Wo ist Lina Chi?

Am 5. Dezember schreibt Susanne Leger eine Nachricht an Linh Chi: „Hallo, ich habe gehört, Du bist krank. War das Essen in der Schule schlecht?“ Linh Chi: „Nein. Ich kein Problem. Danke.“ Frau Leger schreibt: „Ok, dann gute Nacht und viel Spaß in der Schule morgen.“

Susanne Leger ist Linh Chis Vormund und das Mädchen ihr Mündel. So etwas gibt es immer häufiger in Deutschland. Linh Chi kam als unbegleitet geflüchtete Minderjährige Mitte 2016 aus Vietnam nach Deutschland. Schleuser brachten sie aus Moskau mit dem Auto nach Berlin, sie kamen aus Polen. Mehr erzählt sie nicht. Ihre Eltern seien tot. Ihren Pass, sagt sie, habe sie verloren. Linh Chi zeigte ein Foto von einer Bretterhütte in Vietnam. „Mein Zuhause“, sagte sie.

Die 57-Jährige Susanne Leger arbeitet in einem Bundesministerium, sie ist verheiratet, hat keine Kinder. Aber mehr will sie gar nicht von sich erzählen, es geht nicht um sie. Deshalb ist Susanne Leger auch nicht ihr richtiger Name. Als sie klein war, hatte sie selbst einen Vormund, mit dem sie sich gut verstand. Nach der Flüchtlingskrise wollte sie sich engagieren, meldete sich beim Verein für Vormünder. Sie wollte das auch für jemanden sein: Ein Anker in der Welt. Im Herbst 2016 lernt sie Linh Chi kennen.

„Sie war schüchtern, sehr zurückhaltend und hat kaum gesprochen“, erinnert sie sich. Leger erzählt von einem Ausflug zu einer Schmetterlingsfarm auf Rügen, da habe Linh Chi geweint, weil sie das an Vietnam erinnert habe. Oder von dem Mandala, das Linh Chi für ihre Sozialarbeiterin Ariane B. ausgemalt hat. „Wie konzentriert sie war“, sagt Ariane B. Das bunte Mandala hat sie über ihren Schreibtisch gehängt.

Am 6. Dezember 2017 schrieb Susanne Leger um 9.53 Uhr: „Liebe Linh Chi, Ariane sucht dich den ganzen Tag. Wo bist Du? Du warst heute wieder nicht in der Schule.“ Um 12.54 Uhr: „Bitte melde Dich.“

Hinter den Meldungen ist nur ein graues Häkchen. Die Nachrichten sind versendet, aber sie haben sie nie erreicht. Linh Chis Telefon ist abgestellt. In ihrem Zimmer fehlen ein paar Dinge, das „Allernötigste“, wie man sagt.

Laut Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) leben derzeit rund 23.000 von Geflüchteten unter 18 Jahre in Deutschland. Diese bekommen in den meisten Fällen einen gesetzlichen Vormund. Die haben häufig bis zu 50 Mündel auf einmal zu betreuen. Ehrenamtliche Vormünder können diese Lücke schließen.

„Ich besuchte sie rund einmal in der Woche. Am Wochenende machten wir Ausflüge“, sagt Leger. Sie redeten über den Alltag, machten Hausaufgaben. „Erst war sie unsicher, aber mit der Zeit öffnete sie sich, erzählte von der Schule, ihrer Willkommensklasse.“ In der Dreier-WG kam Linh Chi gut zurecht.

Aber: Warum geht sie dann einfach weg? Warum ist sie verschwunden? Susanne Leger lässt diese Frage keine Ruhe. „Ich habe einfach Angst, zur Polizei gerufen zu werden, und ihre Leiche zu identifizieren.“

Linh Chis Geschichte ist ein Kriminalfall, der mitten in Deutschland immer wieder passiert. Fast 5200 unbegleitet geflüchtete Jugendliche und fast 2000 geflüchtete Kinder werden derzeit in Deutschland vermisst. Seit 2012 wurden in Berlin allein 472 minderjährige Vietnamesen als vermisst gemeldet, das meldet der „Tagesspiegel“ unter Berufung auf die Berliner Polizei. In Brandenburg gelten derzeit laut RBB-Recherchen noch 32 minderjährige Vietnamesen als vermisst.

Doch wirklich „vermisst“ werden diese Mädchen und Jungen meist von niemandem, keiner stellt Fragen. Und wenn doch, dann werden sie häufig schnell abgewimmelt.

So ergeht es auch Susanne Leger. Ein vietnamesischer Pfarrer sagt: „Sie wird von der vietnamesischen Community aufgenommen. Keine Sorge.“ Ein vietnamesische Sozialarbeiterin sagt: „Das höre ich oft, es tut mir leid für Sie, aber normalerweise kümmert sich die Community sehr gut.“

Ein deutscher Polizist sagt: „Die vielen asiatischen Namen auf meiner Liste sind wie Augenpulver. Aber ich kann nur sagen: Bei Vietnamesen kommt es durchaus vor, dass sie einfach mal weg sind.“

Doch zwischen die vielen Beruhigungen mischen sich auch andere Töne. Ein Vietnamese zischt Susanne Leger per Du an: „Halt Dich da besser raus, wir regeln das unter uns.“ Ein anderer Bekannter, der „sich mit Vietnamesen auskennt“, erzählt von illegalen Bordellen nur für Asiatinnen oder dunkle Keller, in denen sie nähen müssen, in Frankreich, Belgien, Großbritannien oder den Niederlanden.

Als Drehkreuz für den Menschenhandel, so erfährt der RBB, dient offenbar Warschau. Die Arbeitgeber nutzen die Arbeiterinnen und Arbeiter aus, die Pässe werden abgenommen und sie müssen „Schulden“, die Kosten der Schleusung, abarbeiten.

Leger schreibt Experten für Menschenhändler an und erfährt, dass manche geschleuste Flüchtlinge Schulden von bis zu 15.000 Euro haben. Ist Linh Chi vielleicht auch deshalb verschwunden?

Aktuell häufen sich die Zahlen der jungen Vietnamesen in Berlin und Brandenburg, die bei Razzien zwar dem Kindernotdienst übergeben werden, dort aber freiwillig wieder gehen.

Warum sie sich lieber in die Illegalität flüchten, danach fragt niemand. Und wenn jemand fragt, wie Susanne Leger, ist häufig Schweigen die Antwort.

Einige Hilfsorganisationen lehnen eine Zusammenarbeit mit ihr ab, weil sie keine Verwandte sei. Aber Linh Chi hat nach eigenen Angaben keine Verwandten in Deutschland. Die einzigen Verbündeten bei der Suche sind zunächst Linh Chis Lehrer und Betreuer.

