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Philippinen: Der Präsident lässt töten

Manila.  Die kleine Hütte, in der sich die Familie Lopez versammelt hat, ist aus Stein, das Dach ist undicht, gerade mal zwei Räume gibt es. Es ist feucht, riecht muffig, Insekten krabbeln auf dem Boden oder fliegen umher. Über der Tür hängt ein Bild von Justin, er wurde nur 24 Jahre alt. Wenn Luisito Lopez vom 18. Mai 2017 und dem Tod seines Sohnes erzählen soll, dann wird er oft unterbrochen, von Gloria, Justins Großmutter, oder von seinem Bruder Nestor, Justins Onkel.

Es passierte spät am Nachmittag jenes Donnerstages im Stadtteil Tondo der philippinischen Hauptstadt Manila, im Slumviertel Morong Street. Luisito: „Jemand schrieb meinem Sohn eine SMS, er solle zum Bahndamm gehen.“ Der Junge lief mit einer Gruppe von Freunden los, zu den 200 Meter entfernten Gleisen. Als er dort ankam, waren die Jungen plötzlich von Polizisten umringt, in Zivil und Uniform.

Nestor: „Seine Freunde rannten weg, die Polizisten bekamen nur Justin zu fassen und stießen ihn zwischen die Schienen.“ Dort bekam der 24-Jährige einen epileptischen Anfall. Luisito: „Er hatte oft epileptische Anfälle, die Polizisten aber dachten, er machte sich lustig.“ Nestor: „Dann habe ich acht Pistolenschüsse gehört.“ Großmutter Gloria: „Als ich zu den Gleisen kam, sah ich meinen Enkel mit ausgestreckten Armen zwischen den Schienen liegen.“

Das, was Justin passiert ist, passiert seit zwei Jahren sehr häufig in den Slums von Manila. Die Polizei nennt ihr Vorgehen „Tokhang“ — „Tok“ steht für „klopfen“ an der Tür und „Hang“ für „festnehmen“. Menschenrechtsorganisationen haben einen anderen Begriff für die Aktion: „Extra Judicial Killings“ (EJK), Töten ohne Prozess.

Ein Sohn sucht seine Mutter

Berlin. Als Fabian acht Jahre alt ist, rennt er durch den Garten seines Großvaters. Eigentlich ist er kein wildes Kind, aber es ist der 70. Geburtstag seines Großvaters, die ganze Familie ist gekommen, er ist aufgeregt. Plötzlich rennt er gegen eine Metallstange und verliert beide Schneidezähne. Er muss ins Krankenhaus. In der Notaufnahme hört er die Fragen der Krankenschwestern nach „Krankheiten in der Familie“. Er hört auch, wie seine Eltern diese Frage nicht beantworten können.

Dabei gibt es eigentlich wenig Geheimnisse in seiner Familie. Fabians Eltern haben ihm immer ganz offen gesagt, dass sie ihn adoptiert haben. Er hat zwei weitere Adoptivgeschwister, eine Schwester mit Down-Syndrom, einen Bruder, mit dem er sich als Kind oft prügelte, aber den er immer noch gern anruft. Sie waren eine glückliche Familie, sagt er heute.

Seine Eltern waren beide Lehrer, am Sonntag gingen sie mit den Kindern in die Kirche. Fabian wurde Messdiener, lernte Gitarre und Schlagzeug, die Mutter fuhr ihn zum Judo-Kurs und am Wochenende zu den Wettkämpfen. Fabian fährt gern dorthin, was er Zuhause nennt. Erst vor drei Wochen, zu Weihnachten, war er da, auch der Großvater kam, er ist jetzt 97 Jahre alt.

Aber da war immer etwas, über das nicht gesprochen wurde. So als ob es da ein anderes Leben gab, jenseits von seinem in Münster. Er beschreibt es nicht als brennendes Gefühl, das ihm den Schlaf raubte, eher wie einen abenteuerlichen Gedanken, der ihm immer kam, wenn er im Auto saß und die Landschaft vorbeirauschte. Er stellte sich dann Fragen: Warum wollte ihn seine Mutter nicht behalten? Er ist doch eigentlich ganz okay, so wie er ist, oder?

Spaziergang mit Lisa Maria Potthoff

An einem Montagvormittag spazierte ich mit Lisa Maria Potthoff ungefähr eine Stunde lang vom S-Bahnhof Wilhelmsruh am Mauerweg entlang bis zum echten Stück Berliner Mauer, eine nicht hübsche, aber historisch interessante Vogel-Statue am Rand des Märkischen Viertels. Wir haben dabei über ihre Familie gesprochen, über den Mauerfall, den Streit zwischen München und Berlin und schließlich über einen tödlichen Unfall, der hier in der Gegend im Oktober passiert ist. Natürlich ging es auch immer wieder um Potthoffs Schauspielkarriere und ihre Rollen. Aber am wichtigsten ist: Dieser Spaziergang hat genau so stattgefunden, wie er auf der Karte rechts aufgezeichnet ist.

