Corona-Tagebuch: Teil 10

Berlin. In dieser Woche kam zwar das Leben zurück in meine Straße, in die Geschäfte, in die Stadt. Allerdings wirkt die Maske im Gesicht wie eine angezogene Handbremse, nicht nur für das Atmen, sondern für jede Tätigkeit im Freien. Ich lernte erst in dieser Woche, die Maske überhaupt immer dabei zu haben. Und zumindest noch kurz zu säubern, bevor ich sie aufsetze. Allerdings habe ich noch keinen Ort, um sie zu lagern. Hängt man sie an die Garderobe? Legt man sie zu den Socken? Oder besser immer griffbereit an die Türklinke?

Montag. Es ist einer dieser grauen Tage, die man gleich bei Tagesbeginn wieder beenden möchte. In der Zeitung lese ich, dass die Friseure wieder geöffnet haben. Dank dieses Tagebuchs kann ich genau sagen, dass ich vor sieben Wochen zuletzt beim Friseur war, das war kurz vor der Schließung. Jetzt bräuchte ich wieder einen Termin, aber ich hatte natürlich keinen vereinbart. Immerhin bekomme ich online für die kommende Woche einen Slot in der „Notaufnahme“. Zur Bestätigung bekomme ich eine E-Mail, in der Wörter wie „Infektionsketten“ und „Schutzauflagen“ stehen.

Am Nachmittag fahre ich zum Kurfürstendamm. Ich will meine Post in der Redaktion abholen und muss mich beim Chef-Concierge vom Hotel Waldorf-Astoria entschuldigen. Wir hatten an diesem Tag eine ganze Seite über das Hotel abgedruckt, dafür hatten wir eine große Tour durch das fast leere Haus bekommen – und dann war in der Zeitung sein Name unter ein Bild gerutscht, das nicht ihn zeigte. Das Problem: Alle trugen eine Mund-Nasen-Bedeckung, die natürlich handgearbeitet war und irgendwie so aussah, als rieche das Leben dadurch besser. Aber er hat sich geärgert, und natürlich darf so etwas nicht passieren.

Erst als ich an der S-Bahn ankomme, fällt mir auf, dass ich keine Gesichtsmaske dabei habe. Ich klemme mir also einen Schal vors Gesicht und stelle mich so „in die Ecke“, wie ich einmal in der siebten Klasse stehen musste, weil mein Lehrer mich dazu aufforderte. Mein Lehrer kam Anfang der 90er-Jahre aus einem Bayerischen Klostergymnasium nach Dresden und war „ganz alte Schule“.

Infizierte in Berlin: 6242, Tote: 164.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 10. 05. 2020

Corona-Tagebuch: Teil 11

Berlin. Das Wochenende steckte mir in dieser Woche mehr in den Knochen, als ich es zugeben wollte. Die Demonstration vom Sonnabend wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. Rund um den Alexanderplatz waren Menschen versammelt, die Angst vor einer Zwangsimpfung hatten und sich als Corona-Rebellen bezeichneten. Sie hielten weder einen Mindestabstand ein noch ließen sie sich von der Polizei an die Regeln erinnern. Als es zu Rangeleien kam, verließ ich die Demo.

Zu Hause holte ich die Zeitung hervor, die von den Demonstranten verteilt wurde. Auf Seite 1 steht groß der Satz: „Das Virus ist nicht das Problem.“ Auf den nachfolgenden Seiten wird so getan, als sei das Grundgesetz komplett außer Kraft gesetzt und Deutschland befinde sich in einer Diktatur. Bebildert ist das Magazin mit Fotos aus dem Film StarWars (Todesstern und Prinzessin Leia), als wäre es Zeit, dass uns nur noch Jedi-Ritter vor dem „Impfperium“ beschützen könnten. Es wird schnell klar, dass es in dieser Woche vor allem um Verschwörungstheorien gehen wird.

Montag. Der Tag beginnt im Grunde friedlich. Ich höre morgens durch das offene Fenster ein Geräusch, dessen Ausbleiben mir nicht einmal aufgefallen war: Das Klackern eines Rollkoffers auf dem Kopfsteinpflaster. Ich schaue hinaus und sehe eine Frau mit einem großen Koffer in Richtung U-Bahn laufen. Als ich davon später einem Freund erzähle, antwortet er, es könne auch eine gescheiterte Ehe sein. Touristische Reisen sind schließlich noch nicht erlaubt.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 17. 05. 2020.

