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Das vertauschte Baby

Berlin – Julia R. wollte diese Geschichte eigentlich nicht auf dieser Seite sehen. Einerseits ist das viel zu groß: eine ganze Seite für ein Ereignis, das nach 24 Stunden wieder vorbei war, das im Grunde doch gut ausging, sie will sich nicht so wichtig machen. Andererseits ist eine Seite in einer Zeitung auch viel zu klein, weil dieser Moment so viel ausgelöst hat bei ihr, bei ihrer Familie, dass das gar nicht ausreicht, um zu beschreiben, wie weit es für sie ging und im Grunde bis heute geht.

Vielleicht ist „Brutal Berlin“ auch nicht die richtige Rubrik für diesen Text oder Weihnachten nicht der richtige Moment, um sie zu erzählen. Vielleicht passt es aber auch perfekt. Was ihr auf jeden Fall am Wichtigsten ist: Wenn diese Geschichte an Weihnachten erzählt wird, dann nicht als Partygag oder als Dinnertable-Smalltalk. Sie möchte, dass Ärzte sie lesen und Krankenschwestern, die mit jungen Müttern zu tun haben. Sie möchte vor allem, dass das, was ihr passiert ist, nie wieder jemandem passiert.

Nur zur Entbindung ins Krankenhaus

Sie selbst beginnt die Erzählung mit dem Moment, in dem alles gut war, kurz nach der Geburt, als sie ihr Baby stillt. „Es war ja mein erstes Kind und ich habe mich so aufs Stillen gefreut“, sagt sie. Noch dazu wird in Frauenzeitschriften und Babybüchern über das Stillen so viel erzählt, dass junge Mütter ganz nervös werden, ob es wirklich klappt. Dann sagt sie: „Noch während mein Kind trank, legte meine Hebamme dem Baby das Bändchen um das Ärmchen.“ Normalerweise mache sie das nicht bei ambulanten Geburten, aber die Hebamme wird später sagen: Sie habe so ein Gefühl gehabt.

Julia R. wollte eigentlich nur zur Entbindung im Krankenhaus sein, danach gleich nach Hause. Die extra gekaufte Babyschale stand bereit. Doch weil sie kurz nach der Geburt einen Schwächeanfall hatte, entschieden sich die Ärzte, sie über Nacht in der Klinik zu behalten. Als hätte sie das vorausgesehen, hatte sie sich dieses Berliner Krankenhaus im Nordosten der Stadt ausgesucht. Sie wollte nämlich unbedingt eines, bei dem „Rooming-in“ möglich war.

Rooming-in, das war damals noch nicht in allen Krankenhäusern Standard. Anfang der 2000er galt die Vorstellung, die Mutter würde besser schlafen, wenn das Kind in einem anderen Raum von „Profis“ bewacht werde. Inzwischen haben wissenschaftliche Studien belegt, dass Mütter besser schlafen, wenn das Kind im gleichen Zimmer liegt. Mütter achten nach der Geburt instinktiv auf jedes Geräusch und schlafen unruhig, wenn sie nicht ihr Kind, das neun Monate in ihrem Bauch war, spüren. Heute ist Rooming-in fast überall Standard.

Als Julia R. nach einem Erschöpfungsschlaf aufwachte, sah sie trotzdem, wie eine Krankenschwester das Kind im Bettchen aus ihrem Zimmer schob. Die ältere Kollegin sagte so etwas wie: „So, da haben Sie Ihre Ruhe. Noch einmal schön eine Nacht durchschlafen.“ Sie habe noch gerufen, dass sie ihr Baby lieber hierbehalten wolle, aber das habe die Schwester nicht gehört.

Das Kind, das am nächsten Morgen in den Raum geschoben wurde, erkannte sie jedoch nicht wieder. „Ich schaute das Kind an und dachte: Das sieht doch total anders aus. Als ich die Nachtschwester darauf ansprach, sagte sie in dem gleichen Ton wie am Abend: ‚Ach, die sind nach der Geburt so verknittert, dann erkennen die eigenen Eltern ihr Kind nicht wieder.‘“

Kind wollte nicht gestillt werden

Als dann der Vater kam und er das gleiche Gefühl hatte, konnte er sich sogar an ein Detail erinnern: „Sein Ohr hatte doch gestern Abend so einen Knick.“ Die Mutter wusste genau, was er meinte. Andere in der Familie haben den gleichen Knick im Ohr. Die Schwester nur kühl: „Die Ohren verändern sich, wenn sie durchblutet werden.“

Dann fiel dem Paar das Bändchen ein. Sie sagten der Schwester, dass dieses Kind ein kleines Bändchen hatte. Damals waren sie noch hellblau für Jungen und rosa für Mädchen. Sie suchten zu dritt das Bettchen nach dem Bändchen und fanden nichts. Die Schwester sagte: „Dann ist es eben weg.“ Und das war’s dann. Sie nahmen das Kind mit nach Hause.

Wenn Julia R. von diesem Tag erzählt, der darauf folgte, gehen die Zeiten ineinander. Mal fühlt er sich ganz lang an, manchmal nur ganz kurz. „Aber auf jeden Fall war es die Hölle“, sagt sie. Sie habe die ganze Zeit versucht, ein Kind zu beruhigen, das immer aufgeregter wurde. Sie wiederum konnte mit dem Kind nicht viel anfangen, fühlte eine Fremdheit, ein Unbehagen aufsteigen und merkte gleichzeitig, wie dieses Gefühl sie zu einer schlechten Mutter machte. Biologie und Erwartungen. Liebe und Glück und Angst und Abneigung. Ihr Freund versuchte, beide zu beruhigen, es gelang ihm immer schlechter.

Auch das Kind wollte sich nicht auf die Eltern einlassen. Es war unruhig und es wollte nicht gestillt werden, obwohl es danach verlangte. Am Abend hörte sie das Telefon klingeln, ging aber nicht an den Hörer. Damals gab es noch Festnetztelefone, bei denen der Anrufbeantworter laut sich selbst anstellt. Dann hörte die junge Mutter die Stimme der Hebamme: „Da ist etwas passiert im Krankenhaus, ihr müsst noch mal hin. Und bringt das Baby mit!“ Sie rief sofort zurück, und erst, als sie immer wieder nachfragte, sagte die Hebamme: „Sie haben dir wahrscheinlich das falsche Kind mit nach Hause gegeben.“

Es passiert in Deutschland selten, dass Kinder vertauscht werden. Im Jahr 2008 hat die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe eine Untersuchung bei 481 Kliniken durchgeführt. Demnach habe es in dem Jahr zwölf Verwechslungen gegeben, die jedoch alle noch im Krankenhaus behoben wurden. Im Saarland wurde eine Verwechslung erst nach sechs Monaten erkannt. Und in den USA kam es kürzlich zu einer vertauschten Verteilung der Embryonen, sodass zwei Mütter die Kinder eines jeweils anderen Paares austrugen – und sich anschließend ebenfalls für den Tausch entschieden.

Doch wenig ist bekannt, was in diesen Fällen mit den Müttern und Vätern passiert, die eine Zeit lang versuchten, ihren Instinkten und Gerüchen willentlich zu misstrauen. Julia R. sagt heute, dass dieser Tag lange nachgewirkt habe, er hat überschattet, wie sie die Geburt ihres zweiten Kindes erlebt hat, und sie hat sich viele Jahre Vorwürfe gemacht. „Schließlich habe ich ja zugelassen“, sagt sie, „dass mein Kind für einen Tag nicht bei mir war.“ Dass das allerdings niemals ihre Schuld war, für diese Erkenntnis hat sie Jahre gebraucht.

Sie brachte das Kind jedenfalls noch am Abend zurück in die Klinik. Der Arzt sah sie im Vorraum sitzen. Es war der Arzt, der bei der Geburt dabei war. Er versuchte ein Lächeln: „Jetzt schauen Sie doch nicht wie Häufchen Elend“, sagte er, „ist doch noch mal alles gut gegangen.“ Der Leiter der Klinik schickte ihr später eine Kiste Wein, um sich zu entschuldigen für die Umstände.

„Sind Sie die andere Mutter?“

Und das ist etwas, was sie noch immer wütend macht, auch 18 Jahre nach dem Ereignis: Dieses Unverständnis eines Gynäkologen und einer Krankenschwester ihrem Bedürfnis gegenüber. Warum schickt irgendjemand einer stillenden Mutter Alkohol? Und warum stand die Schwester nicht sofort am Klinikeingang und gab ihr das Kind? Warum musste sie überhaupt noch in einem Raum warten?

