Journal

Corona-Tagebuch: Teil 7

Berlin. In dieser Woche kam zum Glück etwas Hoffnung zurück, dass dieses Leben nicht noch Jahre so weitergehen wird. Die Vorfreude auf ein Ende der „Maßnahmen“ wurde fast überlebenswichtig. Wenn einem fast jeder Fernsehsender per Dauereinblendung das Zuhausebleiben empfiehlt und sogar mein Mobilfunkbetreiber dafür sorgt, dass links oben die ganze Zeit die gleiche Empfehlung anstatt „T-online“ angezeigt wird, ist es auch irgendwann mal gut. Schon kapiert!

Montag. Morgens läuft im Radio dieser Song von „Wir sind Helden“: „Guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben zurück.“ Ich rasiere mich und muss lächeln. Sitzen da jetzt in den Musikredaktionen Leute, die sich die ganze Zeit überlegen, welche Lieder in diesen Zeiten eine andere Bedeutung haben?

Ostermontag ist ohne Familie irgendwie auch wie jeder andere Tag. Ich habe zwei Pakete zeitgleich verschickt. Zugegeben: Mittwoch vor Ostern war sportlich geplant – aber warum erreicht das eine Paket Hannover bis Sonnabend und braucht bis Bernau fast eine Woche? Meine Familie hat Bilder von der Ostereiersuche geschickt, mein zehnjähriger Neffe zeigt darauf traurig seinen Osterkorb in die Kamera. Traurig, weil er nur so wenig gefunden hat, oder weil dieses Ostern so anders ist?

Am Nachmittag telefoniere ich mit einem Freund in Brasilien. Er wohnt in Rio de Janeiro, an der Stelle, wo die beiden Strände Copacabana und Ipanema in einem rechten Winkel aufeinandertreffen. Er sagt, er joggt jeden Morgen am Wasser. Alles sei fast leer, obwohl der Präsident Jair Bolsonaro die Krankheit als „Gripezinha“ bezeichnet – ein „Grippchen“. Mein Freund will vorerst dort weiter wohnen bleiben. Er liest viel, im Sommer wollte er seinen Geburtstag in Berlin feiern. Wir verabschieden uns mit diesem ungewissen Gefühl, dass es jetzt noch zu früh für irgendwelche Pläne ist.

Infizierte in Berlin: 4667. Tote: 56.

Corona-Tagebuch: Teil 8

Berlin. In dieser Woche ist irgendwie ein Wendepunkt erreicht. Ich meine, kein zeitlicher Wendepunkt, denn wir wissen ja noch nicht, wann wieder alles wie vorher wird. Ich meine eher einen Wendepunkt für das Gefühl für diese Krise. Hat sich vorher jeder Tag ein bisschen wie Sonnabend angefühlt (zu Hause bleiben, arbeiten, allein fernsehen), ist es jetzt, als wäre es permanent Montag: Man könnte eigentlich immer irgendetwas arbeiten, aber gleichzeitig passt das Bild der Stadt nicht dazu. Die Menschen in meiner Straße stehen jetzt zu lange auf ihren Balkonen, zu jeder Tageszeit. Haben sie mir früher noch zugewunken, machen sie das jetzt auch nicht mehr.

Wendepunkt heißt auch, dass ich merke, wie die Tage auseinanderfallen, wenn man sie nicht zusammenhält. Dabei helfen natürlich Rituale, Dinge, die ich täglich wirklich gleich tue. Aber die gibt es kaum. Eine Zeit lang war es ja ein fast kollektives Ritual, jeden Tag zuerst zu überprüfen, wie die Zahlen liegen. USA, Frankreich, Schweden, und auch die Zahlen für Berlin. Aber wenn ich nicht dieses Tagebuch führen würde, wäre mir nicht aufgefallen, dass in dieser Woche über 100 Menschen in Berlin am Virus gestorben sind. Wenn ich daran denke, mit welchem Entsetzen ich Artikel vor zwei Monaten zu diesem Thema gelesen habe, ist dieses Gefühl definitiv einer Gelassenheit gewichen. Denn alles geht ja auch irgendwie weiter, oder?

Montag. Die Woche hatte mit dem besten Ritual überhaupt angefangen: Morgensport. Ich habe immer dieses Bild von mir als ein Morgenjogger vor mir. Besonders abends. Morgens bin ich dann eher der, der mit Kaffeetasse in Jogginghose erstmal auf den Balkon tritt und blinzelt. Ab heute soll das anders sein: Ich bin mit einer Freundin im Volkspark Friedrichshain an einem polnischen Denkmal verabredet.

