182.
Dienstag. Morgens lese ich in der Zeitung, dass es tatsächlich einen Pegida-Marsch in Dresden gab. Allerdings war es keine angemeldete Demonstration, und deshalb fanden sich „zufällig“ ein paar Hundert Menschen zusammen und liefen stumm durch die Innenstadt in Richtung Frauenkirche, die meisten ohne Maske. Als die Polizei per Lautsprecher fragte, wer der Anführer sei, erhielten sie keine Antwort. In ganz Sachsen gibt es bis heute insgesamt rund 5000 Infizierte und 200 Tote.
Nachmittags besuche ich meinen Bruder außerhalb von Dresden. Er ist arbeiten, aber seine Familie ist zu Hause. Mit beiden Schulkindern lerne ich ein Kartenspiel mit Einhörnern und Vampiren. Der Zehnjährige gewinnt sofort und ruft: „Der Verlierer muss aufräumen!“ Von der Schule sind beide etwas genervt. Vor allem die Pausen seien viel anstrengender. „Wir müssen beim Essen allein sitzen!“, ruft der eine. Und seine Schwester: „Wir müssen auf dem Parkplatz stehen und dürfen andere Kinder nicht sehen.“
Bevor ich fahre, lerne ich endlich, was es bedeutet, wenn mein jüngster Neffe in den Raum hineinwatschelt und „Igugin“ ruft. Das hatte ich einmal auf einem Video gesehen und mich nur gewundert. Meine Nichte klärt auf: „Er kann das Wort Pinguin noch nicht.“ Dafür ruft mich meine Schwägerin den ganzen Tag so lange bei meinem Namen, bis der Kleine beim Abschied leise „Ssssörn“ sagt. Ich schmelze.
Infizierte in Berlin: 6503, Tote: 186.
Mittwoch. Morgens schreibt mir der Freund, der jetzt „Ein wenig Leben“ liest. Er ist auf Seite 325 und leidet mit der Hauptfigur, die gerade von ihrem Freund verprügelt wird. Ich wünschte ich könnte ihm sagen, es wird besser, aber es wird noch schlimmer werden. Die Hauptfigur macht viel durch. Ich bekomme noch jetzt Gänsehaut, wenn ich daran denke. Vielleicht ist es das beste Buch für diese ungewisse Zeit, weil es von dem Wert von Freundschaft erzählt.
Als meine Mutter vom Friseur wiederkommt, sagt sie, dass im Salon alle ihre Masken abgesetzt hatten, zumindest in dem Teil des Ladens, der von der Straße aus nicht einsehbar ist. Sie verbietet mir, darüber zu schreiben, aber ich bin ja schon groß und setze mich darüber hinweg. Ich bin auch etwas besorgt, weil diese Regeln ja nicht dazu da sind, mich zu schützen, sondern gerade die Generation 60+, der sie angehört.
Eigentlich wollte ich am Nachmittag schon zurückfahren, aber ich habe mich in meiner Schreibstube ganz gut eingelebt. Der kuschelige Hund hat sich wieder vollständig an meine Gegenwart gewöhnt, und wenn wir als Familie abends einen Film schauen, liegt er vor dem Flachbildschirm und schaut uns dabei zu. Bei meinem Nachtspaziergang mit Luna durch einen wilden Park braucht es keine Leine mehr.
Infizierte in Berlin: 6552, Tote: 186.
Donnerstag. Auf der Rückfahrt nach Berlin merkt man kaum, dass es Vatertag ist. Meine Tochter ruft per Facetime an und zeigt mir ein Foto von einem Superhelden. „Das bist du!“, ruft sie, und ich freue mich so laut, dass das gesamte Großraumabteil das wohl mitbekommen hat. Zum Glück ist es wieder fast leer, wie auch schon am Sonntag. Schräg gegenüber sitzt eine Frau mit einer Maske, auf der deutlich „Fuck Corona“ geschrieben steht. Der Schaffner hat ein Joker-Lächeln mit gefletschten Zähnen über Mund und Nase gezogen.
In Berlin bin ich am Nachmittag eingeladen auf eine Fest in die Hasenheide. Die Party heißt „Transmissions“, und der DJ sendet seine Musik über Funk auf alle Radios in der Nähe, die die Frequenz 87,5 eingeschaltet haben. Freunde schicken Bilder, und es sieht alles sehr friedlich aus. Die Regeln für die Party sind auf der Rückseite des Flyers angegeben: „Keep distance“ und „There is no leader“. Außerdem sollen alle bitte nicht so laut machen und keinen Müll hinterlassen.
Ich entscheide mich trotzdem für das Schreiben zu Hause. Die Freundin vom Sonntag schreibt, dass ihr Münchner Bekannter von den Maschinen befreit ist, aber noch sehr schwach. „Er wird es überleben, aber noch mehrere Wochen im Krankenhaus sein.“ Obwohl ich die Person nie gesehen habe, freue ich mich über diese Erfolgsmeldung. Sie schreibt: „Hatte das Gefühl, die Information war ich dir schuldig.“
Infizierte in Berlin: 6582, Tote: 190.