Während sie dort saß, kam eine andere Frau im Kliniknachthemd herein. Sie fragte ganz leise: „Sind Sie die andere Mutter?“ Sie hatte nach einem Kaiserschnitt unter Vollnarkose nur geschlafen, sie hatte gar nicht mitbekommen, was passiert war. Sie sagte, ihr Mann habe das Bändchen bei dem anderen Kind gesehen und daran die Verwechslung erkannt.

Direkt danach wurde Julia R. in einen anderen Raum geführt. Dort sah sie ihr Kind, davor die Krankenschwester, die sofort meinte, man müsse sich noch gedulden. „Die Blutuntersuchungen, wir wollen ganz sicher gehen.“ Julia R. wunderte sich, dass auch von ihr noch keine Entschuldigung kam, das sie nicht merken wollte, was sie alle angerichtet hatten. Auch: dass sie nicht sofort ihr das Kind gab. Sie sagte zur Schwester: „Die Blutuntersuchungen brauchen wir nicht. Ich sehe, dass dies hier mein Kind ist und ich möchte es jetzt gern halten!“ Sie habe es an diesem Abend nicht mehr losgelassen. Dann, erzählt sie, saß sie in einem Wartezimmer unter Neonlicht, mitten in der Nacht, und stillte ihren Sohn.

Moni Zhang, Comedian aus Wuhan

Berlin – Moni Zhang hat als Treffpunkt ein Café in Friedrichshain ausgesucht, das etwas von einer gemütlichen Hippie-Höhle hat: Kerzen, Kachelofen, Möbel aus zweiter Hand. Alles wie in den 90ern, nur mit WLAN. Mitarbeiter müssen erst ihr Gespräch beenden, bevor sie eine Bestellung aufnehmen und kontrollieren irgendwann etwas nachlässig die Corona-Nachweise. Überall liegt irgendetwas rum. An jedem Tisch sitzen zwischen 20 und 30 Menschen, die an Projekten arbeiten oder sich an ihre Tassen klammern.

„Ich bin hier gern“, sagt Moni Zhang über diesen Ort und kuschelt sich in ihr Nest aus Pullover, Jacke und Schal, das sie sich auf der Couch aufgebaut hat. „Es repräsentiert, warum mir Berlin so gut tut.“ Zhang kommt recht schnell und offen auf ihre Depression zu sprechen. „Ich habe meinen Frieden mit meinen Problemen gemacht.“ Sie sei inzwischen von ihrem Psychologen „graduiert“ – auch wenn das klinge, als sei es ein Kurs, den man auf der Universität des Lebens abschließen muss. „Aber so ist das auch mit geistiger Gesundheit“, sagt sie. „Sich damit auseinanderzusetzen, wird für mich immer eine Reise sein.“

Zuschauer können jetzt an dieser Reise teilnehmen. Am 28. Januar hat Moni Zhangs neues englisches Programm „Child from Wuhan“ Premiere im Friedrichshainer Comedy Club „The Wall“, und sie wird es dann immer wieder in Berlin aufführen. Es wird ein ernstes Programm, das das Publikum gleichzeitig zum Lachen bringen soll. Bei Testdurchläufen haben Leute geweint und sind anschließend zu ihr gekommen, um von sich zu erzählen. Ihr Programm, das sei wie eine Therapie, sagt sie.

Es handelt grob: von ihr. Wie sie als Chinesin nach Europa kam, um in Rotterdam einen Abschluss in Buchhaltung zu machen. Wie sie dann eher durch Zufall nach Berlin zog und erst hier auf die Idee kam, Stand-up-Comedian zu werden. Sie wird auch davon erzählen, wie sie den ersten Preis in einem Berliner Newcomer-Wettbewerb gewann, als sie noch nicht einmal ein Jahr dabei war. Sie wird auch von ihrer Depression reden, von ihrer schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter und sicherlich auch von ihrer Katze, die Panda heißt.

Doch eines macht sie klar: Obwohl sie aus Wuhan stammt und auch ihr Programm nach der Stadt benannt hat, spricht Moni Zhang kaum über China. Einer ihrer wenigen Auftritte vom Jahr 2020 in Berlin ist noch immer im Internet zu sehen. Er beginnt mit dem Satz: „Ich komme aus einer Stadt, die zwar 14 Millionen Einwohner hat, aber bisher…“, sie hustet demonstrativ ins Mikrofon, „niemand kannte.“ Das Lachen im Publikum klingt ein wenig schüchtern, es war Anfang 2020, es gab noch nicht viele Witze über Corona. Zhang sagt weiter: „Mein Land ist mit der Krise sehr gut umgegangen.“ Sie macht eine lange Pause und sagt: „Mehr werde ich dazu nicht sagen, es sei denn, ich bekomme einen deutschen Pass.“

Auch im Gespräch im Café möchte sie nicht über China reden. Sie sei nicht Ai Weiwei, der alle Brücken zu seiner Heimat abgebrochen hat. „Ich komme auch nicht aus einem reichen Elternhaus, wie viele meiner chinesischen Freunde in Europa oder aus der Schulzeit.“ Diese könnten noch immer nicht verstehen, warum sie nicht längst eine Wohnung in Deutschland gekauft habe. „Das machen doch jetzt alle, sagen diese Freunde.“ Sie sei stattdessen schon froh, wenn sie eine Wohnung in Friedrichshain gefunden hat, die unter 1000 Euro im Monat kostet, auch wenn sie keine Küche hat.

Moni Zhang wurde inspiriert zu ihrer Karriere von Besuchen in Comedy Clubs in Berlin. Noch vor zehn Jahren fand vielleicht ein englischer Abend statt. Inzwischen gibt es vier englischsprachige Clubs, die Stand-up vor allem auf Englisch anbieten. Die Menschen auf der Bühne erzählen von ihrem Leben mit der Ausländerbehörde, von Dinner-Abenden mit Deutschen. Das Leben in Berlin bietet viele lustige Angriffsstellen. Im Publikum sitzen viele Deutsche, aber auch ein Mix aus anderen Ländern. Ihr gefalle das.

„Berlin ist perfekt für Leute wie mich“, sagt sie. „Ich kann hier sehr viel ausprobieren, ohne einen großen Druck.“ Die meisten Witze müsse man eben vor Publikum ausprobieren, um zu sehen, ob sie funktionieren. „In New York oder London würde ich niemals so viel Bühnenzeit bekommen.“ Dort müsse man auch Geld bezahlen, um auf die Bühne zu gelangen. „In Berlin ist das Publikum ehrlich, aber nicht unhöflich“, sagt sie, „und sie haben kein Problem damit, dass sich jemand über sie lustig macht.“

Sie wolle dieses Jahr mindestens 31 Auftritte bestreiten. Nur so könne sie besser werden. Dabei hilft hier, dass sie mitten in der Pandemie ein eigenes Festival gegründet hat: Das Berlin Mental Health Festival (BMHF). Es fand im Jahr 2021 zum ersten Mal statt und ließ Künstler, Comedians und Psychologen zusammenkommen – und über ihre Erfahrungen reden. Die Non-Profit-Organisation spendet alle Überschüsse an die Depressionshilfe. Es geht vor allem darum, Aufmerksamkeit auf psychische Probleme zu lenken.

„Es ist bisher immer noch ein Tabu, über geistige Gesundheit zu sprechen“, sagt Zhang. Das sei natürlich nicht immer leicht und am Anfang fühlt es sich auch noch etwas ungewohnt an. „Aber das ist sowieso ein Klischee, dass Comedians immer selbstsichere Menschen seien“, sagt sie. „Die meisten sind wie ich eher zurückhalten und benutzen die Stand-up wie eine Rüstung, wie eine Rolle, in der sie alles einmal aussprechen können.“ Das öffne manchmal alte Wunden, aber sie bekomme eben auch viel zurück.

Sie hat deshalb auch einen Podcast gestartet und spricht dort einmal wöchentlich mit anderen Comedians über deren psychische Probleme. In den bisherigen 25 Folgen von „It’s Mental“ berichtet unter anderem der ostdeutsche Comedian Richard Schäfer von seiner Pornosucht. Die Sängerin Lucy Straathof erzählt von ihrem Burnout. Andere berichten von Selbstmordgedanken, Anti-Depressiva, Drogen, Alkohol und wie sie es aus ihrem Loch herausgeschafft haben – oftmals mit Hilfe der Bühne und der Zuhörer.