Corona-Tagebuch: Teil 12

Berlin. In dieser Woche habe ich Bilanz gezogen. Die vergangenen drei Monate haben mich verändert. Das lag vor allem an einer Tatsache, die ich bisher verschwiegen habe, weil sie mir auch ein bisschen peinlich ist – und weil ich sicher bin, dass meine Lektorin das hier auch liest. Corona hat dafür gesorgt, dass ich so viel geschrieben habe wie noch nie zuvor. Ich bin sozusagen „fremdgegangen“: Wenn ich meine Tagesarbeit für die Zeitung beendet hatte, habe ich noch an meinem Buch geschrieben, zumindest sehr oft. Ich hätte es vor der Corona-Pandemie fertig haben müssen, aber ich… – könnte jetzt irgendwas von Schreibkrise erzählen, aber das klingt nach Ausrede, und vielleicht ist es das auch.

Im Rückblick ist es vielleicht gerade das Schreiben dieser insgesamt zwölf langen Texte – also im Grunde eines zweiten Buches –, die mir erst ermöglichten, das andere Projekt zu beenden. Ich bin in der unangenehmen Situation, dass es wohl einer weltweiten Pandemie zu verdanken ist, wenn im Herbst ein Buch mit dem Namen „Inselhopping Indonesien“ erscheint, in dem ich von meinen Erlebnissen zwischen Sumatra und West-Papua im vergangenen Jahr erzähle.

Jetzt fehlt nicht mehr viel. Zumal ab Montag mein erster richtiger Urlaub beginnt. Schon in dieser Woche konnte ich mich darauf einstimmen und hatte mehrere freie Tage. Deswegen muss ich in dieser Woche auch am Sonntag vor einer Woche beginnen. Und da sind wir wieder beim Thema Corona.

Sonntag. Ich wache mit einem Kater auf, ich hatte am Abend zuvor endlich einem Freund sein Geburtstagsgeschenk gegeben, das wunderbare Buch „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara. Ein Roman über vier New Yorker Freunde, die sich in ihren 20ern kennenlernen und bis zu ihrem jeweiligen Lebensende begleitet werden – sie werden sehr alt. Ich hatte es per Post zu ihm nach Wedding geschickt, aber das Paket kam zurück. Da wir uns jetzt wieder treffen dürfen, habe ich es ihm vorbeigebracht, und wir haben mit sehr gutem Weißwein angestoßen. Er schreibt am Sonntagmittag, er sei auf Seite 36 und könnte es nicht weglegen.

Am Nachmittag kommt eine Freundin von mir vorbei, die gerade ebenfalls an einem Buch arbeitet. Auch sie sagt, dass sie die Pandemie vor Ablenkung schützt. Sie habe das Virus auch von Anfang an ernst genommen. Ein Bekannter von ihr liegt im Krankenhaus in München. Sie sagt: „Er war wochenlang an der Beatmungsmaschine, und die Ärzte haben seiner Freundin gesagt, dass es nicht sicher sei, dass er überlebt.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 24. 05. 2020

Teil-Lockdown in Berlin: Die Nacht der leeren Straßen

Berlin.  Ein Packung Toffifee, ein Teelicht, eine Flasche Rotwein. Mehr hat Ewald Klassen nicht dabei. „Ist das nicht eine märchenhafte Nacht“, fragt er. „Ich meine das rote und gelbe Laub auf den Straßen, das Licht der Straßenlaterne, die Leere.“ Der 34-Jährige sitzt auf einem Vorsprung an der Gabriel-Max-Straße in Friedrichshain auf einer Decke und wartet auf „Concrete Flower of Berlin“, die Berliner Beton-Blume. So nennt er die Frau, die er vor drei Wochen auf der Museumsinsel singen hörte. Er hat ein Video gemacht, wie sie im Säulengang der Alten Nationalgalerie ohne Begleitung „O mio babbino caro“ singt, eine Puccini-Arie. Er zeigt auf die Einschusslöcher vom 2. Weltkrieg neben ihr im Video. Er hat sie angesprochen, fuhr zurück nach Gstaad, wo er wohnt. „Heute bin ich den ganzen Tag von den Alpen bis hierher gefahren, um sie wieder zu treffen.“ Bei Whatsapp hat er sie unter „Ruth Herzberührt“ abgespeichert. „Wir haben uns heute geküsst.“

Es ist 21 Uhr, Montagabend. Die erste Nacht des Berliner Lockdowns hält auch solche Geschichten parat. Zum zweiten Mal in diesem Jahr wird das öffentliche Leben in der Stadt und im ganzen Land heruntergefahren. Bars, Restaurants, Kinos, Theater, Fitnessstudios bleiben im November geschlossen. Die Zahl der positiv Getesteten ist in Deutschland auf über 15.000 am Tag gestiegen, Friedrichshain-Kreuzberg ist aktuell der am stärksten betroffene Berliner Bezirk. Laut den neuen Regeln dürfen sich Personen aus maximal drei Haushalten treffen, die Gruppen sollten zehn Personen nicht übersteigen. Das gilt auch für Obdachlose. Und streng genommen ist der verliebte Deutsch-Schweizer auf der Decke genau das.