Dort angekommen wundere ich mich, dass schon Skater morgens um 8 Uhr ihre Sache sehr ernst nehmen. Meine Freundin hat schon angefangen: springen, rennen, Liegestütze. Und diese eine Übung, die Jane Fonda immer in ihren Videos gemacht hat: seitlich liegend das Bein heben. Ich sage ihr, dass Männer solche Übungen nicht machen, und weise sie auf jenes Workout-Video von Jane Fonda hin. Sie: „Jane hat die Übung auch falsch gemacht. Und jetzt zeige ich dir, wie das geht.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 26. 4. 2020.

Corona-Tagebuch: Teil 9

Berlin. In In dieser Woche habe ich gelernt, dass Streit in Corona-Zeiten sich ernster anfühlt. Ich habe mich mit einer guten Freundin gestritten und mich dadurch eines sozialen Kontakts beraubt, der nicht nur regelmäßig, sondern wichtig war. Wir hatten gemeinsam Sport gemacht und Kaffee getrunken. Dann habe ich einen Fehler gemacht, und offenbar ist eine Entschuldigung nicht genug. Als wir per SMS streiten, bin ich irgendwann selbst wütend und breche den Dialog ab.

Hinzu kommt, dass ich in dieser Woche im Urlaub bin, außer Radio und TV habe ich gerade wenig Kontakt mit der Außenwelt, noch nicht einmal Kollegen rufen an. Mir fällt auf, dass ich auch mit Freundschaften in diesen Zeiten sorgfältiger umgehen muss. Habe ich früher regelmäßig eine große Gruppe von Freunden pro Woche getroffen, hat sich in den vergangenen zwei Monaten das doch erstaunlich schnell auf wenige Menschen beschränkt.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 3. 5. 2020

Corona-Tagebuch: Teil 10

Berlin. In dieser Woche kam zwar das Leben zurück in meine Straße, in die Geschäfte, in die Stadt. Allerdings wirkt die Maske im Gesicht wie eine angezogene Handbremse, nicht nur für das Atmen, sondern für jede Tätigkeit im Freien. Ich lernte erst in dieser Woche, die Maske überhaupt immer dabei zu haben. Und zumindest noch kurz zu säubern, bevor ich sie aufsetze. Allerdings habe ich noch keinen Ort, um sie zu lagern. Hängt man sie an die Garderobe? Legt man sie zu den Socken? Oder besser immer griffbereit an die Türklinke?

Montag. Es ist einer dieser grauen Tage, die man gleich bei Tagesbeginn wieder beenden möchte. In der Zeitung lese ich, dass die Friseure wieder geöffnet haben. Dank dieses Tagebuchs kann ich genau sagen, dass ich vor sieben Wochen zuletzt beim Friseur war, das war kurz vor der Schließung. Jetzt bräuchte ich wieder einen Termin, aber ich hatte natürlich keinen vereinbart. Immerhin bekomme ich online für die kommende Woche einen Slot in der „Notaufnahme“. Zur Bestätigung bekomme ich eine E-Mail, in der Wörter wie „Infektionsketten“ und „Schutzauflagen“ stehen.

Am Nachmittag fahre ich zum Kurfürstendamm. Ich will meine Post in der Redaktion abholen und muss mich beim Chef-Concierge vom Hotel Waldorf-Astoria entschuldigen. Wir hatten an diesem Tag eine ganze Seite über das Hotel abgedruckt, dafür hatten wir eine große Tour durch das fast leere Haus bekommen – und dann war in der Zeitung sein Name unter ein Bild gerutscht, das nicht ihn zeigte. Das Problem: Alle trugen eine Mund-Nasen-Bedeckung, die natürlich handgearbeitet war und irgendwie so aussah, als rieche das Leben dadurch besser. Aber er hat sich geärgert, und natürlich darf so etwas nicht passieren.

Erst als ich an der S-Bahn ankomme, fällt mir auf, dass ich keine Gesichtsmaske dabei habe. Ich klemme mir also einen Schal vors Gesicht und stelle mich so „in die Ecke“, wie ich einmal in der siebten Klasse stehen musste, weil mein Lehrer mich dazu aufforderte. Mein Lehrer kam Anfang der 90er-Jahre aus einem Bayerischen Klostergymnasium nach Dresden und war „ganz alte Schule“.