„Comedy hat mir soviel gegeben in meinem Leben“, sagt Moni Zhang. Berlin habe ihr die Möglichkeit geboten, das auszudrücken. „Mein Therapeut ist Chinese“, erzählt sie und fragt: „Wo kann man das so leicht finden in der Welt?“ Trotzdem möchte sie als nächstes gern Deutsch lernen. Ihr Ziel ist es, bis Ende des Jahres auf dem Niveau B2 angelangt zu sein. „Mein Akzent wird bleiben“, sagt sie, „aber der ist doch ganz hübsch, nein?“

Yaakov Baruch, der einzige Rabbi Indonesiens

Dabei war so etwas wie eine Feier zum Holocaust-Gedenktag in Indonesien bisher undenkbar. Im Land der 13.477 Inseln bedeutete der 27. Januar bisher nur wenig. Als die Deutschen Konzentrationslager errichteten, hatten die Einwohner Indonesiens mit der japanischen Besatzung zu kämpfen. In den Jahren nach der Unabhängigkeit wurde das Land von der Hauptinsel Java regiert, die zu beinahe 100 Prozent muslimisch ist. Die anderen Inseln sind weit weniger dicht besiedelt, dafür aber religiös sehr divers: Christen, Hindus, einige wenige Buddhisten und Naturreligionen kommen vor. Judentum wurde — mehr aus Solidarität mit dem arabischen Raum — nicht anerkannt, die letzte Synagoge 2009 geschlossen.

Das Material wurde von der Gedenkstätte Yad Vashem zur Verfügung gestellt. (Foto: Yaakov Baruch)

Dann kam Yaakov Baruch. Der 39 Jahre alte Indonesier wurde in Manado geboren und gründete vor acht Jahren wieder eine jüdische Gemeinde in Indonesien. Sie befindet sich rund 20 Kilometer vor der Stadt, in einem Neubau, der von außen unscheinbar aussieht. Jeden Freitag treffen sich zwischen 10 bis 20 Gläubige zum Shabbat. Selbst die Nachbarn wussten lange nicht, was der Stern mit den sechs Zacken bedeuten soll, der in den Zaun eingearbeitet ist. Seit dieser Woche steht dort ein weiteres Gebäude: das erste Holocaust-Museum in einem südostasiatischen Land.

„Ich habe in vielen Gesprächen gemerkt“, sagt Yaakov Baruch der Berliner Zeitung am Wochenende, „dass viele Indonesier nichts wissen über den Holocaust.“ Es ärgerte ihn, wenn er manchmal Witze hören musste über Adolf Hitler, dabei kennen die wenigsten Indonesier die genauen Ereignisse rund um die Vernichtungslager und den Massenmord. Sie stellen ihn selten in Frage, aber sie wissen einfach zu wenig darüber. „Am schlimmsten ist, wenn Indonesier sagen, es sei schade, dass Hitler seine Arbeit nicht vollenden konnte.“ Er weiß, in Deutschland sind solche Aussagen verboten, in Indonesien nicht. „Aber in diesem Fall betreffen diese Aussagen auch mich“, sagt der Indonesier, „31 meiner Verwandten kamen im Holocaust um.“

Yaakov Baruch ist gelernter Hochzeitsfotograf und wurde von seinen Eltern lange Zeit als Christ erzogen. Doch eines Tages vor rund 20 Jahren erfuhr er von seiner Tante, dass er nicht die ganze Wahrheit kennt. Sie stritten um das Leben Mohammeds, was nicht ungewöhnlich war, er stritt mit seiner Tante oft über den Propheten. Doch dieses Mal beendete sie den Streit wütend mit dem Satz: „Ach, hör doch auf, du bist sowieso eigentlich ein Jude.“ Dann zeigte sie ihm Fotos aus dem Familienalbum, die mütterliche Linie seiner Familie war jüdisch. Seine Großmutter war noch regelmäßig in die Synagoge gegangen, seine Mutter schon nicht mehr.

Baruchs Familie stammte aus Surabaya. In dieser Stadt auf Java war bis zur Unabhängigkeit Indonesiens die größte jüdische Gemeinde gewesen, zum großen Teil geflüchtete Juden aus den Niederlanden oder Deutschland. Zwischen den beiden Weltkriegen lebten rund 2000 Juden auf den Inseln. Als die Japaner 1942 Indonesien okkupierten, behandelten sie Juden ähnlich schlecht wie es die Nazis taten: Juden wurden interniert oder mussten Zwangsarbeit leisten. Die, die fliehen konnten, bauten sich ein neues Leben in Australien, den USA oder Israel auf. Baruchs Familie floh nach Manado und tauchte unter.

Yaakov Baruch in seiner Ausstellung am Holocaust-Gedenktag (Foto: privat)

Dass er ausgerechnet in dieser Stadt sein Judentum ausleben kann, ist kein Zufall. Manado hat einen doppelten Ruf, wird als die „betende Stadt“ bezeichnet, weil die Menschen dort als sehr fromm gelten — und gilt als sehr tolerant. Seit Jahrzehnten leben Muslime und Christen zu gleichen Teilen in der Stadt und es kam bisher zu keinen nennenswerten Spannungen. Weil die Menschen hier so fromm sind, haben viele Mekka und Bethlehem besucht. Bei einem dieser Besuche in Israel sah ein Politiker den siebenarmigen Kerzenleuchter – und ließ eine 13 Meter hohe Statue errichten: Die weltgrößte Menora steht aktuell also in Indonesien. Und Yaakov Baruch setzt sich sehr für den interreligiösen Dialog in der Region ein.

Das Holocaust-Museum soll dafür auch ein Zeichen sein. „Derzeit besteht es vor allem aus Spenden aus Yad Vashem“, sagt Yaakov Baruch. „Nach meinem Besuch in Israel habe ich den Kontakt zur Gedenkstätte gesucht und um Hilfe beim Herstellen dieser Poster gebeten.“ Er hat sie bekommen. Bei den Führungen, die er selbst gibt, kann er auch seine Geschichte erzählen. Die Familie seiner Mutter und Tante lebte in Den Haag und im Norden Deutschlands. „Ihr Vater, ihr Onkel, sämtliche Verwandten sind in Auschwitz und Sobibor umgekommen.“ Baruch wollte dieses Museum auch für sie eröffnen.

Als ihre Namen am Donnerstag verlesen werden, weint Yaakov Baruch. Neben ihm ist noch ein weiterer Indonesier zu Gast, der ebenfalls Familienmitglieder im Holocaust verloren hatte. Hier drei der Namen: Dina van Beugen wurde mit 35 Jahren in Sobibor ermordet, Betje Mool wurde mit 62 Jahren in Sobibor ermordet, Henrietta Francina van Beugen wurde mit 29 Jahren in Auschwitz ermordet.

Die Ausstellung besteht aus zwei Räumen, nebeneinander, der größere misst 40 Quadratmeter und enthält die Dauerausstellung. Der kleinere soll für Treffen zur Verfügung stehen. Der indonesischen Regierung kommt das Engagement des Rabbis sehr entgegen. War das Land doch in den vergangenen Jahre von allem in die Schlagzeilen geraten, weil es einen Hitler als Wachsfigur in einem Selfie-Museum aufgestellt hatte. Einige Jahre zuvor hatte ein Mann ein Café schließen müssen, weil dort alle Kellner in SS-Uniform bedienten. Beides hatte einen internationalen Aufschrei hervorgerufen. Yaakov Baruchs Museum, das dem Massenmord einen Gedenkort schafft, auch wenn dieser Massenmord in 11.000 Kilometern Entfernung stattgefunden hat, könnte ein Anfang sein.

„Ich fühle mich hier inzwischen sehr sicher“, sagt Yaakov Baruch, „und weiß, dass dieser Weg der richtige ist.“ Er wolle weiterhin Gästen aus aller Welt seine Religion hier in Manado näher bringen – und wenn es die Zeit erlaubt, auch mal einen Shabbat auf Bali feiern. Neben der deutschen meldeten sich in dieser Woche auch die spanische, portugiesische und die amerikanische Botschaft bei ihm. Überrascht hat ihn die positive Rückmeldung der Anwohner und der Lokalregierung. Die große Anzahl der Besucher bei der Eröffnung – es waren mehr als 100 Gäste gekommen – machte ihm Mut.

Es gab einmal eine Zeit, in der das anders war. Das war, als Yaakov Baruch noch in Jakarta lebte. In der Zeit war er Ende 20 und trug meist seine Kippa offen in der Stadt. Doch plötzlich sprach ihn ein Teenager an, was dieser Hut zu bedeuten hatte. Der 11. September 2001 war noch nicht lange her und auch in Indonesien waren damals Bombendrohungen von Islamisten an der Tagesordnung. Er floh damals vor drei Angreifern quer durch eine Mall. Er konnte entkommen.

