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Interview mit Rainald Grebe

Berlin. Rainald Grebe sitzt in einem Frühstücksraum des Hotels Kastanienhof auf der Kastanienallee in Prenzlauer Berg. Er sagt, er sei hier noch nie gewesen. Der komplett leere Saal strahlt etwas Trauriges und gleichzeitig Exklusives aus. Mitte April ist Rainald Grebe 50 Jahre alt geworden. Er schenkt sich selbst ein großes Konzert in der Waldbühne, am 31. Juli. Die Proben dafür sind angelaufen. Vor einigen Wochen kam sein neues Album „Popmusik“ heraus. Es ist fröhlich und sentimental, wie viele Alben von ihm. Im letzten Song heißt es: „Sind Sie nicht dieser Sänger von ‚Bra-han-den-burch‘, wir wissen nicht, was Sie haben, aber wir checken sie durch.“ Am Ende singt der Tod im Lied: „See you soon!“

Herr Grebe, erste Kollegen sprechen jetzt offen von ihrer Depression, wie geht es ihnen nach fast 14 Monaten Pandemie?

Inzwischen finde ich das legitim, also man darf ganz offen Depressionen haben. Ich habe lange Zeit gesagt, mir geht es doch ganz gut. Ich bin schließlich privilegiert, gebe Interviews…

Sie bringen im Lockdown ein neues Album heraus…

Genau, aber die Zahlen steigen wieder, die Kitas machen wieder zu, die Künstler bleiben weiter zu Hause. Die Kalenderblätter fliegen raus, April, Mai – und kein Leben nicht. Manchmal schaue ich zurück und denke, der Beruf war ja mal ganz schön.

Konzerte für Instagram waren keine Option für Sie?

Na ja, es gibt Kollegen, die haben vor Autos gespielt, also in einem Autokino. Ich wollte das nicht. Außerdem fehlt mir die Erfahrung.

Vermissen Sie die Bühne nicht? 

Ich habe mal zwei Jahre als Dramaturg gearbeitet. Ich muss nicht immer in der ersten Reihe stehen. Man vergisst es vielleicht auch, weil es inzwischen schon so lange her ist, dass Veranstaltungen nicht nur angekündigt sind, sondern dann auch wirklich stattfinden.

Aber die Veranstaltung in der Waldbühne soll am 31. Juli sein, wie sicher können Sie jetzt sein, dass Sie dann singen dürfen?

Natürlich sind das erschwerte Bedingungen unter Corona. Und es bleibt natürlich ungewiss. Schon die Proben sind ein Abenteuer. Die Querflöte ist ja das schlimmste Instrument, die braucht zwölf Meter Abstand. Eine Tuba geht wieder, da braucht man weniger Platz. Generell gilt die Regel: Je größer der Trichter, desto geringer die Distanz. Bei Menschen ist die Lautstärke entscheidend. Wenn jemand schreit, dann sechs Meter Abstand, eineinhalb Meter beim normalen Sprechen.

Schlägt sich der Lockdown in ihrem neuen Album eigentlich nieder?

Das sind alles Songs, die ich im Januar und Februar 2020 geschrieben habe, also kurz davor.

Moment, Sie haben mitten im Winter einen Song über Eisessen geschrieben?

Das Thema ist so virulent in der Stargarder Straße, dort gibt es diesen Eisladen, HokeyPokey, die machen doch gefühlt im Dezember zu und im Januar wieder auf.

Basilikum-Grüner Apfel!

Rosskastanie-Rosmarin! Das ist kein Eisladen, heute heißt das Eis-Patissier. Das Ding ist, ich kenne da jemanden, der wohnt darüber. Ich hatte vor, im Sommer da vielleicht die Lautsprecher auf den Balkon zu stellen und dann läuft das Lied in Dauerschleife. Vielleicht freut das ja sogar die lange Schlange.

Ein Happening für Menschen, die im Abstand in der Schlange stehen. Musik für eine große Gruppe, das gibt es doch gar nicht mehr.

Einerseits hat man sich daran gewöhnt, andererseits merke ich eine gewisse Anspannung während der Viruskrise. Ich kenne fast nur Menschen, die Glück hatten bisher. Aber viele zermürbt es, dass keiner sagen kann, wie lang das noch dauert. Manche nehmen das ernst, manche überhaupt nicht, es gibt Menschen, die zerstreiten sich sogar über die Maßnahmen.

Kennen Sie solche Menschen?

Klar, die kennt doch jeder: Der eine läuft jetzt mit bei den „Querdenkern“, der andere lässt sich nicht impfen. Und ich hänge rum und rege mich darüber auf, dass ich keine Novemberhilfen bekomme.

Sind sie nicht berechtigt?

Ich musste nachweisen, dass 80 Prozent meiner Einnahmenmengen wegen Corona wegfallen. Ich komme aber nur auf 73 Prozent. Auf der anderen Seite: Die Kollegen, die 5000 Euro bekommen haben, müssen jetzt nachweisen, wofür sie es ausgegeben haben. Und das ist schon hart.

Haben Sie in der Zeit wenigstens eine Sprache gelernt oder etwas in der Art?

Ich habe tatsächlich etwas Neues zum ersten Mal gemacht: Ich habe angefangen, ein Hörspiel zu schreiben. Ich hatte mir ursprünglich vorgestellt, das zu machen, wenn ich alt bin, und dann ist es jetzt im Lockdown einfach passiert. Man sitzt zu Hause und liest.

Wovon wird es handeln?

Es geht um den Berliner Autor Hans Fallada, ich beschäftige mich mit seinen letzten Jahren vor seinem Tod. Sein Leben soll nur anhand von nicht-fiktionalem Material gezeigt werden, Arztbriefe, Notizen von Dienstmägden oder von Freunden, Zeugenaussagen vor Gericht, solche Sachen. Das Beste ist: Weil es ein Podcastformat ist, das vor allem für die Mediathek produziert wird, darf es so lange dauern, wie es eben dauert. Es geht wirklich nur nach dem Inhalt.

Wie kamen sie darauf?

Er wohnte in Carwitz, das ist nur ein paar Dörfer weiter von dem Ort, wo ich wohne. Er war ziemlich besoffen und versuchtet.

Versuchtet?

Ja, er selbst hat es immer „dun“ genannt. Er hat Morphium genommen, alle möglichen Drogen, aber vor allem war er in Berlin in den Kneipen. Er war ja ein erfolgreicher Schriftsteller. Aber er hat den Erfolg eben auch sofort wieder versoffen. Dann hat er sich einen Hof in Brandenburg gekauft und dort mit Frau und drei Kindern gelebt.

Wie ist es geendet?

Schlimm. Er war dauernd in der Psychiatrie. Den Kneipenroman „Der Trinker“ hat er ja in sechs Wochen geschrieben. Im Knast. Er war im Grunde immer voll drauf. Es ist erstaunlich, was der menschliche Körper alles verträgt. Ich meine: zwölf Flaschen Wein an einem Tag! Er starb an einer Überdosis Schlafmittel, seine Frau hatte sich mit den Medikamenten vertan.

Vielleicht ist das die falsche Frage, aber: Suchen einen die Stoffe auch manchmal? Warum ist der Mann Ihnen nahe?

Ach, zum einen ist er so eine Dorfattraktion in meiner Gegend. Das Museum und Archiv zu Fallada ist einfach nicht weit. Alle, die uns besuchen, wollen immer dahin.

Anders gefragt: Arbeiten Sie an Ihrem Alterswerk?

Ja, das ist mein Spätwerk. Ich schaue mal, wie lange ich noch mache. Ich bin ein bisschen krank.

Was haben Sie?

Die Krankheit heißt Vaskulitis, es ist eine Autoimmunkrankheit, die bei vielen das Leben verkürzt.

Wie äußert sich das?

Ich habe Schlaganfälle. Im Januar war ich wieder im Krankenhaus. Ich hatte sechs Schlaganfälle. Ich dachte, ich werde nicht mehr. Dass ich hier sitze, das ist schon eine Zugabe.

Wirkt sich das auf Ihren Alltag aus?

Ich finde es relevant, dass auch Ärzte die Frage beantworten: Wie lange denn noch? Es könnte in diesem Jahr passieren, dass ich nur noch im Rollstuhl sitze.

Kann man die Krankheit in Schach halten?

Ach, da gibt es verschiedene Äußerungen von Spezialisten. Ich trinke zum Beispiel keinen Alkohol mehr, andere sagen, man kann mit Ernährung und Sport etwas dagegen tun. Das versuch ich jetzt, ich laufe viel herum oder ich fahre Fahrrad.

Sie wirken jetzt ganz gesund.

Ja, das ereilt mich immer ganz plötzlich. Weil die Krankheit sich im ganzen Hirn ausbreitet, kann sich das jedes Mal anders äußern. Das eine Mal äußert es sich eher wie ein Tinnitus, das andere Mal hatte ich Ohrensausen, beim dritten Mal hatte ich große Schwierigkeiten zu sprechen, es ist jedes Mal anders. Einmal fühlte es sich an wie ein Kreislaufzusammenbruch oder ich werde einfach nur müde.

Kann man mit der Diagnose einen Alltag leben?

Ich bin glücklich, bisher davongekommen zu sein. Ich habe eine Reha gemacht und meine Familie unterstützt mich sehr. Ich war lange viel allein. Ich gehe aber inzwischen auch wieder unter Leute, treffe Menschen.

Ist Ihr neues Album deshalb etwas sentimental, vor allem nach hinten raus?

Sentimental war ich vorher schon. Die Diagnose liegt schon eine Weile zurück, die war im Jahr 2014. Und 2017 kamen die ersten Schlaganfälle. Seitdem ist das Todesthema in meine Liedzeilen hineingetropft.

Ein weiterer sentimentaler Song ist der über den letzten Flug einer Stewardess. Gibt es die wirklich?

