Interview mit Bewohnern der Liebig34

Liebig34. Foto: Kittel

Berlin. Etwas, das auch in Interview-Texten eigentlich nie erwähnt wird, ist die Stille. Sie passiert zwischen den Zeilen, weil entweder die Fragenden gerade nicht weiter wissen oder die Antwortenden gerade nicht mehr sagen wollen. Oder weil sie eine komplexe Frage mit einem Satz beantworten und dann der „Punkt“ stumm im Raum steht, obwohl es eigentlich ein Semikolon sein müsste. In einem gedruckten Interview steht aber selten das Wort „Stille“ oder „peinliche Stille“. In meinem Interview mit Lara und Jenny vom Projekt „Liebig 34“ in Friedrichshain wird es immer wieder solch eine Pause geben.

Still wurde es an der Stelle, als ich den beiden von einer Frau erzähle, mit der ich am Mittwoch gesprochen hatte, als ich für eine Reportage über die Liebigstraße recherchierte. Die Scheibe ihre Schaufensters war vor drei Jahren eingeworfen worden. Sie sagte, sie habe sich zuvor geweigert, ein Plakat „Liebig 34 bleibt“ in ihr Schaufenster zu hängen. Die gesplitterte Scheibe hatte sie nie reparieren lassen. Die Antwort von Lara ist: „Ich glaube, es gibt Menschen, die können sich mit unserer Situation identifizieren, und es gibt Menschen, die können das nicht.“ Pause.

Das ist kein Zitat aus dem Kontext gerissen, das ist die komplette Antwort der Vertreterin eines der bekanntesten linken Symbolprojekte in Berlin. An diesem Freitag wurde die Liebig 34 geräumt, 2500 Polizisten aus verschiedenen Bundesländern sind dafür nach Friedrichshain gekommen. Dächer wurden schon seit Mittwochabend besetzt, Steinewerfer von Dächern — bei beim G20-Gipfel in Hamburg — sollten so vermieden werden. Die Situation für die Anwohner ist seit Monaten angespannt. Einige im Kiez unterstützen das Projekt, andere wollen nur, dass es vorbei ist: die nächtlichen Hubschrauber am Himmel, die Farbbeutel- und Graffiti-Spuren an den Wänden und vor allem die brennenden Autos.

Am Mittwoch stand ich vor dem Haus Liebigstraße 34, das sich selbst ein Anarcho-Queer-Lesbisch-Trans-Inter-Wohnprojekt nennt. Ich begann meine Recherche mit dem Ansprechen von verschiedenen Anwohnern und sah einige Bewohnerinnen der „Liebig 34“ vor dem besetzten Haus auf dem Boden sitzen. Ich sprach sie an, ob eine von Ihnen mit mir reden wolle. Sie verneinten, aber als ich schon gehen wollte, gaben sie mir noch eine E-Mail-Adresse, bei der ich mich melden könne. Donnerstagmorgen um 8 Uhr bekomme ich einen Anruf aus der Liebigstraße. Eine Frau namens Lara sagt, ich könnte sie interviewen, wenn ich die Fragen vorher schicke.

Am Nachmittag, 16 Uhr, stehe ich am Haus gegenüber der Liebig 34. Mich erwartet eine Nachbarin und wir rauchen zusammen eine Zigarette. Sie sagt, sie koordiniere die Pressegespräche und empfinde das Vorgehen der Polizei als sehr einschüchternd. Sie zeigt mir die Polizisten in Kampfmontur, die bereits auf dem Dach der Liebig 34 stehen. Sie haben wirklich ein Zelt aufgebaut auf dem Dach, damit sie die sicherlich regnerische Nacht überstehen. Polizisten haben hier im Kiez keinen leichten Stand. Ein paar Häuser weiter ist eine Szene an die Wand gemalt, das Polizisten beim Fassadenklettern zeigt, während ein Huhn ihnen ein Ei auf den Kopf „legt“.

Im zweiten Stock am Küchentisch einer WG sitzen dann Lara und Jenny, so stellen sie sich vor. Altersangaben wollen sie nicht machen. Sie tragen grün und gelb und sind freundlich. Sie hatten die vorher gesendeten Fragen nur überflogen. Zu viel Stress gerade. Wir vereinbaren, dass ich Zitate ihnen zuschicke und das Gespräch aufzeichne.

Wie geht es Euch?