Was die Botschafterin beim Dinner nach der Eröffnung gegessen hat, ist nicht überliefert. Sicher ist nur, dass Manado noch für eine dritte Spezialität bekannt ist. Es gibt den „Extremen Markt“; dort wird frisches Rattenfleisch am Spieß neben gegarter Hauskatze und geräucherter Python verkauft. Für Europäer ist das ziemlich schwer erträglich. Yaakov Baruch zuckt nur mit den Schultern: „Früher mochte ich all das“, sagt er, „aber keines der Gerichte ist kosher.“

Fünf Jahre nach dem Attentat auf dem Breitscheidplatz

Berlin – Da gibt es diese Frau, die lieber anonym bleiben möchte. Sie stand nur wenige Meter entfernt von der Stelle, wo der Lastwagen in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt fuhr. 19. Dezember 2016, Breitscheidplatz. Neben dieser Frau starben Menschen, sie selbst war unter Schock, aber sie weiß noch, dass sie sich zu Schwerverletzten beugte, ihnen Wasser gab, sie beruhigte, bis die Notfallmediziner vor Ort waren. Sie streichelte Köpfe, redete.

Fünf Jahre später ist ihr Status als „Ersthelferin“ nicht anerkannt. Vielleicht wird das kommendes Jahr passieren, das kann Rainer Rothe so genau nicht sagen. Er ist Psychologe für Traumapatienten und betreut viele Opfer vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz. 13 Menschenleben hat das Attentat gefordert, das letzte Opfer ist erst vor wenigen Wochen an den Folgen gestorben. Doch darüber hinaus gibt es viele Opfer mit psychischen Schäden. Rothe hat für sie in dieser Woche einen offenen Brief an den Bundespräsidenten geschrieben, darin flossen die Erfahrungen aus Gesprächen mit 18 Betroffenen des Terrorattentats ein.

Rothes Bilanz ist katastrophal. „Es gibt Patienten, da hat es vier Jahre gedauert, bis die Reha bewilligt wurde“, sagt er der Berliner Zeitung am Wochenende. „Andere Patienten haben mehr als ein Jahr gewartet, bis sich überhaupt jemand um sie gekümmert hat.“ Ihn habe die langsame Reaktion der Behörden zum Teil sprachlos gemacht. „Erst vor drei Wochen kam die Angehörige eines Opfers zu mir in die Praxis und weinte noch einmal, weil sie das immer noch so mitnehme.“ Viele Opfer haben sich inzwischen rechtlichen Beistand genommen und klagen für ihre Entschädigung.

In seinem Brief schreibt Rothe an Frank-Walter Steinmeier, dass viele Opfer des Attentats sich eher verhört fühlen als befragt. „Mütter, Väter, Kinder, Partner, Großeltern, die einen geliebten Menschen verloren haben, müssen sich sagen lassen“, schreibt er, „dass sie nicht betroffen sind, weil sie nicht vor Ort waren.“ Eines seiner betreuten Opfer habe sich von einem Sachbearbeiter anhören müssen: „Menschen sterben nun einmal an Krankheiten oder Unfällen.“ Er müsse als Therapeut mit ansehen, wie Menschen „systematisch ohne Empathie zermürbt werden“.

Silvia Kostner vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) sagt, dass sie grundsätzlich die Frustration verstehen kann. Selbstverständlich werden die Mitarbeiter im sensiblen Umgang mit den Opfern geschult. „Aber wir müssen den Bedarf bei jedem Fall einzeln prüfen“, sagt sie. Jeder Fall unterscheide sich stark von dem nächsten, hinzu kommen runde Tische und Absprachen mit anderen Ämtern. „Die Arbeit an diesen Fällen ist zum Teil sehr aufwendig und wird sich bei einigen auch noch Jahre hinziehen, weil einige Rentenzalungen lebenslang gezahlt werden.“

Kostner weist aber darauf hin, dass auch viel erreicht worden sei in den vergangenen fünf Jahren. Das Lageso habe nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) von fast 200 Anträgen 150 positiv bescheiden können. Nur 14 Anträge wurden abgelehnt. Die Schwere der Verletzungen und der jeweils gesundheitlichen Schäden ist bei Betroffenen sehr unterschiedlich. So gebe es Menschen, die nur kurzfristig beeinträchtigt sind, bei anderen seien die Verletzungen so schwer, dass ihnen neben einer Grundrente auch eine Zulage für Schwerstbeschädigte zustehe. Das sei vom jeweiligen Grad der Schädigung (GdS) abhängig.

Zudem, darauf weist das Amt hin, können sich die Mitarbeiter „sehr gut in die Situation der Opfer hineinversetzen“. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung seien Menschen, die den „Terroranschlag in unserer Stadt als beängstigendes Ereignis miterleben mussten“. Es war in diesem Fall auch für die Opfer nicht einfach zu verstehen, wer bei welcher Behörde Ansprüche stellen kann, sondern auch für die Zuständigen in den Ämtern. Alle Behörden mussten sich untereinander absprechen, um die Leistungen zu koordinieren. „Wenn uns die Opfer um Rat gefragt haben, waren wir bemüht so gut wie möglich zu helfen.“

GdS und OEG – für Mitarbeiter in diesen Ämtern sind das ganz normale Begriffe, auch wenn zum Teil harte Schicksale dahinterstecken. Beim Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz kommt noch hinzu, dass kurz danach nicht klar war, ob überhaupt das OEG greifen würde. Schließlich sei ein Auto keine klassische Waffe, mit der Terroristen töten. Vor fünf Jahren war diese Art des Anschlags noch neu, erst ein halbes Jahr vorher war es an der Promenade von Nizza zu einem ähnlichen Attentat gekommen, mit 86 Toten.

Silvia Kostner sagt, dass die Kollegen der Abteilungen sofort alles dafür taten, dass das OEG hier greift. „Wir haben damals sofort eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich bis heute über die Fälle mit anderen Abteilungen wie der Verkehrsopferhilfe, Traumaambulanzen, Versicherungen und anderen Bundesämtern auseinandersetzt.“ Diese Vernetzungen seien wichtig, damit die sehr individuellen Fälle auch die entsprechende Hilfe bekommen. „Das hat im Einzelfall gedauert“, sagt sie, „aber gemessen an der Menge an Fällen kann das den Mitarbeitenden nicht zum Vorwurf gemacht werden.“ Extrembeispiele, wie Rothe sie nennt, gebe es zudem auf allen Seiten und nennt Beispiele von überzogenen Forderungen. „Noch mal: Jeder Antrag wird einzeln geprüft.“

Rainer Rothe weist am Telefon aber noch auf etwas anderes hin. Er sagt, dass Studien bewiesen haben, dass die Folgekosten von nicht behandelten psychischen Erkrankungen für die Gesellschaft sehr hoch sind. In den USA wurden Kriegsveteranen begleitet, deren Traumata nicht behandelt worden waren. Ein Großteil dieser Männer erprobte die typischen Bewältigungsstrategien an sich selbst: Drogen, Alkohol, Glücksspiel. Diese Mittel schaffen kurzfristig Entlastung, aber auf lange Sicht wirken sie destruktiv für die Menschen. Rothe sieht diese Folgen auch auf die Angehörigen der Opfer des Breitscheidplatzes zukommen.

„Ich finde, man sollte pro Opfer den Faktor zehn anwenden“, sagt er. „Jeder der Toten hat Familie, Freunde, deren Leben durch das Attentat eine neue Richtung genommen hat.“ Der Psychologe geht davon aus, dass da noch viele unerkannte Traumapatienten auf uns zukommen. Einige von ihnen meiden den Platz rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Andere wiederum gehen dort regelmäßig hin, vor allem, seitdem dort ein Denkmal steht.

Seit dem 19. Dezember 2017 ist es eröffnet. Es zeigt einen goldenen Riss, der durch die Treppe vor der Kirche führt und bis zur Straße ausläuft. Es wird auch an diesem Sonntag wieder ein Treffpunkt für Angehörige sein und für Menschen, die nur durch Zufall in der Nähe waren und ebenfalls mit den Bildern der Tat in ihrem Kopf leben müssen. Neben den Namen der Opfer und ihren Herkunftsländern steht dort noch ein Satz: „Für ein friedliches Miteinander aller Menschen.“

Vieles hat sich in der Vergangenheit geändert: Das Land Berlin und der Bund haben für den Fall eines Terroranschlags eine Verwaltungsvereinbarung über ein gemeinsames Beratungstelefon geschlossen. Die Bundesregierung hat einen Opferbeauftragten und seine Geschäftsstelle eingerichtet.

