Berlin. In dieser Woche ist irgendwie ein Wendepunkt erreicht. Ich meine, kein zeitlicher Wendepunkt, denn wir wissen ja noch nicht, wann wieder alles wie vorher wird. Ich meine eher einen Wendepunkt für das Gefühl für diese Krise. Hat sich vorher jeder Tag ein bisschen wie Sonnabend angefühlt (zu Hause bleiben, arbeiten, allein fernsehen), ist es jetzt, als wäre es permanent Montag: Man könnte eigentlich immer irgendetwas arbeiten, aber gleichzeitig passt das Bild der Stadt nicht dazu. Die Menschen in meiner Straße stehen jetzt zu lange auf ihren Balkonen, zu jeder Tageszeit. Haben sie mir früher noch zugewunken, machen sie das jetzt auch nicht mehr.
Wendepunkt heißt auch, dass ich merke, wie die Tage auseinanderfallen, wenn man sie nicht zusammenhält. Dabei helfen natürlich Rituale, Dinge, die ich täglich wirklich gleich tue. Aber die gibt es kaum. Eine Zeit lang war es ja ein fast kollektives Ritual, jeden Tag zuerst zu überprüfen, wie die Zahlen liegen. USA, Frankreich, Schweden, und auch die Zahlen für Berlin. Aber wenn ich nicht dieses Tagebuch führen würde, wäre mir nicht aufgefallen, dass in dieser Woche über 100 Menschen in Berlin am Virus gestorben sind. Wenn ich daran denke, mit welchem Entsetzen ich Artikel vor zwei Monaten zu diesem Thema gelesen habe, ist dieses Gefühl definitiv einer Gelassenheit gewichen. Denn alles geht ja auch irgendwie weiter, oder?
Montag. Die Woche hatte mit dem besten Ritual überhaupt angefangen: Morgensport. Ich habe immer dieses Bild von mir als ein Morgenjogger vor mir. Besonders abends. Morgens bin ich dann eher der, der mit Kaffeetasse in Jogginghose erstmal auf den Balkon tritt und blinzelt. Ab heute soll das anders sein: Ich bin mit einer Freundin im Volkspark Friedrichshain an einem polnischen Denkmal verabredet.
Dort angekommen wundere ich mich, dass schon Skater morgens um 8 Uhr ihre Sache sehr ernst nehmen. Meine Freundin hat schon angefangen: springen, rennen, Liegestütze. Und diese eine Übung, die Jane Fonda immer in ihren Videos gemacht hat: seitlich liegend das Bein heben. Ich sage ihr, dass Männer solche Übungen nicht machen, und weise sie auf jenes Workout-Video von Jane Fonda hin. Sie: „Jane hat die Übung auch falsch gemacht. Und jetzt zeige ich dir, wie das geht.“
Und so liege ich also im Friedrichshain, hebe das Bein und bin noch nicht überzeugt. Es ist kalt, ich bin müde und würde jetzt lieber einen Kaffee trinken. Dann laufen wir im Sprint die Treppe nach oben auf den kleinen Berg im Park. Dort hat ein Mann sich abgesägte Baumstämme aus dem Gebüsch geholt und hebt diese in verschiedenen Position in die Höhe.
Ich schaue an mir herunter und sehe mit einem Blick, dass ich seit Wochen weder irgendwelche Treppen nach oben gejoggt bin, noch Baumstämme gestemmt habe. Ich bin sicher nicht der einzige mit Corona-Bauch. Vielleicht sollte ich jetzt damit anfangen, den Vorher-Zustand wieder herzustellen?
Am Abend bin ich nach Kreuzberg eingeladen. Eine Freundin feiert Geburtstag, und ich habe es den Rest der Woche bisher vermieden, anderen von diesem an sich netten Abend zu erzählen. Selbst bei meinen guten Freunden sind dann einige dabei, die mich auf eine sehr freundschaftliche Art doch zurechtweisen. Wer ist dann eigentlich der Schlimmere: Sie, die trotz Corona ein Essen für vier Leute organisiert in ihrer Wohnung? Oder ich, der hingeht?
