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Das Sony Center ist unterschätzt: Eine Liebeserklärung

Bei einem Krankenwagen hören Sie nur die Sirene, nur das Geräusch, es geht nicht um das Leben, das wahrscheinlich gerade gerettet werden muss. Bei einer schrillen Kinderstimme (Eis! Eis! Eis!) denken Sie nicht daran, ob dieser Wunsch wohl erfüllt wird. Wenn die Eltern etwas rufen („Wir hatten doch gerade erst Eis!“), dann löst das ebenso nichts aus. Es geht Sie nichts an. Genauso wenig wie das sanfte Rauschen, das vom benachbarten Tiergarten kommt. Oder kommt es vom Springbrunnen nebenan? Oder doch von der Straße? Ist es das Rauschen vom Straßenverkehr?

Das Sony Center wurde im Jahr 2000 nach nur drei Jahren Bauzeit eröffnet. Der Architekt dieses tempelähnlichen Gebäudes, Helmut Jahn, wollte mit diesem Bau der Stadt Berlin endlich einen Berg im Zentrum geben; denn bis auf den Teufels-, den Kreuz- und Prenzlauer Berg ist es doch eine recht flache Großstadt. In der Tat soll die aufwendige Dachkonstruktion an den Berg Fuji erinnern, den heiligen Ort vor den Toren Tokios.

Jahrelang fremdelte Berlin mit diesem seltsamen Bau in bester Lage. Einerseits bestimmte es die Skyline beeindruckend mit, andererseits galt das Sony Center als „Nicht-Ort“. Es ist ein Durchgang, um vom Potsdamer Platz zur Philharmonie oder vom Tiergarten ins Kino zu kommen. Maximal betrat man ihn widerwillig für ein Känguru-Steak im australischen Restaurant oder für das Legoland im Keller. Den Australier und das Legoland gibt es immer noch, hinzu gekommen ist eine bayrische Bierkneipe, demnächst zieht ein Fitnessstudio ein.

Plätschern, Gurgeln, Klingeln.

Doch zumindest für mich hat sich das in den vergangenen Jahren geändert: Ich habe diesen Ort in jeden Stadtrundgang mit Freunden eingebaut, er ist sogar ein Ruheort geworden für mich. Nirgendwo sonst in der Gegend ist es schöner, sich für einen Augenblick ganz auf die Architektur einzulassen und vor allem die Soundkulisse zu würdigen, die hier ganz nebenbei entsteht: das Plätschern, das Gurgeln, das Klingeln, die Gespräche in mehreren Sprachen.

Ursprünglich hatte das Sony Center drei Seiten: auf der einen wurden Eigentumswohnungen gebaut, in denen Menschen wie Udo Lindenberg ihre zeitweilige Wohnung in Berlin haben, wenn sie einmal hier sind. Im zweiten Gebäudeteil, zum Park hin, sind Büros untergebracht, die Sphäre der Arbeit. Und im dritten Teil, Richtung Südausgang, ist die Unterhaltung angesiedelt. Dort war jahrelang das Kino Cinestar, dessen Buchstaben gerade abmontiert wurden. Doch wer einmal in den vergangenen 20 Jahren dort auf der Toilette war, weint dem Kino keine Träne nach.

Und jetzt hat das Sony Center so viel Patina, dass es aktuell sogar saniert werden soll, bis 2023. Das gefaltete Dach glänzt trotzdem jede Nacht nacheinander in den Farben des Regenbogens. Der ganze Bereich unter dem Dach wird dann jeweils in tiefes Rot, in kühles Blau oder in kräftiges Grün getaucht. Es verfehlt nie seine Wirkung, und wer trotzdem die Augen einmal schließt, wird hier Tag und Nacht mit dem Rauschen der Großstadt belohnt. Einem Gefühl, das sonst nur in Seoul oder Singapur entsteht.

Das Sony Center ist nicht nur perfekt angebunden, es liegt auch genau auf der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin.  Hier am Potsdamer Platz wurde die erste Ampel der Welt aufgestellt, das Rot-Gelb-Grün begann hier. Hier eröffnete 1994 das erste Hostel der Stadt, als ein Berliner ein paar Matratzen in ein Zimmer in der Köthener Straße 44 schob und begann, sie zu vermieten. Und hier am Potsdamer Platz trifft sich jedes Jahr die Filmwirtschaft der Welt für die Berlinale.

Immer ein paar Grad kühler als draußen

Am Mittwoch in dieser Woche war es noch hell und zudem noch heiß draußen vor dem Sony Center. Unter dem Fuji-Dach jedoch wurde es merklich kühler. Das Metall der Sitzbank kühlte zusätzlich und selbst bei leichtem Regen war drinnen nichts mehr davon zu spüren.

Das Eis, von dem die Kinderstimmen erzählten, das gibt es tatsächlich. Es gibt die Sorten Zitrone Baiser, White Coffee, Honig Lavendel und Kirsche Hibiskus. Und gerade als man sich hinsetzen will, um es zu genießen, hört man jemanden schimpfen, über die Eis-Preise in Berlin, über den verspäteten Zug, über den Lärm. Deshalb: Augen zu und ab in die große weite Welt.

Nach der Spritzen-Attacke im Berghain: „Ich dachte wirklich, ich sterbe jetzt“

Alison Lewis ist eine australische Künstlerin, die unter dem Künstlernamen Zoé Zanias Musik macht. Die 32-Jährige beginnt nächste Woche eine Tour in Bukarest und wurde in der vergangenen Woche in Berlin für etwas bekannt, das ihr sehr unangenehm ist: Sie wurde offenbar Opfer eines Drogen-Attentats. In einem Post auf Instagram schrieb sie, dass sie im Club Berghain auf der Tanzfläche Atemnot bekam.

Berliner Zeitung: Wie geht es Ihnen?
Alison Lewis: Es geht mir gut. Ich habe noch immer ein schlechtes Gefühl, wenn ich an das Ereignis denke, aber ich bin froh, dass alles gut ausgegangen ist. Derzeit bin ich noch immer überwältig von all den Menschen, die mir auf Instagram geschrieben haben. Es sind Hunderte.

Warum waren Sie vor einer Woche im Berghain?
Ich lebe seit neun Jahren in Berlin und mache Musik. Ich bin auch schon dreimal im Berghain aufgetreten, der Club war eine Zeitlang mein Wohnzimmer und noch heute ist er vor allem ein sicherer Ort, wo ich mit meinen Freunden eine gute Zeit haben kann. An diesem Abend vor einer Woche hat ein Freund von mir aufgelegt. Wir sind um 23 Uhr hineingegangen.