Ich habe eine echte Stewardess für das Lied interviewt. Sie hat bei der Lufthansa gearbeitet. Sie ist Ende 40 und wartet darauf, wieder fliegen zu dürfen. Sie hat alles so erlebt, die Sexgeschichten mit Piloten, die Skype-Anrufe mit Mutti.

Sie sind gerade 50 geworden, warum gönnen Sie sich ein Programm für nur einen Abend? Warum all die Proben für nur eine Show?

Weil es das Geilste ist, was ich bisher gemacht habe. Das ist so eine Verschwendungsarie. Ich kenne ja das Tourleben, jeden Abend das Gleiche. Das ist diese Sehnsucht, dass man einmal was ganz Großes macht, an das sich alle erinnern. Etwas, bei dem es ungewiss ist, wie es ausgeht. Das geht beim Wetter los und geht mit der Technik weiter. So vieles ist offen. Ich habe das zweimal gemacht bisher und ich möchte es noch einmal machen.

Und danach wieder zurück nach Nordbrandenburg?

Klar, ich bin viel in Brandenburg, wir sind zwar als Berliner immer „die Bouletten“, aber wir machen Dorffeste mit den Einheimischen, den „Dorfis“. Inzwischen gibt es ja quasi einen Boulettenüberhang in Nordbrandenburg. Die alten Einwohner sterben aus.

Sind Sie als Wessi dort gut angekommen?

Ich wohne ja seit 1991 im Osten. Also, fremd bin ich schon lange nicht mehr. Im Lockdown war ich sechs Wochen am Stück da. Bis vor kurzem hatte ich kein Internet. Für eine E-Mail musste ich zu den Nachbarn gehen. Es verändert einfach die Gesprächskultur, wenn man plötzlich einen Namen vergessen hat und ihn nicht googeln kann. Ich denke den ganzen Abend darüber nach …

Und Sie sitzen mit Freunden am Lagerfeuer?

Zum Beispiel. Ich habe jetzt Zither gelernt, das ist ein Alpeninstrument, das kann man mit ans Lagerfeuer nehmen.

Wie klingt der Song „Brandenburg“ auf der Zither?

Die Zither hat nur sechs Akkorde, „Brandenburg“ kann ich darauf nicht spielen. Beatles-Songs aber funktionieren. „Let it be“. Und ich habe noch ein Lied gelernt: „Sah ein Knab ein Röslein stehn“.

Noch so ein Lied mit traurigem Ende. Im Lied „Der Tod“ erzählen Sie, dass selbst die Ärzte Sie auf den Brandenburg-Song ansprechen. Was sagen die Nachbarn?

Der erste Winter in Brandenburg, der war so hart, da platzten die alten Leitungen. Es gab eine Havarie. Und als ich die Feuerwehr angerufen habe, da kamen die Dorfis und standen dann da: „Ach nee, der Großkünstler!“ Da war schon klar, gegen welche Widerstände ich kämpfen musste. Aber ich fühle mich sowohl dort als auch in Berlin sehr zu Hause.

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 1.5.2021. 

Guter Park, böser Park

Berlin – Der Mitteplatz heißt eigentlich nicht Mitteplatz. Aber die Anwohner nennen ihn so. Es ist einfach der Platz westlich der U-Bahnstation Gleisdreieck. An diesem Platz müssen alle vorbei, die von Ost nach West oder von Nord nach Süd wollen, von Schöneberg nach Kreuzberg, vom Potsdamer Platz zur Yorckstraße. Der Mitteplatz ist der Punkt, der mit einer rosafarbenen 1 eingezeichnet ist auf der Orientierungskarte, die überall im Park aufgestellt ist. In der Legende steht unter „1“: „Sport & Spiel“. Der gesamte Park wird auf der Karte ernsthaft „Oase“ genannt.

Vormittags um 11 Uhr: Drei Frauen schieben drei unterschiedlich große Kinderwagen vor sich her. Daneben machen vier Männer Burpees, eine Liegestütz-Luftsprung-Kombination. Ein weiterer steht daneben, hat die Hand in die nackten Hüften gestemmt, schaut schwitzend in den blauen Himmel. Ein Mittdreißiger in Baggyjeans fährt Longboard und zieht dabei einen Rollkoffer hinter sich her. Er findet das selbst so crazy, dass er mit der anderen Hand ein Selfie-Video dreht.

Zwölf Stunden später am selben Tag: Drei Jugendliche hören laut Rap-Musik. Sie singen jede Zeile mit und das einzige Wort, das sie deutlich gemeinsam rufen, ist „Nutte“. Immer sehr laut. Zwei Endzwanziger, Frau und Mann, in seltsam stylischen Klamotten drehen derweil ihre Runden mit ihrem Skateboard auf der Tartanbahn. Die Art, wie sie einander umkreisen, wirkt vertraut, sie sprechen nicht. Ein Polizeiauto fährt um 23.14 Uhr am Mitteplatz vorbei. Die Musik verstummt.

„Der Park am Gleisdreieck ist ein Kompromiss“, sagt Matthias Bauer. „Dieser Platz hier ist es auch.“ Mitteplatz, den Namen haben sich die Leute angewöhnt, die rings um den Park wohnen. Eben weil der Platz in der Parkmitte liegt. „Es ist ja auch schön, dass man den Namen selber entwickelt und dass der nicht irgendwo einfach dran steht.“ Die Wege haben hier auch keinen Namen. Über das „Sport & Spiel“ auf der Karte muss Matthias Bauer lachen. Es klingt etwas verbittert. Er zeigt auf einen der E-Scooter, die am Rand des Parks stehen. „Mit denen haben sie Jagd auf Fußgänger gemacht.“ Inzwischen haben die Betreiber wohl etwas unternommen gegen den Missbrauch der E-Roller. Ein paar Tage später dann: die Aktion mit den Feuerlöschern.

Bauer begann im Jahr 2009 das „Gleisdreieck-Blog“ zu betreiben. Darin werden Themen rund um die Entwicklung der inzwischen 35 Hektar großen Grünfläche besprochen. Wer im Blog liest, bekommt schnell das Gefühl, dass diese Gegend wie keine zweite Berlins Probleme und Trends zusammenführt: die Verdrängung von Alteingesessenen durch Neureiche, die Kämpfe der Fahrradfahrer gegen die Fußgänger und umgekehrt, die fehlende Rücksichtnahme älteren Leuten gegenüber, die kaum im Park zu sehen sind. Der Dreck, die Kulturunterschiede, das Bildungsproblem, die Flüchtlinge, der Fitnesswahn, die geschlossenen Schulen in der Pandemie, die verdammten Drogen. Auf alles das knallt gerade die Sommersonne und lässt es hier am Gleisdreieck umso greller erscheinen.

Aber zurück zu den Feuerlöschern. Anwohner sagen, Jugendliche hätten sie aus den Parkhäusern in der Nähe gestohlen. Im Internet gibt es Videos, die zeigen, wie jemand die Feuerlöscher auf Menschen richtet und unter Johlen „abdrückt“. „Gleisdreieck030“ hält es stolz für Instagram fest. Anfang April wurden so auch Polizisten angegriffen und in die Flucht geschlagen. Als Anwohner ein paar Tage danach die Polizei anriefen und sich wegen des Lärms beschweren wollten, dauerte es vier Stunden, bis die Beamten vom Abschnitt 52 am Platz waren. Später sagte ein Sprecher, dass sie erst eine Hundertschaft zusammenbekommen mussten, denn zwei Polizeistreifen beeindrucken niemandem am Gleisdreieck.

Fast 250-mal mussten die Polizisten des Abschnitts zu Einsätzen allein in diesem Jahr zum Gleisdreieck ausrücken, jeder fünfte Einsatz war wegen Lärmbelästigung. Immer wieder entdeckt die Polizei verbotene „Corona-Partys“. Ein sogenannter kriminalitätsbelasteter Ort, also eine Gegend mit einer besonderen Häufung an Straftaten, ist der Park dennoch nicht, sagt eine Polizeisprecherin. Neben der Lärmbelästigung und der damit verbundenen erhöhten Jugendkriminalität komme es im Park vor allem zu verschiedenen Raub- und sogenannten Rohheitsdelikten, also Körperverletzungen oder Nötigungen, auch: Vergewaltigungen.

Die Liste wird länger, je nachdem, mit wem man spricht. Da ist etwa Beate K. Seiferth, die seit 24 Jahren in diesem Kiez wohnt und vor ein paar Monaten eine Bürgerinitiative gegründet hat. Da ist Matthias Bauer, der in den 80er-Jahren gegen das hier geplante Autobahnkreuz demonstriert hat, dann Architektur studierte und sich seit Jahrzehnten mit diesem Park beschäftigt, um den sich jemand kümmern muss. Und da ist Kristiana Elig. Sie leitet ein Café am Rande des Parks, das so heißt wie jenes nachtaktive Tier, das den Kopf um 270 Grad drehen kann: Eule.

Das Café Eule liegt südlich vom Mitteplatz, inmitten einer kleinen Gruppe von Kleingärten. Am Rand stehen zwölf Rosenbüsche. Kristiana Elig hat jedes Mal einen gepflanzt, wenn ihr Café zerstört, in Brand gesetzt oder alle Stühle kaputt geschlagen wurden. „Klar hätte ich zumachen können“, sagt sie. „Aber dann hätten sie gewonnen.“ Sie, das sind diejenigen, die Koksspuren auf den Tischen hinterlassen, Uringestank in den Sträuchern oder wie neulich eine Blutlache. Fast 30-mal wurde eingebrochen in den neun Jahren, die es das Café Eule gibt. „Erst Anfang der Woche hat wieder jemand versucht, das Schloss aufzubrechen.“ Aber das hat Frau Elig inzwischen verstärken lassen, es gibt eine Alarmanlage. Was sie nicht sein will: ein Opfer.