Als ich abends um zehn Uhr nach Hause fahre, ist die U-Bahn leer. Ja, jetzt ist wirklich jeder Tag wie Montagabend. Morgen ist ein neuer Arbeitstag. Ich hatte mir ein Radler mitgebracht zur Party, und mehr Rausch braucht es dieser Tage auch nicht. Ich muss nur die Nachrichten-Apps meines Mobiltelefons öffnen, und bin sofort wieder komplett nüchtern. Das sind sie wieder, diese Zahlen.
Infizierte in Berlin: 5265, Tote: 97.
Dienstag. Ich sage den Morgensport ab, denn heute ist ein großer Tag. Mein Internetzugang sollte wieder hergestellt werden. Dank freundlicher Nachbarn und dem Passwort „ImmerAnDenKanzlerDenken“ hatte ich zwar eine Zwischenlösung, aber war schon sehr froh, dass der Techniker meines Internet-Providers sich angekündigt hatte. Im Jahr 2020 haben sich selbst diese Providerfirmen etwas einfallen lassen, um das Warten erträglich zu machen. Der Termin war zwischen acht und elf Uhr morgens vereinbart, aber gegen halb zehn bekomme ich eine SMS, dass er jetzt unterwegs sei. Dann öffnet sich eine Straßenkarte, und mein Techniker blinkt als kleiner roter Punkt, der noch weit weg ist.
Als er hereinkommt, trete ich zwei Meter zurück, routiniert lehnt er das angebotene Wasser und den Kaffee ab. Sicherlich auch aus Sicherheitsgründen. Mit Handschuhen drückt er am Router herum und schüttelt häufig den Kopf. Eine halbe Stunde tut sich fast nichts, und obwohl er viele Dinge austauscht, hat er den Fehler nicht gefunden. Ich frage ihn, ob er denn viel Kundenkontakt hat. „Logo, wir sind ja systemrelevant.“ Er mache seinen Job genauso wie bisher, nur, dass er eben so wenig wie möglich anfasse in den Wohnungen.
Ohne Internet fühlte es sich wirklich komisch an. Ich hatte am Wochenende abends statt Netflix Sat.1 eingestellt. Ich dachte, etwas Harry Potter würde mich aufmuntern. Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass ich schon sehr lange keine Fernsehwerbung mehr gesehen habe. Unglaublich, wie oft ein Film unterbrochen wird! Gefühlt alle zwölf Minuten. Seltsam auch, dass fast jede zweite Werbung das Corona-Virus schon mitgedacht hatte. „Wir bringen Sie sicher durch die Krise“ verspricht ein Unternehmen nach dem anderen. Ich hatte keine Lust mehr auf Harry Potter.
Infizierte in Berlin: 5341, Tote: 105.
Mittwoch. Morgens laufe ich durch den Mauerpark, ich bin der einzige im Park. Es ist niemand hier, der meine langsame Geschwindigkeit kommentieren könnte oder die kurze Pause, die ich langsam laufend einlege. Ist das der Anfang von einem neuen Verhältnis zu meinem Körper und Bedürfnisse? Mir war aufgefallen, dass ich über die vergangenen sechs Wochen irgendwie sorgfältiger umging mit meiner Zeit. Und dieses morgendliche Laufen durch den Mauerpark, mitten in der Woche, morgens um sieben Uhr, das war bisher immer nur eine Idee gewesen. Ich hatte es mir so oft vorgenommen, dass es sich nicht einmal wie das erste Mal anfühlte.
Auf dem Rückweg belohne ich mich mit „Butterhörnchen“, dem Croissant des Ostens. Es darf nur ein Kunde ins Geschäft zur gleichen Zeit. Erst als ich wieder zu Hause bin, fällt mir auf, dass ich seit über einer Woche nicht einkaufen war. Ich hatte genug eingefroren, dass ich noch mindestens zwei weitere Wochen aushalten konnte. Auch sonst brauchte ich selten Bargeld. Keine Kneipenbesuche, keine Eintrittskarten, keine zwei Euro für die Garderobe.