Was passierte, als Sie plötzlich bewusstlos wurden?
Es ging alles ganz schnell, aber ich war zum Glück nicht allein. Das meiste haben mir meine Freunde später erzählt. Ich bin wohl zusammengebrochen und ein Freund ging sofort Wasser holen. Ein anderer, den ich gar nicht kannte, rief die Security und das hat mir wohl das Leben gerettet.

Sie waren nicht mehr ansprechbar?
Ja, es war wie ein schlimmer Trip. Es machte alles gar keinen Sinn und nichts passte zusammen. Ich dachte wirklich, ich sterbe jetzt. Ich wurde dann in einen Backstage-Bereich gebracht und von dort in die Garderobe. Erst dann kam ich ganz langsam zu mir. Sobald ich aber ansprechbar war, wurde ich gebeten, den Club zu verlassen.

Ohne Jacke? Allein?

Ich hatte nur die Jacke meiner Schwester, und nein, ich war mit einem Freund. Er begleitete mich, aber ich war noch nicht ganz zurechnungsfähig. Es war auch kalt draußen, 7 Uhr morgens. Sehr hell. Der psychedelische Horrortrip ließ sehr langsam nach. Dieses Gefühl, nicht mehr in meinem Körper zu sein, auch.

Ich stand komplett neben mir. Das ist das Einzige, das ich vom Club nicht so gut fand, dass ich sofort hinausgeworfen wurde. Meine Schwester war noch drin und machte sich große Sorgen um mich. Sie kam schließlich und wir gingen zu mir nach Hause.

Was haben Sie dann gemacht?

Ich habe den ganzen Tag nicht schlafen können und eigentlich den ganzen Tag nur geweint.

Und Sie haben überlegt, wie es dazu gekommen sein könnte?

Ja, die ganze Zeit. Aber über das Getränk hätte es eigentlich nicht sein können. Ich trank an dem Tag wie immer im Berghain Bio-Zisch Ingwer. Wir haben uns die Flasche zu dritt geteilt. Wenn jemand uns etwas in den Drink getan hätte, dann hätten wir das doch alle gemerkt.

Aber wie kamen Sie auf die Spritze?
Ich hatte schon Nachrichten darüber aus London gehört. Dass es dort passiert sei. Und letztlich brachte das Berghain uns auf die Idee: Sie sagten mir, ich solle meinen Körper nach Nadelstichen absuchen. Und direkt am Dienstagabend fand ich einen, an meiner linken Schulter, wie bei einer Impfung.

Ich habe den Stich von einem Arzt untersuchen lassen und der sagte auch, es sei sicher ein Nadelstich. Das habe ich dann an die Clubcommission und an das Berghain geschickt.

Wie haben sie reagiert?

Der Club hat sofort gesagt, dass sie mit den Türstehern darüber sprechen werden, damit so etwas nicht wieder passiert. Ihnen war das unangenehm. Und die Clubcommission hat mir sofort eine Liste an Stellen in Berlin geschickt, an die ich mich wenden könnte.

Warum haben Sie sich dann trotzdem für eine Veröffentlichung über Instagram entschieden?
Weil ich nicht möchte, dass es noch einmal jemandem passiert. Ich bin schon traumatisiert jetzt, aber es sollte verhindert werden. Und wenn es doch passiert, dann sollten zumindest alle Beteiligten so reagieren, dass einem geholfen wird und man nicht noch aus dem Club geworfen wird.

Am Schlimmsten waren ja die Schuldgefühle, obwohl ich doch im Grunde nichts Falsches getan hatte. Jemand hat mir offenbar eine Droge gegen meinen Willen verabreicht.

Warum sollte das eigentlich jemand tun?

Das habe ich mich auch gefragt, das Motiv ist mir noch immer völlig unklar. Ich habe jetzt als Reaktion auf meinen Post sehr viele Reaktionen bekommen. Da haben auch viele erzählt, dass sie etwas Ähnliches erfahren haben, einmal auf Ibiza, einmal in einem anderen Club in Berlin. Aber nie ging es um sexuelle Gewalt.

Diese Vorfälle sind rätselhaft. Vielleicht geht es einfach darum, Menschen zu schaden, wie bei einem Terrorattentat.

Sie schreiben, dass es überwiegend positive Rückmeldungen gab auf Ihren Post. Gab es auch negative?
Ja, einer schrieb mir, ich solle „einen Beweis zeigen oder die Klappe halten“. Das hat mich viel mehr verletzt, als ich es erst wahrhaben wollte. Natürlich habe ich mir selbst immer wieder die Frage gestellt, ob das nicht total verrückt ist, das öffentlich zu machen, zumal ich mich ja kaum an etwas erinnere. Aber ich dachte, wenn es auf die Art bei jemand anderem verhindert wird, dann hat es sich schon gelohnt.

Was hätten Sie anders gemacht?
Ich hätte auf jeden Fall sofort ins Krankenhaus gehen sollen, einen Bluttest machen. Nur so hätte ich herausfinden können, was es war. Und die hätten auch gleich die Einstichstelle gefunden.

Wer hat sich noch gemeldet?
Sonst kamen viele, die mir ihr Mitgefühl ausdrückten. Einer schrieb, dass er die Sicherheitsleute gerufen hat und sich freut, dass es mir wieder gut geht. Ich habe ihm gleich geantwortet: Ich habe dir mein Leben zu verdanken. Ihm und den Leuten im Berghain, die sich um mich gekümmert haben.

Was ist mit der Stelle am Arm?
Sie fühlte sich noch seltsam an, wie nach der Covid-Impfung, es tat etwas weh, aber jetzt ist alles gut.

Werden Sie weiterhin ausgehen?
Ich denke schon, aber erst einmal nicht. Ich werde in den nächsten Wochen sehr freundlich zu mir selbst sein und früh schlafen gehen.

Familien unterm Regenbogen: Divers, international und ein bisschen flirty

Neulich holte Holger seinen Sohn von der Schule ab. Der Junge geht in die dritte Klasse und Holger war schon in Hörweite, als er mitbekam, wie der Sohn von zwei Fünftklässlern geärgert wurde. „Das ist voll schwul“, rief einer von ihnen. Der Sohn antwortete: „Schwul ist kein Schimpfwort, Mann!“ Der Vater war ein bisschen stolz auf seinen Sohn, da rief der Fünftklässler: „Oh Gott, hast Du etwa auch Religion bei Frau Pinkert?“ Sein Sohn: „Nein, meine Väter sind schwul und das ist total okay.“

Holger erzählt die Geschichte an diesem Montag im Café am Neuen See. Es ist einer dieser warmen Abend, an dem die T-Shirts bei vielen Gästen am Körper kleben bleiben und eine leichte Brise ab 22 Uhr verrät, dass es bald richtig stark regnen wird. An einem der Holztische sitzen bei Alster, Schorle und Weizen-Alkoholfrei 18 Männer, von denen alle Kinder haben, obwohl sie nicht mit den Müttern zusammen waren oder sind. So lässt sich die Situation von schwulen Vätern vielleicht am besten beschreiben. Der Gay-Daddies-Stammtisch findet einmal im Monat statt, immer an wechselnden Orten, diesen Monat eben in Tiergarten.

