Escape Room: Ausbruch aus dem Stasi-Knast

Elliot Gray für Berliner Zeitung

Berlin – Ein Bett, ein Klo und ein kleiner Tisch zum Hochklappen. An der Wand klebt ein Kalender aus dem Jahr 1963 (mit Hammer, Sichel und Lenin) und daneben ein altmodisches Werbeplakat für einen Urlaub im FDGB-Ferienheim. „Die Errungenschaften unserer Arbeiter- und Bauernmacht.“ Durch die Wand sind undeutlich weitere Häftlinge zu hören. „Hallo?“, ruft einer, „Hört ihr uns?“. Das Kratzen des Lautsprechers wird lauter, eine weibliche Stimme sagt streng: „Zellenkontrolle in einer Stunde!“

Das Thema „Flucht aus dem DDR-Gefängnis“ ist ein beliebtes für Bücher, für Thriller und seit neuestem auch für Escape Rooms. Diese Räume sind in den vergangenen zehn Jahren in fast allen Berliner Stadtteilen entstanden und haben offenbar sogar die Pandemie überlebt. Rund 16 Firmen gibt es aktuell in der Stadt, jede mit mindestens vier Räumen im Angebot, und in allen von ihnen ist das Prinzip das gleiche: Eine Gruppe zwischen zwei und sechs Menschen zahlt rund 100 Euro, um sich in einen Raum einsperren zu lassen. Sie können diesen Raum nur verlassen, wenn sie innerhalb von 60 Minuten alle Rätsel lösen. Sonst ist das Spiel vorbei und sie haben verloren.

Die Themen sind vielfältig: Südsee, Raumfahrt, Inka-Tempel, Zombie-Apokalypse, Zeitreise, Flugzeugabsturz oder eben Stasi-Knast. Auch der Ausbruch durch einen Tunnel von Ostberlin nach Westberlin kann nachgespielt werden, ebenfalls an Originalschauplätzen in alten Tunnelanlagen mitten in Berlin. Die meisten Escape-Rooms bieten die Spiele in Englisch oder Deutsch an. Das Stasi-Gefängnis, um das es hier geht, liegt an der Prenzlauer Allee, direkt neben einer ehemaligen „DDR-Speisegaststätte“.

Empfangen wird man von einer jungen Frau Anfang 20, Sophia, die erst einen roten Knopf in die Höhe hält. „Diesen Knopf könnt ihr immer drücken, wenn euch danach ist“, sagt sie, „dann aber ist das Spiel zu Ende und wir brechen ab.“ Wenn man nur auf Toilette müsse, solle man einfach Bescheid sagen. Das ließe sich immer einrichten. Als es losgeht, wird die freundliche Sophia zur Gefängniswärterin. Sehr laut sagt sie wortwörtlich diesen Satz: „Ihr habt Schande über euren Staat gebracht und müsst dafür jetzt ins Gefängnis!“ Dann teilt sie die vier Spieler auf zwei Zellen auf.

Es gilt als unschön, den Inhalt der einzelnen Spiele zu verraten, aber vielleicht soviel: Es geht darum, zusammenzuarbeiten, sich gegenseitig hektisch Dinge zuzurufen und Codes herauszufinden, Nippel durch Laschen zu ziehen, ohne zu wissen, ob es in die richtige Richtung führt. Aus Schachfiguren werden Schlüssel, oder war es umgekehrt? Und dass ein Spiegel nicht das ist, was er scheint, war nun wirklich jedem klar, oder?

Das besondere dieses Genres fällt auch bei diesem Escape Room auf: Es hat sich stark verändert in den vergangenen Jahren. Begann es zunächst als einfaches „Ich muss einen Raum verlassen“ (Escape Room 1.0), wurden die Räume immer größer, komplexer und bestanden schließlich aus mehreren Zimmern (2.0). Inzwischen gibt es schon Escape Rooms, in denen Schauspieler arbeiten, die die Spieler erschrecken oder ihnen Hinweise geben, wenn sie sich richtig verhalten. Das sind die sogenannten Räume der dritten Generation.

Der Stasi-Raum ist noch einer der zweiten Generation. Man kriecht und klettert, um diesen engen Gefängnisraum zu verlassen, und wird dabei die ganze Zeit beobachtet. „Zellenkontrolle in 30 Minuten!“ schallt es in dem Augenblick, als alle langsam verstehen, was sie tun müssen, um herauszukommen. Die Rätsel erinnern stark an die Point-and-Click-Adventure aus der Computerspielezeit der 90er-Jahre. „Benutze Löffel mit Falltür“ konnte man dort dem Helden auftragen, eben Dinge zu Werkzeugen zu machen, die vorher keine waren. Bei den Spielen war jedes neue Zimmer ein neuer Escape Room.