Dafür erschrecke ich, als ich im Briefkasten meine Telefonrechnung finde. Ich hatte öfter mit einem Freund in Österreich telefoniert und erst beim zehnten einstündigen Telefonat gemerkt, dass die Anrufe ins Ausland zwar günstiger geworden sind, aber ich noch immer 29 Cent pro Minute zahlen muss. 130 Euro Lehrgeld. Es versetzt mir schon einen kurzen Stich, weil diese Telefonate mir wichtig sind und ich nicht ans Geld denken möchte, wenn ich die Nummer wähle. Ich schreibe ihm, dass er sich doch bitte WhatsApp herunterladen soll. Er schreibt mir eine SMS zurück: „Nein“. Er vertraut dem Unternehmen nicht und möchte das nicht. Erst ärgere ich mich, dann finde ich es gut, dass sich manche Menschen treu bleiben.
Infizierte in Berlin: 5355, Tote: 105.
Donnerstag. Ich habe so schlecht geschlafen, dass ich auf keinen Fall heute schon wieder Sport machen kann. Ich beginne also ziemlich direkt mit der Homeoffice-Arbeit und werde mich später am Tag darüber noch ärgern. Ich hatte direkt einen Muskelkater und mich selten darüber so gefreut wie über dieses Anzeichen, dass mein Körper die Bewegung merkt, die ich für ihn gerade geplant habe.
Am Nachmittag fahre ich an die Spree. Die Sonne scheint, und ich merkte fast physisch, dass die Wohnung mir zu klein geworden ist. Gegen 16 Uhr ist sonst immer die Zeit, auf der ich von meinem Balkon hören kann, wie irgendjemand in der Straße das Klavierstück aus dem Film „Amélie“ spielt. Dieses verträumte Stück hat mir die ersten Male noch gefallen, er bekam oft Applaus dafür. Aber mit jedem Tag mehr dachte ich irgendwann: „Kann er auch etwas anderes spielen oder zumindest das Fenster schließen?“
Schon deshalb war es gut, an die Spree zu fahren. Es war nicht mehr so leer wie zu Beginn der Ausgangssperre, die nicht Ausgangssperre genannt werden kann. Ich setzte mich an die Spree gegenüber der Botschaft Chinas. Es ist eine Ecke von Berlin, in der ich sonst selten bin. Ein älterer Mann nickt mir im Abstand von vier Metern zu. Ich denke noch, warum ist der nicht zu Hause? Aber vielleicht geht es ihm genauso wie mir: Einfach mal unter Menschen sein. Vielleicht wäre dieser Mann jetzt hier nicht lang gelaufen, wenn er nicht gewusst hätte, dass es „sicher“ für ihn, also weitgehend leer sein wird.
Bevor ich heimfahre, schaue ich noch einmal die chinesische Botschaft an, vor der ich mein Fahrrad geparkt hatte. Der Bau hat trotz der vielen Fenster etwas Festungsartiges. In dieser Woche hat der Chefredakteur der Bild-Zeitung, Julian Reichelt, dem Präsidenten Chinas einen offenen Brief geschrieben. Darin waren allerlei Vorwürfe, dass China schuld sei an dieser weltweiten Krise. Dabei hatte doch China versucht, schon im Januar die Welt zu warnen. Bis heute sind 4600 Menschen in China an dem Virus gestorben, in Deutschland sind wir mit 5700 weit darüber hinaus. Die Vorstellung, dass die „Schuldfrage“ noch eine wichtige sein wird, wenn die Krise vorbei ist, macht mir Angst. Ich schlafe spät und schlecht.
Infizierte in Berlin: 5476, Tote: 112.