Infizierte in Berlin: 6242, Tote: 164.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 10. 05. 2020

Corona-Tagebuch: Teil 11

Berlin. Das Wochenende steckte mir in dieser Woche mehr in den Knochen, als ich es zugeben wollte. Die Demonstration vom Sonnabend wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. Rund um den Alexanderplatz waren Menschen versammelt, die Angst vor einer Zwangsimpfung hatten und sich als Corona-Rebellen bezeichneten. Sie hielten weder einen Mindestabstand ein noch ließen sie sich von der Polizei an die Regeln erinnern. Als es zu Rangeleien kam, verließ ich die Demo.

Zu Hause holte ich die Zeitung hervor, die von den Demonstranten verteilt wurde. Auf Seite 1 steht groß der Satz: „Das Virus ist nicht das Problem.“ Auf den nachfolgenden Seiten wird so getan, als sei das Grundgesetz komplett außer Kraft gesetzt und Deutschland befinde sich in einer Diktatur. Bebildert ist das Magazin mit Fotos aus dem Film StarWars (Todesstern und Prinzessin Leia), als wäre es Zeit, dass uns nur noch Jedi-Ritter vor dem „Impfperium“ beschützen könnten. Es wird schnell klar, dass es in dieser Woche vor allem um Verschwörungstheorien gehen wird.

Montag. Der Tag beginnt im Grunde friedlich. Ich höre morgens durch das offene Fenster ein Geräusch, dessen Ausbleiben mir nicht einmal aufgefallen war: Das Klackern eines Rollkoffers auf dem Kopfsteinpflaster. Ich schaue hinaus und sehe eine Frau mit einem großen Koffer in Richtung U-Bahn laufen. Als ich davon später einem Freund erzähle, antwortet er, es könne auch eine gescheiterte Ehe sein. Touristische Reisen sind schließlich noch nicht erlaubt.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 17. 05. 2020.

Corona-Tagebuch: Teil 12

Berlin. In dieser Woche habe ich Bilanz gezogen. Die vergangenen drei Monate haben mich verändert. Das lag vor allem an einer Tatsache, die ich bisher verschwiegen habe, weil sie mir auch ein bisschen peinlich ist – und weil ich sicher bin, dass meine Lektorin das hier auch liest. Corona hat dafür gesorgt, dass ich so viel geschrieben habe wie noch nie zuvor. Ich bin sozusagen „fremdgegangen“: Wenn ich meine Tagesarbeit für die Zeitung beendet hatte, habe ich noch an meinem Buch geschrieben, zumindest sehr oft. Ich hätte es vor der Corona-Pandemie fertig haben müssen, aber ich… – könnte jetzt irgendwas von Schreibkrise erzählen, aber das klingt nach Ausrede, und vielleicht ist es das auch.

Im Rückblick ist es vielleicht gerade das Schreiben dieser insgesamt zwölf langen Texte – also im Grunde eines zweiten Buches –, die mir erst ermöglichten, das andere Projekt zu beenden. Ich bin in der unangenehmen Situation, dass es wohl einer weltweiten Pandemie zu verdanken ist, wenn im Herbst ein Buch mit dem Namen „Inselhopping Indonesien“ erscheint, in dem ich von meinen Erlebnissen zwischen Sumatra und West-Papua im vergangenen Jahr erzähle.

Jetzt fehlt nicht mehr viel. Zumal ab Montag mein erster richtiger Urlaub beginnt. Schon in dieser Woche konnte ich mich darauf einstimmen und hatte mehrere freie Tage. Deswegen muss ich in dieser Woche auch am Sonntag vor einer Woche beginnen. Und da sind wir wieder beim Thema Corona.

Sonntag. Ich wache mit einem Kater auf, ich hatte am Abend zuvor endlich einem Freund sein Geburtstagsgeschenk gegeben, das wunderbare Buch „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara. Ein Roman über vier New Yorker Freunde, die sich in ihren 20ern kennenlernen und bis zu ihrem jeweiligen Lebensende begleitet werden – sie werden sehr alt. Ich hatte es per Post zu ihm nach Wedding geschickt, aber das Paket kam zurück. Da wir uns jetzt wieder treffen dürfen, habe ich es ihm vorbeigebracht, und wir haben mit sehr gutem Weißwein angestoßen. Er schreibt am Sonntagmittag, er sei auf Seite 36 und könnte es nicht weglegen.