Freitag. Ich chatte morgens mit einem Freund in New York. Ich hatte ihn Ende März hier im Tagebuch erwähnt. Er schrieb damals, dass die Maßnahmen lächerlich und übertrieben seien. Jetzt schreibt er, dass er sich über einen Kollegen angesteckt hatte und zwei Wochen nur im Bett lag. „Es war die Hölle“, schreibt er knapp. Jetzt sei er seit einem Monat symptomfrei.
Dann treffe ich Christian Y. Schmidt, den Mann, der mich über die vergangenen drei Monate durch diese „erste Welle“ begleitet hat. Wir sitzen wie am Anfang im Café „La Tazza“, wieder in einem großen Abstand. Nicht weil wir müssen, eher aus automatischer Höflichkeit. Als ich ihn bitte, Bilanz zu ziehen, sagt er keine Infektionszahlen, sondern: „Ich bin von meiner Frau getrennt.“ Sie lebt in Peking, und er habe sie zuletzt im Februar gesehen. Wenn ich zurückblicke in die früheren Folgen dieses Tagebuchs, fällt auf, dass sie es fast immer in diese Zeilen geschafft hat. „Sie hat vorgestern gesagt, dass mein Visum vielleicht erst wieder im Oktober gültig ist.“ Er bläht seine Lippen resigniert auf und sagt auf seine zurückhaltende Art: „So langsam wird es Zeit, dass ich hier rauskomme.“
Ansonsten hat er sein Buch „Der kleine Herr Tod“ noch vor Beginn der Corona-Krise beendet und musste Buchpremiere und Marketing in Zeiten von Corona erleben. „Das Angenehme war, dass sich durch das Buch und diese Pandemie eine Blase in meinem Online-Netzwerk gebildet hat, die einander auf dem Laufenden hielt.“ Unter diesen Leuten seien keine Verschwörungstheoretiker gewesen. „Ich bin ganz froh, dass ich mich wenig mit solchen Dingen auseinandersetzen musste.“ Sein nächstes Buchprojekt sollte in China recherchiert werden, das liegt erst einmal auf Eis.
Vor uns liegt ein anstrengender Sommer, da sind wir uns beide einig. Wir haben mitbekommen, wie einige in der U-Bahn sorgfältig ihre Masken tragen und andere wie aus Protest keine. „Wenn ich in den letzten drei Monaten etwas gelernt habe“, sagt er, „dann, dass viele Dinge, die man für undenkbar gehalten hat, plötzlich beschlossen werden können.“ Daraus könnte man ja Lehren für die Bewältigung der Klimakatastrophe ziehen. „Ob die zweite Welle kommt, kann keiner sagen“, sagt er, „trotzdem sollten wir vorsichtig sein.“ Die Berichte aus Ostasien, die er liest, lassen über den Charakter einer zweiten Welle keine Schlüsse zu. Kurz bevor er geht, sagt er noch, dass eine der Veränderungen dieser Pandemie auch unsere Treffen waren. Wir kannten uns vorher kaum und haben auch bei diesem Treffen zunächst kaum über Corona gesprochen. Wir verabreden uns lose für die nächsten Wochen, und ich verspreche ihm eine Ausgabe von „Inselhopping“.
Abends gehe ich wieder nicht in den Park, um dort mit Freunden um ein Radio zu sitzen, das sanfte Housemusik spielt. Stattdessen höre ich das befriedigende Geräusch einer gesendeten E-Mail mit einem weiteren fertigen Kapitel.
Infizierte in Berlin: 6611, Tote: 190.
Sonnabend. Mein Freund in Wedding hat in weniger als einer Woche „Ein wenig Leben“ beendet. Der Tod eines der Protagonisten hat ihn so mitgenommen, dass er die 720 Seiten fast nicht beendet hätte. Wir diskutieren, ob das Ende ein Happy End ist, was Freundschaft ist und kann. Hanya Yanagihara schreibt: „Der Trick ist, Menschen zu finden, die besser sind als man selbst, und dann ihnen zuzuhören, wenn sie etwas über dich sagen, egal, ob es gut oder schlecht ist.“
Es gab in den vergangenen Wochen Tage, da habe ich niemandem getroffen und selbst wenn sich mein Tagebuch manchmal anders liest, waren es doch nur eine Handvoll Freunde, die ich regelmäßig traf. Wie wichtig das war, zu sehen, wie andere mit dieser Situation umgehen, merke ich erst jetzt. Vielen Dank für die Treue bis hierher – und für die Leserbriefe. Hoffen wir, dass wir alle gut durch den Sommer kommen.
Infizierte in Berlin: 6636, Tote: 191.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 24. 05. 2020