Die 48-Jährige hat zwei Kinder und bis vor ein paar Jahren Reportagen für das ZDF gedreht. Dann kam die Idee für das Café im Park, der noch nicht mal fertig war. Im Herbst 2011 wurde der Ostteil des Parks eröffnet, drei Jahre später der Westteil. Damals galt der Park als der einzige Park Berlins ohne Dealer. Es dauerte, bis sich Menschen auf den Wiesen niederließen, zu neu wirkte alles. Die Stadt fremdelte eine Weile mit dieser seltsamen Fläche, die aus der Luft betrachtet aussieht wie jener gezackte Pfeil, der auf Stromkästen vor Hochspannung warnt. Dann kam das erste Graffiti, die erste zersprungene Flasche, die erste Spritze im Sandkasten.

Matthias Bauer ist schon durch den Park gelaufen, als der noch umzäuntes Bahngelände war. „In den 70er-Jahren war hier ein Autobahnkreuz geplant“, sagt er, „das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.“ Aber damals stand die Mauer noch und das hier war eine Brache. Heute treffen sich im Park die Bezirke Mitte, Schöneberg und Kreuzberg, das macht die Frage der Zuständigkeit nicht einfacher. Bauer zeigt auf die neuen Gebäude, die gerade neben dem Mitteplatz gebaut werden. „Im FNP ist diese Fläche noch als Grünfläche markiert.“ FNP steht für Flächennutzungsplan. Jetzt entsteht hier ein S-förmiges Gebäude. „Und warum diese Form?“, fragt er und antwortet gleich selbst: „Damit für noch mehr Wohnungen das Argument Parkblick gelten kann.“

Bauer hat nichts gegen Neubauten. Aber er findet es problematisch, dass hier falsche Erwartungen geweckt werden. So ist es schon am Mauerpark in Prenzlauer Berg oder an den Luxusbauten am Friedrichshain oder am Teutoburger Platz gewesen. Da kosten 70 Quadratmeter so viel wie eine kleine Stadtvilla an der Stadtgrenze zu Brandenburg – und manche bezahlen es trotzdem. Und dann wundern sich die Erstbezügler, dass der nahe gelegene U-Bahnhof Yorckstraße ausgerechnet der hässlichste der Stadt ist und dass gleich neben dem Park etwas beginnt, das die Alteingesessenen ganz nonchalant „Babystrich“ nennen und dann schnell das Thema wechseln.

Beate K. Seiferth ist vor einem Vierteljahrhundert in eine der Sozialwohnungen am Park gezogen. Wenn sie auf einer Skala von 1 bis 10 beschreiben soll, wie sich die gefühlte Bedrohungslage verändert habe in ihrem Wohnviertel, sagt sie: „Als der Park eröffnet wurde, war es ganz klar eine Null — und aktuell ist es eindeutig eine 15.“ Sie sagt, die Partys gehen am Wochenende teilweise bis 7 Uhr morgens, Technomusik, Rap, dunkle Bässe. „Am Anfang bin ich noch selbst hin und hab‘ um Ruhe gebeten“, sagt die 60-Jährige. „Aber bis ich bei meiner Wohnung ankam, war es schon wieder laut.“ Neulich wurde sie mit einer Bierflasche bedroht, als sie um Ruhe bat. Seitdem ruft sie nur noch die Polizei. „Vor ein paar Tagen kam noch eine Vergewaltigung hinzu“, sagt sie, „und jedes Wochenende macht dieser Park einer Müllkippe Konkurrenz.“

Im Spät-Frühsommer 2020 wurde es Seiferth zu viel. Sie druckte A4-Flyer, auf denen dreimal groß stand: „Schluss mit Ballermann am Gleisdreieckpark!!!“ Wobei Ballermann es nicht richtig trifft. Wer an Ballermann denkt, dem fallen nicht Kot und Ratten auf Spielplätzen ein, oder Spritzen, die in Baumstämmen stecken, benutzte Tampons und Kondome in den Büschen. Plus der entsprechende Geruch. Diese Streifen-Flyer klebte sie an Türen im Kiez und forderte einen runden Tisch. Rund 40 bis 50 Menschen trafen sich zu einem ersten Treffen auf den Plastikstühlen im Café Eule, alle hatten eine Horrorgeschichte parat. Ein paar Wochen später gründete sich die Bürgerinitiative Gemeinsam fürs Grüne Gleisdreieck.

Zum Beispiel die Geschichte, die Beate K. Seiferth erlebt hat: „Da gehe ich den Weg durch den Westteil des Parks zwischen U1 und U2 vorbei, dort stehen mehrere Jugendliche, die ganz aufgeregt sind, weil einer von ihnen am Boden liegt. Sie bitten mich inständig, die Polizei zu rufen. Sie hätten kein Handy. Als doch eines aus der Tasche eines der Jungs herausschaut, werde ich misstrauisch. Offenbar wollten sie unsere Handys abziehen. Zum Glück war ich nicht allein, wir sind weiter, der Junge am Boden stand längst wieder auf, sie warteten auf das nächste Opfer.“

Aus dem ersten Anwohnertreffen hätte eine große Bürgerbewegung werden können, wären Demonstrationen, vielleicht ein gemeinsames Sit-in im Park gefolgt. Aber weil die Stadt, das Land und der Planet von einem Virus heimgesucht wurden, kann Beate K. Seiferth sich an fünf Zoom-Sitzungen erinnern. „Herausgekommen ist“, sagt sie, „dass es jetzt zwei große Mülleimer im Park gibt.“

Die von den Architekten für diesen Park designten Mülleimer haben nur kleine Löcher, da passen keine Pizzakartons hinein. Sonst änderte sich wenig. Und dann ging eben im Frühjahr 2021 die Sache mit den E-Scootern und den Feuerlöschern los. Wieder trafen sich die Bürger und beratschlagten. „Ich hätte nie gedacht“, sagt Beate Seiferth, „dass ich einmal mehr Polizeipräsenz möchte.“ Aber es gehe nicht anders.

Matthias Bauer weiß um diese Probleme und er moderiert Streitgespräche dazu in seinem Blog. Neulich wurde eine Mauer im Park aufgebaut. Die BVG hat unter dem Viadukt Absperrungen errichten lassen. „Der Bau steht unter Denkmalschutz“, sagt Bauer, „und ist über 100 Jahre alt.“ Er soll irgendwann erneuert werden, aber wahrscheinlich gehe es auch darum, sagt er, mit der Sanierung schon mal offiziell zu beginnen, bevor sie durch andere Neubauten kompliziert wird. Für Graffitikünstler ist das eine willkommene Aufforderung. „Aber es ist auch ein Freiraum weniger für das Auge“, sagt Bauer. „Andererseits weiß man im Park am Gleisdreieck immer, dass man in einer Großstadt ist.“

Im östlichen Teil des Parks, der im Herbst zehnjähriges Jubiläum feiert, sind die Probleme ähnlich. Gesäubert wird der Park so gut es geht von der Firma Grün Berlin, aber im Jahr 2020 erhöhten sich die Kosten für die Reinigung von rund 230.000 Euro um rund die Hälfte. Zu häufig war es zu mutwilliger Zerstörung gekommen. Auf Anfrage sagt eine Sprecherin von Grün Berlin: „Wir beseitigen die Müllberge täglich – jeden Morgen.“ An einigen Orten der Parkanlage wurden zusätzliche Abfallbehälter installiert. „Die werden bisher gut angenommen, jedoch auch für die Entsorgung von Haus- und Sperrmüll genutzt.“ Weitere Behälter sollen folgen.

Wer diesen Park im Juni 2021 besucht, der trifft ähnlich wie im Westteil viele Sportler, ein paar Hip-Hop-Tänzer, und hört den Satz: „Wo wollen wir es machen?“ Und die passende Antwort: „Warte, hier schauen zu viele zu.“ Dieser ungelenke Dialog zwischen Dealer und Käufer ist auch am Tag zu hören. Abends dann Jugendliche in Gruppen, die um eine kleine USB-Box sitzen. Einer macht ein Foto von seinen Schuhen im Gras. Dann zoomt er ganz nah ran: noch ein Foto. Dann gibt sein Nachbar ihm den Joint.

„Am Wochenende“, sagt Joye, 20, „sind es zehnmal so viele.“ Der gebürtige Berliner wohnt in Wedding, studiert Politik an der Freien Universität und „hängt hier oft ab“, wie er sagt. Er hat gerade Besuch aus Frankreich. „Wo sollen wir sonst hin?“ Die Clubs haben zwar gerade wieder aufgemacht, aber er sagt voraus, dass es noch eine Weile dauern wird – weil diese Art des Feierns auch günstiger sei. Bier oder Sekt vom Späti – und viele andere im gleichen Alter. „Da lohnt sich die Herfahrt.“

Das ist ein Satz, den man oft hört von jungen Erwachsenen, die außerhalb des Rings wohnen, in Pankow, in Friedenau, aber hier feiern oder Volleyball spielen. Sport & Spiel eben. Dann eine Zigarette rauchen und sie fallen lassen.

Grün Berlin hat im Ostteil des Parks einen riesigen Zigarettenstummel aufgestellt. Der soll die Parkbesucher daran erinnern, dass sie ihren Müll wieder mitnehmen. Funktioniert hat das bisher nicht. Sobald es dunkel wird, ist nicht mehr genau auszumachen, ob der Schatten, der sich gerade im Busch bewegt hat, ein Fuchs, ein Kaninchen oder eine Ratte ist. Nicht alle Scherben kann Grün Berlin von der Wiese aufsammeln. Auf die Frage, ob sie überfordert sind, antwortet die Sprecherin: „Wir erfüllen unsere Aufgaben in der Bewirtschaftung und Pflege der Anlagen vollumfänglich.“ Und selbst die kritischsten Anwohner sagen: Ab acht Uhr ist es meistens sauber.

Doch langsam bewegt sich auch einiges auf politischer Seite. Mehrere Anträge sind in die BVV eingegangen und werden wohl noch diesen Sommer umgesetzt: Die FDP will Parknutzer mit Flyern über ihre Pflichten informieren. Vier Toilettenanlagen sollen installiert werden. Die liberale Partei bringt auch eine Umzäunung ins Spiel. Nach 22 Uhr wäre dann Schluss im Park. Klaus Lederer (Linke) hatte dagegen verkünden lassen, dass er einen „Sommer der Ermöglichung“ möchte, in dem Menschen einander begegnen.