Am Nachmittag kommt eine Freundin von mir vorbei, die gerade ebenfalls an einem Buch arbeitet. Auch sie sagt, dass sie die Pandemie vor Ablenkung schützt. Sie habe das Virus auch von Anfang an ernst genommen. Ein Bekannter von ihr liegt im Krankenhaus in München. Sie sagt: „Er war wochenlang an der Beatmungsmaschine, und die Ärzte haben seiner Freundin gesagt, dass es nicht sicher sei, dass er überlebt.“

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 24. 05. 2020

Bushido vs. Arafat: Die zweite Chance

Berlin. Dieses Mal beginnt Bushido seine Aussage mit einer Selbstbezichtigung. Als er den Zeugenstand betritt, sagt er: „Ich war ein unangenehmer Ehemann.“ Seine Frau Anna-Maria, die Schwester der Pop-Sängerin Sarah Connor, habe ein Kind mit in die Ehe gebracht, im Juni 2012 kam seine Tochter zur Welt und im November 2013 seine Zwillinge. „Ich habe meine Frau allein stehen lassen mit all der Arbeit.“ Dann starb seine Mutter, an der er sehr gehangen habe. „Ich war ein Muttersöhnchen“, sagt Bushido vor Gericht. „Ihr Tod hat mir den Boden unter den Füßen fortgerissen.“

Mit Bushidos Aussage steuert der vielbeachtete Prozess gegen Clanchef Arafat Abou-Chaker seinem Höhepunkt entgegen. Nach mehrwöchiger Unterbrechung ist der Rapper wieder im Landgericht Berlin in Moabit und erzählt von seiner rund 14 Jahre dauernden Geschäftsbeziehung mit Abou-Chaker. An deren Ende im Jahr 2017 soll es mutmaßlich zu Vorgängen gekommen sein, die der eigentliche Gegenstand dieses Prozesses sind: Dem 41 Jahre alten Clanchef wird versuchte schwere räuberische Erpressung, Freiheitsberaubung und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Seine Brüder Nasser (49), Rommel (42) und Yasser (39) sind mitangeklagt, letzterer ist in Untersuchungshaft.

Interview mit Bewohnern der Liebig34

Berlin. Etwas, das auch in Interview-Texten eigentlich nie erwähnt wird, ist die Stille. Sie passiert zwischen den Zeilen, weil entweder die Fragenden gerade nicht weiter wissen oder die Antwortenden gerade nicht mehr sagen wollen. Oder weil sie eine komplexe Frage mit einem Satz beantworten und dann der „Punkt“ stumm im Raum steht, obwohl es eigentlich ein Semikolon sein müsste. In einem gedruckten Interview steht aber selten das Wort „Stille“ oder „peinliche Stille“. In meinem Interview mit Lara und Jenny vom Projekt „Liebig 34“ in Friedrichshain wird es immer wieder solch eine Pause geben.

Still wurde es an der Stelle, als ich den beiden von einer Frau erzähle, mit der ich am Mittwoch gesprochen hatte, als ich für eine Reportage über die Liebigstraße recherchierte. Die Scheibe ihre Schaufensters war vor drei Jahren eingeworfen worden. Sie sagte, sie habe sich zuvor geweigert, ein Plakat „Liebig 34 bleibt“ in ihr Schaufenster zu hängen. Die gesplitterte Scheibe hatte sie nie reparieren lassen. Die Antwort von Lara ist: „Ich glaube, es gibt Menschen, die können sich mit unserer Situation identifizieren, und es gibt Menschen, die können das nicht.“ Pause.

Das ist kein Zitat aus dem Kontext gerissen, das ist die komplette Antwort der Vertreterin eines der bekanntesten linken Symbolprojekte in Berlin. An diesem Freitag wurde die Liebig 34 geräumt, 2500 Polizisten aus verschiedenen Bundesländern sind dafür nach Friedrichshain gekommen. Dächer wurden schon seit Mittwochabend besetzt, Steinewerfer von Dächern — bei beim G20-Gipfel in Hamburg — sollten so vermieden werden. Die Situation für die Anwohner ist seit Monaten angespannt. Einige im Kiez unterstützen das Projekt, andere wollen nur, dass es vorbei ist: die nächtlichen Hubschrauber am Himmel, die Farbbeutel- und Graffiti-Spuren an den Wänden und vor allem die brennenden Autos.