Nachdem Holger die Schulgeschichte erzählt hat, berichtet ein anderer von seiner 18-Jährigen, die neulich ihren ersten Freund mitbrachte: „Der Typ war 19 und ich merkte, ich bin wahrscheinlich der Aufgeregteste am Tisch im Restaurant.“ Dann erzählt ein Pflegevater, wie sein Sohn die beiden Väter in der U-Bahn immer gleich outet: „Hey Papa und Papi! Schaut mal!“ Neulich hätte eine neugierige Frau gefragt, wo denn die Mutter sei. „Die kommt übermorgen zu Besuch“, konnte der Junge dann sagen.

Bei diesem Stammtisch treffen sich Berliner Väter, die irgendwann ihr Coming Out als schwuler Mann hatten und trotzdem eine Familie gründen wollten. Dieser Verein, der seinen Ursprung in einer WhatsApp-Gruppe hat, ist irgendwie typisch Berlin: divers, international und auch ein bisschen flirty. Hier sitzt ein polnischer Deutscher neben einem asiatischen Briten, ein Muskelshirt-Daddy neben einem Rauschebart-Hipster, Adoptiv-Vater neben Leihmutterschafts-Vater, Opernfan neben Hut-Träger, Trans-Mann neben Hetero, der eine Lesbe geschwängert hat (war alles schon da), Klima-Aktivist neben Immobilien-Makler.

Chef der Runde ist Gianni Bettucci, der sich vor acht Jahren, so alt ist seine Tochter, mit anderen Vätern vernetzen wollte, um Geschichten, Kindersitze oder Strampler auszutauschen. Und so traf er sich 2015 in einer Kneipe in Kreuzberg mit zwei anderen Vätern, kurz darauf mit vier weiteren in Prenzlauer Berg. Mittlerweile sind rund 150 Männer Mitglied in der WhatsApp-Gruppe. Bettuccis Idee war es auch, einmal im Jahr das „All-In-Treffen“ zu veranstalten, dieses Jahr am Sonnabendnachmittag in Schöneberg (Cheruskerstr.22, 15 Uhr).

Bei diesem Treffen kommen nicht nur die Väter, sondern auch die Mütter und die Kinder zusammen. Dieses Jahr wird ein Clown auftreten, es wird einen Schminktisch geben und manchmal wird man von außen gar nicht unbedingt erkennen, dass diese Familien unkonventionell sind. Denn viele Mütter, Väter und Kinder werden hier auf der gleichen Decke sitzen, nur manchmal dabei eben noch die Hand einer Co-Mutter oder eines Co-Vaters halten. Auch zu diese Treffen kommen jedes Jahr mehr Menschen.

Kennengelernt haben viele sich genau neben dem Schauplatz des „All-In-Treffens“: Im Regenbogenfamilienzentrum, ein Ort, der schon vor Jahren die Auszeichnung Land der Ideen bekam. Hier gibt es eine Schwangeren-Gruppe für Lesben, Spieletreffs, Krabbelgruppen, Rechtsberatungen und das Wichtigste: einmal im Monat die Kinderwunschgruppe. Dann sitzen sich Männer und Frauen, Paare und Singles gegenüber und stellen Fragen: Wie können wir Eltern werden? Welche Methode ist die beste? Und: Wie organisiere ich das Sorgerecht?

Die letzte Frage ist auch am Montag immer wieder Thema zwischen den Vätern im Café am Neuen See. Manche sehen ihr Kind täglich, weil es bei ihnen wohnt, andere im Wechselmodell, andere nur einmal in der Woche. Manche wollten ursprünglich letzteres und waren dann damit konfrontiert, dass das Kind andere Vorstellungen hat und fragt: Kommst Du morgen wieder? Und wenn es bei der Mutter passt, dann kommt man dann eben noch einmal.

Akzeptanz gerade in Berlin ist hoch

In dieser Runde wird auch deutlich, warum schwule Väter in Berlin sich von vielen in den USA stark unterscheiden: Die Väter hier in Europa können kaum ein Gespräch über ihre Kinder führen, ohne von „unseren Müttern“ zu reden. In den USA ist bei schwulen Vätern Leihmutterschaft die Regel, in Berlin die Ausnahme. Die meisten gründen eine Regenbogenfamilie — und lassen sich damit auf ein Familienmodell ein, das für viele noch immer ein Novum ist. Doch die Akzeptanz ist gerade in Berlin hoch. Einer der Berliner Väter trat neulich mit seiner Tochter in einer Werbung für Armani auf. Darin sagt er: „Wir sind ein gutes Team.“

Das Treffen der Regenbogenfamilien in diesem Jahr findet auch in einer besonderen Zeit statt: Es gibt Politiker (vor allem Grüne), die versuchen, die Rolle des Vaters in Regenbogenfamilien weiter zurückzudrängen. Unter dem Hashtag „Nodoption“ kämpfen Frauen gegen die in der Tat viel zu komplizierte Stiefkindadoption. Ihrer Forderung nach aber soll die Ehefrau automatisch das Sorgerecht für das gemeinsame Kind bekommen.

Aber gerade weil die Väter in der Runde wissen, dass ihre Rolle gern in der Gesellschaft übergangen wird, werden die Gespräche auch immer wieder politisch an diesem Abend. Immerhin: Das Logo des Regenbogenfamilienzentrums bestand bis vor wenigen Jahren noch aus zwei Müttern mit Kind. Jetzt sind es zwei geschlechtsneutrale Figuren.