Und die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) sagt: „Ich wünsche mir für alle Grünorte, ob Parks oder Spielplätze, dass sie wieder Orte mit positiver Aufenthaltsqualität werden. Und ich wünsche mir, dass die Menschen endlich ihre Verantwortung für die Gemeinwesenflächen übernehmen und dieser unerträgliche Egoismus aufhört.“ Fernab solcher Worte möchte sie durchsetzen, dass tagsüber und abends Ordnungskräfte vor Ort sind. So sollen Situationen erst gar nicht entstehen, die eine polizeiliche Unterstützung nötig machen.

Kristiana Elig vom Café Eule würde sich zumindest über mehr Engagement von politischer Seite freuen. Sie hat am Montag dem Innensenator Andreas Geisel eine E-Mail geschrieben. Seitdem ist es spürbar ruhiger. „Bei mir ist sowieso Scooter-Verbot“, sagt sie, „das darf ich durchsetzen, ich hab das Hausrecht.“ Wie das Wochenende wird, wagt sie nicht vorauszusagen. Sie bleibt dabei: „Der Park ist übernutzt.“

Beate K. Seiferth wird sich weiter einsetzen für mehr Ruhe, weniger Vandalismus und Abfall im Park. „Es gibt manchmal total nette Momente im Park“, sagt sie. Tagsüber hat sie einen schönen Blick in die Baumkronen. „Schon ein großer Luxus.“ Neulich hat ihr einer der Partypeople, wie sie die Feiernden nennt, zugerufen: „Was ziehst du auch an einen Park. Dann zieh doch weg.“ Sie hat gesagt: „Ich war hier, als es den Park noch gar nicht gab.“

Migranten engagieren sich leider selten in Initiativen

Und Matthias Bauer hat ein neues Thema gefunden, um das er sich kümmert. Am Rande des Westparks, auf einem 500 Meter langen Grundstück,  planen Investoren sieben Hochhäuser, zwischen 60 und 90 Meter hoch. „Urbane Mitte“ heißt das. Aber Bauer hat gemerkt, dass sich sein Engagement gelohnt hat. Ohne Menschen wie ihn sähe es jetzt anders aus an diesem Park. Dann hätten die Stadtdesigner, die „Sport & Spiel“, „Strand & Sitztribüne“ sowie „Naturerfahrungsraum“ als ein ernsthaftes Freizeitangebot für Berliner Jugendliche verstehen, vielleicht gewonnen. „Denn das war doch das besondere hier, an diesem Park“, sagt Bauer, „dass die Natur sich den Platz zurückerobert hatte.“

Er findet das erhaltenswert, weil sich nur so Stadtgeschichte erklären lässt. Dieser Park, der bis zum Zweiten Weltkrieg nur ein Güterbahnhof war und in dem dann ein Fußballplatz nach Fifa-Regeln entstehen sollte. Bauer: „Wurde dann zum Glück nicht gebaut.“ Gegen die geplanten Hochhäuser am Gleisdreieck formierten sich inzwischen elf Initiativen. Bauer fiel dabei etwas auf: „Es waren kaum Migranten und kaum junge Menschen unter denen, die sich engagierten.“ Er hofft, das ändert sich. Denn das war ja mal seine Idee, der Park für alle.

Mitarbeit: Maxi Beigang

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 19.6.2021.

Die Endgegnerin

Berlin – Es ist vor dem EM-Achtelfinale, Deutschland ist noch nicht rausgeflogen, als der Verteidiger in Richtung Richterpult fragt: „Pfeifen Sie ab oder darf ich noch eine Frage stellen?“ Er darf und so geht es noch einmal an diesem heißen Sommertag um Anrufe und Chat-Nachrichten zwischen Bandenchef Arafat Abou-Chaker und Anna-Maria Ferchichi. Der Anwalt ihres Mannes Bushido gibt ihr deutlich zu verstehen, dass sie gar nichts sagen müsse. Aber sie beschwichtigt: „Nein, ich kann etwas dazu sagen, kein Problem!“ Dann legt sie los: dass Arafat nicht „100 Prozent Schuld“ an ihrer Trennung habe („eher 80 Prozent“), dass ihr Mann in jener Zeit eben ein „Riesenarschloch“ gewesen sei und Arafat ein „totaler Kontrollfreak“ – und am Ende der Aussage kommt noch dieser Satz, etwas überraschend: „Mein Mann und ich hatten auch Sex, wenn wir uns gestritten haben.“

Das hatte gar niemand so genau wissen wollen, und an dieser Stelle pfeift der Vorsitzende Richter Martin Mrosk dann doch ab. Ein weiterer Tag in diesem seltsamen, wunderbaren und irgendwie historischen Prozess über das Ende einer Freundschaft, die vielleicht nie eine war. Seit zehn Monaten versucht die Berliner Justiz, Licht in eine Halbwelt aus Musik, Drogen, Macht und sehr viel Geld zu bringen. Rapper Bushido hat diese Welt nicht nur in seinen Liedern immer wieder besungen, sondern bis zu einem gewissen Grad gelebt. Immer dabei: sein Kumpel und Freund Arafat Abou-Chaker. 13 Jahre lang war er der Mann hinter Bushido, begleitete ihn auf Tour, bestimmte, wer zu ihm durfte und wer nicht. „Ari“, wie Bushido ihn damals nannte, beanspruchte dafür einen großen Anteil der Einnahmen für sich. Fast zehn Millionen Euro soll er über die Jahre von Bushido bekommen haben.

Als Anis „Bushido“ Ferchichi im Januar 2018 dieses Verhältnis beenden will, kommt es zu dem, was schließlich die Grundlage für diesen Prozess ist: Arafat und seine drei Brüder Nasser, Yasser und Rommel sollen den Sänger beleidigt, bedroht, bedrängt und geschlagen haben. Arafat gehört zur kriminellen Großfamilie der Abou-Chakers. Er habe um sein Leben und das seiner Familie gefürchtet und tue das bis heute, sagte er. Der Prozess gegen die vier Brüder findet unter Polizeischutz statt, jene Maßnahme, unter der auch sein Familienleben stattfindet seit der Trennung von Abou-Chaker. Arafat und seine Brüder verweigern ihre Aussage bisher. Bushido ist Nebenkläger in dem Fall und hat an 25 Prozesstagen gesprochen, geplant waren acht. Seit zwei Wochen spricht jetzt seine Frau, und wird das nach der nun folgenden Sommerpause weiter tun – wenn ihr Körper es erlaubt. Sie ist im fünften Monat schwanger, mit Drillingen.

Hatte der Prozess zuletzt an Fahrt verloren, entblättert sich im Laufe der vergangenen zwei Wochen im Saal 500 des Landgerichts Moabit an der Turmstraße einmal mehr ein Sittengemälde, ein dichter Einblick in diese toxische Dreiecksbeziehung zwischen Anis, Arafat und Anna-Maria. Das vierte Wort mit A, das unbedingt dazu gehört, ist „Angst“. Doch diese Frau geht in Begleitung des vermummten Polizeischutzes durch die Gänge des Hauses, ihre Turnschuhe sind schneeweiß, die Jeans eng, sie stellt ihre Wasserflasche auf den Tisch, nimmt ihren Mund-Nasen-Schutz ab und beantwortet selbstsicher jede Frage des Vorsitzenden Richters, der Staatsanwältin und die der Anwälte der Abou-Chakers. Außerdem kämpft sie an der Seite ihres Mannes auch außerhalb des Gerichtssaals. Denn im Jahr 2021 gibt es Videos auf Portalen wie Twitch und gibt es Chat-Nachrichten, die zehn Jahre später noch einmal ganz neu verhandelt werden.

Wie Anna-Maria Ferchichi Bushidos Leben betreten hat, ist in der Klatschpresse gut dokumentiert. Es ist die Nacht zum 2. Februar 2011, sie ist seit drei Monaten von Nationalspieler Mesut Özil getrennt, für den sie zum Islam übergetreten war. Ihr muslimischer Name lautet „Melek“, Engel. Sie wollte „keine Spielerfrau“ sein, sagte sie damals. Bei einer Promi-Nacht in Köln wird sie dabei beobachtet, wie sie kurz vor 3 Uhr morgens mit Bushido in dessen Hotel geht. Am nächsten Morgen stolpert sie auf die Straße, trägt noch das T-Shirt, das ihr der Rapper geliehen hat. Kurz darauf wird er sie anrufen und er wird „so niedlich klingen“, dass sie ihn wiedersehen will. Das sagt sie gegenüber RTL vor ein paar Tagen bei einer Homestory. Bei der Bambi-Verleihung 2011 bekommt Bushido den Integrations-Bambi, Anna-Maria steht mit ihm auf dem roten Teppich, ein halbes Jahr später ist sie schwanger. Hochzeit im Mai 2012.