Am Mittwoch stand ich vor dem Haus Liebigstraße 34, das sich selbst ein Anarcho-Queer-Lesbisch-Trans-Inter-Wohnprojekt nennt. Ich begann meine Recherche mit dem Ansprechen von verschiedenen Anwohnern und sah einige Bewohnerinnen der „Liebig 34“ vor dem besetzten Haus auf dem Boden sitzen. Ich sprach sie an, ob eine von Ihnen mit mir reden wolle. Sie verneinten, aber als ich schon gehen wollte, gaben sie mir noch eine E-Mail-Adresse, bei der ich mich melden könne. Donnerstagmorgen um 8 Uhr bekomme ich einen Anruf aus der Liebigstraße. Eine Frau namens Lara sagt, ich könnte sie interviewen, wenn ich die Fragen vorher schicke.

Am Nachmittag, 16 Uhr, stehe ich am Haus gegenüber der Liebig 34. Mich erwartet eine Nachbarin und wir rauchen zusammen eine Zigarette. Sie sagt, sie koordiniere die Pressegespräche und empfinde das Vorgehen der Polizei als sehr einschüchternd. Sie zeigt mir die Polizisten in Kampfmontur, die bereits auf dem Dach der Liebig 34 stehen. Sie haben wirklich ein Zelt aufgebaut auf dem Dach, damit sie die sicherlich regnerische Nacht überstehen. Polizisten haben hier im Kiez keinen leichten Stand. Ein paar Häuser weiter ist eine Szene an die Wand gemalt, das Polizisten beim Fassadenklettern zeigt, während ein Huhn ihnen ein Ei auf den Kopf „legt“.

Im zweiten Stock am Küchentisch einer WG sitzen dann Lara und Jenny, so stellen sie sich vor. Altersangaben wollen sie nicht machen. Sie tragen grün und gelb und sind freundlich. Sie hatten die vorher gesendeten Fragen nur überflogen. Zu viel Stress gerade. Wir vereinbaren, dass ich Zitate ihnen zuschicke und das Gespräch aufzeichne.

Wie geht es Euch?

Lara: Ich glaub, wir haben alle Emotionen, die man haben kann, die sich teilweise im Fünf-Minuten-Takt ändern. Von starker Trauer, Wut… Wir finden es unfassbar, was hier gerade passiert. Das Auftreten der Polizei wird dominanter und einschüchternder. Wir können uns vorstellen, was morgen passiert, aber wir wissen es noch nicht.
Jenny: Die Nachbar*innen haben Demonstrationen angemeldet. Es gibt viele Leute, die aktiv werden.

Lara und Jenny sprechen das * mit diesem Knacklaut mit, wie es seit einigen Monaten auch der Deutschlandfunk macht. Geschlechterneutrale Sprache ist eine der

Forderungen, die sich inzwischen mehr und mehr durchsetzt. Noch als Redaktionsleiter der HU-Studentenzeitung hatte ich mich geweigert, das Gendern im Blatt einzuführen und hätte damit heute — zurecht — in Studentenkreisen keine Mehrheit mehr. Und da kommt eben die Pause.

Nachdem Lara auf meine Frage zur Fensterscheibe geantwortet hat, sagt Jenny: „Schon allein, dass wir ein feministisches Haus sind, dass wir aus einer Besetzung heraus entstanden sind, das polarisiert eben, dass Menschen deshalb eine andere Meinung zu uns haben, ist schon klar.“ Als ich in die dann folgende Pause nachfrage, dass es ja nicht um Unterstützung, sondern um das Zerschlagen von Fensterscheiben gehe, wird Jenny unwirsch: „Ich habe von dieser Aktion noch nie etwas gehört, das kommt jetzt völlig aus dem Nichts. Diese Frau ist noch nie auf uns zugekommen und hat mit uns gesprochen.“

Hm. Ich komme also nicht weiter. Ich frage nach den letzten 30 Jahren, welche positiven Dinge aus der Liebig 34“ hervorgegangen sind. Wir reden uns warm kann, man sagen, Lara und Jenny erzählen vom queerfeministischen Café, das es hier gab, von einer Fahrradwerkstatt. Außerdem hatte das Haus ein Gästezimmer, dort konnten „geflüchtete oder wohnungslose oder von Gewalt betroffene Frauen“ anklopfen.

Mir fällt die Spanierin ein, die ich am Abend zuvor getroffen hatte mit ihrem Kinderwagen. „Ich bin da nicht willkommen“, hatte sie gesagt und auf ihren schicken Mantel gezeigt. „Mir würden sie nicht helfen.“ Ihr einjähriger Sohn sei neulich vom Lärm aus der „Liebig 34“ geweckt worden, Montagabend um 23 Uhr. Aber ich merke auch, dass ich ihnen jetzt nicht mit der für mich naheliegenden Frage kommen kann, sie wirken dünnhäutig. Auch das Suchen nach der „richtigen Frage“ führt zu einer Pause im Gespräch.