Lara: Ich glaub, wir haben alle Emotionen, die man haben kann, die sich teilweise im Fünf-Minuten-Takt ändern. Von starker Trauer, Wut… Wir finden es unfassbar, was hier gerade passiert. Das Auftreten der Polizei wird dominanter und einschüchternder. Wir können uns vorstellen, was morgen passiert, aber wir wissen es noch nicht.
Jenny: Die Nachbar*innen haben Demonstrationen angemeldet. Es gibt viele Leute, die aktiv werden.

Lara und Jenny sprechen das * mit diesem Knacklaut mit, wie es seit einigen Monaten auch der Deutschlandfunk macht. Geschlechterneutrale Sprache ist eine der

Forderungen, die sich inzwischen mehr und mehr durchsetzt. Noch als Redaktionsleiter der HU-Studentenzeitung hatte ich mich geweigert, das Gendern im Blatt einzuführen und hätte damit heute — zurecht — in Studentenkreisen keine Mehrheit mehr. Und da kommt eben die Pause.

Nachdem Lara auf meine Frage zur Fensterscheibe geantwortet hat, sagt Jenny: „Schon allein, dass wir ein feministisches Haus sind, dass wir aus einer Besetzung heraus entstanden sind, das polarisiert eben, dass Menschen deshalb eine andere Meinung zu uns haben, ist schon klar.“ Als ich in die dann folgende Pause nachfrage, dass es ja nicht um Unterstützung, sondern um das Zerschlagen von Fensterscheiben gehe, wird Jenny unwirsch: „Ich habe von dieser Aktion noch nie etwas gehört, das kommt jetzt völlig aus dem Nichts. Diese Frau ist noch nie auf uns zugekommen und hat mit uns gesprochen.“

Hm. Ich komme also nicht weiter. Ich frage nach den letzten 30 Jahren, welche positiven Dinge aus der Liebig 34“ hervorgegangen sind. Wir reden uns warm kann, man sagen, Lara und Jenny erzählen vom queerfeministischen Café, das es hier gab, von einer Fahrradwerkstatt. Außerdem hatte das Haus ein Gästezimmer, dort konnten „geflüchtete oder wohnungslose oder von Gewalt betroffene Frauen“ anklopfen.

Mir fällt die Spanierin ein, die ich am Abend zuvor getroffen hatte mit ihrem Kinderwagen. „Ich bin da nicht willkommen“, hatte sie gesagt und auf ihren schicken Mantel gezeigt. „Mir würden sie nicht helfen.“ Ihr einjähriger Sohn sei neulich vom Lärm aus der „Liebig 34“ geweckt worden, Montagabend um 23 Uhr. Aber ich merke auch, dass ich ihnen jetzt nicht mit der für mich naheliegenden Frage kommen kann, sie wirken dünnhäutig. Auch das Suchen nach der „richtigen Frage“ führt zu einer Pause im Gespräch.

Wie fandet ihr die Berichterstattung der Medien über Euer Haus bisher?

Jenny: Schlecht. Auch sehr schlecht recherchiert.
Lara: Es war eben sehr fokussiert auf eine bestimmte Form der Berichterstattung. Ich finde es nicht verwunderlich, dass kurz bevor eine Räumung, die rechtswidrig ist…

…naja, es gibt ein Urteil…

Lara: Ja, aber gegen den falschen Verein, der das Haus vor zwölf Jahren angemietet hatte.
Jenny: Dass ist das, was der Anwalt der Liebig 34 immer wieder betont, dass er sagt, die Räumung ist rechtswidrig. Das ist die rechtliche Ausgangslage.
Lara: Der neue Verein müsste verklagt werden, aber das ist nie geschehen. Dabei ist es doch eine Stadt, die sich damit brüstet, vielfältig und aufregend zu sein.
Jenny: Nur weil ein Urteil gefällt worden ist, ist das nicht gerecht. Dass Großinvestoren hier in Berlin Monopoly spielen konnten und die Stadt unter sich aufteilen, ist das gerecht?

Es ist wohl in der Tat so, dass viele hier im Haus, ja im Kiez, sogar in der ganzen Stadt, sich zu recht darüber ärgern, was Mietspekulanten hier anrichten. Wenn Lara und Jenny später sagen, dass darüber nichts in Zeitungen steht, stimmt das aber nicht. Über die Machenschaften von Miethaien wird immer wieder berichtet. Und wenn es ein Urteil zur Räumung gibt, wenn man einen Prozess verloren hat und auch Interventionen von der Linkspartei und den Grünen nicht fruchten, dann kann auch die öffentliche Androhung von Gewalt keine Lösung — oder Nachbar*innen zu bespucken, wie es im RBB-Beitrag über die Liebigstraße erzählt wird.