Freitag. Die Morgensport-Idee wird auf die kommende Woche verlegt. Wieder muss ich zu viel schon morgens telefonieren und vorbereiten. Seit 8 Uhr sitze ich fast täglich schon bei der Arbeit, in der Mittagspause höre ich Drostens Podcast. Sein Podcast kommt jetzt nur noch jeden zweiten Tag, es ist, als ob auch er dafür sorgen möchte, dass wir uns wieder mit anderen Dingen beschäftigen.
Gegen Mittag schaue ich den Livestream der „größten Online-Demonstration der Geschichte“. Die Bewegung „Fridays for Future“ hat sich vor dem Reichstag aufgebaut und sendet live von dort. Immer wieder bricht die Übertragung kurz ab, oder die Moderatoren stehen direkt neben einem Rasenmäher, der ausgerechnet an diesem Tag die Wiese vor dem Bundestag mähen muss. Die Plakate, die eigentlich auf der Wiese ausgelegt werden sollen, werden ständig vom Wind herumgewirbelt.
Als der Livestream endet, ruft Christian Y. Schmidt an, China-Kenner und inzwischen mein Freitags-Ritual. Er beginnt unser Telefonat mit einem Ausruf: „Es ist ja alles so fürchterlich langweilig!“ Selbst ihm geht die Dauer der Ausgangssperre auf die Nerven. „Ich will nur noch, dass es vorbei ist.“ Es ist diese Leere, dieses Zuviel an Zeit, die auch ihn gerade angreift, sagt er. „Meine Frau ist in China, und je früher das hier zu Ende geht, umso eher kann ich auch raus.“
Dabei war Schmidt in den vergangenen Wochen häufig gerade der gewesen, der die Maßnahmen der Regierung als zu kurz gegriffen oder zu spät kritisiert hat. Jetzt ist er mittlerweile auch die meiste Zeit allein, da er keine Kinder hat. „Noch nicht mal einer, der mich nervt“. Wir reden über die USA („Werden es doch über 100.000 Tote?“), Schweden („kein leuchtendes Beispiel in dieser Krise“) und den Brief von Julian Reichelt an Chinas Präsident. „Das war nicht nur Kalte-Kriegs-Rhetorik, die sich gegen die chinesische Regierung richtete. Der Brief enthielt auch Vorurteile, wie etwa, die Chinesen könnten nur kopieren und seien nicht innovativ.“
Aber auch wenn die Länge unseres Telefongesprächs nicht anders ist als sonst: Es fehlt die Wut. Es regt ihn nicht mehr auf, wenn Leute noch sagen, dass Corona eben doch wie eine Grippe sei. „Einige wirst du nie überzeugen“, sagt er. „Man richtet da nichts mehr aus, die werden erst ihre Meinung ändern, wenn sie es selbst haben. Immer öfter denke ich: Macht doch, was ihr wollt.“
Am Abend treffe ich Freunde, und ich fühle mich noch nicht einmal wirklich schlecht. Wir sitzen zu viert, wir reden im Abstand in einem Park, nur einmal fangen wir an, uns lauthals zu streiten. Es geht wieder um China und was sein wird, wenn diese Lockerungen die Zahlen wieder steigen lassen. Einig sind wir uns nur, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann.
Infizierte in Berlin: 5532, Tote: 113.
Sonnabend. Bisher war das ein Tag komplett ohne Rituale. Aber es ist wie Montag: aufstehen, Kaffee, arbeiten, später in den Park oder auch nicht. Als ich mein Telefon zur Hand nehmen will, kann ich es erst nicht entsperren. Ich brauche eine Weile, bis ich merke, dass es die Maske ist. Die Gesichtserkennung erkennt mein Gesicht nicht wieder. Dann rufe ich in Österreich an. Es wird ein gutes, viel zu langes Gespräch.
Infizierte in Berlin: 5607, Tote: 123.
Erschienen in der Berliner Morgenpost, 26. 4. 2020.