Wie fandet ihr die Berichterstattung der Medien über Euer Haus bisher?

Jenny: Schlecht. Auch sehr schlecht recherchiert.
Lara: Es war eben sehr fokussiert auf eine bestimmte Form der Berichterstattung. Ich finde es nicht verwunderlich, dass kurz bevor eine Räumung, die rechtswidrig ist…

…naja, es gibt ein Urteil…

Lara: Ja, aber gegen den falschen Verein, der das Haus vor zwölf Jahren angemietet hatte.
Jenny: Dass ist das, was der Anwalt der Liebig 34 immer wieder betont, dass er sagt, die Räumung ist rechtswidrig. Das ist die rechtliche Ausgangslage.
Lara: Der neue Verein müsste verklagt werden, aber das ist nie geschehen. Dabei ist es doch eine Stadt, die sich damit brüstet, vielfältig und aufregend zu sein.
Jenny: Nur weil ein Urteil gefällt worden ist, ist das nicht gerecht. Dass Großinvestoren hier in Berlin Monopoly spielen konnten und die Stadt unter sich aufteilen, ist das gerecht?

Es ist wohl in der Tat so, dass viele hier im Haus, ja im Kiez, sogar in der ganzen Stadt, sich zu recht darüber ärgern, was Mietspekulanten hier anrichten. Wenn Lara und Jenny später sagen, dass darüber nichts in Zeitungen steht, stimmt das aber nicht. Über die Machenschaften von Miethaien wird immer wieder berichtet. Und wenn es ein Urteil zur Räumung gibt, wenn man einen Prozess verloren hat und auch Interventionen von der Linkspartei und den Grünen nicht fruchten, dann kann auch die öffentliche Androhung von Gewalt keine Lösung — oder Nachbar*innen zu bespucken, wie es im RBB-Beitrag über die Liebigstraße erzählt wird.

Jenny wird wütend, als ich den RBB-Beitrag erwähne. Das ist auch seltsam, weil immer wieder jemand in den Raum kommt und sich ein Butterbrot in der Küchenzeile des großen Berliner Zimmers schmiert. Sie sagt, dass diejenigen, die in Eigentumswohnungen in die Straße ziehen, ihren Beitrag dazu leisten, dass das Leben hier teurer werde. Die Atmosphäre sei vorher anders gewesen, sagt sie.

Also hätten sie sich vorher informieren müssen, wo sie hinziehen?

Jenny: Nein, es geht ja nicht um eine verbotene Zone oder so. Es geht darum, dass sie natürlich für Vielfalt sind oder für eine offene Gesellschaft. Wenn sie aber Entscheidung treffen, die im Interesse von Kapital ist, dann haben sie gezeigt, wo sie stehen.

Müssen sie dafür bespuckt werden?

Jenny: Das ist wieder so eine Geschichte. Die hören wir dann in der Presse. Bisher kam noch keine Person zu uns und hat gesagt, sie seien bespuckt worden.

Das heißt also, die Steinwürfe oder Anspucken, das könnte ihr euch nicht erklären?

Jenny: Nee, darum geht es nicht. Aber wir verstehen die Wut. (Pause.)

Wieso Wut? Von welcher Seite?

Jenny: Hast du dir mal die Mühe gemacht und gefragt, wie sie sich auch uns gegenüber verhalten haben?

Deshalb bin ich doch hier.

Jenny: Das ist die Presse, die immer nur versucht, die Gewalt auf unserer Seite zu schieben. Aber welche Gewalt der Eigentümer ausgeübt hat oder welche Gewalt im System steckt, danach wird nicht gefragt.

Die Stimmung ist zu diesem Zeitpunkt längst „gekippt“, wie man so sagt. Das Lächeln von Jenny und Lara ist spätestens bei „Gewalt im System“ verschwunden und für sie ist klar, dass ich nicht „zu ihnen“ gehöre. Sie sprechen von 4000 Polizisten vor der Tür, ich hatte von 2500 Beamten im Einsatz gehört, aber es geht auch längst nicht mehr um Zahlen. Als Lara zum vielleicht dritten Mal davon spricht, dass es „Orte wie unseren geben muss“, frage ich nach dem S-Bahn-Kabelbrand.