Jenny wird wütend, als ich den RBB-Beitrag erwähne. Das ist auch seltsam, weil immer wieder jemand in den Raum kommt und sich ein Butterbrot in der Küchenzeile des großen Berliner Zimmers schmiert. Sie sagt, dass diejenigen, die in Eigentumswohnungen in die Straße ziehen, ihren Beitrag dazu leisten, dass das Leben hier teurer werde. Die Atmosphäre sei vorher anders gewesen, sagt sie.

Also hätten sie sich vorher informieren müssen, wo sie hinziehen?

Jenny: Nein, es geht ja nicht um eine verbotene Zone oder so. Es geht darum, dass sie natürlich für Vielfalt sind oder für eine offene Gesellschaft. Wenn sie aber Entscheidung treffen, die im Interesse von Kapital ist, dann haben sie gezeigt, wo sie stehen.

Müssen sie dafür bespuckt werden?

Jenny: Das ist wieder so eine Geschichte. Die hören wir dann in der Presse. Bisher kam noch keine Person zu uns und hat gesagt, sie seien bespuckt worden.

Das heißt also, die Steinwürfe oder Anspucken, das könnte ihr euch nicht erklären?

Jenny: Nee, darum geht es nicht. Aber wir verstehen die Wut. (Pause.)

Wieso Wut? Von welcher Seite?

Jenny: Hast du dir mal die Mühe gemacht und gefragt, wie sie sich auch uns gegenüber verhalten haben?

Deshalb bin ich doch hier.

Jenny: Das ist die Presse, die immer nur versucht, die Gewalt auf unserer Seite zu schieben. Aber welche Gewalt der Eigentümer ausgeübt hat oder welche Gewalt im System steckt, danach wird nicht gefragt.

Die Stimmung ist zu diesem Zeitpunkt längst „gekippt“, wie man so sagt. Das Lächeln von Jenny und Lara ist spätestens bei „Gewalt im System“ verschwunden und für sie ist klar, dass ich nicht „zu ihnen“ gehöre. Sie sprechen von 4000 Polizisten vor der Tür, ich hatte von 2500 Beamten im Einsatz gehört, aber es geht auch längst nicht mehr um Zahlen. Als Lara zum vielleicht dritten Mal davon spricht, dass es „Orte wie unseren geben muss“, frage ich nach dem S-Bahn-Kabelbrand.

Die Ringbahn ist wegen des Brandes in dieser Woche von Montag bis Freitag gesperrt, Menschen mussten sich in einen Schienenersatzverkehr-Bus quetschen. Zu Corona-Zeiten erhöht das das Risiko. Im Bekennerschreiben nehmen die Täter Bezug auf die „Liebig 34“. Auf dieses Bekennerschreiben weisen auch Lara und Jenny hin. „Da steht alles drin“, sagen sie. Die letzte Frage stellen sie an mich: Hast Du unsere Pressemitteilungen gelesen. Ich sage: Ja, da stand unter anderem: Kein Stein fliegt ohne Grund.

In diesem Augenblick ist das Interview beendet. Sie sagen, dass ich von ihnen nur hören wolle, dass sie „Steine schmeißen“. Jenny sagt wütend: „Du hast das Interview komplett gegen die Wand gefahren.“ In die wirklich lange Stille, die darauf folgt, schaue ich auf die Uhr und sehe, dass die halbe Stunde ohnehin vorbei ist. Ich danke für das Gespräch und verabschiede mich.

Meine Kollegen fragen später, ob sie meinen Presseausweis fotografiert haben. Das ist eine ernste Sorge, weil sie schon zum Teil bedroht wurden: Wir wissen wo du wohnst. Im Hausflur hängen viele Zettel, an den Wänden, schön geschriebene Grüße an die Nachbarn. Auf ein paar Flyern, die herumliegen, steht der Satz: „Wohnraum ist keine Ware“. Ein paar Polizisten in Schutzanzügen drücken sich an mir vorbei, als ich das fotografiere. Sie grüßen freundlich. Sie wollen aufs Dach.

Erschienen in der Berliner Morgenpost am 10.10. 2021