Susanne Leger trifft sich mit den Nachhilfelehrerinnen, die ein gutes Verhältnis mit ihr hatten. Ihre Fortschritte im Deutschen waren gut und es sah so aus, dass sie bald eine Regelklasse hätte besuchen können. Sozialarbeiterin Ariane B. schlägt vor, Zettel mit einem Foto von Linh Chi aufzuhängen. Oder bringt das Linh Chi in Gefahr? Sie geht zum Dong Xuan Center in Berlin Lichtenberg, schaut in die Gesichter der Menschen. Sie trifft einen vietnamesischen Blogger, der sich gut „in der Szene“ auskennt. Er will sich umhören, aber erfährt nichts über Linh Chi. Er sagt, vielleicht ist ihr richtiger Name ein anderer?

Susanne Leger fällt auf, wie wenig sie vom Vorleben von Linh Chi weiß. Sie ruft bei einem Jugendhaus für Vietnamesen in Berlin-Tegel an. Doch die Betreuerin dort sagt nur, sie könne ihr nicht weiterhelfen. Im Februar 2018 trifft sie schließlich einen anderen Vormund, dessen Mündel ebenfalls verschwunden war. Der Vormund beruhigt sie: „Keine Sorge, sie taucht wieder auf, die will nur etwas Geld verdienen.“ Sein Mündel kam wirklich nach drei Monaten zurück, blieb allerdings in der Illegalität.

Im März 2018 bricht der vierte Monat ohne Linh Chi an. Susanne schaut sie sich bei einem Vietnam-Vereins-Treffen den Film „Obst und Gemüse“ an. Es ist ein fröhlicher bunter Kurzfilm über das Lebensmittelgeschäft von „Herr Nguyen“ in der Schönhauser Allee. Es geht um Missverständnisse, zum Beispiel dass das Vietnamesische „Cà“ (Aubergine) und „Cá“ (Fisch) gleich klingen. Der ihr bekannte Akzent der Vietnamesen im Film macht sie froh und traurig zugleich.

Nach dem Film sprechen Vertreter der „Vietnamesischen Community“ auf einem Podium. Jemand auf den Podium sagt: „Wir sind die Unsichtbaren.“ Viele nicken. Nach dem Vortrag geht Leger auf einzelne Vietnamesen zu: „Kennen Sie Linh Chi? Wo könnte sie sein?“ Einige Antworten machen sie wütend: Wie können Einzelne aus dieser Community in Deutschland so ganz nach ihren Regeln leben wollen und dabei deutsche Gesetze wie Schulpflicht oder den Jugendschutz ignorieren?

Im Mai 2018 ist es ein halbes Jahr, dass Linh Chi verschwunden ist. Inzwischen hat Susanne Leger erfahren, dass die letzte Handyortung von Linh Chis Mobiltelefon am Alexanderplatz war. „Aber das kann überall sein“, sagt ihr der Polizist. Die Funkzellenabfrage könne auf bis zu zwei Kilometer ungenau sein. Sie ruft regelmäßig bei der Polizei an.

„Ich fühlte mich wie ein Störfaktor“, sagt sie. „Die wunderten sich, dass da überhaupt jemand nachfragt.“

Der „Jahrhundertsommer 2018“ in Deutschland beginnt und erinnert sie an die Ostseereise im Jahr zuvor. Auf ihrem Schreibtisch liegen noch immer zwei Muscheln aus Rügen. Und das Freundschaftsarmband, das Linh Chi für sie geknüpft hat. Blau und Grün.

Aber da gab es auch diese Wochenenden kurz vor dem Verschwinden, an denen sie nur sagte, sie sei unterwegs. Wenn man sie fragte, blieb sie stumm. Susanne Leger dachte dann: Sie ist fast erwachsen.

Oder war es doch dieser eine Termin bei der Ausländerbehörde? „Es gab ein Treffen, das ich als traumatisch bezeichnen würde.“ Das war im Oktober 2017, sechs Wochen vor ihrem Verschwinden. Damals wurde Linh Chi direkt nach der Ankunft in der Behörde von Susanne Leger getrennt. Es waren vietnamesische Beamte, die Linh Chi anschließend verhörten. Susanne Leger wurde der Zugang zu dem Verhör verweigert.

Als Linh Chi nach drei Stunden wieder aus dem Raum kam, war sie eine andere. Sie klammerte sich an ihren Vormund. „Das hat sie sonst nie gemacht“, sagt sie, „solche körperliche Berührungen waren sehr untypisch.“ Sie holten sich dann an dem Tag noch den Stempel für die Verlängerung ihres Duldungsstatus. „Aber Linh Chi war danach verändert, noch in sich gekehrter.“

Auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Vietnam ist seit dem Jahr 2018 gestört: Kurz zuvor wurde der Öl-Manager Trinh Xuan Thanh auf offener Straße entführt, in einem Transporter zum Flughafen gefahren und nach Hanoi geflogen. Inzwischen ist er wegen Misswirtschaft zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Das Vorgehen der Vietnamesen in diesem Fall bricht sämtliche internationalen Regeln. Es gab ein Gerichtsverfahren, Gefängnisurteile für Beteiligte, aber der Fall belastet die diplomatischen Beziehungen bis heute.

Das letzte Treffen: Mathe und ein Tanz ohne Lachen

Susanne Leger denkt noch heute immer wieder an ihr letztes Treffen mit ihrem Mündel. Hätte sie etwas merken sollen? „Am Abend, als ich bei Ihr war“, sagt sie, „war sie ganz aufgeräumt.“ Sie hatte mit sehr viel Mühe begonnen, eine Zusammenfassung der „Geschichte des Mädchens Kieu“ für Susanne Leger in Deutsch zu verfassen. Das ist eine vietnamesische Volkssage, in der ein junges Mädchen in die Hände eines Bordellbesitzers gerät. Jeder Vietnamese kennt die Geschichte. „Sie hatte angefangen, die Kapitel für mich zusammenzufassen.“ Dann haben sie noch ein wenig Mathe gemacht und am Ende hat sie ihr vorgetanzt. „Aber nur, wenn du nicht lachst“, hatte Linh Chi gesagt. Susanne Leger lachte nicht.

Vor einem halben Jahr hatte sie noch einmal Hoffnung. Ihr Mann hatte Linh Chi gesehen, oder jemanden, der genauso aussieht. In der Nähe des Bayrischen Platzes in Schöneberg, eine Gegend, die Linh Chi gut kannte.

Am nächsten Tag verließ Leger ihre Arbeit etwas früher. Sie saß den ganzen Nachmittag auf einer Bank und schaute in jedes Gesicht, das asiatisch aussah. Linh Chi war nicht dabei.

Seit eineinhalb Jahren ist Susanne Leger jetzt ein Vormund ohne Mündel. Ein Lichtblick ist, dass Anfang dieses Jahres die vietnamesische Community sie ernst nahm. Sie waren plötzlich da für sie und hatten Zeit. Sie nahmen ihr Foto mit zu Treffen, erkundigten sich, auch der Pfarrer ließ seine Kontakte spielen. Doch Linh Chi bleibt verschwunden. Bis zu ihrem 18. Geburtstag in wenigen Monaten hat sie noch einen Aufenthaltsstatus. Aber wenn die letzten 18 Monate etwas gezeigt haben, dann das: Es gibt jemanden, der nicht aufhört, diese Frage zu stellen: Kennen Sie Linh Chi?