Die Ringbahn ist wegen des Brandes in dieser Woche von Montag bis Freitag gesperrt, Menschen mussten sich in einen Schienenersatzverkehr-Bus quetschen. Zu Corona-Zeiten erhöht das das Risiko. Im Bekennerschreiben nehmen die Täter Bezug auf die „Liebig 34“. Auf dieses Bekennerschreiben weisen auch Lara und Jenny hin. „Da steht alles drin“, sagen sie. Die letzte Frage stellen sie an mich: Hast Du unsere Pressemitteilungen gelesen. Ich sage: Ja, da stand unter anderem: Kein Stein fliegt ohne Grund.

In diesem Augenblick ist das Interview beendet. Sie sagen, dass ich von ihnen nur hören wolle, dass sie „Steine schmeißen“. Jenny sagt wütend: „Du hast das Interview komplett gegen die Wand gefahren.“ In die wirklich lange Stille, die darauf folgt, schaue ich auf die Uhr und sehe, dass die halbe Stunde ohnehin vorbei ist. Ich danke für das Gespräch und verabschiede mich.

Meine Kollegen fragen später, ob sie meinen Presseausweis fotografiert haben. Das ist eine ernste Sorge, weil sie schon zum Teil bedroht wurden: Wir wissen wo du wohnst. Im Hausflur hängen viele Zettel, an den Wänden, schön geschriebene Grüße an die Nachbarn. Auf ein paar Flyern, die herumliegen, steht der Satz: „Wohnraum ist keine Ware“. Ein paar Polizisten in Schutzanzügen drücken sich an mir vorbei, als ich das fotografiere. Sie grüßen freundlich. Sie wollen aufs Dach.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 10.10. 2021

Florian Schröder, Porträt

Berlin. Der Florian Schroeder, den ich treffe, trägt einen Anzug. Das ist wichtig und wird auch im Laufe unseres Spaziergangs noch eine Rolle spielen. Der Anzug steht ihm fantastisch, er könnte damit in dem neuen Christopher-Nolan-Film „Tenet“ mitspielen und Kugeln in die Vergangenheit schießen. Oder fängt er mit der Waffe dann die Kugeln nur ein, weil sie rückwärts fliegt? Das einzige, was an Florian Schroeder als Held in diesem unironischen Welt-Retter-Film vielleicht stören würde, wäre sein Lachen. Das Lachen passt nicht ganz zum Anzug, weil es so auffällig laut ist. Und es verändert die Stimmung sofort.

Verabredet haben wir uns an der Zionskirche, jener Kirche der Helden von Berlin, die so wichtig war für den Beginn der friedlichen Revolution im Jahr 1989. Zum ersten Mal fällt mir eine Straßenlampe aus DDR-Zeiten auf, die gleich neben der Kirche steht, als zwinkere die Vergangenheit kurz in die Gegenwart. Aber inzwischen ist die Zionskirche ein Ort im hippsten Teil Berlins und hat neulich auch einen „Star Wars“-Gottesdienst veranstaltet. Wir haben uns für diesen Treffpunkt entschieden, weil wir beide morgens nicht zu weit fahren wollten – zumal für diesen Tag der BVG-Streik angekündigt ist und uns ohnehin alle Pläne verdorben hätte.

Schroeder kommt mit einem Rad, das er, wie er sagt, seit 15 Jahren besitzt. Es hat 21 Gänge und Metallic-Look. Als er abgestiegen ist, wirkt das Rad fast zu zierlich für den 1,93-Meter-Mann. Da unser Fotograf gleich weiter muss, will er schnell die Bilder machen. Als Profi war er schon vorher zur Kirche gekommen, um die Gegend zu erkunden: Welches Graffito (ein trauriger Clown?), welche Restaurantdekoration (eine indische Kuh?), welche schmuddelige Hauswand passt am besten und drückt die Stimmung eines der bekanntesten Comedians Deutschlands aus, der gerade ziemlich viel um die Ohren hatte?

Florian Schroeder hat gerade mit seinem Kollegen Serdar Somuncu einen neuen Podcast gestartet. Die erste Folge war drei Stunden lang. Sie redeten über alles, was derzeit so um uns passiert und auf Twitter gute Hashtags bringen würde: #Trump, #Klimawandel, #AFD, #Bildzeitung. Irgendwann beim Thema #Feminismus bogen die beiden falsch ab, ein unschönes Wort fiel, Schroeder lachte sehr laut darüber. Schroeder entschuldigte sich auf Twitter für sein Gelächter. Der Sender RadioEins entschuldigte sich ebenfalls, und die beiden Comedians willigten ein, den nächsten Podcast vorher zur Abnahme vorzulegen. Die zweite Folge dauerte nur noch eine Stunde und behandelte zu einem Drittel nur die Probleme mit der ersten Folge – zurecht.