Das muss hier deswegen so einmal gesagt werden, weil Reportagen, Porträts und Mischformen wie dieser Text gerade unter dem Verdacht stehen, dass Dinge irgendwie „hingebogen werden“. Vor rund einem Monat wurde der „Spiegel“-Reporter Claas Relotius als Fälscher enttarnt, er hatte sich ganze Personen erfunden, Geschichten und Interviews ausgedacht. Seit diesem Tag der Enttarnung fühlt man als Reporter immer wieder den Zweifel der Leser im Nacken, auch beim Schreiben übrigens. Das fühlt sich wie kalter Hauch an, der vom Nacken die Wirbelsäule entlangwandert und schließlich im Magen für großen Aufruhr sorgt. Ein schlimmes Gefühl.

Lisa Maria Potthoff und ich haben uns gerade erst die Hand geschüttelt und einander das Du angeboten – wir sind beide Jahrgang 1978 –, als sie genau dieses unangenehme Gefühl auslöst: „Ach, wir gehen wirklich spazieren“, sagt sie. Es ist nicht ganz klar, ob ein Fragezeichen am Ende ihrer Frage zu hören ist. Sie trägt einen eleganten dunklen Mantel und dazu noch eine Art Decke um die Schultern. „Ich hatte mich dafür auch vorbereitet, war mir aber nicht ganz sicher, ob wir nicht auch einfach in ein Café gehen.“ Doch, doch, kläre ich sie auf, wir werden wirklich ein Stück durch die Kälte laufen und uns dabei von der Umgebung inspirieren lassen.

Wie alle „Spaziergänger“ dieser Serie kann sie den Treffpunkt bestimmen. Als Lisa Maria Potthoff zum ersten Mal Wilhelmsruh erwähnte, wunderten wir uns, der Fotograf und ich. Die meisten Spaziergänger wählen eine Gegend rund um die Museumsinsel, auch weil der Leser da alles wiedererkennt – und irgendwo taucht immer der Fernsehturm auf oder das vertraute Blau einer U-Bahnhaltestelle. Hier draußen aber sind wir alle drei zum ersten Mal. „Ich habe den Ort gewählt, weil er an der ehemaligen Grenze entlangführt“, sagt Lisa Maria Potthoff. „Meine Familiengeschichte ist von dieser Grenze, die man kaum noch sieht heute, sehr geprägt.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 27.1.2019

Sheela Birnstiel, Porträt

Basel.  Sheela Birnstiel ist schwer zu durchschauen. Das liegt nicht an der Sonnenbrille, die nimmt sie ab, wenn man sie bittet. Es liegt eher daran, dass es so viele Geschichten über diese rätselhafte Frau gibt, die heute Leiterin eines Heimes für geistig Behinderte in der Schweiz ist. Vor 35 Jahren war sie die Sekretärin eines indischen „Sex-Gurus“, wie der Sektenführer Bhagwan Shree Rajneesh gern genannt wurde.

„Sekretärin?“, fragt sie. „Bitte nennen Sie mich Bhagwans Geliebte.“ Aber sie habe nie ein sexuelles Verhältnis mit ihm gehabt. Sie war ihm in den turbulenten Jahren nah, sah ihn täglich, folgte ihm geistig, liebte ihn. Man kann also sagen: Es war kompliziert.

Dieser Bhagwan ist auch der Mann, für den die gebürtige Inderin beinahe zur Mörderin geworden wäre. Sie war überzeugt davon, dass sein Leibarzt ihn vergiften wollte. Und so planten einige Frauen aus ihrem Umfeld den Tod des Arztes. Der Giftanschlag schlug fehl, der Arzt überlebte, Sheela ging ins Gefängnis.

Bhagwan-Bewegung ist Gegenstand einer neuen Netflix-Serie

Der Mann, den sie beschützen wollte, ihre „große Liebe“, dieser Bhagwan nannte sie öffentlich eine „undankbare Hure“. Diese turbulenten Jahre zwischen 1980 und 1985 sind gerade wieder Thema, weil der Streamingdienst Netflix eine sechsteilige Dokumentation ins Programm genommen hat. In „Wild Wild Country“ werden viele Anhänger des Gurus interviewt. Sie waren leicht erkennbar, denn sie trugen alle rote oder orangefarbene Kleidung.

Doch die mit Abstand spannendste Figur bleibt die junge Sheela. Sie lebte es, das tabulose Leben in einer Gemeinschaft, in der Sex nichts Verstecktes, nichts Peinliches war, sondern etwas, das gefeiert wurde – nicht nur zu zweit. Sie trat in Talkshows auf, sie provozierte mit Schimpfwörtern und mit ihrer offen zur Schau gestellten freien Liebe. „Wir sind genau wie ihr“, sagte sie zum US-Publikum, „wir haben nur besseren Sex.“

Gloria Gaynor, Porträt

Essen.  Ob es um ihre Familie oder ihre besten Freunde geht – die Sängerin Gloria Gaynor schafft es, im Gespräch immer wieder auf Gott zu kommen. Sie schwärmt geradezu von der Bibel. Sie sagt, dass nur die Beschäftigung mit Gott sie vor dem Absturz bewahrte, den so viele andere Stars durchmachen mussten. Und wenn die heute 69-Jährige ihr Lebensmotto erzählen soll, dann kommt auch Gott darin vor.