Rainer Rothe wünscht sich neben einer sensiblen Aufarbeitung der Opferansprüche noch mehr. „Ich wünschte, dass auch in den Schulen die Gewaltprävention einen größeren Anteil bekommt“, sagt er. Auch einen Kongress über Traumafolgen regt er in Berlin an. „Denn nur so lassen sich in Zukunft solche Ereignisse vermeiden.“ Außerdem wünscht er sich einen weiteren Ort der Trauer. „Berlin braucht ein Denkmal gegen Terror“, sagt Rothe. Die Treppe gefalle ihm, aber sie sei zu spezifisch. Ihm habe die Beschäftigung mit den Betroffenen gezeigt, dass Menschen auf viele Arten beeinflusst werden durch diese Taten. Egal, ob sie auf Bali, in Brüssel, Paris, Nizza oder in Berlin passieren.

Porträt Julian Reichelt, Ex-Chef der BILD

Kommt ein Chefredakteur in ein Großraumbüro voller Mitarbeiter, an seiner Hand die Tochter, fünf Jahre alt. Sie schaut zu ihrem Vater hoch und fragt: „Du, Papa, was machst du jetzt?“ Der Chefredakteur antwortet laut hörbar für alle: „Jetzt schreie ich jemanden zusammen – und weißt du, was? Du kannst dir jetzt aussuchen, wen Papa zusammenschreit.“ Die Pause, die dann folgt, beschreiben Mitarbeiter aus der Redaktion als absurd lang. Das Kind schaut in die Gesichter von Journalisten, die zum Teil seit Jahrzehnten für die Bild-Zeitung arbeiten – bis irgendwann der Chefredakteur sagt: „War nur Spaß, komm, wir gehen in mein Büro.“

Geschichten wie diese gibt es viele über Julian Reichelt, einen Chefredakteur, der wie kein zweiter die Redaktion und das Land spaltete. Mit nur 41 Jahren kann er auf fast fünf Jahre an der Spitze der größten deutschen Boulevardzeitung zurückblicken. Er hat zwar den Rückgang der Printauflage nicht aufhalten können, aber er hat die Transformation der Marke zum Online- und TV-Medium durchgesetzt. Im August hatte Bild 24 Millionen Online-Nutzer, seit acht Jahren gibt es Bild-Plus, das unter Reichelt die Abozahlen steigern konnte – und er hat den Start des Senders Bild TV begleitet und damit einen Traum des Verlagsgründers Axel Springer vollendet.

Zu Beginn dieser Woche wurde der Bild-Chefredakteur jedoch aller Aufgaben entbunden, weil er offenbar den Vorstand des Verlags Axel Springer belogen hatte über seine privaten Beziehungen zu Mitarbeiterinnen. Da in einem Compliance-Verfahren vor rund einem halben Jahr bereits Vorwürfe von Machtmissbrauch gegenüber Frauen laut geworden waren, zog der Verlag jetzt die Reißleine. Damit endet vorerst die Karriere eines Journalisten, den selbst ärgste Gegner immer als einen Mann mit Instinkt und großem Einsatzwillen einschätzten.

Sein Büro sei immer offen gewesen, sagt ein männlicher Kollege über ihn, der bis vor kurzem gern mit ihm zusammengearbeitet hat. „Er hat sich immer erinnert, wenn man vor Jahren einmal eine Wette mit ihm abgeschlossen hatte und einen dann mit einem Kasten Bier überrascht.“ Auch viele ehemalige Mitarbeiterinnen äußern sich positiv über ihn, erzählen, dass sie nie das Gefühl hatten, von Reichelt nach ihrer „Fuckability“ bewertet zu werden, wie es in dieser Woche im Spiegel zu lesen war. Aber ja, viele hätten das Geraune mitbekommen, dass es immer wieder Frauen gab, die enger mit Reichelt in Kontakt waren und dann versetzt wurden, in andere Teile des Springer-Konzerns oder der Bild.

Das allerdings hat, wie die New York Times es in ihrem Sittengemälde vom vergangenen Wochenende nachzeichnet, im Verlag Tradition. Springer ließ Frauen mit dem Helikopter nach Sylt fliegen und schickte ihnen vorgedruckte Briefe mit seiner Unterschrift, in denen er ihnen für die Nacht dankte. Wer durch die Verlagsgeschichte des Hauses geht, wird immer wieder auf leitende Redakteure treffen, die ihre Frauen verließen, um junge Kolleginnen zu heiraten oder mit ihnen Kinder zu zeugen. Und wer ehrlich ist, weiß, dass da der Springer-Verlag keine Ausnahme macht, wenn es auch in einem Boulevard-Umfeld vielleicht länger dauert, bis die derbe Sprache auffällt.

Begonnen hat Julian Reichelt seine Karriere beim Haus Axel Springer im Jahr 2000, als er die gleichnamige Journalistenschule besuchte. Seine Mitschüler aus der Zeit haben noch den Journalisten Reichelt kennengelernt, den man als „besessen“ beschreiben kann. „Er wurde angehimmelt“, sagt einer. Reichelt hatte ihnen erzählt, dass er immer zur Bild wollte, dass er den Boulevardjournalismus für den einzig echten Journalismus hielt. Also die Welt allen zugänglich zu machen, dem Bauarbeiter und der Friseurin. Als der Volo-Kurs Besuch vom Betriebsrat bekam, „bombardierte ihn Reichelt derart mit Fragen“, sagt ein Kollege, „die ihn als Feind des Unternehmens entlarven sollten“.

Die Jahre als Kriegsreporter, so sagte er selbst in Interviews, waren für Reichelt die „formative years“, die prägendste Zeit. Da wurde er zu dem, was ihn ausmacht. Er berichtet von Müttern, die ihre Babys begraben. Von Menschen, die nicht nur ihr Zuhause hinter sich lassen müssen, sondern ihr Leben, von Soldaten, die am Krieg zerbrechen. Er schreibt darüber ein Buch bei Bastei Lübbe mit dem bezeichnenden Titel „Ich will von den Menschen erzählen“. In einem Interview über diese Zeit sagt er: „Es fällt schwer, in einem Krieg, bei dem immer wieder gegen die eigenen Werte verstoßen wird, objektiv zu bleiben.“ Er glaube auch nicht, dass das überhaupt möglich sei, denn es gebe auch keine „neutralen Schicksale“. Reichelt weiter: „Das Ziel ist es, wahrhaftig zu bleiben.“

Die Kriegsmetaphern, sie tauchen auch wieder auf in der Amazon-Dokumentation, die vor einem Jahr erschien und in sieben Folgen den Alltag der Redaktion erstaunlich offenherzig zeigte. Da wurde einmal das Nasenspray auf dem Tisch des Chefredakteurs in Szene gesetzt, da werden die Kollegen laut kritisiert, und als der „Wirrologe“ (O-Ton Reichelt) die Handynummer eines Bild-Mitarbeiters twittert, sagt er in die Kamera: „Das ist das Kriegsbeil.“ Man kann diesen Satz auch so lesen: Reichelt setzt sich für seine Mitarbeiter ein. In dieser Amazon-Doku bezeichnete er seinen Beruf als „first row seat in history“ — in der ersten Reihe sitzen und die Weltgeschichte beschreiben. Kleiner ging’s nicht.

Vor rund einem Jahr sollte ein Mitarbeiter einen Fotografen mit in den Bundestag nehmen, um einen Abgeordneten mit einer Aussage zu konfrontieren. Der Mitarbeiter verstand das falsch und fragte Bild-Live an, die jedoch nicht schnell genug antworteten. Solche Ablauffehler wurden in der Redaktion immer wieder festgestellt. Aber Reichelt platzte der Kragen, er ließ gegen Mittag die gesamte Redaktion antreten. Er stellte sich an das Panoramafenster und zeigte auf den Bundestag . „Wenn wir nicht in der Lage sind, innerhalb von vier Stunden einen Bild-Reporter dorthin zu bekommen“, schrie er, „dann können wir dichtmachen!“

Sein Büro beschrieben Besucher als eine Imitation vom Deutschland der 80er-Jahre. Ein großer Schreibtisch, voller Akten und Papiere, der Aschenbecher, in dem immer eine Zigarette glomm, die zerrissene amerikanische Flagge im Rahmen, das rote Sofa und das berühmte und seit dieser Woche berüchtigte Feldbett. „Es sah eher aus wie ein Feldbett, das sich Manufaktum ausgedacht hatte“, sagt ein Besucher.