Ein Vater erzählt an diesem Abend im Tiergarten, wie ein Kindergartenkind neulich an seinem bunten Hemd zupfte: „Das ist so bunt, das tragen doch nur Frauen.“ Er habe dem fremden Kind freundlich gesagt, dass er eben bunte Hemden mag. Ein anderer erzählt, dass er im Berliner Schwimmbad keine Familienkarte bekam, weil die Frau an der Kasse sie nicht als Familie akzeptierte. Am Ende berichtet ein Vater von einer erfreulichen Kita-Rückmeldung: „Sie wollen meinen Sohn gerne aufnehmen. Sie haben noch kein Regenbogenkind und hätten endlich gern eins.“

Sören Kittel ist selbst Vater einer Tochter in einer Regenbogenfamilie. Zusammen mit Alexander Schug, Ulrich Heissig und Gianni Bettucci hat er das Regenbogenväterbuch(Omnino-Verlag, 368 Seiten, 22 Euro) herausgebracht

Kai-Dieckmann-Biografie: Als Putin das Interview in der Luft zerriss

Gerade als es so richtig gemütlich werden konnte, als sich sowohl Kai Diekmann als auch die Moderatorin Pinar Atalay schön warm-geduzt hatten und bereits die großen Themen Kohl und Putin abgeräumt hatten – da stellt die Moderatorin eine Frage, die noch jeden Springer-Mitarbeiter, ob aktuell oder ehemalig, ins Stolpern gebracht hätte. Atalay fragt mit ihrer freundlichen Stimme, die jeder harten Frage die scharfen Kanten absäbelt: „Hast du dich eigentlich mit Mathias Döpfner einmal gestritten, weil er Dinge behauptet wie ‚die Ossis werden nie Demokraten‘?“

Die Frage war ganz klar nicht abgesprochen und Kai Diekmann ist Profi genug, einfach loszusprechen, über Helmut Kohl und dessen Statue vor dem Axel-Springer-Haus und dem großen Verleger Springer selbst, der doch damals noch „Der Brandenburger Tor“ genannt wurde, weil er seinen Verlag an die Berliner Mauer baut. Hatte das etwas mit Döpfner zu tun? Nein, aber dafür ist die Antwort unterhaltsam.

Und das ist etwas, das an diesem Sonntagmittag im Tempodrom schnell klar wird. Der 58 Jahre alte Ex-Journalist, der jetzt Politikberater ist, kann es immer noch: Eine gute Geschichte auf das Wesentliche reduzieren und sie so in kleine, mundgerechte Teile verpacken, dass niemand davon genug bekommen kann. Im kleinen Saal des Tempodrom feiert er die Premiere seines Buches „Ich war Bild“, und gekommen sind vor allem Freunde des Mannes, der 16 Jahre lang Deutschlands auflagenstärkste Zeitung als Chefredakteur geprägt hat.

Da gibt es die Geschichte, wie er in New York sitzt und die Nachricht von Christian Wulff abhört und sie gleich noch mal abspielt, weil er es nicht glauben kann. Dann die, wie Hannelore Kohl ihn immer Beethoven genannt habe, weil Diekmann damals eine recht unkontrollierbare Frisur hatte. Dann erzählt Diekmann, wie er mit der späteren Gelfrisur bei Wladimir Putin sitzt und der ein Interview vor ihm zerreißt, das er eigentlich autorisieren sollte. Wladimir Putin führt das Interview live gleich noch einmal, während Kanzler Gerhard Schröder dabei sitzt. Oder wie er den finnischen Formel-1-Star Mika Häkkinen für den Taxifahrer hält, weil er ihm als „Fahrer“ vorgestellt wurde. „Ich bin promiblind“, gesteht der  Ex-Chef.

Je länger Kai Diekmann von seinen 16 Jahren als Chefredakteur erzählt, desto nostalgischer wird das Publikum, nicht nur wegen der vielen Schwarz-Weiß-Bilder, die hinter ihm an die Wand geworfen werden. Sondern: Allen im Saal fällt ein, dass es tatsächlich einmal eine Zeit gab, als Redakteure mit Putin einfach ein Interview führen konnten und danach mit ihm in engen Speedos zum Strand laufen (Ja, es gibt das Foto mit Diekmann und Putin in Speedos). Die MeToo-Fälle der Stars waren noch nicht öffentlich und auch über Springer gab es noch keine Überschriften, in denen Chefredakteuren toxische Männlichkeit vorgeworfen wurde. Die ganze Buchvorstellung hat deshalb auch etwas von einem Veteranentreffen.

Doch Pinar Atalay will sich nicht zu sehr auf diese Nostalgie-Schiene lenken lassen, auch wenn sie auf der „Original-Couch“ sitzt, auf der schon Lady Gaga bei ihrem Besuch in der Bild-Redaktion gesessen hat. Bild hat sie in das Tempodrom bringen lassen, zusammen mit dem Gemälde vom Bild-Logo, das so arg ramponiert ist, ähnlich wie der Ruf der Redaktion nach dem Weggang Diekmanns. Atalay fragt, ob sein Führungsstil nicht auch erst den Weg geebnet habe für einen Nachfolger wie Reichelt? Wieder ein Moment, den Diekmann weglächelt, was soll er auch sagen über seinen berühmt gescheiterten Nachfolger?

Vielmehr nutzt Diekmann die Gelegenheit und holt zur Selbstkritik aus, die aber in ihrer großen Geste auch wieder etwas Selbstherrliches hat. Er sagt: „Es gibt unendlich viele Situationen“, sagt er, „zu denen ich jetzt sagen muss, das hätten wir anders machen müssen.“ Atalay nennt als Beispiel den Umgang mit Sibel Kekilli, einer Schauspielerin, mit der Springer ungewöhnlich hart umgegangen war. „Ja, Kekilli war so ein Fall“, gibt Diekmann zu, „und auch die Berichterstattung rund um die Agenda 2010. „Doch bevor auch diese Frage zu ernst wird, sagt er: „Aber ich habe nichts Dümmeres gemacht, als den Penis-Prozess zu führen.“

Der Penis-Prozess geht auf einen Text in der taz zurück, die Diekmann eine Penisverlängerung angedichtet hatte. Er zog vor Gericht und erinnert sich noch jetzt schmerzhaft, wie Gerichtsdiener mehr Stühle in den Saal bringen mussten, weil so viele Journalisten über den Spaß berichten wollten. Doch inzwischen hat er sich mit der taz versöhnt. Auf die BER-Schlagzeile in der linken Tageszeitung „Berlin kriegt keinen hoch“ ist er noch heute neidisch.

So will er dann wohl auch in Erinnerung behalten werden in Berlin, wenn er sich mehr und mehr nach Usedom zurückzieht, wo er ein Haus besitzt, weit weg vom Medienrummel: Als einer, der mit Fehlern der Vergangenheit abgeschlossen hat und aus seinen Erlebnissen Dinner-Table-taugliche Anekdoten macht, bei denen vor allem einer gut aus allem herauskommt: Kai Diekmann. Als er der amtierenden Bild-Chefin Blumen überreicht, sagt er: „Das Leben bei Bild ist hart.“

Rattenplage in Kreuzberg

Seyhan F. ist eigentlich Tierliebhaberin, das ist wichtig, weil das bei ihr für alle Tiere gilt. Sie hat ein Vogelhaus auf einer Stelze stehen, ein weiteres hängt an der Wand, gleich neben einem Insektenhotel.