„Ich sage immer“, so Gloria Gaynor, „Gott hat mich für bestimmte Aufgaben auf die Welt gesandt. Und ich hänge inzwischen so hinterher mit meinen Aufgaben, dass ich wohl einfach niemals sterben kann.“

Gloria Gaynor bekommt gerade wieder Übung darin, in kurzen Pointen von ihrem Leben zu erzählen. Nach 17 Jahren Pause erscheint im Januar 2019 ihr neues Album „Testimony“(„Bezeugung“) und im November kommt sie auf ihrer Tour auch für drei Konzerte nach Deutschland: nach Siegburg (15.11.), Hannover (16.11.) und Berlin (17.11.). Dann wird sie nicht umhin kommen, ihre berühmtesten Hits zu singen: „I Am What I Am“, „Never Can Say Goodbye“ – und vor allem „I Will Survive“.

Dieser Song, den Gloria Gaynor vor genau 40 Jahren (im Oktober 1978) erstmals gesungen hat, blieb im Grunde bis heute ihr größter Beitrag zur Disco-Ära – und zur Emanzipation der Frau. Das Lied, das von der selbstbewussten Trennung einer Frau von ihrem Ehemann erzählt („Ich habe noch all meine Liebe zu geben“), verkaufte 14 Millionen Singles, brachte Gloria Gaynor den Grammy ein und wurde obendrein – neben Aretha Franklins legendärem Song „Respect“ – zur ultimativen Hymne für die Frauenbewegung.

Sachsen, das schwierige Bundesland

Dresden/Berlin.  Annalena Schmidt wurde kürzlich damit gedroht, dass man ihr Säure ins Gesicht schütten werde. Die Täter schrieben, sie „wollen sich nicht die Hände schmutzig machen mit ihr“. Gehasst wird Annalena Schmidt so sehr, weil sie auf auf ihrer Internetseite rechtsextreme Übergriffe in Bautzen und Umgebung dokumentiert und notiert. Das brachte ihr in der neuesten Ausgabe der „Blauen Post Bautzen“, der lokalen AfD-Zeitung, den Spitznamen „Willkommensdomina“ ein. Hinzu kamen diverse Anfeindungen und zuletzt die Säure-Drohung.

Derlei Geschichten haben es früher noch bundesweit in die Schlagzeilen geschafft, aber inzwischen gilt Sachsen als Hochburg für derartige Drohungen oder gewalttätige Übergriffe, und es gibt weniger Berichte. Städte wie Bautzen, Freital, Heidenau, Clausnitz – sie alle haben inzwischen eine zweifelhafte Berühmtheit in ganz Deutschland. Es gab schon Boulevardzeitungen, die auf dem Titel die Deutschlandkarte druckten und den kleinen südöstlichen Freistaat als „Schandfleck“ braun ausmalten.

Auch die Landeshauptstadt Dresden kam in den vergangenen Jahren kaum aus den Schlagzeilen heraus, wenn es um fremdenfeindliche Übergriffe ging. Vor zwei Jahren wurden Brandanschläge auf Moscheen verübt, erst im Januar hetzte eine Gruppe einen Hund auf eine Asylbewerberin und vor wenigen Wochen riefen die Teilnehmer der Pegida-Demonstration im Hinblick auf die Bootsflüchtlinge: „Absaufen! Absaufen!“ – nachzusehen auf Youtube.

Tatsächlich – das zeigt auch die vom Freistaat durchgeführte Umfrage „Sachsen Monitor 2017“ – gibt es Unterschiede zum Rest Deutschlands. So stimmten 56 Prozent der Sachsen der Aussage zu, dass die Bundesrepublik „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ sei. Im Bundesdurchschnitt ist es nur ein Drittel. Rund 68 Prozent der Befragten meinen, dass Deutschland in diesen Zeiten „eine starke Hand“ brauche. Deutschlandweit sagen das nur 22 Prozent der Einwohner. Kein Wunder, dass die AfD in Sachsen bei der letzten Bundestagswahl stärkste Kraft wurde, mit 27 Prozent einen halben Prozentpunkt vor der CDU.

Mehrere wissenschaftliche Studien haben versucht, die Ursachen zu ergründen. Von einem Abgehängtsein lässt sich angesichts der florierenden sächsischen Wirtschaft kaum sprechen. Allerdings gibt es schon eine Enttäuschung bei vielen Ostdeutschen insgesamt, dass ihre Lebensleistungen während der Zeit der deutschen Teilung im Nachhinein weder anerkannt noch gewertschätzt wurden. Aus dieser Entwertung entsprang ein Trotz, der sich auch als Stolz äußern kann. Darauf weist unter anderem eine Göttinger Studie von Professor Franz Walter aus dem Jahr 2017 hin.

Rechte Portale suchen Schutz in Sachsen

Doch gerade diese Studie ist noch aus einem weiteren Aspekt interessant. Sie hat sich als Beispiel den Fall der „Gruppe Freital“ herangezogen und diesen genauer betrachtet. Die Stadt ist ähnlich wie Bautzen und Dresden zu einem Brennpunkt für fremdenfeindliche Gewalt geworden. So war Freital schon einmal 1991 in den Schlagzeilen, weil es gewalttätige Angriffe auf ein Flüchtlingsheim gab.

Aus dem kollektiven Gedächtnis der Freitaler aber ist dieses Ereignis gelöscht. Auch der Bürgermeister verweigere sich – so die Autoren der Studie – einer Diskussion über strukturelle Fremdenfeindlichkeit. Erst in diesem Jahr wurde die „Gruppe Freital“ zu langen Haftstrafen verurteilt. Sie hatte mehrere Sprengstoff-Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im Jahr 2015 verübt. Doch es ist, als ob es diesen Prozess nicht gegeben hätte. Man weigere sich einfach, etwas Schlechtes über die eigene Heimat zu sagen.