Erschienen am 23. 6. 2019 in Berliner Morgenpost.

Wie zwei Koreaner in Berlin Rassismus erleben

Berlin. Am U-Bahnhof Fehrbelliner Platz ist Hyuneun Kim ohnmächtig geworden. „Ich war wohl unter Schock“, sagt sie. „Es war wohl einfach alles zu viel.“ Sie sackte in sich zusammen, und ihr Ehemann Sejin Lee konnte ihren Fall bremsen.

Die beiden Koreaner waren zu diesem Zeitpunkt, kurz nach Mitternacht, auf dem Bahnsteig. Sie hatten die U7 verlassen, weil sie von drei jungen Männern belästigt und geschubst worden waren. Sejin Lee konnte sich noch dagegen wehren, wieder in die U-Bahn hineingezogen zu werden. Er wurde bespuckt. Dann kümmerte er sich um seine Frau. Die drei Männer rannten in Richtung des Bahnsteigs der U3 – Sejin Lee rief die Polizei.

Die U-Bahn fuhr weiter, die Polizei kam, und die beiden versuchten, den Beamten zu erklären, was gerade passiert war. Doch was die gebürtigen Koreaner dann erlebten, war nicht die erhoffte Erleichterung. Sie beschrieben den Beamten, was in der U-Bahn passiert war, wie sie in dem Waggon erst von drei Männern angesprochen wurden mit „Happy Corona“ und ob sie eine „Corona-Party“ feiern wollen. Zwei Frauen hätten die Szene beobachtet, aber nicht geholfen. Als sie dann mit ihrem Mobiltelefon die Szene filmen wollten, eskalierte die Situation schnell, es kam zu Beleidigungen und Tätlichkeiten. Sejin Lee: „Doch die Polizei sagte uns, das sei keine rassistische Beleidigung.“

Es kommt derzeit immer wieder vor, dass Asiaten in Europa und den USA im Zusammenhang mit Corona beleidigt werden. Es gibt Menschen, die Asiaten die Schuld am Ausbruch des Virus geben. Die Berliner Polizei sagt auf Anfrage der Berliner Morgenpost, dass es seit Beginn der Pandemie sieben Fälle von Beleidigung gegeben habe. Das seien zumindest die Fälle, die zur Anzeige gebracht worden seien. Der Fall der Koreaner sei einer davon. Doch die Polizei schränkt ein, dass es schwierig war, diese Fälle zuzuordnen, weil in Berlin das Aussehen eines Geschädigten normalerweise nicht registriert werde. Häufig könne man aber am Namen des Opfers feststellen, dass es sich um einen Asiaten aus China, Vietnam, Japan, Thailand oder Korea handele, aber wenn sie hier geboren sind, werde es schon schwierig.

Sejin Lee und Hyuneun Kim leben seit vier Jahren in Berlin. Sie kommen beide aus Südkorea, haben einander aber erst in Berlin kennengelernt. Die 25-Jährige studiert Gesang, ihr 31 Jahre alter Ehemann Architektur. Beide leben in Charlottenburg und hatten bisher keine schlechten Erfahrungen in Berlin. Sie werden ihr Studium auch hier fortsetzen. Doch auf die nächtlichen Spaziergänge, die in den Wochen der Pandemie für das Paar zu einem Ritual geworden waren, verzichten sie derzeit.

Seit dem Vorfall vor zwei Wochen wollen sie nicht mehr mit der U-Bahn fahren und gehen generell selten allein aus dem Haus. „Ich war nach dem Angriff beim Arzt, weil ich immer wieder Panikattacken bekomme“, sagt Hyuneun Kim. „Ich bin inzwischen schon ängstlich, wenn mich auf der Straße jemand länger anschaut.“ Hyuneun Kim wird psychologisch betreut. Die beiden haben inzwischen Anzeige erstattet und sind froh, dass sie die Aufnahmen mit ihrem Mobiltelefon gemacht haben – auch, weil in der U-Bahn ihnen niemand half.

Auf dem Video, das der Berliner Morgenpost vorliegt, sieht man, wie sich nicht nur die drei Männer lustig machen über das koreanische Ehepaar und gewaltbereit auf sie zukommen, sondern auch, wie zwei Frauen ebenfalls in der Gruppe sitzen und den drei Männern beipflichten. „Sie haben uns ausgelacht“, sagt Hyuneun Kim. „Auch dann, als ich gesagt habe, dass sie aufhören und uns lieber helfen sollen.“ Sie verstehen offenbar nicht, dass sich die Asiaten wirklich bedrängt fühlen. Der Vorfall fand in der Nacht von Freitag auf Sonnabend Ende April statt, es war 0.30 Uhr, ihrem Verhalten nach sind die Männer alkoholisiert.

Nicht immer gehen die Zwischenfälle so vergleichsweise glimpflich aus wie dieser Vorfall am Fehrbelliner Platz. Rund 165.000 Asiaten leben in Berlin, und in den jeweiligen Communities häufen sich die Berichte, dass Menschen auf der Straße oder in Geschäften beleidigt werden. Das begann schon einige Wochen vor der Coronavirus-Krise im Februar, als asiatische Restaurants als erste einen starken Umsatzeinbruch verzeichneten. Als dann sämtliche Restaurants schließen mussten, ging die Diskriminierung auf den Straßen der Stadt und in den öffentlichen Verkehrsmitteln weiter. Inzwischen trauen sich einige Asiaten nicht mehr ohne Begleitung in die Öffentlichkeit, schreiben sie in einigen Beiträgen in den sozialen Medien.

Sejin Lee und Hyuneun Kim haben auch viel Zuspruch für ihren Schritt in die Öffentlichkeit bekommen. Nachdem sie die Videos bei Facebook geteilt haben, äußerten viele ihr Mitgefühl und verurteilten rassistische Angriffe. Die Botschaft der Republik Korea hat sich ebenfalls der Sache angenommen. Selbst in Korea, einem Land mit 57 Millionen Einwohnern in Ost-Asien, schlägt der Berliner Fall hohe Wellen. Vor allem das Detail, dass ihr Anruf bei der Polizei zunächst nicht ernst genommen wurde, zeigt Wirkung. „Als die Beamtin uns aber sagte, dass nicht jeder Corona-Witz eine rassistische Beleidigung sei, dachte ich, sie versteht mich nicht richtig.“

Vergangene Woche waren die beiden Koreaner noch einmal eingeladen zu einem Gespräch bei der Polizei, wo sie erneut von dem Vorfall erzählten. Sie erschienen mit ihrem Anwalt und verbrachten sieben Stunden auf der Polizeistation. „Das war anstrengend“, sagt Sejin Lee, „aber ich hatte das Gefühl, dass die Polizei den Fall sehr ernst nimmt.“ Es gehe ihnen beiden auch sehr viel besser nach dem Gespräch.