„Ich weiß noch nicht, wo ich heute wohne“, sagt Ewald Klassen, „aber das findet sich.“ Da kommt Ruth vom Boxhagener Platz zurück. Die 24-Jährige ist tatsächlich professionelle Sängerin, kam vor einem Jahr aus England nach Berlin. „Meine Heimatstadt ist Bedfordshire“, sagt Ruth Harley, „das ist bekannt, weil die Romanfigur Bridget Jones auch von dort kommt.“ Sie hat in Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain gelebt, jetzt wohnt sie in einer WG in Lichtenberg. Sie erzählt von ihren Auftritten auf der Museumsinsel. Weil es im Augenblick keine Bühnen gibt, singt sie manchmal an öffentlichen Plätzen. „Es ist unglaublich, manchmal fangen die Menschen an zu weinen, wenn sie vor mir stehen.“ Ewald habe sie angesprochen und sie hat sich sein Profil auf der Webseite „Soundcloud“ angeschaut. Er ist Pianist. „Sein Stück ‚Seelenspiel‘ hat mich berührt.“ Sie sagt, er werde schon nicht auf der Straße übernachten müssten. „Er hat Geburtstag am Mittwoch.“

Ein Hubschrauber kreist in der Luft, ein Mann führt in kurzen Hosen seinen Hund spazieren und zwei Männer vom Ordnungsamt vergeben Strafzettel für Falschparker, eines direkt vor dem kleinen romantischen Lager am Boxhagener Platz, wo Ruth und Ewald sitzen. Die Männer sagen, dass es eine ruhige Nacht sei. Sie vergeben wenig Strafzettel, es komme ja niemand von außerhalb in die Gegend. Die Menschen, die hier parken, wohnen hier. Auch die Simon-Dach-Straße, sonst eine belebte Gegend, ist leergefegt. Sechs Polizisten stehen um einen Betrunkenen und versuchen ihn zu überreden, nach Hause zu gehen. Es ist 21.30 Uhr.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 03.11.2020

Corona-Tagebuch: Dezember 2020

Berlin. In dieser Woche habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, ab und an an sich herunterzuschauen und seinen Füßen dabei zuzusehen, wie sie das so hinkriegen: einen Schritt vor den anderen zu setzen, so ganz ohne stolpern. Ich hatte das neulich in einem Popsong der Kanadierin Veda Hille gehört: „Wenn du dich verloren glaubst, schau auf deine Füße“ singt sie im Song „Oh Precious Heart“. Ich will jetzt nichts überdramatisieren, wozu ich zugegebenermaßen neige, aber nach dieser Woche habe ich das Gefühl, dass uns die dunkelsten Kapitel dieser Krise noch bevorstehen.

Montag. Mein erster Gang geht jeden Morgen zuerst an die beiden Adventskalender, die ich in der Wohnung in zwei Zimmern verteilt habe. Am Montag ist das Öffnen der Türen zu einem Ritual geworden, noch am Tag zuvor hatte ich eine Tür vergessen. Wie überhaupt immer mal ganze Tage durchgerutscht sind seit November. Wieder Lockdown, wieder Tagebuch, nur dieses Mal ohne den Frühling vor der Haustür. Dafür immerhin mit Adventskalender. Ich hole ein Stück Apfelstollen aus dem Adventskalender und esse es direkt zum Morgenkaffee.

Und noch etwas hat sich verändert, seit ich im Frühjahr zwölf Wochen lang diese Seite am Sonntag betreut habe: Ich schlafe besser. Das könnte daran liegen, dass ich vor ein paar Wochen das Rauchen aufgegeben habe und mir jetzt jeden Morgen eine App verkündet, welche weiteren Vorzüge dieser Tag ohne Rauchen mit sich bringen wird. Nur beim morgendlichen Kaffee auf dem Balkon fehlt es mir noch ein kleines bisschen.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 13. 12. 2020.