Im ersten Hof nistet manchmal ein Kauz, sagt sie, das kann man hören. Im Garten hat sie schon Habichte, Waschbären und Erdhummeln gesehen und sich immer gefreut über so viel Stadtnatur. Und als die Nachbarin einmal von Mäusen in der Wohnung berichtete, da war es Seyhan, die ihr anbot, die Tiere mit einer Lebendfalle zu fangen und sie ins Grüne zu tragen.

„Ich hab sie in Brandenburg freigelassen“, sagt sie. Auch gegen Tauben hat Seyhan F. nichts. Sie kann im Garten genau die Stelle im Baum zeigen, wo sich gerade eine Ringeltaube eingenistet hat. „So ungeschickt, das Tier, sie stolpert regelmäßig auf dem Weg zum Nest.“ Gerade als sie vom Vogel spricht, kommt er angeflogen und klettert ohne zu stolpern in sein Nest. Aber Ratten? „Ratten in dieser Menge ekeln mich dann doch, wenn ich nur eine bei uns in der Wohnung gesehen hätte, wären wir ausgezogen.“

Die Kreuzbergerin wohnt seit fast vier Jahren im Bergmannkiez, die Wohnung hat zwei Etagen, oben das Schlafzimmer, unten das Wohnzimmer mit Esstisch und dem Zugang zum Garten. Der ist groß, es gibt Blumen und Beete, eine Sitzecke. Sie pflanzt gerade zwei Sorten Klee und Gras an, damit sich der Boden erholen kann. „Gründünger“ heißt das bei Gärtnern.

Doch das Erlebnis mit dem Rattenturm im Mai des vergangenen Jahres hat das Verhältnis zu dieser Wohnung und vor allem zum Garten nachhaltig verändert. Die Ratten im Garten wurden zu einer Herausforderung, die ihren Mann und sie den ganzen Sommer über beschäftigte. Bis heute prägt sie diese Erfahrung. Das einzig Positive: Sie hat dadurch Kontakt zur neuen Nachbarin bekommen, die sich als ein Hollywoodstar entpuppte.

Das Rattenthema begann auf der Hochzeitsreise. Seyhan F. und ihr Mann hatten mitten in der Corona-Krise im sehr kleinen Kreis geheiratet. Im Mai vor einem Jahr flogen sie dann nach Finnland und bekamen dort ein Video geschickt. Im Hinterhof, ein oder zwei Häuser weiter, wurde eine sehr alte Mauer abgerissen. Ihre neuen Nachbarn hatten das gefilmt. Wenn man ganz genau hinschaut, bewegt sich auf dem Video in dem Schutthaufen etwas. Oder ist das nur der Staub?

Das Paar kam zurück und setzte sich im Juni 2021 abends wieder öfter auf den Hof. „Immer wieder raschelte es abends“, sagt sie. „Als dann auch lautes Quieken dazu kam, wurde es mir doch unheimlich.“ Sie seien dann lieber in die Wohnung gegangen. Am nächsten Tag erzählte eine Nachbarin, die immer ihren Biomüll auf das Fensterbrett stellte, dass der umgeworfen war. „Sie hatte einen Schatten gesehen, aber trotzdem das Fenster offen gelassen.“ Katze, Waschbär, Marder. Alles schon im Hof gesehen.

Dann kam der Abend, an dem Seyhan F. vom lauten Rascheln im Hof aus ihrem Schlaf aufschreckte, in den Garten blickte und den Weg nicht mehr sah: Alles war schwarz vor Ratten. Sie fragte bei den Nachbarn nach, die ihr das Video geschickt hatten. Sie stellten sich vor, sagten, dass sie selten in der Wohnung seien. Sie drehten gerade in Potsdam-Babelsberg einen Kinofilm. Aber ja, das mit den Ratten hätten sie auch mitbekommen. Aber sie hätten einen Hund, und der halte die Ratten weitgehend fern. Was Seyhan F. in dem Augenblick dachte: Er hält sie fern, und dadurch kommen alle zu uns.

Es ist generell so, dass Ratten in der Öffentlichkeit sofort gemeldet werden sollten. Niemand weiß genau, wie viele von den Nagetieren in Berlin leben. Zwischen zwei und zehn Millionen, sagen Schätzungen. Die Tiere sind aber so scheu, dass man sie selten sieht. Wenn doch, dann sind es offenbar zu viele. So wie am Oranienplatz bei den Mülltonnen, in der Gegend zwischen Jannowitzbrücke und Ostbahnhof oder im Waldeckpark. Die Ufer von Spree und Landwehrkanal schaffen mit vielen Grünflächen ideale Voraussetzungen für Rattenbefall. Manche Spielplätze in Berlin können wochenlang nicht betreten werden, weil Giftköder ausgelegt wurden.

Seyhan F. aber wollte genau das nicht: die Giftkeule. Zusammen mit den berühmten Nachbarn überlegte sie, wie man dem Problem ohne Gift bekommen könne. Der Hund der Hollywood-Stars sollte ja nicht aus Versehen mitvergiftet werden. Doch nach dem Besuch des Kammerjägers war klar: Etwas anderes wird nicht funktionieren. Die Hausverwaltung hatte ihn geschickt, sein Urteil war eindeutig. Es seien bereits so viele Höhlen gegraben, man könne dem Problem nur mit Gift Herr werden.

Denn die Zeit laufe ihnen davon: Ratten können pro Jahr zwischen vier und sieben Mal Nachwuchs gebären. Pro Wurf können acht oder neun neue Ratten hinzukommen. Manche Tiere bekommen auch 22 Babys auf einmal. Nach drei Monaten sind die Nachkommen geschlechtsreif. Sie sind Allesfresser, zu ihren Speisen gehören auch Seife und Kerzenwachs. Sie übertragen rund 70 Krankheiten und über den Rattenfloh die Pest.

Seyhan F. kennt diese Geschichten, sie hat sich belesen im vergangenen Sommer. Sie weiß auch, dass die Ratten, die im Brandenburger Umland bei ihren Eltern leben, eine Art Wanderratte sind. „Ich war einmal dort, aber die sind bei weitem nicht so groß“, sagt sie, „außerdem sind sie nicht so sehr eine Plage, weil sie mehr Platz haben.“

Die Berliner Wanderratte muss sich oft in einem sehr ungesunden Umfeld behaupten, in der Kanalisation zum Beispiel, während die Wanderratten zum großen Teil in ihrem natürlichen Habitat in Wäldern leben. „Wir haben uns dann doch für das Gift entschieden.“ Sie wollten den Garten zurück, wieder Vögel füttern.

Sie weiß noch, dass sie den ganzen Sommer über den Garten nicht benutzt haben. Der Kammerjäger kam an einem Tag Ende August. Er schüttete das Gift in die Löcher in den Büschen und in die verschiedenen Ecken des Gartens. Er brachte auch überall die roten Schilder („Achtung, Rattengift!“) an, im Vorderhaus, im Hausflur. Spätestens jetzt wussten alle im Haus, was los war. Der Hollywood-Star war etwas ungehalten, das zeigten die SMS, weil er Angst um den Hund hatte. Aber er war überstimmt.