Diese Gemeinsamkeit weist auch auf die Herkunft dieser Räume hin. Die ersten Escape Rooms gab es tatsächlich in den Nullerjahren in Japan und Bulgarien – allerdings noch als Computerspiele. Die Aufgabe war, einen Raum zu verlassen und dabei auf dem Weg alle Schubladen zu durchsuchen und kleinere Rätsel zu lösen. Den ersten echten Escape Room konstruierte angeblich ein Schweizer Lehrer im Jahr 2012. Er wollte seine Schüler herausfordern. Kurz nachdem Zeitungen darüber berichteten, startete die erste Firma mit professionellen „Zimmern“ und ist bis heute Marktführer in der Schweiz.

Im Stasi-Knast kriechen alle durch ein Loch in der Wand in einen Hohlraum. Dort ist es dunkel, und der Lichtschalter muss erst einmal gefunden werden. Es kommt ein Tipp aus dem Lautsprecher von einem weiteren „Häftling“. Die Spielleiterin kann die ganze Zeit zuschauen und hat auch die Zeit im Blick. Sie sagt zum Beispiel: „Ich glaube man muss mehr um die Ecke denken.“ Nach ein paar Minuten stehen wir in einem Raum, der an eine Werkstatt erinnert, mit Spind, DDR-Radio (aus dem Geräusche kommen) und mehreren blauen Kitteln aus dem Kunststoff Dederon. Alle rufen durcheinander. Aus dem Lautsprecher schrillt: „Zellenkontrolle in 10 Minuten!“

Das besondere bei Escape Rooms ist wohl, dass man nicht gegeneinander, sondern zusammen gegen einen gemeinsamen Feind spielt. Offenbar liegt das im Trend: Im Vorraum werden auch die Escape-Brettspiele verkauft, die während der Pandemie einen wahren Boom erlebt haben: 2020 stieg ihr Marktanteil um 11 Prozent, 2021 noch einmal um 4 Prozent. Bei der Spielwarenmesse in Nürnberg gewann vor einer Woche ein Escape-Spiel von Ravensburger den „Toy Award“ – natürlich eines, das nur mit Spielkarten und einer App funktioniert. Dabei kann man die meisten Spiele nur einmal spielen, denn die Lösungen der Rätsel vergisst keiner so schnell – und die meisten Materialien sind nach einem Gebrauch auch zerstört. Die bayrische Firma Homunculus verschickt seit 2020 ihre Escape-Spiele sogar per Brief und hat so eine Online-Community erschaffen, die sich über soziale Netzwerke austauscht und zum Teil auch gegenseitig beim Rätseln hilft.

Die besten echten Escape Rooms werden jedes Jahr von einer internationalen Jury ausgezeichnet, die bisher über 170.000 Räume weltweit bewertet hat. Platz 1 geht in der aktuellen Wertung an einen Raum in Spanien, Platz 2 und 3 gehen in die Niederlande. Deutschland taucht erst auf Platz 22 auf – und zwar der „Geisterjäger Brandon Darkmoor“ von „The Room“ in Berlin-Lichtenberg. Deutschlands bester Escape Room liegt also außerhalb des S-Bahn-Rings, nur ein paar Hundert Meter nördlich vom ehemaligen Hauptquartier der Stasi.

Der Spiel-Stasi-Knast in Prenzlauer Berg muss kriechend verlassen werden. Mehr darf man wohl nicht verraten. Es blieben noch 27 Sekunden bis zur Zellinspektion. Sophia hat auch bald Feierabend, aber erzählt noch selbst von all den Escape Rooms, die sie in Berlin schon besucht hat. Die junge Frau wundert sich nicht über das Stasi-Thema. Neulich musste sie eine Oma von ihrem Enkel trennen, steckte beide in die Stasi-Zellen und fühlte sich ein bisschen schlecht dabei. Doch der 11-Jährige löste die Rätsel schnell und befreite seine Oma. „Nur einmal war es etwas unangenehm“, sagt Sophia, „da war ein älterer Mann, der schimpfte, dass es im Stasiknast doch ganz anders ausgesehen habe.“ Sie hat ihn nie wieder gesehen.