Um diese Hochzeit geht es auch vor Gericht. „Arafat wollte uns verbieten, Alkohol an unsere Gäste auszuschenken“, sagt Anna-Maria Ferchichi. „Ich war ja damals auch schwanger, aber ich wollte meinen Gästen das Trinken nicht verbieten.“ Arafat habe schon damals begonnen, immer religiöser zu leben. Aber dass er ihr in die Planung der Hochzeit hineinreden wollte, empfand sie als übergriffig. „Mein Mann ist eigentlich sehr dominant“, sagt sie, „aber gegenüber Arafat war er sehr devot.“ Als sie Bushido sagte, dass sie Arafats Verhalten respektlos empfinde, war seine Antwort: „Mach keinen Stress.“ Auf die Frage, ob es Alkohol gab, sagt sie knapp, mit ein bisschen Triumph in der Stimme: „Es gab Alkohol.“ Auch in den Jahren danach habe Arafat immer wieder versucht ihr Leben zu kontrollieren. Wenn sie sich wehrte, nannte er sie „Hurentochter“ oder „Hure“. Anna-Maria: „Es war so lächerlich.“

Schon an solchen Bemerkungen in Richtung des Angeklagten Arafat wird klar, was Ferchichis Rolle ist. Sie fordert das von Arafat ein, was Arafat von Bushido einfordert, und Bushido von der ganzen Welt: Respekt. Je mehr die Ehefrau mitbekommt von der illegalen Welt, von der Gangsterrap nun einmal handelt, umso mehr musste Bushido beide Welten voreinander schützen. Er selbst kannte die Grundregel: „Keine Polizei.“ Probleme regeln wir unter uns. Seine Frau aber sieht bis heute nicht ein, warum es im Leben ihres Mannes anders zu zugehen sollte, als – zum Beispiel in der Welt ihrer Schwester Sarah Connor.

„Meine Schwester ist ja berühmt“, sagt Ferchichi, „und ich habe da gesehen, wie das Musikbusiness funktioniert.“ Niemals habe sie gehört, dass ein Manager 50 Prozent von den Einnahmen eines Künstlers bekam. Arafat ruft feixend in den Saal: „Ich schon.“ Vor Gericht wird diskutiert, ob er überhaupt diese Management-Funktion in Bushidos Leben ausgefüllt habe. „Immer musste mein Mann antanzen, wenn Arafat ihn irgendwelchen Freunden vorführen wollte.“ Dabei sei es egal gewesen, ob eines der Kinder eine Schulaufführung hatte, mit Lungenentzündung im Krankenhaus lag oder Bushido selbst Geburtstag hatte. „Wie ein Maskottchen“ habe Abou-Chaker ihren Mann behandelt. „Er hat alles bestimmt in unserem Leben.“ Wenn sie ein Handy zur Reparatur geben wollte, fragte sie Arafat. „Ich durfte noch nicht mal den Reifen meines Autos wechseln lassen, ohne mit Arafat vorher Kontakt zu haben.“

Der Richter Mrosk baut bei ihren Auftritten ein paar mehr Pausen ein als bei ihrem Mann. Das fällt auf. „Das wird Ihnen ihr Mann erzählt haben“, sagt er, „dass so ein Prozess auch oft aus Warten besteht.“ Er unterbricht auch dann, wenn Anna-Maria sagt: „Ich brauche keine Pause.“ Er sorgt für eine lockere, menschliche Atmosphäre bei Gericht, auch wenn bei anderen die Nerven längst blank liegen. Als der Chatverlauf zwischen Abou-Chaker und Anna-Maria Ferchichi verlesen werden soll, spricht er die Rolle des Bandenchefs. Das sorgt für Erheiterung im Saal. Und als am Mittwoch einer der Verteidiger sagt, dass es nach Marihuana rieche im Saal, da bestätigt er „mit der langjährigen Erfahrung aus dem Drogendezernat“ den Geruch als: „eindeutig Kiff“. Es ist einer dieser Momente, in denen der Richter den Saal räumen lässt, auch: aus Respekt.

Nach über 40 Verhandlungstagen ist jedoch noch immer nicht klar, wie dieser Prozess enden wird. Zwischen Freispruch und Haftstrafe ist alles möglich. Draußen an der Tür hängt die Liste der geplanten Prozesstage, sie reicht bis Ende des Jahres. Es sollen noch mehrere Zeugen vernommen werden. Doch einer der Zeugen aus dem Umfeld der Abou-Chakers wurde inzwischen abgeschoben. Ob er aus Istanbul für den Prozess nach Berlin kommt, ist offen.

Umso interessanter ist deshalb jeder Tag, an dem diese Welten aufeinanderprallen, deren einzige Gemeinsamkeit ist, dass alle im Saal während der Corona-Monate an Gewicht zugelegt haben. Auffällig auch, dass sich Arafat so lange geweigert hat, eine Maske zu tragen, doch jetzt, wo es diese in Schwarz gibt, trägt er sie, wenn auch oft unterhalb der Nase. Obwohl die Folgen der Pandemie auch hier im Saal spürbar waren: Arafats Mutter starb an Corona, Bushido selbst hatte Covid-19. Die Zuschauerzahl und die Sitze der Presse sind stark begrenzt. Und so entwickelt sich an guten Tagen trotz der finsteren Blicke der Polizisten eine Stimmung wie auf Klassenfahrt.

Erst in dieser Woche wieder steht Arafat direkt neben den Journalisten, spricht mit der Kollegin der BILD über seine Schuhe, Marke Gucci, er sagt „Gucki“. Niemand lacht. Mit dem Richter kumpelt er am Eingang zum Saal über die Niederlage der Nationalelf im Achtelfinale. „Sind wir jetzt alle für die Schweiz?“ Und Bushidos Anwalt fragt er, ob er mal „gepumpt“ habe, also Gewichte gestemmt. „Nee, echt jetzt, sieht so aus.“

Hatte man in den ersten Gerichtstagen manchmal das Gefühl, Arafats Augen sind ein bisschen zu glasig für die Tageszeit, wirkt er im Laufe der Monate immer beherrschter. Seine Demonstration von Macht findet außerhalb des Gerichtsgebäudes statt. Genauer: Schon am Treppenabsatz. Wenn Arafat den wuchtigen Bau verlässt, wird er manchmal von TV-Journalisten empfangen, die ihm zur Begrüßung den Arm um die Schultern legen. Es heißt, genau wie die Ferchichis bereitet auch er eine Dokumentation vor, die sicherlich pünktlich nach Prozess-Ende erscheinen wird.

Anna-Maria Ferchichi macht deutlich, dass sie nie von Arafat oder von dessen Entourage beeindruckt war. „Wenn du für diese Männer ins Gefängnis gehst, werde ich dich verlassen“, habe sie damals zu Bushido gesagt. Parallel habe sie sich mit den Frauen der Abou-Chaker-Brüder, inzwischen Ex-Frauen, angefreundet. Die Kinder tauschten Kuscheltiere. Man fuhr gemeinsam in Urlaube, ihr Mann wollte da schon lieber zuhause bleiben. Dabei bereitete man damals im Jahr 2017 den Einzug auf ein gemeinsames Grundstück in Kleinmachnow vor. „Wäre das nicht passiert, säße ich nicht hier.“ Alles wollte wieder Arafat bestimmen. „Es gab noch nicht einmal Platz für meine drei Autos“, sagt sie vor Gericht. Sie wollte einen Zaun anders ziehen als Arafat, wieder gibt es Geschrei mit sehr expliziten Kraftausdrücken. Arafat habe behauptet, ihr seien „Eier gewachsen“.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass es auch außerhalb des Gerichtssaals vor der Sommerpause hoch her ging. Während sich Arafat vor Gericht weiterhin weigert auszusagen, sich aber indirekt doch immer wieder äußert, war es in der vergangenen Woche das Medium Twitch, das die Aufmerksamkeit der Prozessbeteiligten band. Auf diesem unter Jugendlichen beliebten Portal veröffentlichte jemand anonym ein Video, das Bushido im Jahr 2005 zeigt, eng umschlungen mit einem Mädchen. Bushido in Boxershorts.

In dem aufgezeichneten Gespräch im Video wird deutlich, dass Bushido nicht weiß, wie alt das Mädchen ist. Das 16 Jahre alte Video soll den Rapper beschädigen. Bushido selbst antwortet mit einem 90-minütigem Twitch-Video und geht das Video in voller Länge fast sekundengenau durch. Man merkt ihm an, dass er Erfahrungen als Zeuge gesammelt hat. Souverän versucht er, den Vorwurf der Verführung Minderjähriger auszuräumen. Niemals seien Minderjährige in den Backstage-Bereich gelassen worden. Es gab da vom Veranstalter ganz klare Regel. Jetzt – als Familienvater – sei er trotzdem nicht stolz auf diese Szenen. Gleichzeitig empfängt seine Frau den Sender RTL für eine Homestory und hier ist es passend, dass sie erzählt, wie oft sie Sex hat mit ihrem Mann („fast täglich“). Sie zeigt auch stolz ihr Ehebett.

All diese Nebenschauplätze haben offenbar die Nerven der Anwälte beider Seiten aufgerieben. Als deutlich wird, das Anna-Maria Ferchichi von den Chat-Verläufen, die von der Verteidigung eingebracht werden, erfahren hat, vermutet Arafats Verteidiger, Bushidos Anwalt habe sie informiert, obwohl er nicht ihr Anwalt ist. Der verneint, und als der Verteidiger mit schneidender Stimme dabei bleibt, reagiert er wütend: „Sie müssen mir nicht vorschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe!“ Der Verteidiger: „Muss ich nicht, aber ich tue es.“ Kurz darauf beginnen beide zu schreien. Fast wirkt es so, als identifizieren sich beide Anwälte zu sehr mit ihren Mandanten. Anna-Maria Ferchichi bleibt jedoch bis auf wenige Tränenausbrüche beherrscht. Bushido hatte einmal über sie gesagt: „Sie ist der Grund, warum ich irgendwann meinen Scheiß-Mut zusammengenommen habe.“

Von diesem Moment erzählt sie zuletzt, kurz vor der „Sommerpause“ für diese Show im Saal 500. Im Januar 2018 ist es soweit, Bushido habe versucht, sich endgültig von Arafat loszusagen, liege anschließend geprügelt in den Armen seiner Frau, erzähle, dass Arafat ihm gedroht habe, seine ganze Familie zu „ficken“. Diese Drohung kann in der Welt des Gangsterrap vieles bedeuten: von Gewalt über Mord bis hin zur Vergewaltigung. „Das war keine Freundschaft“, sagt Anna-Maria Ferchichi, „das war völlige Überwachung und Kontrolle.“ Die Wut über diesen Tag hat sich bis heute bei ihr gehalten. „Ich sage Ihnen, es war gut, dass mein Mann mir damals nicht alles erzählt hat“, sagt sie. „Ich wäre Amok gelaufen.“

In den Wochen nach diesem Tag aber habe sie in manchen Momenten eine gewisse Freiheit verspürt. „Hey, schon eine Woche“, habe Bushido gesagt, „und noch nichts von Arafat gehört!“ Kurz darauf: „Schon zehn Tage“. Sie zeigt auf die Sicherheitsbeamten und sagt, niemand solle sich eine Illusion machen, dass ihr Leben angenehm sei unter Polizeischutz. Das sei es nicht. Ihr sei das bewusst gewesen, sagt sie, als sie das LKA anrief. Sie weiß noch genau, wie sie in das Nebenzimmer ging und diese Entscheidung fällte. Für ihren Mann, für ihre Kinder. Aus Respekt vor sich selbst. Am Mittwoch kam sie nicht ins Gericht, wegen Komplikationen in der Schwangerschaft. Der Verteidiger verlangte sofort mit Nachdruck ein Attest. Die Kinder in ihrem Bauch, es werden drei Mädchen.