Das Ende der Ratten, für Seyhan F. war es kein schöner Tag, eher ein traumatischer. „Ich war im Wohnzimmer und hörte plötzlich lautes Fiepen.“ Sie sah Dutzende Ratten im Hof, wie am ersten Tag, aber irgendwas stimmte nicht. „Sie wirkten wie im Todeskampf.“ Sie hatte gedacht, Ratten verenden einfach, mit diesem Drama hatte sie nicht gerechnet. Und auch nicht mit diesem Gefühl: Mitleid.

Sie werde in diesem Sommer noch ein paar Mal daran denken, sagt sie. Und obwohl es schon ein paar warme Tage gab, war sie bisher noch nicht einmal im Garten, um sich zu erholen. „Wir müssen ihn uns neu erobern.“

Besuch bei zwei Ostermärschen in Berlin

Heiko Gaekel will, dass das Sterben aufhört, er will für den Frieden demonstrieren, aber gerade weiß er nicht, ob er hier am Oranienplatz richtig ist. „Das ist doch verrückt“, sagt er, „Tausende Tote, ein zerstörtes Land, niemand kann das wollen.“ Der 65-Jährige ist deshalb zum Oranienplatz gekommen, weil hier eine Friedensdemonstration angekündigt war, der traditionelle Ostermarsch der Friedensbewegung. „Aber ich bin gerade angesprochen worden, ob ich denke, ich sei hier richtig.“ Der Grund: Gaekel trägt eine Gelbe Jacke über einem blauen Hoodie. Und auf seinem Schild steht: „Frieden für Ukraine – Putin go home“.

Im besten Sinne vielfältig sind die Meinungen auf dem Platz. Geladen hatte zum Ostermarsch die Friedenskoordination, ein Zusammenschluss aus „friedenspolitisch Interessierten“. Laut Polizeisprecher waren es zu Beginn rund 400 Menschen, die sich trafen und anschließend zu einem Zug durch den Bezirk verabredet hatten. Später sollen nach Polizeiangaben bis 1200 Menschen bei dem Marsch dabei gewesen sein. Sie halten Schilder in die Luft, auf denen steht:„Desertiert alle!“, „Keine Waffen für Ukraine!“, „Klimaschutz statt Rüstung!“, „Hände weg von Russland!“, „Für ein vereintes Eurasien!“.
Als kurz nach 12 Uhr die Reden auf dem Podium beginnen, wird noch einmal deutlich, wie unterschiedlich das Publikum ist, dass hier zusammengekommen ist.

Almut W. gehört wohl zum Kernpublikum. Die 65-Jährige kommt fast jedes Jahr hierher, heute hält sie ein Schild in die Höhe: „Kein Krieg. Nirgends“. „Ich bin zunächst einmal froh, dass in diesem Jahr ein paar Menschen gekommen sind.“ Sie finde es schlimm, dass im Moment alles so polarisiert sei, sagt Almut W. „Warum muss man jetzt Putin verteufeln, weil alle das gerade tun.“ Sie ist der Meinung, dass man doch recht lange auf Handel mit Russland gesetzt habe, weil da beide etwas davon haben. „Und warum ist Putinversteher plötzlich ein Schimpfwort?“, fragt sie. Solange man versuche, einander zu verstehen, könne das nicht schlecht sein. Außerdem gelte natürlich der Ukraine als angegriffenem Land ihre Solidarität.

Auch sie ist nicht mit allem einverstanden, was durch das Mikrofon auf den Platz schallt. Zum Beispiel die Stelle, als Christiane Reimann von der Linken sagt, dass der ukrainische Botschafter, Andrej Melnyk, „Hass und Propaganda verbreite“. Danach deutet Reimann in ihrer Rede immer wieder an, die Ukraine sei selbst Schuld an der aktuellen Situation. „Hätte sie das Angebot von Putin angenommen, wäre Europa jetzt nicht in dieser Situation“, sagt sie. Vereinzelt ist dabei Kopfschütteln zu sehen.

Zum Beispiel bei Max M. aus Dahlem. „Die Rede war kacke“, sagt er, „während literallygenau in diesem Moment Überschallraketen auf ein Land fallen, kann man das dem Land doch nicht vorwerfen. Das ist schon mehr als weird.“ Der 26-Jährige ist mit zwei Freunden zum Oranienplatz gekommen, weil sie gehört hatten, dass es hier um Frieden gehe. „Aber ein bisschen komisch ist die Mischung hier schon“, sagt Max und meint die Impfgegner und Russland-Freunde, die durch Plakate auf sich aufmerksam machen.

Von den Parteien sind nur Marxisten (MLDP), die DKP, die Linke und die SPD vor Ort. Die Grünen werden nur auf Plakaten erwähnt: „Ampeln zu Pflugscharen“ oder „Liebe Grüne, wollt ihr den totalen Krieg?“. Ein Flyer von „Spartacist“ ruft die Ukrainer auf Deutsch auf, ihre Gewehre gegen die eigenen Herrscher zu richten. Eine Zeitschrift „Solidarität“ wird verteilt, mit der Bitte um 1 Euro: „Nur für die Druckkosten.“ Darin gibt es einen Text über den „wahren Selenskyj“, wo er als „Feind der Arbeiter“ bezeichnet wird. Kostenlos wird die linke Tageszeitung „Junge Welt“ verteilt, deren Titelgeschichte die Nato als Kriegstreiber bezeichnet. Vielleicht wird hier am deutlichsten, warum es in Zeiten des Krieges zwei Friedensdemonstrationen gibt.

Ein paar Kilometer nördlich könnte die Stimmung nicht anders sein. Rund 500 Menschen laufen an der russischen Botschaft vorbei und rufen: „Buuh“, gefolgt von „Stop Russian War!“. Viele von Ihnen tragen ukrainische Farben oder die Flagge mit sich. Während in Kreuzberg der Altersdurchschnitt eher bei 60 lag, sind die Menschen, die sich am Bebelplatz getroffen haben und Richtung Brandenburger Tor ziehen, deutlich jünger.

Die Ukrainerin Ganna Boitsova lebt seit zwölf Jahren in Berlin. Vom Ostermarsch in Kreuzberg hat sie gehört, aber wäre da nicht hingegangen. „Wir brauchen keine Flower-Power“, sagt sie. „Wir brauchen Waffen.“ Sie wirft den Friedensbewegten vor, dass das Blut der Toten auch an ihren Händen klebt, wenn sie weiter gegen Waffenlieferungen demonstrieren. Sie habe gehört, dass Linke dem ukrainischen Präsidenten vorwerfen, dass er den Krieg vorantreibe. „Das kenne ich als Frau, dass man den Opfern die Schuld gibt“, sagt sie, „das wundert mich nicht, aber es ärgert mich trotzdem.“ Ihr Land sei angegriffen worden, und wenn die Ukraine sich nicht verteidige, ist bald das nächste Land dran, da ist sie sich sicher.