Während die beiden Fotos machen, halte ich den Boss-Mantel von Florian Schroeder in der Hand. In seiner Innentasche vibriert es unaufhörlich. Ich habe mein Telefon zum Glück auf Flugzeug-Modus gestellt, damit wir ungestört sind. Er wird einmal kurz ans Telefon gehen, ansonsten wird er das Brummen auch später ignorieren.

Als wir loslaufen, reden wir zunächst über den Humor an sich, und das heißt: über die Kollegen. Florian Schroeder sagt, dass die US-Komiker mag: „Seth Meyers, Stephen Colbert sind super, nur Jimmy Fellon ist mir ein bisschen zu seicht manchmal.“ Schon vor Jahren hat er David Letterman geschaut, aber er findet auch, dass Deutschland einiges an guter politischer Comedy zu bieten hat: Die „Heute-Show“ und „Extra-3“ schaut er regelmäßig. „Schon allein, um zu sehen, was die Kollegen gerade so machen.“ Da sei viel Gutes dabei. „Aber es ist eben ein Abbild der Arbeit“, sagt er, „da sind mal geniale Ideen dabei, aber egal wie geil die Sendung oder wie geil das Team ist, man kann nicht immer das Maximum herausholen.“ Dann sagt er einen Satz, bei dem ich später zu Hause googeln muss: „Kahnemann nennt das die Regression zum Mittel.“

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 4. 10. 2020

Freya Klier und ihr elftes Gebot

Berlin. Vor einiger Zeit sollte Freya Klier wieder einen Text schreiben für eine große konservative Tageszeitung in Berlin. Als sie ihn abgeschickt hatte, meldete sich eine Redakteurin: „Frau Klier, die Rechtsabteilung hat große Bedenken, diesen Text zu drucken.“ Die DDR-Bürgerrechtlerin wollte kooperativ sein und fragte, was sie ändern solle. Die Redakteurin wurde nervös. „Am besten: gar nichts über die DDR.“ Der Text wurde nie gedruckt.

Mit Freya Klier 30 Jahre nach der Wiedervereinigung zu sprechen, ist tatsächlich ein Ritt durch die Vergangenheit, in der immer wieder Namen auftauchen, die heute noch eine Rolle spielen. Redakteure großer Wochenzeitungen haben ihr gesagt, sie sei „Persona non grata“, und sie erzählt aus den Stasi-Akten großer Politiker, die sie gelesen hat – und wenn sie davon erzählt, wolle es keiner hören. Sie ist nach wie vor unangepasst und noch lange nicht fertig mit diesem Staat, der vor 30 Jahren unterging.

Dieses Jahr legt sie mit „Wir sind ein Volk! – Oder?“ ein Jubiläums-Buch vor, das voller Stimmen interessanter Zeitzeugen ist. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), sein Amtsvorgänger Wolfgang Thierse (SPD) und der CDU-Politiker Peter Tauber erzählen unter anderem von ihrem Verhältnis zu diesem Nationalfeiertag. Aber es gibt dazwischen auch immer wieder kleine Geschichten von Menschen, die als Lehrer oder Fabrikangestellte die Wiedervereinigung erlebt haben.

Eine der beeindruckendsten in dem Band ist die Geschichte von Editha Krummreich, die Abteilungsleiterin in einem Verpackungsbetrieb in Dresden war. Sie hatte zwei Kinder und verlor genau am 3. Oktober 1990 ihre Arbeit endgültig, weil sie 60 Jahre alt war. Nach fast 40 Jahren gab es noch nicht einmal eine Abschiedsfeier. Sie erzählt, wie sie sich „eine Pulle Cognac“ kaufte und wie sie die Affäre mit einem Mann in Leipzig beenden musste, obwohl der immer noch anrief ab und zu, aber stumm am Telefon blieb. Doch nur Wochen später bekam sie einen Job beim Versicherungskonzern Allianz und verkaufte Versicherungen an die Dresdner im Stadtteil Wilder Mann bis zu ihrer Rente mit fast 70 Jahren – dieses Mal gab es übrigens eine Abschiedsfeier.