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 3.7.2021.

Merkel und Laschet in Bad Münstereifel

Sie sollen sich das einmal vorstellen wie eine Sandburg, sagt Elmar Mettke zu zwei Fernsehjournalistinnen des US-Senders ABC. „Wie eine Sandburg an der Nordsee.“ Obwohl Mettke ein auffallend schönes Englisch spricht, ist nicht klar, ob die beiden Frauen wissen, wie ein „sand castle at the north sea“ aussieht. Mettke fährt fort: „Wenn Sie neben dieser Sandburg während der Ebbe einen Graben ausheben und dann kommt die Flut, dann läuft dieser Graben erst voll und irgendwann…“ Er macht eine Pause, zeigt mit seinen beiden Händen den Graben in der Luft und deutet mit den Fingern an, wie etwas bröckelt. Die beiden Frauen nicken höflich. „Naja, die Burg stürzt dann einfach ins Wasser.“ Aber das wisse man hier eben noch nicht. „Die Wissenschaftler müssen jetzt herausfinden, ob der Ort Blessem so wie die Sandburg reagiert.“

Elmar Mettke ist eigentlich Anwalt. Dass er in dieser Woche auf der Brücke Journalisten aus aller Welt (darunter Dubai, Frankreich, Türkei und Indien), die Geschichte von der Sandburg im Graben erzählt, hat damit zu tun, dass er mit 16 Jahren der Freiwilligen Feuerwehr des Ortes Erftstadt beigetreten ist. Und Erftstadt ist jetzt weltweit bekannt. Hier entstand am 15. Juli, vor eineinhalb Wochen, ein Foto, dass diesen Ort neben einer Kiesgrube in Nordrhein-Westfalen plötzlich in eine Reihe stellte mit Katastrophenregionen in Indonesien, Bangladesch und New Orleans. Dieses Bild sagt auch: Die Umweltkatastrophen haben die reichen Länder erreicht.

Das Wetter spielt verrückt, der Starkregen in Deutschland, Grund dieser Katastrophe, hat in den letzten zwanzig Jahren zugenommen. In Kanada wabert eine Hitzewelle, im Westen der USA gibt es erneut Waldbrände, China, Mitteleuropa, jetzt auch die Türkei versinken in den Fluten. Extremwetter wie diese werden in Zukunft häufiger vorkommen. Die aufgeheizte Atmosphäre verändert die Welt. Der Klimawandel ist da. Auch hier.

Auf dem Bild aus Erftstadt ist deutlich zu erkennen, wie aus der Kiesgrube ein reißender Fluss geworden ist, wie Häuser in der Mitte abbrechen und in braunen Fluten verschwinden. Auf anderen Fotos aus der Gegend hängen Autos in Bäumen, brechen Brücken durch, tauchen Autobahnen ab, stehen Menschen auf Häusern und rufen um Hilfe. Manche von ihnen haben das nicht mehr geschafft, in einigen Gegenden sind die Zimmer im ersten Stock innerhalb weniger Minuten so schnell voller Wasser gelaufen, das die Bewohner ertrinken. Ein Mann erzählt in eine Kamera, dass sein LKW innerhalb von fünf Minuten volllief. Mehr als 170 Menschenleben sind derzeit zu beklagen. Noch immer werden Menschen vermisst.

Am Ende dieser Woche ist dieses Land ein anderes. Als am Freitag 18 Uhr die Glocken in allen evangelischen Kirchen des Landes läuten, um an die Toten der Flut zu erinnern, da sind die ersten Bürger von Erftstadt-Blessem schon wieder in ihre Häuser eingezogen. Bedingung ist, dass sie 100 Meter oder weiter vom Rand des Erdrutsches entfernt wohnen und nicht näher an den Abgrund herangehen. Zwar leben sie ohne Strom und ohne fließend Wasser, aber es ist das was sie Zuhause nennen.

Spätestens beim Klang der Kirchenglocken im ganzen Land dämmert es vielleicht wirklich allen, dass es bei dieser Flut keine wirklich Unbeteiligten mehr gibt, dass diese Flut eben doch anders ist, dass sie das Leben aller Deutschen beeinflussen wird: Weil die Abstände kleiner werden, weil das Wort Jahrhundertflut eben nur einmal im Jahrhundert passt, weil sie Probleme im Warnsystem offengelegt hat, weil der Klimawandel endgültig Wahlkampfthema geworden für die kommende Bundestagswahl — und weil diese Wassermassen, die sich dort in Erftstadt-Blessem Bahn brachen, überall im Kontinent auftauchen können.

Zum Glück gibt es jemanden wie Elmar Mettke, der selbst bei dramatischen Momenten die Nerven behält. Mit seiner unterhaltsamen Art kann er einer weltweiten Klimakrise, die über einem Dorf einbricht, die Spitze nehmen, ohne dabei pietätlos zu werden. Mettke erzählt von einem Mann, der ihn am Abend des 15. Juli um Hilfe flehte. Mettke erzählt: „Seine Frau sei noch im Haus, mit Baby! Also bin ich zusammen mit anderen hin und wir konnten die Frau samt Kind retten, da sagt der Mann: ‚Aber mein Hund!‘ Ich holte den Hund aus dem Haus. Da sagt der Mann: ‚Und meine Katze?‘ In diesem Moment brach eine Mauer an der Seite des Hauses unter den Wassermassen zusammen.“ Mettke sagte dem Mann, dass sie jetzt so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone fliehen müssten. Die Zuhörer auf der Brücke lachen für einen Moment. Wie bestellt fährt ein Wagen des Tierschutzbundes aus dem Katastrophengebiet über die Brücke. Doch Mettke wird ernst: „Sehen Sie, so schnell kann es gehen, dass man einmal lacht…“

Alle Bürger in der Region verstehen diese Anspielung. Jeder hat vor einer Woche das Lachen des konservativen Kanzlerkandidaten gesehen, das genau neben dieser Brücke entstand. Armin Laschet stand hinter dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der gerade sein Beileid den Bürgern der Katastrophenregionen aussprach. Doch jemand machte im Hintergrund in der wartenden Gruppe mit Laschet einen Witz — und schon entstand der Moment, der manche Anwohner, die jahrelang in der CDU waren, zum Austritt trieb. Wie Laschet seine Zunge lachend hervor schiebt, das Bild wird in Jahresrückblicken eine Rolle spielen und dann noch einmal Menschen wütend machen. Diese Menschen, sie erzählen das an der Brücke und auch weiter weg in anderen Regionen mit zu viel Wasser in den Straßen.

„Ich bin kein Freund der Union“, sagt zum Beispiel Ralf Kaiser, ein Bewohner aus Blessem, „aber das hat den Menschen hier wirklich wehgetan.“ Kaiser ist am Montag dieser Woche 60 Jahre alt geworden. Er hatte eine Feier geplant mit seiner Familie, im Haus an der Erft. „Aber ich hatte noch Glück“, sagt er, „bei mir stand das Wasser nur im Erdgeschoss.“ Einige seiner Nachbarn haben gar kein Haus mehr, in das sie zurückkehren können. „Ich lade sie ein, dass sie erst einmal bei mir bleiben.“ Doch zurück zu Laschet: Kaiser sagt, wenn er zu einer Beerdigung gehe, dann ziehe man sich doch schwarze Kleidung an. „Wer sich dann nicht entsprechend benehmen kann, der hat keinen Schneid.“ Insgesamt aber fand Ralf Kaiser es gut, dass die Politiker sich auf den Weg in die Katastrophenregion gemacht haben. „Wir sind hier alle unter Schock“, sagt er, „wir wollen einfach wieder in unsere eigenen vier Wände.“

Es ist noch nicht klar, wie lange es dauern wird, bis die Dörfer und Städte, die vom Hochwasser zerstört wurden, wieder aufgebaut sind.

Diese Woche hat er wie viele Bürger von Blessem im Ville-Gymnasium im Nachbar-Ortsteil verbracht. Dort wurde in sehr kurzer Zeit eine Notunterkunft geschaffen, mit Hilfe des Roten Kreuzes, das rund um die Uhr für die Bürger da ist. In der Schulkantine gibt es kostenloses Essen, Tee und Kaffee. Im Raum daneben liegen Kleider bereit für die, die nichts mehr retten konnten. Doch, und das ist neu bei dieser Katastrophe, zum festen Stamm bei solchen Einsätzen zählt eine Gruppe von Seelsorgern. Sie setzen sich mit Menschen in einen Teil der Schule und sprechen darüber, wie ein Leben nach der Katastrophe aussehen kann. Einer erzählt, dass er fünf Minuten hatte, um das wichtigste zu greifen, bis die Fluten es verschluckten. Er hält dabei die Hand seines Sohnes, der wiederum die Pfote eines kleinen Kuschel-Tigers drückt und nach oben schaut, was die Erwachsenen da reden.