Wenig überrascht da diese Meldung, die es kaum in überregionale Medien schaffte: Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass das rechte Internetportal „JouWatch“ seinen Sitz von Thüringen ins sächsische Meißen verlegt. Offenbar wollte das Portal dem Finanzamt Jena entgehen, das dessen Gemeinnützigkeit prüfen wollte. Wird die aberkannt, hätte das negative finanzielle Folgen. In Sachsen erhofft sich „JouWatch“ ein besseres Klima. Dort ist im kommenden Jahr Landtagswahl. Umfragen sehen die AfD bei 24 Prozent.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 23.8.2018.

Wo ist Lina Chi?

Am 5. Dezember schreibt Susanne Leger eine Nachricht an Linh Chi: „Hallo, ich habe gehört, Du bist krank. War das Essen in der Schule schlecht?“ Linh Chi: „Nein. Ich kein Problem. Danke.“ Frau Leger schreibt: „Ok, dann gute Nacht und viel Spaß in der Schule morgen.“

Susanne Leger ist Linh Chis Vormund und das Mädchen ihr Mündel. So etwas gibt es immer häufiger in Deutschland. Linh Chi kam als unbegleitet geflüchtete Minderjährige Mitte 2016 aus Vietnam nach Deutschland. Schleuser brachten sie aus Moskau mit dem Auto nach Berlin, sie kamen aus Polen. Mehr erzählt sie nicht. Ihre Eltern seien tot. Ihren Pass, sagt sie, habe sie verloren. Linh Chi zeigte ein Foto von einer Bretterhütte in Vietnam. „Mein Zuhause“, sagte sie.

Die 57-Jährige Susanne Leger arbeitet in einem Bundesministerium, sie ist verheiratet, hat keine Kinder. Aber mehr will sie gar nicht von sich erzählen, es geht nicht um sie. Deshalb ist Susanne Leger auch nicht ihr richtiger Name. Als sie klein war, hatte sie selbst einen Vormund, mit dem sie sich gut verstand. Nach der Flüchtlingskrise wollte sie sich engagieren, meldete sich beim Verein für Vormünder. Sie wollte das auch für jemanden sein: Ein Anker in der Welt. Im Herbst 2016 lernt sie Linh Chi kennen.

„Sie war schüchtern, sehr zurückhaltend und hat kaum gesprochen“, erinnert sie sich. Leger erzählt von einem Ausflug zu einer Schmetterlingsfarm auf Rügen, da habe Linh Chi geweint, weil sie das an Vietnam erinnert habe. Oder von dem Mandala, das Linh Chi für ihre Sozialarbeiterin Ariane B. ausgemalt hat. „Wie konzentriert sie war“, sagt Ariane B. Das bunte Mandala hat sie über ihren Schreibtisch gehängt.

Am 6. Dezember 2017 schrieb Susanne Leger um 9.53 Uhr: „Liebe Linh Chi, Ariane sucht dich den ganzen Tag. Wo bist Du? Du warst heute wieder nicht in der Schule.“ Um 12.54 Uhr: „Bitte melde Dich.“

Hinter den Meldungen ist nur ein graues Häkchen. Die Nachrichten sind versendet, aber sie haben sie nie erreicht. Linh Chis Telefon ist abgestellt. In ihrem Zimmer fehlen ein paar Dinge, das „Allernötigste“, wie man sagt.

Laut Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) leben derzeit rund 23.000 von Geflüchteten unter 18 Jahre in Deutschland. Diese bekommen in den meisten Fällen einen gesetzlichen Vormund. Die haben häufig bis zu 50 Mündel auf einmal zu betreuen. Ehrenamtliche Vormünder können diese Lücke schließen.

„Ich besuchte sie rund einmal in der Woche. Am Wochenende machten wir Ausflüge“, sagt Leger. Sie redeten über den Alltag, machten Hausaufgaben. „Erst war sie unsicher, aber mit der Zeit öffnete sie sich, erzählte von der Schule, ihrer Willkommensklasse.“ In der Dreier-WG kam Linh Chi gut zurecht.

Aber: Warum geht sie dann einfach weg? Warum ist sie verschwunden? Susanne Leger lässt diese Frage keine Ruhe. „Ich habe einfach Angst, zur Polizei gerufen zu werden, und ihre Leiche zu identifizieren.“

Linh Chis Geschichte ist ein Kriminalfall, der mitten in Deutschland immer wieder passiert. Fast 5200 unbegleitet geflüchtete Jugendliche und fast 2000 geflüchtete Kinder werden derzeit in Deutschland vermisst. Seit 2012 wurden in Berlin allein 472 minderjährige Vietnamesen als vermisst gemeldet, das meldet der „Tagesspiegel“ unter Berufung auf die Berliner Polizei. In Brandenburg gelten derzeit laut RBB-Recherchen noch 32 minderjährige Vietnamesen als vermisst.

Doch wirklich „vermisst“ werden diese Mädchen und Jungen meist von niemandem, keiner stellt Fragen. Und wenn doch, dann werden sie häufig schnell abgewimmelt.