Jetzt werden sich Juristen mit der Attacke vom Fehrbelliner Platz auseinandersetzen. Auch die beiden Frauen aus dem U-Bahnwagen haben Anzeige erstattet, wegen Beleidigung. Sie wollten sich nicht als Rassisten bezeichnen lassen. Dass sie aber gelacht und nicht geholfen haben, in einer Situation, in der sich zwei Menschen bedrängt gefühlt haben, ist auf dem Video deutlich zu sehen. Sie werden sicherlich als Zeugen noch einmal aussagen müssen.

 

Erschienen am 12.5.2020 in der Berliner Morgenpost

Spaziergang mit Margarete Koppers

Berlin. Bevor der Spaziergang mit Margarete Koppers beginnt, gibt es einen sentimentalen Moment, der sich irgendwie auch über unser Gespräch und den Spaziergang an diesem angenehmen orange-gelben Nachmittag in Berlin legt. Ich habe zur Vorbereitung mehrere Texte über Berlins Generalstaatsanwältin gelesen. Es gibt viele Porträts, Interviews und diverse Kommentare zu ihrer Ernennung. In dieser Woche sind noch einige hinzugekommen, weil sie im Fall der mutmaßlich befangenen Staatsanwälte im Auge eines Orkans steht.

Doch dieser Spaziergang fand Mitte Juli statt und einer der aktuellsten Texte in jener Zeit über sie war ein Porträt in der Berliner Morgenpost vor rund einem Jahr. Darin stehen ganz wunderbare Sätze, zum Beispiel der hier: „Chefanklägerin und gleichzeitig Beschuldigte zu sein, solche Extreme passen irgendwie zu der Person Koppers.“ Oder dieser: „Die, die ihr wohlgesonnen sind, loben ihre Offenheit, ihren kooperativen Führungsstil und ihre Entschlossenheit Dinge voranzutreiben, Gegner hingegen wissen gar nicht, wo sie anfangen sollen mit ihrer Liste an Kritikpunkten.“

Geschrieben hat das Porträt mein Kollege Hans Nibbrig, der im Februar mit 62 Jahren überraschend an einer Lungenentzündung gestorben ist. Der Zeitraum so kurz vor dieser Pandemie hat uns in der Redaktion ratlos und traurig zurückgelassen.

Margarete Koppers kann sich gut an das Interview mit ihm erinnern. Damals hatte sie ihm Kaffee angeboten, anschließend gesagt, dass sie nichts zur Schießstandaffäre sagen werde und dann nachgeschoben, dass sie auch Tee da hätte. So ähnlich läuft es auch dieses Mal: Sie möchte nicht über die Schießstandaffäre sprechen, weil dazu alles gesagt und geschrieben sei und sie mittlerweile seit über zweieineinhalb Jahren im Amt als Generalstaatsanwältin arbeite und es genug andere Themen zu besprechen gebe. Wie sehr ihr diese Startschwierigkeiten zugesetzt haben, wird später trotzdem deutlich werden.

Margarete Koppers hat den Klausener Kiez als Ort für den Spaziergang gewählt, wir treffen uns im angenehmen Schatten des wuchtigen Polizeigebäudes am Kaiserdamm. „Ich habe hier während meines Studiums 1980 im Kiez gewohnt“, sagt sie, „und eigentlich hat fast jede meiner Wohnungen im Einzugsgebiet dieser Polizeidienststelle gelegen.“ Sie sei diese Straßen hinter der Polizeidirektion 2, Abschnitt 24, schon lange nicht mehr entlang gegangen.Als wir loslaufen, einigen wir uns, die 1,5 Meter einzuhalten und keine Masken zu tragen. Wie viele andere Berliner hatte auch sie Anfang März eine schlimme Erkältung und weiß bis heute nicht, ob das schon eine Covid-19-Erkrankung war. Kein Fieber, kein Geschmacksverlust, aber „merkwürdig lang dauerte es“, sagt sie, bis das Missgefühl abgeebbt war. Sie wolle sich in jedem Fall im Herbst erstmals gegen Grippe impfen lassen.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 9.8. 2020.

Warum Berlin die Hauptstadt der Regenbogenväter ist

Neulich war meine Tochter mal wieder einen Nachmittag hier in der Wohnung. Sie liebt das Klavier, darauf klimpert sie gern, ihr gefallen die tiefen Töne besonders. Oder sie hört zu, wenn ich ein Lied aus dem „Traumzauberbaum“ vorspiele oder den neuesten Bach, an dem ich gerade sitze. Irgendwann danach haben wir gepuzzelt, ein Puzzle, das eigentlich erst „ab 5 Jahre“ war. Meine Tochter ist erst vier Jahre alt, und wir haben das trotzdem sehr gut hinbekommen. Es zeigte Anna und Elsa von der „Eiskönigin“. Das ist ihr Lieblingsfilm, den sie fast mitsprechen, auf jeden Fall aber mitsingen kann. Wir puzzelten, im Ofen waren Cupcakes, die wir noch dekorieren wollten, als sie plötzlich zu mir hoch schaut und sagt: „Papa?“ – „Ja?“ – „Ich liebe dich.“

Ein Kind zu haben, ist natürlich mehr als solche Szenen, es hat mit Windeln und Tränen zu tun, mit Gerüchen und durchwachten Nächten. Aber es soll jetzt hier in diesem Text auch nicht so sehr um meine Beziehung zu meinem Kind gehen, sondern vielmehr darum, dass Berlin, diese Stadt mit Pop-up-Radwegen und Schlager-Nackt-Partys, es letztlich möglich gemacht hat, als schwuler Mann Vater zu werden, mich mit anderen Vätern zu vernetzen und obendrein unsere Erfahrungen jetzt in einem ersten Buch zu bündeln. Vor einer Woche ist das erste „Regenbogenväterbuch“ erschienen, und dessen Geburt im Sommer 2020 war auch alles andere als leicht.

Für mich begann alles bereits vor rund 18 Jahren, als ich den ersten Regenbogenvater persönlich kennen lernte. Es war ein Niederländer, der gerade Vater eines Sohnes geworden war und wegen der Berlinale in der Stadt war. Wir lernten uns auf einer der Teddy-Partys kennen. Doch der Amsterdamer erzählte auch gleich, wie schwierig das alles war. Gleich nach der Geburt zogen die Mütter an die niederländische Küste und überließen den Vater seinen Vatergefühlen. Der Sohn ist inzwischen längst volljährig und kommt öfter bei seinem Vater vorbei. Sie konnten die Zeit nicht aufholen, aber er sagt trotzdem, dass sein Sohn das Beste sei, was ihm je passiert sei.

Damals, vor 18 Jahren, hatte ich also die erste Idee, wie dieses Abenteuer Vaterschaft funktionieren könnte, obwohl ich mich gerade erst bei meinen Eltern geoutet hatte. Kurz nach meiner Ankunft in Berlin hatte ich mich noch einmal in eine Frau verliebt, aber nach zwei Monaten stellten wir beide fest, dass wir als gute Freunde besser funktionieren. Wie zum Beweis, dass das richtig war, verliebte sie sich kurz darauf in eine Frau. Spätestens da war ich wohl wirklich in Berlin angekommen.