Doch selbst die kritischsten Kritiker kommen nicht umhin, den Fleiß, den Willen zur großen Schlagzeile, zum politischen Mitmischen bei Reichelt zu sehen. Er sei hart gewesen, gegen sich und andere. Er konnte einstecken, wenn man ihn kritisierte, ja, er schien Menschen erst dann wirklich wahrzunehmen, wenn sie ihn kritisierten. Nicht umsonst gilt sein bester Freund Paul Ronzheimer auch als sein schärfster Kritiker. Er soll Texte verhindert haben, die Reichelts Ansehen noch mehr geschadet hätten. Als Pinky und Brain bezeichneten sich die beiden einst in einem Interview.

Zuletzt waren es wohl zu viele Gegner geworden, die sich in Gesprächen immer weniger zurückhielten mit Geschichten aus dieser Redaktion der Angst. So stand einer dieser Mitarbeiter neben Friede Springer, als sie ein kleines Fest im Journalistenclub im 18. Stock des Springer-Verlages eröffnen sollte. Alle waren da, nur Julian Reichelt fehlte noch. Als Mathias Döpfner sie bat, noch kurz auf Reichelt zu warten, soll sie gesagt haben: „Ach der …“ Sie winkte ab und sagte: „Wir fangen an!“

Porträt des Schauspielers Max Mauff

Berlin – Metin weiß, dass er nicht mehr lange durchhalten wird. Er hat eine Erkältung, sein kleines Baby ist gesund, aber es gibt niemanden, der sich um dieses Baby kümmern kann. Er hat noch die Nachbarin um Hilfe gebeten, aber weil er sie vorher mal als „Nazi“ beschimpft hat, schlägt sie ihm die Tür zu. Seine Mutter will er aus Stolz nicht fragen, seine Schwester war schon früher keine Hilfe, als sie ihn zum Koksen verführen wollte. Und was ist mit seiner Freundin, der Mutter des Babys? Die ist vor einem halben Jahr ganz plötzlich gestorben. Im Erdgeschoss wird Metin schwindelig. Und dann liegt er einfach auf den kalten Fliesen.

Als die Serie „MaPa“ im April 2020 auf Joyn anlief, waren viele verwundert, was der Streaming-Ableger von ProSieben mit diesen sechs Folgen beweisen will. Ein alleinerziehender Witwer in Berlin zwischen Trauer und Babybrei? Die Kritik war überwiegend positiv, aber auch irgendwie verwirrt, weil „MaPa“ eben sehr quer steht zum sonstigen Unterhaltungsprogramm des Senders. Im vergangenen Jahr hat ProSieben immer wieder durch Aktionen zu beweisen versucht, dass der Sender nicht mehr sklavisch auf die Quoten schaut – nicht zuletzt in dieser Woche durch die sieben Stunden dauernde Live-Reportage aus einem Krankenhaus von Joko & Klaas. In der kommenden Woche läuft „MaPa“ zum ersten Mal auch im RBB.

Max Mauff ist das Gesicht dieser Serie, er spielt Metin, der in jeder Folge irgendwann überfordert ist von allem. „Diese Serie löst nicht viel Freude aus“, sagt er, „das ist mir klar.“ Er meint die Trauer um die tote Freundin, die Metin in jeder Szene im Gesicht abzulesen ist. Aber die Zusammenarbeit mit dem Team, die habe ihn wirklich glücklich gemacht. „Ich hatte das Gefühl, ich bin in der Zukunft angekommen.“ Solch eine Rolle sei doch vor zehn Jahren noch überhaupt nicht denkbar gewesen: Ein junger Mann mit einem nichtdeutschen Namen, der nicht zum Helden wird, sondern einfach scheitert und ohne Hilfe von Frauen zusammenbricht. „Wenn man so etwas erzählt, provoziert man auch.“

Mauff ist 34 Jahre alt und läuft durch den Treptower Park, als er das sagt. Das ist kein Zufall, er hat sich diese Gegend ausgesucht, um über Männerbilder zu sprechen. Seine Beziehung zum Park rührt nicht nur daher, dass er in der Charité in Ost-Berlin geboren wurde und in Friedrichshain aufgewachsen ist. Er mag auch diese große Statue im Zentrum des Parks, das Sowjetische Ehrenmal. Ein 30 Meter hoher Mann mit einem Schwert und einem Mädchen im Arm. Die Statue erinnert an die 80.000 russischen Soldaten, die im Kampf um Berlin während des Zweiten Weltkrieges gefallen sind.

Er war oft im Treptower Park als Jugendlicher, hat sich mit seinen Freunden hier getroffen. Die Initialen von einigen von ihnen sind in seinem Knöchel eingeritzt. „Das haben wir uns damals mit 18 einfallen lassen“, sagt er, „weil wir dachten, wir würden unser Leben zusammen verbringen.“ Irgendwie seien die Wege dann aber doch auseinandergegangen, in den vergangenen zehn Jahren.

Der Osten ist für Mauff immer ein Thema geblieben. Er weiß genau, wo die Schauspieler seiner Generation herkommen: Ludwig Trepte (Ost), Florian Bartolomäi (West), Tom Schilling (Ost) und so weiter. Seine erste Hauptrolle hatte Mauff mit 15 in einem Jugendfilm – dann kamen in den Nullerjahren die ersten großen Kinofilme: „Die Welle“, „Der Vorleser“, „Berlin Calling“. In den 2010ern wurde er vielen durch seine Rollen in den Serien „Stromberg“ und „Sense8“ bekannt sowie in dem One-Shot-Film „Victoria“.

Mit jeder Rolle wurde Mauffs schmales Gesicht mit den charakteristischen großen Augen bekannter. Aber das ist eigentlich gar keine Kategorie für ihn. „Ich arbeite für meine Biografie“, sagt er. Das mache er ähnlich wie andere Schauspieler. „Ich möchte, dass irgendwann die Menschen auf meine Filmografie blicken und sich fragen, warum ich diese oder jene Rolle übernommen habe.“ Wenn ihn doch jemand auf der Straße erkenne, findet es Mauff interessant, aus welchem Projekt. „Ob sie jetzt ‚Sense8‘ oder ‚Stromberg‘ gesehen haben, das sagt ja mehr über den Zuschauer aus, als über mich.“ Wenn es gut laufe irgendwann, sagt er, dann schauen sich vielleicht die Menschen „Sense8“ an, weil ihnen „Victoria“ gefallen habe.

Die vielen Drehs, die er in den vergangenen Jahren hatte, kamen mit Corona zu einem abrupten Stopp. Mauff konnte glücklicherweise an Hörspielen weiterarbeiten, aber ansonsten war auch er gezwungen, seine Zeit anders zu verbringen. Neben viel Zeit mit seiner Tochter, die aktuell den „Traumzauberbaum“ hört, verbringt er seine Tage seit einigen Wochen auch auf seinem 250 Quadratmeter großen Kleingarten. Umgraben, pflanzen, wässern – und warten. Ein Kleingarten, das sei einer der wenigen Dinge, wo Geduld sich auszahle, sagt Mauff.

Inzwischen haben wir das Ehrenmal im Treptower Park erreicht. Obwohl die Sonne an diesem Vorfrühlingstag sehr stark scheint, ist fast niemand unterwegs in diesem Park. Auf dem Gelände um die Statue herum stehen nur einige bunt gekleidete Brasilianer, die laut auf Portugiesisch von eins bis vier zählen und jedes Mal einen anderen Tanzschritt vollführen: „Um, dois, três, quatro.“ Es ist eine seltsame Szene, die sich so fast deckungsgleich in „MaPa“ abspielen könnte. In der Serie geht Metin zu Ikea, alle um ihn herum sprechen nur „Blabla“. Die Welt aus der Sicht eines Depressiven kann eben manchmal auch sehr lustig sein.

„Darauf kommt es doch an“, sagt Mauff, „auf das Müh an Verrücktheit.“ Auch wenn die Geschichte von „MaPa“ traurig ist, solle es schließlich kein „Misery Porn“ werden. Deshalb sei die Beziehung von Metin mit seiner Freundin, die in Rückblenden erzählt wird, eben keine idealisierte romantische Zeit voller Glück. „Wir wissen doch alle, dass junge Eltern Schlafprobleme haben und nicht die ganze Zeit nur im Glück schweben“, sagt er. Das Gute am Drehbuch sei, dass die Mutterfigur auch Fehler haben darf und dennoch noch überraschende Wendungen und Twists bereithält. Damit schaffe man sich aber auch Gegner.

Schließlich ist auch Mauff mit einem Bild von Männern und Frauen aufgewachsen, das sich innerhalb recht starrer Grenzen bewegt. Väter kamen da nur als ständig arbeitende Ackerer vor und Mütter meist als idealisierte Heldinnen. Mauffs Mutter bekam den Job, das Kind und die Zeit im Ruderverein irgendwie alleinerziehend hin. Und wenn Mauff die Abende beim Großvater verbrachte, schauten sie dort zusammen Western. Für ihn waren das Bilder einer großen Welt, in die er eintauchen konnte. Das war zwar einerseits eine schöne Zeit, doch sie prägte auch ein Bild, das man wohl heute als „toxische Männlichkeit“ bezeichnen muss: Männer, die einen Raum betreten und sich der Frauen und anderer Kulturen „bemächtigen“ – ohne dass das jemals hinterfragt wird.