So ergeht es auch Susanne Leger. Ein vietnamesischer Pfarrer sagt: „Sie wird von der vietnamesischen Community aufgenommen. Keine Sorge.“ Ein vietnamesische Sozialarbeiterin sagt: „Das höre ich oft, es tut mir leid für Sie, aber normalerweise kümmert sich die Community sehr gut.“

Ein deutscher Polizist sagt: „Die vielen asiatischen Namen auf meiner Liste sind wie Augenpulver. Aber ich kann nur sagen: Bei Vietnamesen kommt es durchaus vor, dass sie einfach mal weg sind.“

Doch zwischen die vielen Beruhigungen mischen sich auch andere Töne. Ein Vietnamese zischt Susanne Leger per Du an: „Halt Dich da besser raus, wir regeln das unter uns.“ Ein anderer Bekannter, der „sich mit Vietnamesen auskennt“, erzählt von illegalen Bordellen nur für Asiatinnen oder dunkle Keller, in denen sie nähen müssen, in Frankreich, Belgien, Großbritannien oder den Niederlanden.

Als Drehkreuz für den Menschenhandel, so erfährt der RBB, dient offenbar Warschau. Die Arbeitgeber nutzen die Arbeiterinnen und Arbeiter aus, die Pässe werden abgenommen und sie müssen „Schulden“, die Kosten der Schleusung, abarbeiten.

Leger schreibt Experten für Menschenhändler an und erfährt, dass manche geschleuste Flüchtlinge Schulden von bis zu 15.000 Euro haben. Ist Linh Chi vielleicht auch deshalb verschwunden?

Aktuell häufen sich die Zahlen der jungen Vietnamesen in Berlin und Brandenburg, die bei Razzien zwar dem Kindernotdienst übergeben werden, dort aber freiwillig wieder gehen.

Warum sie sich lieber in die Illegalität flüchten, danach fragt niemand. Und wenn jemand fragt, wie Susanne Leger, ist häufig Schweigen die Antwort.

Einige Hilfsorganisationen lehnen eine Zusammenarbeit mit ihr ab, weil sie keine Verwandte sei. Aber Linh Chi hat nach eigenen Angaben keine Verwandten in Deutschland. Die einzigen Verbündeten bei der Suche sind zunächst Linh Chis Lehrer und Betreuer.

Susanne Leger trifft sich mit den Nachhilfelehrerinnen, die ein gutes Verhältnis mit ihr hatten. Ihre Fortschritte im Deutschen waren gut und es sah so aus, dass sie bald eine Regelklasse hätte besuchen können. Sozialarbeiterin Ariane B. schlägt vor, Zettel mit einem Foto von Linh Chi aufzuhängen. Oder bringt das Linh Chi in Gefahr? Sie geht zum Dong Xuan Center in Berlin Lichtenberg, schaut in die Gesichter der Menschen. Sie trifft einen vietnamesischen Blogger, der sich gut „in der Szene“ auskennt. Er will sich umhören, aber erfährt nichts über Linh Chi. Er sagt, vielleicht ist ihr richtiger Name ein anderer?

Susanne Leger fällt auf, wie wenig sie vom Vorleben von Linh Chi weiß. Sie ruft bei einem Jugendhaus für Vietnamesen in Berlin-Tegel an. Doch die Betreuerin dort sagt nur, sie könne ihr nicht weiterhelfen. Im Februar 2018 trifft sie schließlich einen anderen Vormund, dessen Mündel ebenfalls verschwunden war. Der Vormund beruhigt sie: „Keine Sorge, sie taucht wieder auf, die will nur etwas Geld verdienen.“ Sein Mündel kam wirklich nach drei Monaten zurück, blieb allerdings in der Illegalität.

Im März 2018 bricht der vierte Monat ohne Linh Chi an. Susanne schaut sie sich bei einem Vietnam-Vereins-Treffen den Film „Obst und Gemüse“ an. Es ist ein fröhlicher bunter Kurzfilm über das Lebensmittelgeschäft von „Herr Nguyen“ in der Schönhauser Allee. Es geht um Missverständnisse, zum Beispiel dass das Vietnamesische „Cà“ (Aubergine) und „Cá“ (Fisch) gleich klingen. Der ihr bekannte Akzent der Vietnamesen im Film macht sie froh und traurig zugleich.

Nach dem Film sprechen Vertreter der „Vietnamesischen Community“ auf einem Podium. Jemand auf den Podium sagt: „Wir sind die Unsichtbaren.“ Viele nicken. Nach dem Vortrag geht Leger auf einzelne Vietnamesen zu: „Kennen Sie Linh Chi? Wo könnte sie sein?“ Einige Antworten machen sie wütend: Wie können Einzelne aus dieser Community in Deutschland so ganz nach ihren Regeln leben wollen und dabei deutsche Gesetze wie Schulpflicht oder den Jugendschutz ignorieren?

Im Mai 2018 ist es ein halbes Jahr, dass Linh Chi verschwunden ist. Inzwischen hat Susanne Leger erfahren, dass die letzte Handyortung von Linh Chis Mobiltelefon am Alexanderplatz war. „Aber das kann überall sein“, sagt ihr der Polizist. Die Funkzellenabfrage könne auf bis zu zwei Kilometer ungenau sein. Sie ruft regelmäßig bei der Polizei an.