Doch die Stadt hilft nicht gerade dabei, den Fokus auf große Ideen des Lebens zu richten. Das schwule Studenten-Leben in der Großstadt hatte schließlich eine klar strukturierte Woche: montags in den „Stillen Don“, dienstags in den „Ackerkeller“, mittwochs in die „Marietta“ oder den „Prinzknecht“ und donnerstags ins „Möbel Olfe“. Für jeden Tag der Woche gab es einen Treffpunkt für Single-Männer, die Bier trinken wollten. Am Wochenende erholte man sich von der anstrengenden Ausgeh-Woche oder traf sich in den diversen Clubs. Das alles war mit Familiengründung nur schwer vereinbar.

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 26.07.2020

Corona-Tagebuch: Teil 1

Berlin. Ich habe in dieser Woche den Fehler gemacht, den Roman „Die Pest“ von Albert Camus zu lesen. Es ist ein alarmierendes Buch aus dem Jahr 1947 über das Versagen der Behörden angesichts der Epidemie in einer Stadt in den 1940ern. Erst sterben die Ratten, dann die Menschen. Es ist furchtbar. Die Zeitungen der Stadt versuchen, eine Panik in der Bevölkerung zu verhindern. Im ersten Teil des Buches heißt es: „Die Ratten sterben eben auf der Straße, die Menschen in den Häusern. Zeitungen befassen sich nur mit der Straße.“

Natürlich ist Camus’ Roman eine fiktive Geschichte, die mehr über die Gesellschaft kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erzählt als über das Gesundheitssystem einer Stadt. In Frankreich ist „Die Pest“ Schulliteratur, aber derzeit ist das Buch auch in Italien vergriffen. Die Parallelen zum gegenwärtig kursierenden Virus Sars-CoV-2 drängen sich auf. Es gibt kein Heilmittel, die Symptome gleichen einer Grippe. In China gab es über 3000 Tote, und auch die Übertragung verläuft ähnlich leicht. Es reicht, jemandem die Hand zu geben. Die Infektion kann innerhalb von Millisekunden stattfinden.

Seit dieser Woche gibt es Infizierte in Berlin. Oder besser: Seit dieser Woche gibt es positiv auf das Coronavirus getestete Patienten, die es in sich tragen und möglicherweise in den Tagen davor verbreitet haben, in der U-Bahn, im Bus, beim Bäcker. Was ist in dieser Woche mit Berlin passiert? Was sagen Berliner, die gerade aus China zurückgekehrt sind? Und wie bleiben wir gesund? Das Protokoll einer Woche, in der irgendwie die ganze Stadt unter erhöhter Temperatur litt.

Corona-Tagebuch: Teil 2

In dieser Woche habe ich sehr oft „Happy Birthday“ gesungen. Eigentlich fast jedes Mal, wenn ich mir die Hände gewaschen habe. Es heißt ja, dass man den Refrain – gibt es eigentlich Strophen? – zweimal beim Hände waschen singen soll. Dann sind ungefähr 20 Sekunden um, und man kann mit dem Abtrocknen (Papierhandtücher!) beginnen.

Es wurde eine sehr turbulente Woche, wahrscheinlich für sehr viele Menschen in dieser Stadt. Während in der vergangenen Woche am Montag der erste Corona-Infizierte in Berlin gemeldet worden war, ist es in dieser Woche das erste deutsche Todesopfer, das an Covid-19 starb. Die Kurve der Infizierten ist genauso exponentiell gestiegen wie unsere Lernkurve: die meiner Schwägerin, meines Arztes, meines Chefs und meine sowieso. Jeden Tag erfahren auch die Wissenschaftler mehr über das Virus. Und je mehr wir wissen, umso geringer – so zumindest ist es bei mir – wird meine Angst.

Ein Freund schrieb am Ende dieser Woche, dass er keine Lust mehr habe, irgendetwas über Corona zu lesen. Mir geht es zum Glück genau anders herum, ich möchte möglichst alles wissen, auch die Details. So finde ich es faszinierend, wenn Musikhochschulen die ersten Flügel komplett renovieren müssen, weil übereifrige Musikstudenten die Klaviertasten permanent mit Desinfektionsspray eingesprüht haben. Doch das hatte ich erst Sonnabend erfahren, bei meinem Klavierlehrer. Also der Reihe nach.

Corona-Tagebuch: Teil 3

Berlin. In dieser Woche ist mir das Lachen über Klopapierwitze vergangen. Zum einen, weil wir am Ende der Woche den ersten Toten in Berlin zu verzeichnen hatten, die Einschläge kommen wirklich näher. Zum anderen, weil ich einfach zu viele Witze gesehen habe. Natürlich verstehe ich, dass Humor diese bleierne Zeit überhaupt erst erträglich macht. Zum dritten ist mir aufgefallen, dass ich automatisch weniger lache, wenn ich den ganzen Tag allein zu Hause verbringe. Auch lachen ist eine soziale Handlung, die allein irgendwie keinen Spaß macht.

Das ist so ein Nebeneffekt vom Homeoffice, den man erst kennenlernt, wenn man ihn wirklich erlebt. Dieses ständige Alles-mit-sich-selbst-ausmachen. Hat man früher wegen einer Schreibweise schnell mal zu einem Kollegen hinübergerufen („Wie schreiben wir Homeoffice, zusammen oder gekoppelt?“), frage ich jetzt meine „Homie“-Gruppe auf Whatsapp. Zum Glück gibt es diese und die Telefonkonferenzen, die darüber hinwegtrösten und für einen Moment das Gefühl der Gemeinschaft und Gleichzeitigkeit erzeugen. Das ist wichtig, wenn man sich in einer Art kollektivem Alptraum befindet.

Montag. Die Woche beginnt damit, dass die Telefonkonferenz nicht funktioniert. Irgendwas ist mit der Leitung schief gelaufen, und alle mussten sich über E-Mail behelfen. Für einen Moment ist es kein „Wunder“ mehr, dass die Technik für über 60 Mitarbeiter so schnell ein Homeoffice ermöglicht hatte, sondern ich merke, dass es wirklich harte Arbeit ist, das alles am Laufen zu halten.

Als die Aufgaben verteilt sind, müsste ich eigentlich los, in die Restaurants Berlins und sie befragen, wie sie mit der Krise umgehen. Aber ich kann mich nicht loseisen vom Nachrichtenstrom: Trump, Johnson, Merkel, Drosten, Steingart und Anne Will. Auf allen Kanälen gibt es Corona-Nachrichten, und ich will alles lesen. Ständig passiert etwas bei Twitter, Facebook, Instagram, das ich vorher nicht wusste.