Karl Berger kann nicht in der Unterkunft sein. Er muss so nah wie möglich an sein Haus. Er geht also zu einem der Übergänge nach Blessem und steht zwischen Schränken und Bettwäsche, die zusammengeschoben und schmutzig am Straßenrand aufgebaut sind. Er schaut und redet. „Das längste, was ich bisher geschlafen habe“, sagt der 65-Jährige, „sind 3,5 Stunden.“ Er habe ein Wohnmobil und sonst könne er auch in das Gymnasium und habe zur Not auch Freude und Familie im Ort. „Aber man ist eben angespannt, wie das jetzt weitergeht mit dem Ort.“ Einige der Rettungskräfte hatten angedeutet, dass sie vielleicht gar nicht mehr in ihren Ort zurück dürfen. Zu unsicher, das Leben an einer Abbruchkante. „Das einzige, was mich wirklich freut“, sagt Berger, „ist, dass so viele füreinander da sind gerade.“

Das ist etwas, was man immer wieder hört an verschiedenen Stellen des Katastrophengebiets. Der Anwalt/Feuerwehr-Sprecher Elmar Mettke hat dazu auch eine Geschichte: Als er für einen kurzen Besuch in seine Kanzlei ging, lag dort ein Zettel auf dem Tisch, den seine Sekretärin geschrieben hatte. Er legte also einen dicken Filzstift über den Namen des Mandanten und fotografierte das Schreiben. Auf der Brücke zeigt er das Foto jedem Menschen, mit denen er redet. Auf dem Zettel steht in deutlicher Schreibschrfit: „X hat angerufen, er will seine Klage zurückziehen. Der Nachbar, den er angezeigt hat, hat ihm in der Flut geholfen.“

Ein paar Kilometer südlich von Erftstadt, in Bad Münstereifel, hängt ein ganz ähnlicher Zettel am Schaufenster des „Alt&Neu“ Ladens. Darauf steht mit rotem Filzstift: „Freunde, Fremde, ihr tollen Menschen! Danke für Eure Hilfe. Ich bin sprachlos. DANKE!“ Direkt neben dem Laden hat ein Nachbarrestaurant Getränkekisten aufgestapelt. Wasser, Cola, Brause, alles von Schlamm verdreckt, der langsam trocknet und abplatzt von den Plastikflaschen. „Zum Mitnehmen!“ hat jemand daneben geschrieben.

Thomas Krumbein steht vor dem Laden, der seiner Lebensgefährtin gehört, zusammen mit ihrem Bruder räumt er auf. „Nicht für die dort“, stellt er klar und zeigt auf Leute, die offensichtlich keine Bürger sind, „wir brauchen nicht noch mehr Fähnchenschwenker.“ Er meint Armin Laschet, aber es spielt auf ein seltsames Phänomen an, dass er in dieser Woche gesehen hat: Einwohner aus Nachbarstädten, die „nur einmal schauen wollen“. Das macht ihn schon wütend. Aber gegen einen Besuch von Angela Merkel und Laschet, der in dieser Woche in seiner Stadt stattfand, hat er im Grunde nichts. „Es bringt ja auch Aufmerksamkeit“, sagt er und lacht kurz, „ich wünschte nur, wir hätten noch etwas mehr aufräumen können, bevor sie kommt.“

Und wieder ist da dieser Moment, der eigentlich nicht sein darf, da stehen Menschen vor den Trümmern ihrer materiellen Existenz, man sieht ihnen an, dass sie sich anstrengen müssen um nicht die Nerven zu verlieren, sie sind müde und überfordert — und sie machen trotzdem einen kleinen Scherz. In solchen Momenten ist dann wieder der lachende Laschet mit anwesend. Doch der tut viel in dieser Woche, um das Bild zu zerstreuen vom vergangenen Wochenende.

Am Dienstag kommt er hierher, nach Bad Münstereifel. Zusammen mit der Kanzlerin geht er von Laden zu Laden, wird Menschen vorgestellt, die manchmal weinen, niemand lacht dann. Er trägt wie immer seine glänzenden Halbschuhe, Merkel ist für den Besuch passender gekleidet, mit hohen wasserdichten Wanderschuhen. Sie ist es auch, die von der Bürgermeisterin Sabine Preiser-Marian durch den Ort geführt wird. „Sie hätte mal früher hier sein sollen“, sagt einer der Bürger leise, als der Trupp vorbeistürzt. Auf Nachfrage sagt er, er meine nicht die Kanzlerin, sondern die Bürgermeisterin. „So lange hat sie sich bisher nicht blicken lassen.“

Seit der damalige Kanzler Schröder bei einer der vielen „Jahrhundertfluten“ der letzten Jahre sich in Stiefeln präsentierte, ist klar, dass sich in solchen Momenten Wahlen entscheiden können. Doch es ist längst keine leichte Aufgabe mehr, bei solch Ereignissen Gesicht zu zeigen. Medien registrieren noch genauer als früher jeden Schritt, jeder Fehltritt wird live gestreamt. So fällt es eben auf, dass Merkel bei jedem Besuch in einer neuen Stadt auch neue Sätze mitbringt für die Menschen dort. Laschet hingegen findet in jedem Ort fast identische Worte: „unbürokratische Hilfe“, die er verspricht und auch die „gute alte Sirene“, die man vielleicht wieder einmal testen solle.

Die Sirenen in Bad Münstereifel, sie wurden nicht benutzt. Das sagt Thomas Krumbein auch vorm Laden seiner Frau. „Es war so gegen Mittag um 12 Uhr“, sagt er, „doch die großen Wassermassen kamen erst am Abend, da wurde es sehr schnell immer mehr und obwohl es noch gar nicht tief war, wurde es schnell zu einem reißenden Fluss.“ Dann kamen die Hilferufe aus dem Haus gegenüber. Und die Straße runter noch weitere Hilferufe. „Es war gespenstisch.“ Dann wird er wütend: „Da gibt es keine dusseligen Ausreden, wir wurden einfach nicht ordentlich gewarnt.“ .

Noch ist nicht klar, ob das daran lag, dass der Strom ausgefallen war, aber im Laufe der Woche, als die Zahl der Toten nicht mehr anstieg, als auch die letzten Autos aus Kiesgruben geborgen wurden und zum Glück leer waren, schauten sich die Menschen um, was schief ging in der Warnung. Das seltsame: Je nachdem, wen man fragt, berichten sie unterschiedliches. Manche haben vor zwei Wochen vom Deutschen Wetterdienst gehört, dass mit Starkregen zu rechnen sei und ihre Keller ausgeräumt. Andere haben die Nina-App installiert und hatten sogar noch Zeit, Sandsäcke zu kaufen — auch in Bad Münstereifel. Das aber erzählen Betroffene nur, wenn man ihren Namen nicht schreibt, aber sie betonen, dass es eben nicht nur an der Warn-Infrastruktur liegt, sondern die Menschen noch lernen müssen, wann sie wie handeln. Vor allem: Wann es dringend ist.

Der Merkel-Laschet-Tross, der mit erstaunlich freundlichen Personenschützern durch Bad Münstereifel läuft, macht hin und wieder halt, meist spricht vor allem Merkel mit den Betroffenen. Einmal kämpft sich eine Anwohnerin zu ihr durch. Sie sagt nur: „Schön, dass Sie gekommen sind.“ Sie schüttelt die Hand der Kanzlerin, die sich darüber freut und trotzdem nicht zu sehr. Beherrscht ist wohl der passende Ausdruck für ihren Auftritt.

Nur eines funktioniert nicht und dass das so ist, erzählt dann doch viel vom Verhältnis „Politik zu Bürger“: Am Ende der Tour durch den Matsch, über kaputte Brücken und vorbei an zerborstenen Scheiben, stehen Merkel und Laschet dann nebeneinander und halten ihr Statements. In die Kameras. Sie wolle, sagt Merkel, „alles daran setzen, dass das Geld schnell zu den Menschen kommt“. Sie reden vom „Ausmaß der Zerstörung“ und Laschet sei sich im Klaren, dass an vor allem einen „sehr langen Atem“ brauche.

Direkt gegenüber stehen rund 15 Journalisten und schreiben mit. Fünf dürfen Fragen stellen, die mehr oder weniger kritisch sind. Doch wer sich aus diesem Pulk entfernt, merkt, die Lautsprecher von Laschet und Merkel sind nur direkt auf die Journalisten gerichtet. Es ist quasi ein Zwiegespräch zwischen erster und vierter Gewalt, mitten im Krisenort. Natürlich ist es im Internet gespeichert. Die Bürger sagen, dass sie es später auf YouTube nachhören mussten. Aber es macht einen Unterschied, zu wissen, dass keinen der Menschen im Hintergrund auch nur ein Wort der Politiker erreicht hat. Einmal ist deutlich zu hören, wie jemand ruft: „Lauter!“ Merkel geht darauf ein, entschuldigt sich, sie rede so laut sie könne.

Anruf am Freitag bei Thomas Krumbein in Bad Münstereifel. Der 51-Jährige hat die ganze Woche mit dem Schwager und seiner Frau weiter den Laden aufgeräumt, an dessen Schaufenster noch immer „Alt&Neu“ steht. „Der Fußboden ist komplett raus“, sagt er. „Jetzt bereiten wir alles für den Strom vor.“ Er war bei einer Ärztin, um sich die Tetanus-Impfung abzuholen. Nach der Flut kommt die Seuche, diese Regel gilt auch in Indonesien und in Bangladesch. In Deutschland greift zumindest ein Gesundheitssystem.

Das Video von Laschet und Merkel hat er inzwischen gesehen und darauf angesprochen wird er wütend. „Ja, ich war der, der ‚Lauter‘ gerufen hat!“ Er sei einfach enttäuscht gewesen, dass die Lautsprecher so leise eingestellt waren. „Und direkt vor der Pressekonferenz hat mich einer aus Merkels Team aus dem Bild geschickt.“ Wörtlich habe der Mann gesagt: „Sie müssen hier weg, Sie passen nicht ins Bild.“ Der Gipfel aber war Laschets Versicherung, die Politiker arbeiten auch in der Sommerpause. „Was denkt der denn, wie wir uns den Sommer vorgestellt haben? Hat der einmal die Leute gefragt, woher die kommen, die da überall anpacken? Das sind doch fast nur Freiwillige!“ Dann bricht seine Stimme.