„MaPa“ ist das glatte Gegenteil davon. Die Serie war für den Grimme-Preis nominiert und dennoch hat ProSieben sich vorerst gegen eine zweite Staffel entscheiden. Max Mauff findet das schade, zumal viel von der zweiten Staffel schon feststand. Es sollte um Heldenbilder gehen und jetzt kommt diese Statue ins Spiel, hinter ihm, dieser Koloss mit Kind im Arm. „Ich hätte gern eine Szene hier gedreht“, sagt er. „Denn das sind schließlich die Heldenbilder, gegen die wir uns mit Figuren wie Metin auflehnen.“ Es könne nicht darum gehen, zum Helden des Alltags zu werden. „Ich selbst muss meine Anforderungen auch ständig anpassen als Vater.“ Aber er finde es beruhigend, dass er in einer Zeit lebt, wo diese Bilder nicht mehr so ungefragt übernommen werden wie früher.

Ein weiterer Film, der gegen diese Bilder angeht, ist Terrence Malicks „Ein verborgenes Leben“. Darin spielt August Diehl einen Österreicher, der nicht mitmachen will beim Zweiten Weltkrieg. Es ist ein Film über einen Mann, dessen Nein zur Gewalt ihn schließlich in den Tod führt. Max Mauff bewunderte Malick schon lang und wollte unbedingt mitspielen, selbst wenn es nur eine kleine Rolle war.

Als er jedoch zu keinem Vorspiel eingeladen wurde, machte er sich auf eine Wanderung. „Ich ging in die Alpen“, sagt er, „ich wollte für mich sein und zehn Tage in den Bergen die Natur anschauen.“ Als er am Tag acht in Südtirol in einer Hütte ankam, erreichte ihn der Anruf von Malicks Regieassistenten, ob er ein Foto von sich schicken könnte, Sie brauchten einen verwahrlosten Typen für die Rolle eines Deserteurs, der n einem Halbsatz im Briefwechsel zwischen Jägerstätter und seiner Frau erwähnt ist und sich in den Bergen vor der Armee versteckt, sagt Mauff. Ich kniete mich in den nächstbesten Bach und schickte Ihm Fotos von mir.  Ein paar Stunden später hatte er die Rolle des Sterz. Die Dreharbeiten fanden in den Südtiroler Bergen statt. Nur ein paar Stunden entfernt von dem Ort, wo Mauff gerade telefonierte. Er erarbeitete sich diese Rolle, die übrigens mit dem Metin aus „MaPa“ rein gar nichts zu tun hat.

Porträt der koreanischen Autorin Bae Suah

Bae Suah sitzt in Mecklenburg-Vorpommern in einem Haus, allein, mit Blick auf die Seenplatte und das Grün und Rot und Grau der Landschaft im Herbst. Sie denkt nach über Seoul, die Hauptstadt ihrer Heimat Südkorea, über Geister und über Menschen, die Schmerzen aushalten. Es ist Spätherbst an der deutschen Küste, aber Bae denkt an die Hitze im koreanischen Hochsommer, die sich in jede Pore des Körpers bohrt und dazu führt, dass über den Betten von schlafenden Menschen kleine Dampfsäulen entstehen. So ungefähr schreibt sie das dann auch auf: „Die hochsommerliche Metropole glich einem Tempel der betäubenden Mattigkeit, der vor Tausenden Jahren von einem lange verschollenen, dem Hitzekult frönenden Volk errichtet worden war.“

Die südkoreanische Autorin hat mit dem Buch „Weiße Nacht“ dieses Jahr einen Überraschungshit gelandet. Es ist ein absurd-schöner Roman über eine Frau, die unabhängig leben will und dabei doch immer wieder an ihre Wurzeln erinnert wird. Sie trifft auf Schriftsteller, auf ein altes Ehepaar, bei dem es sich vielleicht um ihre Eltern handelt, und schließlich auf einen Mann, der ihr Freund sein könnte. Und während all das geschieht, führt die Hitze des Sommers dazu, dass nicht nur die Gedanken sich auflösen, sondern auch die Grenzen zwischen den Menschen verschwimmen. Halt gibt der Wetterbericht, der wie klare Halterungen im Halbrealen ihren Text umgibt.

Darauf angesprochen sagt die 55-Jährige Autorin erst mal nichts. Sie sieht so aus, als erinnert sie sich an das Schreiben vor rund zehn Jahren. „Ich weiß gar nicht mehr, ob es ein Hörspiel war oder ein wirklicher Wetterbericht“, sagt sie, „aber es klang sehr abgehackt und dadurch so theatralisch oder: musikalisch.“ Dann erzählt sie vom Entstehungsprozess ihres Buches: „Zunächst muss ich gestehen, dass ich das Buch weder in Korea noch in Sommer geschrieben habe.“ Sie habe vielmehr im Winter in einem Häuschen in Mecklenburg-Vorpommern gesessen, vi

Bae spricht leise, in einem schönen Deutsch, das sorgfältig zwischen Dativ und Genetiv unterscheidet und jedes Wort einzeln betont. Bae Suah will Auskunft geben über ihr Schreiben, ihr Werk und Leben. 25 Menschen sind in das Koreanisches Kulturzentrum geladen, als sie über ihr Buch „Weiße Nacht“ spricht. Mehr sind aufgrund der strengen Corona-Regeln nicht zugelassen, es ist wenige Tage bevor die ganze Welt wegen „Squid Game“ einmal mehr auf Südkorea blickt.

Doch schon vor ihrem Roman, der in den deutschen Feuilletons euphorisch besprochen wird, haben südkoreanische Autorinnen wie Han Kang („Die Vegetarierin“) und Cho Nam-Joo („Kim Jiyoung, born 1982“) für Aufsehen auf dem deutschen Buchmarkt gesorgt, der in diesen Tagen trotz Corona sein wichtigstes Fest begeht: die Frankfurter Buchmesse.

Bae Suah aber sind diese Vergleiche eher unangenehm. „Ich schreibe seit mehr als 20 Jahren“, sagt sie, „aber ich lag nie im Trend, wie man so sagt, und ich glaube, ich möchte das auch nicht.“ Ihre Romane sind in Korea in kleinerer Auflage erschienen als dieses Buch in Deutschland. „Das kann daran liegen, dass koreanische Leser vielleicht gerne Geschichte mit einer klaren Story und Inhalt lesen möchten.“ Sie aber möge gerade Bücher, die sie verwirren. Sie erzähle in „Weiße Nacht“ mehr in Bildern, von Assoziationen und Fantasien, wie Szenen in einem surrealen Film. „Beim Schreiben sehe ich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht getrennt, ich sehe alles zugleich“, sagt Bae Suah und fährt nach einer Pause fort: „Ich möchte nicht für jeden schreiben.“

Begonnen hat sie mit dem Schreiben eher zufällig. Als sie mit 23 Jahren als Beamtin am Flughafen in Seoul arbeitete, schrieb sie ihre erste Kurzgeschichte für einen Wettbewerb – sie wollte sich selbst das Zehnfingersystem beibringen. Koreanisch ist eine Alphabet-Schrift. Diese Geschichte hieß „Dunkles Zimmer“ und gewann den Hauptpreis bei dem Wettbewerb. Seitdem sind viele Bücher entstanden, die häufig sehr rätselhafte Namen tragen: „Landstraße mit grünen Äpfeln“, „Club der roten Hände“ oder „Windpuppe“.

Obwohl sie im Jahr 2001 nach Deutschland ging und schließlich sogar dauerhaft Zeit hier verbrachte und die Sprache perfekt spricht, ist es ihr erstes Buch auf Deutsch. Sie hat sich mit der Sprache vor allem als Übersetzerin beschäftigt: Sie hat berühmte Autoren ins Koreanische übersetzt – Franz Kafka, W.G. Sebald, Jenny Erpenbeck, Christian Kracht.