Dann sehe ich, wie eine sehr gute Freundin um Hilfe ruft. Sie sitzt in New York fest und will so schnell wie möglich nach Kanada. Trump schüttelt weiterhin überall die Hände. Die Infektionszahlen schießen in die Höhe. Sie kommt ursprünglich aus Königs Wusterhausen und hat große Teile ihrer Kindheit in einer Lungenklinik am Wannsee verbracht. Ich habe sie während des Studiums dort besucht, weil sie einen Rückfall hatte und wir zusammen einen Vortrag ausarbeiten sollten. Sie sieht sich völlig zurecht als Risikopatientin und fürchtet um ihr Leben. Ich fürchte mit.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 22. 3. 2020

Corona-Tagebuch: Teil 4

Berlin. Seit dieser Woche bin ich nicht mehr so sicher, ob ich zu Hause arbeite oder auf der Arbeit wohne. Alles, was passiert, hat irgendwie mit dem Virus zu tun. Ich merkte, dass ich gesünder lebe, mir etwas koche (Kartoffeln mit Quark, hallo!), aber mehr Müll produziere als in normalen Wochen. Ich richte mich ein in dieser neuen Welt. Die wohl wichtigste Maßnahme ist, dass ich mir Corona-freie Stunden eingerichtet habe. Stunden, in denen ich etwas komplett anderes tue, mich mit etwas beschäftige aus einer Welt vor dem Virus. Das hilft.

Denn ich habe begonnen – und bin nicht der einzige, habe ich festgestellt – von Corona zu träumen. Eine Freundin erzählte mir, dass ihre Kinder „Corona spielen“, sie sagen dann: „Du hast Corona!“ und rennen dann lachend voreinander weg. So ähnlich rennen die Gedanken nachts in meinem Kopf: Meist geht es dann um Plätze, die nicht mehr die gleichen sind, weil sie komplett menschenleer sind. Oder ich träume von Plastik, das sich zwischen mir und Dinge des täglichen Bedarfs schiebt. Wer hat denn wirklich vor Corona die Plastikhandschuhe im Supermarkt benutzt, um sich ein Brötchen zu nehmen? Oder sie haben mit Bildern zu tun, die ich in den Nachrichten gesehen hatte, die ich jetzt aber nicht wiederholen will.

Montag. Der Tag beginnt mit der Meldung von einem zweiten Berliner Todesopfer. Ich denke an Zahlen und die Kurven. Streng genommen haben sich die Zahlen damit jetzt nach drei Tagen verdoppelt. Meine Schwägerin schreibt, dass ein Kollege positiv getestet wurde, sie ist schon seit fast zwei Wochen auf Kurzarbeit, ihre Firma will 90 Prozent Kurzarbeitsgeld zahlen, solange es geht.

Gegen halb zehn benutze ich meine Yogamatte, die irgendwann jemand im Hausflur abgestellt hatte mit dem Zettel „Keine Lust mehr!“. Ich finde auf Youtube einen tätowierten Yogalehrer, der an irgendeinem Strand dieser Welt ein- und ausatmet. Während die Wellen in meinen Ohren immer lauter werden, mache ich seine Übungen nach. Nach zehn Minuten, ich stehe gerade in der „Krieger“-Position, ruft eine Freundin an.

Sie hat gerade ihre drei Kinder beschäftigt und sagt lachend, dass sie nicht versteht, wie Lehrer das aushalten. Wir erzählen uns die neuesten Corona-Witze („Kommt kein Mann in eine Bar…“) und reden über Spielplätze („Diese anderen Eltern, die mich ungefragt maßregeln“). Schließlich erzählt sie, dass sie fast kein Klopapier mehr habe. Jetzt sei es zu spät und im Laden um die Ecke alles weg. „Ich hab mir welches im Internet bestellt – 35 Euro für 60 Rollen, mit Lieferung.“

Abends treffe ich einen Freund für einen Wein. Vielleicht waren es auch drei. Wir sitzen in seiner Wohnung in drei Meter Entfernung, zwischen uns ein Laptop, auf dem die Musik von „United we Stream“ läuft, einer Sendung auf Arte, die das Discofeeling nach Hause tragen soll. Es ist ein bisschen wie einen Zweig anzuzünden, ihn dann zuhause in den Kamin zu legen und darauf zu hoffen, dass ein Buschfeuer-Gefühl entsteht. Auf dem Heimweg mit dem Fahrrad treffe ich niemanden, wirklich überhaupt niemanden. Nur ein Krankenwagen fährt still vorbei.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 29. 3. 2020.

Corona-Tagebuch: Teil 5

Berlin.  In dieser Woche habe ich gelernt, was es heißt, Angst um einen Freund zu haben. Am Wochenende hatte ich erfahren, dass ein Freund von mir wegen des Coronavirus auf der Intensivstation liegt. Ich habe seiner Frau versprochen, keine Details darüber zu schreiben. Sie ist zu Hause, ihr Test war negativ. Sie telefoniert mit Ärzten und Freunden und Kollegen und ich versuche, nicht zu oft nachzufragen. Aber natürlich ist das jeden Tag der erste Gedanke: die Schläuche, die Geräte, die Ärzte in Masken oder Schutzanzügen. Wenn man einmal diese Intensivstationen in Italien gesehen hat, kriegt man das nicht mehr aus dem Kopf.

Im Vergleich dazu ist alles, was ich erlebe, ganz klein. Denn die fünfte Woche dieser Krise ist vor allem eine Woche der Stagnation. Jemand sagte neulich: „Wir erleben gerade den Teil eines Films, der normalerweise in der Rückblende zusammengeschnitten wird.“ Genauso fühlt es sich an. Es tut sich einfach wenig. In den Wochen zuvor habe ich viele alte Freunde angerufen. Soll ich sie einfach noch einmal anrufen? Auch die Anrufe bei meinen Eltern werden weniger oder kürzer. Das ist nicht schlimm, es ist wohl der Alltag im Nicht-Alltag, die schlichte Ereignislosigkeit, die Einzug hält. Der Dienstag ist der Donnerstag ist der Montag. Na ja, fast. Die Zahlen steigen stetig, und seit dieser Woche macht auch ein kleiner Anstieg schon ein sehr schlechtes Gefühl.

Montag. Morgens lese ich eine Meldung aus Indonesien, dort ist es schon abends. Den letzten Sommer habe ich in Indonesien verbracht. 30 Inseln in vier Monaten. Es fühlt sich jetzt an wie die gute alte Zeit. Der schönste Ort war eine Insel namens Arborek, mitten im Pazifik. Sie ist 600 Meter lang und 200 Meter breit, umgeben von Korallen. Es gibt keine Autos, im Dorfzentrum steht eine kleine blau angestrichene Kirche, in der sich das gesamte Dorf am Sonntag trifft. Man darf nicht unter Palmen entlanglaufen, wegen der Kokosnüsse. Logisch.

Githa war meine Tauchlehrerin auf Arborek. Wir saßen abends manchmal am Strand, also, alles ist ja Strand auf Arborek. Sie schreibt mir, dass ihre Insel in Quarantäne sei. Die 200 Bewohner von Arborek halten sich quasi an die gleichen Regeln wie die Menschen in Berlin. Das heißt in ihrem Fall, sie bekommen nur ab und zu Nahrung und Trinkwasser per Boot geliefert. Githa hat gehört, dass es in Berlin gerade schwierig sei, dieses Drinbleiben. Sie schreibt, dass ihr Neffe für ein paar Wochen zu ihr gezogen sei. Es sei sicherer auf der kleinen Insel. Sie hat ihn mit zu den Korallen genommen. Als sie wieder im Schiff waren, sagte er: „Die Fische sehen so glücklich und frei aus.“ Githa habe weinen müssen, schreibt sie. Sie sendet liebe Grüße.