Es ist deutlich lauter in Berlin-Mitte als in Kreuzberg. Dort am Oranienplatz wurde mehr Klezmer-Musik gespielt und es tanzte ein älteres Paar im Kreis und sang Hava Nagila. Hier auf dem Boulevard bleiben die Touristen fast erschrocken stehen, weil die Stimmen der Demonstranten so wütend klingen: „Kein Handel mit Russland!“ und „Slava Ukraini“. Die Plakate am Bebelplatz sprechen ebenfalls für sich: „Es ist Genozid“, „Embargo für russisches Gas – Jetzt!“, „Putin = Killer“.

Eine, die früher auf die Demonstration am Oranienplatz gegangen wäre und jetzt mit den Ukrainern in Mitte demonstriert, ist Juliane Fischer. Die 70-Jährige bezeichnet sich selbst als friedensbewegt. „Das war in den 80er-Jahren aber etwas anderes“, sagt sie. „Jetzt, mit der aktuellen Entwicklung, kann ich doch nicht die Augen verschließen, wer hier der Aggressor ist.“ Militärische Übergriffe auf andere Länder müssen vermieden werden, aber es sei zynisch, keine Waffen zu liefern. „Frieden wollen alle, aber für uns ist es doch bequem hier aus Berlin zu sagen: Keine Waffen — unser Leben steht ja gerade nicht auf dem Spiel.“ Dieses Mal sei es anders, es müsse mehr passieren, auch von unserer Seite.

Alle, die für diesen Text befragt wurden, beantworteten am Ende der Gespräche noch die Frage, ob sie gerade Angst haben.
Juliane Fischer: „Angst nein, aber ich bin beunruhigt, wenn es einen Flächenbrand gibt.“
Ganna Baitsova: „Ja, nach der Ukraine sind wir hier dran.“
Max M.: „Angst? Vorm Krieg? Nö! Eher vor der Spaltung, wir waren doch dabei, zusammen in den Weltraum zu fliegen, zum Beispiel.“
Almut W.: „Selbstverständlich habe ich Angst, aber mehr um meine Kinder und meine Enkelkinder.“
Heiko Gaekel: „Ich hab meiner Tochter schon gesagt, wenn es eng wird, gehen wir nach Australien, ich war noch nie, aber dort ist es sicher.“

Steven K.: Zwischen Angler-Laden und Gangster-Rap

Berlin – Irgendwann kamen abends Anis und Anna-Maria Ferchichi mit einer braunen Nike-Plastiktüte voller 500er-Scheine zu Steven K. und seiner Freundin. Sie sagten: „Kannst du uns helfen, das Geld zu zählen?“ K. hatte noch nie so viel Geld auf einmal gesehen. Anis Ferchichi erklärte ihm, das sei Schwarzgeld unter anderem von Konzerten. 40.000 Euro pro Konzert. „Ich dachte damals“, sagt Steven K., „das ist ja mehr als ich im ganzen Jahr verdiene.“ Beeindruckt habe ihn das alles. Zwei Stunden lang haben sie gezählt, in einem Mehrzweckkeller in einem Mietshaus. Viermal kamen sie auf die Zahl von 975.000 Euro. Dann hat Anis ein Bündel Scheine herausgenommen. Davon sollten wohl Autos gekauft werden. Die Plastiktüte wurde dann im Keller abgestellt.

Diese Welt von Drogen, Versicherungsbetrug, Prostitution und Schwarzgeld im Keller – das ist keine Netflix-Serie über Geldwäsche wie „Ozark“, sondern das war Alltag für Steven K., der zwischen 2015 und 2017 zum Freundeskreis von Bushido gehörte. Das ist jener berühmte Deutsch-Rapper, der bürgerlich Anis Ferchichi heißt und seit eineinhalb Jahren Nebenkläger in einem Prozess am Berliner Landgericht ist gegen vier Brüder aus der Abou-Chaker-Familie. Der mutmaßliche Bandenchef Arafat Abou-Chaker war zwischen 2004 und 2018 Bushidos bester Freund und Manager. Als diese Freundschaft aber endete, sollen die vier Brüder den Rapper geschlagen, beleidigt, genötigt, bedroht und eingesperrt haben.

Bushido allerdings hat an 23 Prozesstagen ausgesagt über diese Freundschaft, die sich für ihn wie eine „Zwangsehe“ anfühlte und ab dem Januar 2018 lebensbedrohlich erschien. Vor Gericht hat er geweint und auch von der Todesangst gesprochen, die er um seine Familie hatte. Immerhin lebt Bushido seit der Trennung von Arafat unter Polizeischutz, tritt auch vor Gericht im Sicherheitssaal in Moabit immer begleitet von vermummten Beamten auf. Abou-Chakers Verteidigung hat immer wieder deutlich gemacht, dass sie dieser Darstellung widerspricht. Bisher aber schweigen sie zu den Vorwürfen.

Der erste Zeuge, den die Verteidigung am Mittwoch in den Zeugenstand ruft, ist nun Steven K. Der 37-Jährige soll zeigen, wie es ist, mit Bushido befreundet zu sein. Er war 2015 Stammkunde in Bushidos Zierfisch-Geschäft am Hindenburgdamm, „Into the Blue“. Über die Fische haben sich beide dann angefreundet, sie gingen zusammen angeln, und als sich dann ihre beiden Freundinnen auch verstanden, wurden sie alle gute Freunde.

Fast den ganzen Tag habe sich Steven K. um die Belange seines neuen besten Freundes gekümmert, über Jahre. Das ist schon deshalb interessant, weil Bushido häufiger gesagt hat, dass er „keine Freunde habe“, mit denen er Probleme, wie die mit Arafat, besprechen könne.