„Ich fühlte mich wie ein Störfaktor“, sagt sie. „Die wunderten sich, dass da überhaupt jemand nachfragt.“

Der „Jahrhundertsommer 2018“ in Deutschland beginnt und erinnert sie an die Ostseereise im Jahr zuvor. Auf ihrem Schreibtisch liegen noch immer zwei Muscheln aus Rügen. Und das Freundschaftsarmband, das Linh Chi für sie geknüpft hat. Blau und Grün.

Aber da gab es auch diese Wochenenden kurz vor dem Verschwinden, an denen sie nur sagte, sie sei unterwegs. Wenn man sie fragte, blieb sie stumm. Susanne Leger dachte dann: Sie ist fast erwachsen.

Oder war es doch dieser eine Termin bei der Ausländerbehörde? „Es gab ein Treffen, das ich als traumatisch bezeichnen würde.“ Das war im Oktober 2017, sechs Wochen vor ihrem Verschwinden. Damals wurde Linh Chi direkt nach der Ankunft in der Behörde von Susanne Leger getrennt. Es waren vietnamesische Beamte, die Linh Chi anschließend verhörten. Susanne Leger wurde der Zugang zu dem Verhör verweigert.

Als Linh Chi nach drei Stunden wieder aus dem Raum kam, war sie eine andere. Sie klammerte sich an ihren Vormund. „Das hat sie sonst nie gemacht“, sagt sie, „solche körperliche Berührungen waren sehr untypisch.“ Sie holten sich dann an dem Tag noch den Stempel für die Verlängerung ihres Duldungsstatus. „Aber Linh Chi war danach verändert, noch in sich gekehrter.“

Auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Vietnam ist seit dem Jahr 2018 gestört: Kurz zuvor wurde der Öl-Manager Trinh Xuan Thanh auf offener Straße entführt, in einem Transporter zum Flughafen gefahren und nach Hanoi geflogen. Inzwischen ist er wegen Misswirtschaft zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Das Vorgehen der Vietnamesen in diesem Fall bricht sämtliche internationalen Regeln. Es gab ein Gerichtsverfahren, Gefängnisurteile für Beteiligte, aber der Fall belastet die diplomatischen Beziehungen bis heute.

Das letzte Treffen: Mathe und ein Tanz ohne Lachen

Susanne Leger denkt noch heute immer wieder an ihr letztes Treffen mit ihrem Mündel. Hätte sie etwas merken sollen? „Am Abend, als ich bei Ihr war“, sagt sie, „war sie ganz aufgeräumt.“ Sie hatte mit sehr viel Mühe begonnen, eine Zusammenfassung der „Geschichte des Mädchens Kieu“ für Susanne Leger in Deutsch zu verfassen. Das ist eine vietnamesische Volkssage, in der ein junges Mädchen in die Hände eines Bordellbesitzers gerät. Jeder Vietnamese kennt die Geschichte. „Sie hatte angefangen, die Kapitel für mich zusammenzufassen.“ Dann haben sie noch ein wenig Mathe gemacht und am Ende hat sie ihr vorgetanzt. „Aber nur, wenn du nicht lachst“, hatte Linh Chi gesagt. Susanne Leger lachte nicht.

Vor einem halben Jahr hatte sie noch einmal Hoffnung. Ihr Mann hatte Linh Chi gesehen, oder jemanden, der genauso aussieht. In der Nähe des Bayrischen Platzes in Schöneberg, eine Gegend, die Linh Chi gut kannte.

Am nächsten Tag verließ Leger ihre Arbeit etwas früher. Sie saß den ganzen Nachmittag auf einer Bank und schaute in jedes Gesicht, das asiatisch aussah. Linh Chi war nicht dabei.

Seit eineinhalb Jahren ist Susanne Leger jetzt ein Vormund ohne Mündel. Ein Lichtblick ist, dass Anfang dieses Jahres die vietnamesische Community sie ernst nahm. Sie waren plötzlich da für sie und hatten Zeit. Sie nahmen ihr Foto mit zu Treffen, erkundigten sich, auch der Pfarrer ließ seine Kontakte spielen. Doch Linh Chi bleibt verschwunden. Bis zu ihrem 18. Geburtstag in wenigen Monaten hat sie noch einen Aufenthaltsstatus. Aber wenn die letzten 18 Monate etwas gezeigt haben, dann das: Es gibt jemanden, der nicht aufhört, diese Frage zu stellen: Kennen Sie Linh Chi?

Erschienen am 23. 6. 2019 in Berliner Morgenpost.

Wie zwei Koreaner in Berlin Rassismus erleben

Berlin. Am U-Bahnhof Fehrbelliner Platz ist Hyuneun Kim ohnmächtig geworden. „Ich war wohl unter Schock“, sagt sie. „Es war wohl einfach alles zu viel.“ Sie sackte in sich zusammen, und ihr Ehemann Sejin Lee konnte ihren Fall bremsen.

Die beiden Koreaner waren zu diesem Zeitpunkt, kurz nach Mitternacht, auf dem Bahnsteig. Sie hatten die U7 verlassen, weil sie von drei jungen Männern belästigt und geschubst worden waren. Sejin Lee konnte sich noch dagegen wehren, wieder in die U-Bahn hineingezogen zu werden. Er wurde bespuckt. Dann kümmerte er sich um seine Frau. Die drei Männer rannten in Richtung des Bahnsteigs der U3 – Sejin Lee rief die Polizei.