Elmar Mettke aus Erftstadt hat am Freitag bessere Nachrichten. Sie haben die Autos bergen können aus der Kiesgrube. Es waren keine Leichen dabei. Noch am Montag, als er so anschaulich von der Sandburg erzählt hatte, war die ganze Zeit in seinem Kopf dieses Bild der Feuerwehrkollegen bei einer Rettung, wie sie von der Strömung mitgerissen wurden. Erst am Mittwoch habe er erfahren, dass sie überlebt haben. „Aus Erftstadt haben bisher alle überlebt“, sagt er und dann erzählt er von einer Beobachtung am Freitag und auch seine Stimme bricht: „Da waren zwei Mädchen, die haben Kuchen verkauft.“ Auf ihrem Schild stand: „Kuchen gegen Spende für die Flutopfer.“

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 23.7.2021.

Finally ФУЗИОН

Berlin – Artem hat Bärchen-Öhrchen auf dem Kopf und erzählt ganz begeistert vom Rebound-Effekt. „Den gibt es ja nicht nur in Beziehungen“, sagt er ein bisschen zu altklug für jemanden Mitte 20, „sondern auch in der Wissenschaft.“ Am besten erkläre er es mittels Glühbirnen. „Wenn du also alle Glühbirnen zu Hause in Energiesparlampen umwandelst“, sagt Artem, „dann sparst du ja erst einmal Strom, aber wenn du dir dann angewöhnst, sie immer brennen zu lassen, dann verbrauchst du eben mehr Energie.“ Dieser Effekt – Anstieg des Verbrauchs trotz gesteigerter Effizienz –, das sei der Rebound-Effekt. „Kannst du auf Autos anwenden oder Flugpreise, funktioniert überall.“ Dann fragt er etwas unvermittelt: „Hast du eigentlich Drogen dabei?“

Als ich verneine, stellt Artem keine weiteren Fragen, aber erzählt munter weiter. Ich will gerade auch nur zuhören, will nicht von Berlin erzählen oder von irgendwas anderem, vor dem ich doch hier gerade fliehe. Also höre ich das Thema seiner Masterarbeit in Umweltwissenschaften (klar, der Rebound-Effekt), ich lerne, woher er kommt (München) und „woher eigentlich“ (aus Russland) und wo er wohnt (Wedding). Als dann jemand sich umdreht und sagt „Bist auch aus Wedding!“, hab ich meinen Gesprächspartner kurzzeitig verloren.

Wir stehen in der Schlange, um unser Stoffbändchen abzuholen, unsere Eintrittskarte zum Festivalgelände. Es ist Sonnabend, drei Uhr morgens, rund 100 Kilometer nördlich von Berlin. Bisher haben wir nur ein vorläufiges Papierbändchen mit QR-Code, das mit unserem PCR-Test verbunden ist, den ich bei meiner Ankunft gemacht habe („Mund auf, bitte ein tiefes A sagen“). Mit Papierbändchen darf ich nur zum Zeltplatz und dort mit Freunden auf mein Testergebnis warten. Meine Freunde haben Wein besorgt, Artems Freunde offenbar etwas anderes, sie haben ihm auch die Bärchen-Öhrchen ins Haar gesteckt und den Glitzer ins Gesicht gepustet. Das sollte seine Laune bessern.

Als ich per App erfahre, mein Test sei negativ, laufe ich zur Schlange, meine Freunde gehen schon einmal aufs Fest. So richtig gelöst ist die Stimmung noch nicht. Menschen schauen sorgenvoll auf die Wetter-App. Es soll Regen geben. Außerdem sind die Schilder überall irgendwie einschüchternd: „Nur mit PCR Test!“ Schon am Eingang musste man seinen Personalausweis vorzeigen, die Tickets sind streng personalisiert. Auf einem Fake-Wahlplakat am Zaun steht: „Alle reden vom Klima. Wir ruinieren es. CDU.“ Darunter hat jemand mit Filzstift geschrieben: „Ich auch, sorry.“

pastedGraphic.pngDas passt nicht ganz zu den Ganzkörper-Hasenkostümen, zu den Astronauten-Anzügen, den Flamingo-Hüten und diesem bunten Regenschirm mit Lichterketten, der an eine Qualle erinnert. Diese Dinge kann ich schon in der Schlange mitbekommen. Der Bass ist schon jetzt so laut, dass wir ihn bis hierher hören. Die Schlange macht einen Bogen, und plötzlich sehe ich drei Freunde von mir aus Berlin nur fünf Meter entfernt, ich könnte sie leicht erreichen. Doch genau da höre ich hinter mir diesen Dialog: „Kommt ihr mit vor?“ – „Nein, hier drängelt man sich nicht vor.“ – „Come on, das machen doch alle, wir sind zu viert, das fällt gar nicht auf.“ – „Nein wirklich, wir bleiben hier, das macht man hier nicht. Das ist Un-Fusion-haft.“

Da hörte ich ihn zum ersten Mal, den Namen, den das Festival doch eigentlich nicht haben will. Überall auf der Website versuchen die Macher den Namen „Planet C“ durchzusetzen, aber alle nennen es „Fusion“. Oder besser: ФУЗИОН.

Bis zur Pandemie galt die Fusion als Deutschlands bestes Festival. Seit 1997 treffen sich Berliner auf dem ehemaligen Militärflugplatz in Lärz in der Mecklenburger Seenplatte und feiern fünf Tage und vier Nächte, also bis vor kurzem ein typisches Berliner Touristenwochenende: Donnerstagmorgen bis Montagabend. Planet C soll nur von Freitag bis Sonntag dauern. Kaum zu glauben, dass vor 25 Jahren rund 300 Berliner für fünf D-Mark hier feiern durften und 2019 ein Woodstock-ähnliches Massentanzfest im Schlamm mit rund 70.000 Menschen daraus wurde. Alle Angereisten mussten Zelte aufbauen, duschen, essen, trinken und tanzen. Und 2020? Keine Fusion.

Trauriger Mann mit Kulleraugen-Bärchengesicht

Und jetzt also Planet C. Passend zur Pandemie gibt es drei Festivals: Alpha, Beta im August und die Gamma-Version Mitte September. Alle Tickets wurden verlost. Doch schon auf der allerersten Website verbreiteten die Festival-Macher nicht nur gute Laune, sondern eher auch schlecht gelaunten Friedrichshain-Tacheles: „Dummheit, Ignoranz und Profilierungsgeilheit haben in vergangenen Jahren zu immensen Schäden geführt“, steht dort zum Beispiel. Gemeint sind illegale Graffitis auf Dixi-Klos. Auch: „Verstopft nicht unser DRK-Zelt wegen Aspirin.“ Offenbar hatten zu viele Gäste Kopfschmerzen. Und wer beim Abfeuern von Feuerwerk erwischt wird, stellen die Veranstalter klar, „muss das Feuerwehrauto waschen!“

Artem sagt, er sei noch nie auf der Fusion gewesen. Er wird nervös, so langsam kommen wir in die Nähe des Eingangs. Er zeigt mir sein Handy und macht ein trauriges Kulleraugen-Bärchengesicht. Er meint, seine Freunde hätten extra einen Gruppenchat eingerichtet. Doch während der bis vor zwei Stunden noch gut funktionierte, ist er seit einer Weile der Einzige, der noch schreibt. Untereinander stehen kleine Sprechblasen: „Hey, bin in der Schlange.“ – „Na, feiert ihr?“ – „Wo seid ihr?“ – „Treffen wir uns?“ – „…“ – „Hallo?“ – „Leute!!!“ – „Huhu?“

Artem hat bisher immer nur diese Geschichten gehört, vom Festival: von aufwendigen Lichtinstallationen; von Feuerbällen über der Tanzfläche, von Buden mit veganem Burger; von einem Mann, der immer viel zu laut „Dinnele“ ruf; von Barkeepern, die fünf Flaschen Bier über die Theke reichen und etwas unsicher „zehn Euro?“ fragen; von Diskussionsrunden zum Klimawandel; von Filmabenden zum Thema „Wie das Antropozän den Planeten zerstört“; von fast nackten Akrobaten; von ganz nackten Tänzern auf der Tanzfläche; von einer echten Giraffe („Ich schwör’s, ich hab eine Giraffe gesehen“); vom leichten Wummern, das bis zu den Zeltplätzen zu hören ist; von Menschen, die seit Stunden im Regen tanzen; von dem Gefühl, wenn man die Schuhe einfach in den Müll wirft; von dem Bild einer übervollen Dixi-Toilette, das man nie wieder aus dem Kopf bekommt; von dem kalten Gefühl, wenn man morgens um 8 Uhr nach dem Tanzen kurz in den See springt, der auf dem Festivalgelände ist. Und vor allem: dass man am besten Ort zur richtigen Zeit ist.

Als wir ganz vorn an der Reihe sind, lächelt uns eine Frau in einem großen roten Hut an. Sie sagt etwas zu laut, wie der Conférencier am Eingang zu einem Ball: „Willkommen auf Planet C!“ Ich muss hineinschlüpfen in das Bändchen, dann zurrt sie es fest und schaut mir tief in die Augen, als sie sagt: „Rein mit dir.“ Dann darf ich die Maske abziehen und sehe 10.000 Menschen ohne Maske, drei Tage lang. Ein Experiment. Artem ist längst in der Masse verschwunden. Als ich das Papierbändchen wegwerfen will, zeigt jemand auf den Mülleimer: „Da hinein, wir sind ein sauberes Festival.“ Für alles andere gilt: What happens at Fusion, stays at Fusion.

 

Erschienen in der Berliner Zeitung, 12.9.2021