„Ich bin keine Wissenschaftlerin“, sagt Bae Suah. „Ich arbeite sehr intuitiv, auch als Übersetzerin.“ Wörter wie Geister und Seele würden in Korea definitiv anders verstanden, sagt sie. „Aber es sind manchmal auch einfache Wörter wie ‚Mutter‘, ‚Sterne‘ oder ‚Liebe‘, die ganz anders verstanden werden in anderen Sprachen.“ Sie habe den Glauben, dass es eine perfekte Übersetzung nicht gebe. „Ich will nicht ewig forschen oder überlegen, sondern es muss sich richtig anfühlen.“ Sie war einmal auf der Buchmesse bei einem Treffen von Übersetzern von Christian Kracht. Dort ging es lange um das Wort „levantinisch“. „Manche konnten das ganz leicht übersetzen, andere, wie ich, haben dafür lange gebraucht.“

In ihrem Buch, zumindest in der deutschen Übersetzung, ist die Sprache sehr klar, doch häufig verändert sich mitten im Absatz plötzlich die beschriebene Realität und alles steht Kopf: „Als die junge Ayami eine Straße entlangging, entdeckte sie einen bläulichen Stein auf dem Boden und hob ihn auf. Unter dem Stein tat sich ein tiefes Loch auf, es führte zur Welt auf der anderen Seite des Spiegels, die parallel zur hiesigen existierte …“ Immer wieder kommt ihre Hauptperson an solch eine Stelle, wie ein DJ mixt Bae Suah dabei einige Texte in fast identischer Form immer wieder ein. Eines dieser Bilder ist der Kopf mit einem Nagel drin, ein sehr brutales Bild.

Bae Suah erzählt, dass sie mit dieser Erwähnung ein Trauma ihrer Kindheit verarbeitet. „Eine Schuldfreundin hat mir einst ein Geheimnis anvertraut“, sagt sie, „dass ich hier aufgeschrieben habe.“ Es habe einmal einen Onkel gegeben, der plötzlich verschwunden sei. „In seinem Abschiedsbrief stand, dass er den Weltschmerz nicht ertrage und in die Berge gegangen sei.“ Der Mann war Apotheker, hatte eine junge Frau und einen Assistenten. „Im Dorf erzählte man sich, dass der Leichnam unter dem Dach der Apotheke versteckt sei, weil der Assistent die Frau des Apothekers liebte.“ Der Assistent habe ihn ermordet, mit einem Nagel im Kopf. „Doch die Polizei fand die Leiche nie, und so blieb es ein Gerücht.“ Die Apotheke wurde geschlossen und der Assistent zog mit der Frau in eine andere Stadt.

Das Lesen von „Weiße Nacht“ führt subtil in solch grausige Welten. Inspiriert, sagt sie, sei sie von dem iranischen Autor Sadegh Hedayat. Dessen Buch „Die blinde Eule“ wolle sie einmal ins Koreanische übersetzen. Es wird in „Weiße Nacht“ mehrfach erwähnt, Bae glaubt, dass es in Korea viele Leser finden könnte. Das liegt vielleicht auch an der gemeinsamen Erfahrung von Iran und Korea mit dem Krieg. „Als ich Kind war, war es noch wie ein Alptraum, immer hat man von Kriegsgefahr gehört.“

Sie habe unter großer Angst gelitten. „Bis heute hat sich diese Lage nicht sehr geändert, die Angst bleibt immer im Hinterkopf, weil Korea eben getrennt wurde und bis heute getrennt ist.“ Auch darüber wollte sie schreiben, von diesem Alptraum aller Koreaner – von ihrem Häuschen im wiedervereinten Deutschland aus.

Interview with Vladimir Malakhov, Ballet Legend

Berlin –  Vladimir Malakhov (53) opens the door of his apartment in Mitte wearing a colourful kimono over sportswear. He has just finished his daily Instagram ballet class. His smile is broad and he offers a slice of “bird milk” cake, a traditional Russian snack he usually buys at a supermarket in Lichtenberg. He makes some tea, sits down and lights a cigarette.

Berliner Zeitung am Wochenende: Mr Malakhov, do you still smoke?

Vladimir Malakhov: Yes, I never really stopped. It was a very strange time last year. I usually never spend so much time in my apartment. I was stuck here. Normally, you know, I come in, change my clothes, stay two or three days, pack my bags again, and – ciao cacao!

Where were you when lockdown started?

I was just in Croatia to do a revival of Swan Lake. And then I went to St. Petersburg to visit my friends, then a competition in Kyiv. And then lockdown.

Is Berlin still home for you?

It is my base: wherever I go, I always come back to Berlin. I always look forward to this wonderful city. I stayed in Zagreb for three months to do Swan Lake there. But I missed my home, my plants and my friends. I get my energy from everything here. Look, I planted some tomatoes!

You look very healthy. What’s your secret? How did you stay so perfectly fit and in shape?

That is thanks to my niece. “Maybe you can do something on social media,” she said to me. Like a Facebook Live or something on Instagram. At first, I didn’t want that at all. But she insisted: please, people must know that you’re still alive. And I said, OK, open Instagram for me, please. And then she opened an account for me.

Why do you do it?

It’s like a present for people–and also to myself. Sometimes 200 people watch, sometimes 700. It helps me stay fit! All the training facilities were closed and there were also no performances. So these Instagram sessions became important to me.

Did you do one today?

Of course. Friday is a little easier than the rest of the week. Monday is like a warm-up, Tuesday is more complicated, something for the memory, some combinations. Wednesday and Thursday are very hard, I have to push, and today, Friday, is a little bit more for relaxation.

Do you miss the interaction with the audience?

Well, I do get in touch with my audience and they also ask questions sometimes. But after all, you know, we don’t talk so much. It’s ballet, we talk with the body, we don’t talk with the mouth.

Can you still sit on juries for dance competitions around the world?

Yes, but all of that is now digital. I work on the iPad and watch auditions. But it is not the same feeling when you watch it all on-screen.

What is missing?

All the different nuances, all the details. Yes, you can meet people–you sit, you watch, you see the sweat and hear the sound of the feet. But dance is a celebration of life. You need the dress, the perfume, the reality of it all.

What has changed in the dancing world since you retired as a dancer?

Of course they do more tricks now. But you know, if I want to see tricks I go to the circus. If I want to see gymnastics I go to the Olympics. Because first all, it must be beautiful. It’s art, after all! The same goes for pirouettes.

What do you mean, exactly?

Well, people start to turn and turn around like crazy! When I began my career, two or three pirouettes were normal. Now they do 10 or 15! And fast! It’s hard. But technique has improved so much, so it is possible!

Do you like it?

If it’s done beautifully, yeah, I like it. But it is not the quantity that counts, it’s the quality.

Would you say dance and politics can overlap?

I studied in Russia. I danced in Russia. I was born in Ukraine and, at that time, it was all one country. But I’m an artist and don’t talk about political issues.

But everything is political nowadays. I mean, the whole debate around black dancers… Would you have cast a black dancer for Swan Lake?

Of course. I don’t have a problem with a black dancer! I worked a lot with black dancers. All of them are my friends. But to bring the full-blown racial debate to ballet did not help.

In Berlin, it was controversial to expel a dancer while she was on sick leave.

But that is very common. If a director steps down and the next director doesn’t like a dancer – sorry, you are finished! But please don’t go and play the race card. These things have nothing to do with the decision. If you’re a good dancer, you can stay. And if you are not – ciao cacao!

Was she a good dancer?

No, nothing special, maybe a good group dancer. The ballet in New York has an African American ballerina who became a principal dancer – Misty Copeland. She is beautiful and she deserves her title.

Are you in contact with the ballet?

Not much, but of course I still have friends there. Some say this is the worst year the ballet has had, ever. But I don’t know lots of details because I’m not there. I just hear from people. They surely dance and do classes. But rehearsals are not really there.

So you still have good friends at the Berlin ballet?

Well, of course I do. When I built the company, I wanted to build a family, and I think I actually did. I danced with Nadja for many years. And I brought Dino into the company when he was 17 years old. And now he’s married to another dancer and they are expecting a baby.

How do you see your legacy as director of the company?

Every single thing I promised, I delivered. I brought the company to an international level. I brought in some new choreographers. The house was always full. I made it the most successful part of the Berlin operas. People were travelling a long way just to see us, from Japan, from the United States, from Russia.

So what’s next?

I am going to Saint Petersburg. It’s breathtaking. I love the city. Beautiful churches, beautiful theatres. And now everything is open and especially compared to our life here in Germany, it is so different! Restaurants, theatres, and museums have already been open for a long time.

Is the curfew a problem for you?

Not in Berlin. But when I was working in Slovakia, I was filming and we forgot about the curfew. When I left through the stage door there was a police car in front of me. I was so afraid, but we had permission to film.

Will you get vaccinated?

Of course. I decided I want to get the Pfizer vaccine, no matter what other people say. And I did. My first shot is on 25 April.

The interview was conducted by Sören Kittel.