Die U-Bahn fuhr weiter, die Polizei kam, und die beiden versuchten, den Beamten zu erklären, was gerade passiert war. Doch was die gebürtigen Koreaner dann erlebten, war nicht die erhoffte Erleichterung. Sie beschrieben den Beamten, was in der U-Bahn passiert war, wie sie in dem Waggon erst von drei Männern angesprochen wurden mit „Happy Corona“ und ob sie eine „Corona-Party“ feiern wollen. Zwei Frauen hätten die Szene beobachtet, aber nicht geholfen. Als sie dann mit ihrem Mobiltelefon die Szene filmen wollten, eskalierte die Situation schnell, es kam zu Beleidigungen und Tätlichkeiten. Sejin Lee: „Doch die Polizei sagte uns, das sei keine rassistische Beleidigung.“

Es kommt derzeit immer wieder vor, dass Asiaten in Europa und den USA im Zusammenhang mit Corona beleidigt werden. Es gibt Menschen, die Asiaten die Schuld am Ausbruch des Virus geben. Die Berliner Polizei sagt auf Anfrage der Berliner Morgenpost, dass es seit Beginn der Pandemie sieben Fälle von Beleidigung gegeben habe. Das seien zumindest die Fälle, die zur Anzeige gebracht worden seien. Der Fall der Koreaner sei einer davon. Doch die Polizei schränkt ein, dass es schwierig war, diese Fälle zuzuordnen, weil in Berlin das Aussehen eines Geschädigten normalerweise nicht registriert werde. Häufig könne man aber am Namen des Opfers feststellen, dass es sich um einen Asiaten aus China, Vietnam, Japan, Thailand oder Korea handele, aber wenn sie hier geboren sind, werde es schon schwierig.

Sejin Lee und Hyuneun Kim leben seit vier Jahren in Berlin. Sie kommen beide aus Südkorea, haben einander aber erst in Berlin kennengelernt. Die 25-Jährige studiert Gesang, ihr 31 Jahre alter Ehemann Architektur. Beide leben in Charlottenburg und hatten bisher keine schlechten Erfahrungen in Berlin. Sie werden ihr Studium auch hier fortsetzen. Doch auf die nächtlichen Spaziergänge, die in den Wochen der Pandemie für das Paar zu einem Ritual geworden waren, verzichten sie derzeit.

Seit dem Vorfall vor zwei Wochen wollen sie nicht mehr mit der U-Bahn fahren und gehen generell selten allein aus dem Haus. „Ich war nach dem Angriff beim Arzt, weil ich immer wieder Panikattacken bekomme“, sagt Hyuneun Kim. „Ich bin inzwischen schon ängstlich, wenn mich auf der Straße jemand länger anschaut.“ Hyuneun Kim wird psychologisch betreut. Die beiden haben inzwischen Anzeige erstattet und sind froh, dass sie die Aufnahmen mit ihrem Mobiltelefon gemacht haben – auch, weil in der U-Bahn ihnen niemand half.

Auf dem Video, das der Berliner Morgenpost vorliegt, sieht man, wie sich nicht nur die drei Männer lustig machen über das koreanische Ehepaar und gewaltbereit auf sie zukommen, sondern auch, wie zwei Frauen ebenfalls in der Gruppe sitzen und den drei Männern beipflichten. „Sie haben uns ausgelacht“, sagt Hyuneun Kim. „Auch dann, als ich gesagt habe, dass sie aufhören und uns lieber helfen sollen.“ Sie verstehen offenbar nicht, dass sich die Asiaten wirklich bedrängt fühlen. Der Vorfall fand in der Nacht von Freitag auf Sonnabend Ende April statt, es war 0.30 Uhr, ihrem Verhalten nach sind die Männer alkoholisiert.

Nicht immer gehen die Zwischenfälle so vergleichsweise glimpflich aus wie dieser Vorfall am Fehrbelliner Platz. Rund 165.000 Asiaten leben in Berlin, und in den jeweiligen Communities häufen sich die Berichte, dass Menschen auf der Straße oder in Geschäften beleidigt werden. Das begann schon einige Wochen vor der Coronavirus-Krise im Februar, als asiatische Restaurants als erste einen starken Umsatzeinbruch verzeichneten. Als dann sämtliche Restaurants schließen mussten, ging die Diskriminierung auf den Straßen der Stadt und in den öffentlichen Verkehrsmitteln weiter. Inzwischen trauen sich einige Asiaten nicht mehr ohne Begleitung in die Öffentlichkeit, schreiben sie in einigen Beiträgen in den sozialen Medien.

Sejin Lee und Hyuneun Kim haben auch viel Zuspruch für ihren Schritt in die Öffentlichkeit bekommen. Nachdem sie die Videos bei Facebook geteilt haben, äußerten viele ihr Mitgefühl und verurteilten rassistische Angriffe. Die Botschaft der Republik Korea hat sich ebenfalls der Sache angenommen. Selbst in Korea, einem Land mit 57 Millionen Einwohnern in Ost-Asien, schlägt der Berliner Fall hohe Wellen. Vor allem das Detail, dass ihr Anruf bei der Polizei zunächst nicht ernst genommen wurde, zeigt Wirkung. „Als die Beamtin uns aber sagte, dass nicht jeder Corona-Witz eine rassistische Beleidigung sei, dachte ich, sie versteht mich nicht richtig.“

Vergangene Woche waren die beiden Koreaner noch einmal eingeladen zu einem Gespräch bei der Polizei, wo sie erneut von dem Vorfall erzählten. Sie erschienen mit ihrem Anwalt und verbrachten sieben Stunden auf der Polizeistation. „Das war anstrengend“, sagt Sejin Lee, „aber ich hatte das Gefühl, dass die Polizei den Fall sehr ernst nimmt.“ Es gehe ihnen beiden auch sehr viel besser nach dem Gespräch.