Corona-Tagebuch: Teil 6

Montag. Ich habe einen Krieg gewonnen. Mit solch martialischen Metaphern ist man ja heute schnell dabei in diesen „Zeiten der Ansteckung“ (Paolo Giordano), wenn die Polizei langsam die Straßen entlangfährt und ab und an ein Hubschrauber am Fenster vorbeiknattert, um zu sehen, ob wir auch alle zu Hause bleiben. In München, so schrieb ein Freund, benutzen die Behörden sogar Drohnen. Sie schweben plötzlich über einer Menschenmenge und fordern die Gruppe per Lautsprecher auf, „sich unverzüglich nach Hause zu begeben“.

Aber der Krieg, den ich gewonnen habe, ist leider ein anderer. Er ist mir auch etwas peinlich: Irgendwann vor zwei, drei Wochen tauchte so eine kleine Lebensmittelmotte auf. Ich konnte mir nicht vorstellen, wo die herkommt. Aber die Biester sind so langsam, dass mein kindlicher Jagdreflex angefacht wurde und ich sie schnell neutralisieren konnte. Das Hände-Waschen danach habe ich nicht vergessen. Doch es wurden natürlich mehr. Ich kaufte ohne Anstehen bei der Drogerie zwei Fallen, legte sie in die Ecken und vergaß das Problem. Dann plötzlich waren es drei am Tag, dann fünf. Die Falle war voller kleiner Motten. Ich öffnete jede Müsli-Packung… und fand Leben. Beim Gang zum Mülleimer durchfuhr mich so ein Ekel-Schauder, den ich sonst nur kenne, wenn ich eine Ratte auf der Straße sehe.

Abends telefoniere ich mit einem alten Freund, der eigentlich Filme dreht. Er sagt, er könne nicht an seinem Drehbuch weiterarbeiten. Darin ging es unter anderem um eine Frau, die eine Reise von Wien über Budapest nach Berlin macht. „Ich muss warten, wie sich das entwickelt“, sagt er. „Das ist doch sonst ein Film aus einer Zeit, die mit unserem Leben nichts mehr zu tun hat.“ Ich halte dagegen, dass wir doch weiterhin nach Wien und Budapest reisen werden können. Wenn das alles vorbei ist.

Infizierte in Berlin: 3862. Tote: 28.

Dienstag. Als ich mir morgens ein Frühstücksei mit Tomaten brate, schneide ich mir dabei tief in den Daumen. Ich schreie laut auf und fluche laut. Ich hatte aufgehört, mir Gedanken zu machen, ob das die Nachbarn hören. Das geht offenbar auch anderen so. Über mir springt jemand mit einem Springseil zu schlechtem Dancehall-Techno. Meine Lampe wackelt.

Mittags muss ich für ein Interview nach Kreuzberg. Das heißt: Ich will. Es ist schließlich eine der wenigen Gelegenheiten, mal rauszukommen. Wir laufen vom Kotti zur Admiralsbrücke, und ich wollte schon vorschlagen, dass wir uns dort an die Seite setzen, aber mein Interviewpartner lehnt ab: „Wenn wir damit anfangen, kommen andere und tun das auch.“ Also setzen wir uns einfach an eine Hauswand.

Von dort bekommen wir mit, wie ein Polizeiwagen über die Brücke fährt und tatsächlich per Megafon die Menschen auffordert, die Brücke zu verlassen. Ein Kreuzberger in Muskel-T-Shirt baut sich vor dem Wagen auf und schreit die Beamten an. Ich verstehe nur „freies Land“. Und dann passiert etwas, womit ich nicht gerechnet habe. Alle Beteiligten verlassen die Brücke, ein Polizist steigt aus dem Auto und unterhält sich mit dem Mann. Niemand schreit, niemand gestikuliert wild. Es wird geredet, argumentiert. Am Ende bleibt die Brücke leer. Zumindest für zehn Minuten.

Abends treffe ich einen Freund zu einem Spaziergang über die menschenleere Museumsinsel. Wir laufen mit Späti-Bier bei Angela Merkels Wohnung vorbei, im dritten Stock brennt Licht. Wir reden über die drei Phasen des Quarantäne-Kollers, die wir abwechselnd durchlaufen (Angst, Aktionismus, Langeweile) – und wir sammeln Bücher ein. In Mitte stehen vor vielen Hauseingängen Kisten mit ausrangierten Büchern. Ich nehme „Liebediener“ mit, ein Büchlein von 2001, geschrieben von Julia Franck, die Jahre später den Deutschen Buchpreis gewann. „Ein lustvoller Roman um Liebe, Tod und Leidenschaft in unserer Zeit.“ Auf Seite 112 ist ein Blatt eines Baumes gepresst.

Infizierte in Berlin: 4038. Tote: 32.

Mittwoch. Morgens stehe ich wie fast jeden Tag auf dem Balkon und lese dort meine Zeitung. Normalerweise sitzen in der Straße immer noch andere auf dem Balkon. Oder es joggt jemand vorbei. An diesem Tag sehe ich gar niemanden, zehn Minuten lang. Wo sind die nur alle?

Meine Eltern rufen an und sagen, dass sie ein Paket für Ostern geschickt haben. Wir reden auch über das neue Video, das die spontane Kreativ-Agentur der Kinder meines Bruders gedreht hat. Sie spielen das Märchen „Dornrüdchen“, in der Hauptrolle mein „Prinz Rudi“, der nicht einschlafen kann. Ein zweijähriger Ritter kommt dann vorbei und bringt alles durcheinander. Wahnsinnig niedlich.

Abends telefoniere ich mit einem Freund, der normalerweise stundenlang Bücher und Filme empfiehlt. Seinetwegen lese ich gerade die Kurzgeschichten der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro. Seit einiger Zeit antwortet er auf die Frage, wie es ihm geht, mit: „Ach, geht so, meine Aktien sind gefallen.“ Er hat wegen der Krise angefangen, sich mit der Börse zu beschäftigen. Eigentlich eine gute Idee, aber unsere Telefonate sind seitdem kürzer geworden.

Vor dem Einschlafen sehe ich, dass ein Leser mir geschrieben hat. Er habe einen Fehler entdeckt in der letzten Ausgabe meines Tagebuchs. Da schrieb ich, dass die Zahlen weiterhin steigen würden. Sie würden ja sinken! Ich schreibe zurück, dass es wohl ein Missverständnis sei, zwar sinke die Anstiegsrate, aber die Zahlen steigen trotzdem. Jeden Tag sterben Menschen.

Infizierte in Berlin: 4212. Tote: 37.

Donnerstag. Das Paket meiner Eltern ist noch immer nicht angekommen. Dafür haben sie die Nachricht erhalten, dass es „beim Nachbarn“ abgegeben wurde. In meinem Briefkasten ist kein Zettel, welcher Nachbar denn gemeint sei, also gehe ich einmal komplett durch das Vorderhaus. „Entschuldigung, haben Sie ein Paket für mich?“ Ich bin erstaunt, wie viele Hausbewohner tagsüber nicht zu Hause sind. Hinter einer Tür höre ich deutlich Stimmen. Aber trotz dreimaligem Klingeln macht niemand auf.