Jetzt werden sich Juristen mit der Attacke vom Fehrbelliner Platz auseinandersetzen. Auch die beiden Frauen aus dem U-Bahnwagen haben Anzeige erstattet, wegen Beleidigung. Sie wollten sich nicht als Rassisten bezeichnen lassen. Dass sie aber gelacht und nicht geholfen haben, in einer Situation, in der sich zwei Menschen bedrängt gefühlt haben, ist auf dem Video deutlich zu sehen. Sie werden sicherlich als Zeugen noch einmal aussagen müssen.

 

Erschienen am 12.5.2020 in der Berliner Morgenpost

Bushido vs. Arafat: “Dein Erbe gehört mir”

Berlin. Zu dritt saßen sie oft in dem Café an der Katzbachstraße in Kreuzberg: Arafat AbouChaker, Hamoudi Wasserkopf und Anis Ferchichi, der vielen als Rapper Bushido bekannt ist. Der 41-Jährige hat auch am sechsten Verhandlungstag am Landgericht in Moabit das Wort und erzählt auf Nachfrage, wie die Geldübergaben ab dem Jahr 2004 im Einzelnen stattgefunden haben. „Wir redeten über Frauen, Gerüchte und das LKA“, sagt er, „vielleicht war es mal wieder zu einer Razzia gekommen.“ So war das eben in einem Café, das inzwischen längst geschlossen ist und damals Arafats Bruder Nasser Abou-Chaker gehörte. In Richtung Vorsitzendem Richter Martin Mrosk sagt Bushido: „Sie müssen entschuldigen, der Umgangston war nicht so, wie er hier herrscht.“

Aber genau das ist das Interessante an seinen detailreichen Aussagen im Saal 500 der Großen Strafkammer. Die Öffentlichkeit blickt wie mit einer Taschenlampe in eine Halbwelt, die seit Jahrzehnten Berlin im Griff hat. Genau deshalb ist das Verfahren gegen den 44 Jahre alten Clanchef Arafat Abou-Chaker, der offenbar über 14 Jahre lang Geld von Bushido erhalten hat, so wichtig. Mitangeklagt sind die Brüder Yasser, Rommel und Nasser, die 39, 42 und 49 Jahre alt sind. Der Jüngste sitzt seinen Brüdern in einer Sicherheitskabine gegenüber, er ist in Untersuchungshaft. Die Anklage gegen alle vier lautet auf versuchte schwere räuberische Erpressung, Freiheitsberaubung, Nötigung, Beleidigung und Untreue.

​​Eine Verurteilung könnte mehrere Jahre Haft für die Angeklagten bedeuten, die zu einer der wichtigsten arabischen Großfamilien in Berlin gehören. Nach Schätzungen der Polizei hat die Familie zwischen 200 und 300 Mitglieder in Berlin, von denen einige ihr Geld unter anderem mit Schutzgeld, Raubüberfällen, Drogen- und Waffenhandel verdienen. Bushido hatte sich nach eigener Aussage in diesem Verfahren 2004 mit Clanchef Arafat eingelassen, um aus dem Vertrag mit einem Musiklabel herauszukommen – und musste danach 30 Prozent des Bruttoeinkommens an die Abou-Chakers zahlen. Insgesamt geht es um die Summe von neun Millionen Euro.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 7.9.2020.

Bushido vs. Arafat: Neun Millionen Euro

Berlin. Am 21. Dezember 2010 wollte Bushido in den Urlaub auf die Malediven fliegen. Gleichzeitig, so erzählt er, wollte sein Geschäftspartner einen Immobiliendeal ins Ziel bringen. „Wegen der Steuer musste er noch im gleichen Jahr abgeschlossen sein“, sagt Bushido. „Das war auch in meinem Interesse.“ Also brauchte Arafat Abou-Chaker, mit dem er zu dem Zeitpunkt seit sechs Jahren zusammenarbeitete, eine Vollmacht, genauer: eine Generalvollmacht. „Ich habe ihm vertraut“, sagt Bushido. „Außerdem saßen wir ja bei einem Notar und nicht in einer arabischen Teestube.“

Und wieder hat der Rapper Bushido, 41, für einen Moment die Lacher auf seiner Seite. Es ist der fünfte Verhandlungstag im Verfahren gegen den 44-jährigen Clanchef Arafat Abou-Chaker, mit dem der erfolgreiche Sänger über 14 Jahre lang zusammenarbeitete und der ihm nun als Angeklagter schräg gegenübersitzt. Mitangeklagt sind die drei Brüder Yasser, Rommel und Nasser, die 39, 42 und 49 Jahre alt sind. Nur der jüngste von ihnen sitzt derzeit in Untersuchungshaft. Die Anklage gegen die vier lautet auf versuchte schwere räuberische Erpressung, Freiheitsberaubung, Nötigung, Beleidigung – und Untreue.