Ich will mir erst merken, welche Türen ich später noch einmal probieren muss, und mache ein Foto vom Klingelschild. Aber dann überlege ich, das sei dann doch etwas „Corona-Polizei“-mäßig. Hinter der letztmöglichen Tür, Hinterhaus links, fünfter Stock, liegt mein grünes Osterpaket. Den Nachbarn hatte ich noch nie gesehen. Drin sind Tee und M&Ms, die ja streng genommen wie bunte Eier aussehen. Aber vor allem: Nicht diese komischen „Osternester“ aus buntem Zucker, die eigentlich niemand mag.

Am Nachmittag nehme ich zum ersten Mal an einer Fernseh-Show als Digital-Publikum teil. Die neue ZDFneo-Sendung „Homies“, bei der über Internet zwei Comedians miteinander streiten. Ich bin einer von 83 Menschen, die live per „Zoom“ zugeschaltet sind. Wir sind alle auf „lautlos“ gestellt, leider können wir nicht miteinander chatten. Winken ist das neue Klatschen.

Die Show ist sehr zeitgemäß, sie kommentieren Corona-Nachrichten aus aller Welt und zwischendurch beleidigen sie einander als „Kinderverprügler“ oder „GEZ-Hure“. Weil in Sachsen Quarantäne-Brechern sogar eine Gefängnisstrafe droht, sagt einer: „Wie egal ist Gefängnisstrafe eigentlich, wir tauschen einen Raum, den wir nicht verlassen dürfen, mit einem anderen.“ Die schlaue Samira El Ouassil spricht über Bolsonaro, und ein zugekokster Banker springt aus dem Fenster. Als einer der Moderatoren einer Seenotretterin vorwirft, doch sicher früher „Ausländerheime angezündet“ zu haben, sagen sie: „Das schneiden wir raus, ja, das war zu krass.“ Sie werden viel schneiden müssen, die Aufzeichnung dauert eine Stunde, die fertige Show am Dienstag gerade die Hälfte.

Infizierte in Berlin: 4357. Tote: 42.

Freitag. Mich erreicht morgens eine E-Mail der Firma, bei der ich drei Gesichtsmasken bestellt hatte. Sie duzen mich: „Du fragst Dich sicherlich: Wo ist mein Paket?“ In der Tat ist der angekündigte Liefertermin schon seit mehr als einer Woche abgelaufen. Aber sie schreiben etwas von „minimierten Infektionsherden“ und „Extra-Schichten“. Wenn alles gut gehe, habe ich meine Masken am Dienstag kommender Woche. Ich denke: Wenn nicht, frage ich mal im Hinterhaus, fünfter Stock.

Gegen Mittag skype ich wieder mit Christian Y. Schmidt. Zunächst zeigt er mir die FFP-2-Masken, die er noch übrig hat. Einige sind aus Polen, andere aus China. „Der Unterschied liegt eigentlich nur in der Bezeichnung“, sagt er, „aber nur die aus Polen sind auch in Deutschland zugelassen.“

Dann reden wir über die Diskussion der vergangenen Tage, die Maßnahmen zurückzufahren. „Interessant finde ich, dass es nicht nur konservative Kommentatoren sind, die eine Rücknahme der Maßnahmen fordern“, sagt Schmidt. Auch die eher linke Juli Zeh werfe den Politikern Rückgratlosigkeit und Kopflosigkeit vor. Damit habe er nicht gerechnet, denn eigentlich sei es doch ein Ziel gerade der Linken, die Schwachen, Kranken und Alten zu schützen. „Und schließlich sind es die ergriffenen Maßnahmen, die dazu geführt haben, dass Deutschland in dieser Krise noch ziemlich gut dasteht.“

Er selbst habe die Maßnahmen in China miterlebt, und die waren um einiges schärfer. „In Wuhan durften die Menschen elf Wochen überhaupt nicht auf die Straße gehen“, sagt er, „und in Peking wurde bereits alles geschlossen, als es noch weniger als hundert Infizierte gab.“ Schmidt halte eine frühzeitige Rücknahme der Maßnahmen für ein gefährliches Spiel, das außerdem nur darauf gründet, dass unsere Zahlen im Vergleich zu anderen europäischen Staaten so gering sind. „Aber auch in Deutschland starben an einem Tag in dieser Woche über hundert Menschen mehr als in Südkorea insgesamt während der ganzen Krise.“ Dabei habe es dort viel früher angefangen. Doch auch ihm sei aufgefallen, dass die Dauer der Maßnahmen einen Effekt auf ihn habe. Er sei etwas nachlässig geworden. „Ich wasche mir jedenfalls nicht mehr so oft die Hände wie vor drei Wochen“, sagt er, „und ich war neulich in einer Buchhandlung ohne Mundschutz.“

Am Nachmittag laufe ich durch den Mauerpark, überall sitzen Menschen, aber im Abstand, nur weiter hinten grillt eine Familie. Das heißt die Frauen grillen, die Männer sitzen im Abstand und rauchen. Als im Hintergrund ein Polizeiauto zu sehen ist, stehen die Männer auf und gehen weg. Die Polizisten kommen zu sechst zu den Frauen und reden. Es wird wild gestikuliert, und eine der Frauen zeigt auf ihr Mobiltelefon, wo sie offenbar die Grillerlaubnis gefunden haben. Als ich auf dem Rückweg bin, sind sie nicht mehr da.

Abends schaue ich mit zwei Freunden „RuPauls Drag Race“, eine Show auf Netflix, bei der Männer in Frauenkleidern gegeneinander antreten. Vor der Krise haben wir uns regelmäßig dafür getroffen und das Geschehen kommentiert. Jetzt ist der Dritte live per Skype zugeschaltet. Wir zählen „drei, zwei, eins“ und drücken gleichzeitig die Play-Taste. Für Kenner: Wir schauten die Staffel, bei der Cher sich wundert, warum sie überhaupt eingeladen wurde. „Dafür hab’ ich keinen Oscar gewonnen!“ Zitat des Abends: „Emotionen sind etwas für hässliche Leute.“

Infizierte in Berlin: 4446. Tote: 46.

Sonnabend. Endlich bekomme ich positive Nachrichten über den Freund, der noch immer auf der Intensivstation liegt. Es heißt, die Entzündung der Lunge sei zurückgegangen. Er kämpft weiter gegen das Virus und ist noch nicht bei Bewusstsein. Seit neun Tagen weiß ich jetzt, dass es ernst ist. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht an ihn gedacht habe.

Gegen Mittag sehe ich noch einmal eine kleine Motte. Ich öffne das Fenster. Sie fliegt Richtung Vogelgezwitscher.

Infizierte in Berlin: 4553, Tote: 50.

Erschienen am 12. 4. 2020 in der Berliner Morgenpost.