Steven K. kommt am Mittwoch in einem Pullover, auf dem „Fish Buddy“ steht. Schon in der ersten Stunde im Zeugenstand sagt oder ruft er einen Satz über Bushido, der der Verteidigung sehr gefallen muss: „Er ist ein Schauspieler!“ Als Beispiel führt K. eine Flugreise an, eine der vielen Reisen, die er mit Bushido gemacht hat: Malediven, Kanada, New York. Sie seien zwar Business Class geflogen, aber kurz nach der Landung habe Anis Ferchichi am Telefon seine Frau Anna-Maria angerufen und sich beschwert, dass wegen der Economy Class sein Nacken ganz verspannt sei. „Sie hat ihn dann drei Stunden massiert“, sagt K. Er habe auch miterlebt, wie Bushido seine Frau betrogen habe auf diesen Reisen, mindestens einmal mit einer Prostituierten. „Ich habe dann unten an der Hotelbar gewartet, weil wir uns ein Zimmer geteilt hatten.“

Diese Art von Freundschaft wird in einer amerikanischen TV-Serie dargestellt, die in den frühen 2000ern bekannt war: Entourage. Sie erzählt vom Schauspieler Vincent, der aus New York kommt und sich in Hollywood erst zurecht finden muss. Dabei helfen ihm Freunde, die immer da sind, mit ihm Zeit verbringen, ihn an Termine erinnern, ihn beraten bei Rollen — und finanziell von ihm abhängig sind. Inspiriert war sie vom Leben des Schauspielers Mark Wahlberg, der auch der Produzent dieser Serie war. Sie erzählt auch von den Problemen, wenn Geld sich mit Freundschaft vermischt, wenn die Entourage plötzlich Zeit ohne den Star verbringen will.

Steven K. hatte genau diese Probleme, aber er erlebte auch eine rauschende Dauerparty: Die ersten Jahre zumindest, so sagt es Steven K. im Zeugenstand, habe er durchaus profitiert. Er hat im Zierfischladen gearbeitet („Netto waren das 1300 Euro im Monat“). Zu Weihnachten 2015 hat er eine Rolex für rund 9000 Euro geschenkt bekommen („Das war immer ein Traum von mir“).

Er ist sogar in die Wohnung neben Bushido gezogen, auch wenn diese dann nicht mietfrei war, wie es ihm versprochen worden war. Häufig trafen sie sich abends dort zum „Stammtisch bei K.“, wie sie diese Abende nannten, zusammen mit anderen Rappern wie zum Beispiel Samra. Sie spielten Brettspiele, schauten YouTube-Videos und rauchten Joints. „Anis hat nie mitgeraucht, aber er hat sie immer gern gedreht.“ Wenn K. aber mal keine Lust auf Gäste hatte, sagte Bushido: „Ach komm, du schaffst das schon.“

Steven K. erzählt im Zeugenstand all diese Details mit Wut im Bauch. Nichts mehr wolle er mit den Ferchichis zu tun haben. Dazu hat auch beigetragen, dass er immer mehr von den Schattenseiten der Welt des Rappers mitbekam. Als Anis Ferchichi 2016 wegen Versicherungsbetrugs in Höhe von 360.000 Euro angeklagt wurde, sollte K. für den Freund aussagen, das heißt: lügen. K. tat ihm den Gefallen, weil der Rapper ihm im Gegenzug versprach, dessen Schulden von 14.000 Euro für die Beerdigung des Vaters zu bezahlen. Er tat das jedoch nie. Dafür habe sich Arafat Abou-Chaker immer um seine Probleme gekümmert. Ist deshalb seine Erinnerung an den Bandenchef letztlich so freundlich?

Zum eigentlichen Verfahren – der Freundschaft zwischen Abou-Chaker und Bushido – kann K. nur wenig sagen. Er war zwar oft dabei, wenn sie sich stritten, auch im Spätsommer 2017, als es um den Zaun auf dem gemeinsamen Grundstück in Kleinmachnow ging. Doch K. hielt sich stets zurück, hörte sich den Streit nur an, ergriff nicht Partei. Dass es auch gefährlich werden konnte, hatte er kurz zuvor erfahren. Im Mai 2017 hatte ihm Bushido vorgeworfen, Geld aus der Kasse des Zierfischladens genommen zu haben. Bushido habe ihn gewarnt: „Wenn ich das Arafat sage, bricht er dir die Knochen.“ K. schwor, dass er kein Geld gestohlen habe, doch zur Sicherheit versuchte er, es bei seiner Familie zu leihen. Bei der Erinnerung an diese Krise verliert er vor Gericht noch einmal die Fassung. Zitternd trägt er vor, dass ihn diese ungerechte Beschuldigung sehr geschockt habe.

Kurz darauf wird der Zierfischladen geschlossen. Er habe ohnehin nicht genug Geld abgeworfen, Anis kam nur vorbei, um Anträge zu unterschreiben und World of Warcraft zu spielen. K. beschreibt ihn als „geldgeil“. Die Freundschaft zwischen beiden war deutlich abgekühlt, vorbei die Zeit, als sie im Hotel die Betten zusammenschoben, wie er erzählt. K. war am Ende zu einer Art Hausmeister und Mädchen für alles geworden: Holte die Kinder ab, baute Schaukeln auf, reparierte kaputte Lampen. Auf Reisen war er noch dabei, Bushido sagte ihm, er könne ihn „bei der Steuer absetzen“.

Das Ende der Freundschaft kam dann ganz abrupt am 23. Dezember 2017. Am Abend zuvor hatte Steven K.s Freundin nicht mit Bushidos Frau „feiern gehen“ wollen. Bushido rief ihn zu sich und sagte ihm, dass er ausziehen müsse. „Ich sei ihm zu teuer geworden“, ist ein Satz, den er noch weiß. Und: „Du kannst dich bei deiner Frau bedanken.“

Steven K. wohnte dann noch einen Monat in seiner Wohnung neben den Ferchichis. Er ließ meistens die Jalousien unten, ging nur auf die Straße, wenn es nötig war, versuchte den Kontakt zu vermeiden. Einmal aber, erzählt er, kam Anis Ferchichi gerade mit einem Auto herangefahren. Sie haben sich nicht mehr in die Augen gesehen, sondern Anis habe nur verächtlich zur Seite geblickt.

Steven K. hat sich wieder bei seinen alten Freunden gemeldet. Die hatte er lange Zeit vernachlässigt. Und er hat wieder ein geregeltes Einkommen. Er arbeitet jetzt bei der Berliner Stadtreinigung.

Porträt der Redaktion der “Jungen Welt”

Berlin – Am Mittwoch, nur Stunden vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, hat die Redaktion der Berliner Zeitung am Wochenende die Kollegen der Jungen Welt (JW) zu einer Art „Gesinnungstest“ gebeten. Anhand bestimmter Begriffe und Schlagworte sollte so die Einstellung der Redaktion zu Dingen wie Kapitalismus und Klimawandel herausgearbeitet werden, aber auch zu den Präsidenten Putin und Maduro. Hier im Text finden sich Auszüge aus diesem Gespräch mit den drei Mitarbeitern Stefan Huth (Chefredakteur), Dietmar Koschmieder (Geschäftsführer) und Peter Borak (dessen Stellvertreter). Das Gespräch dauerte rund zwei Stunden. Es drehte sich um Europa, Geopolitik, Wirtschaftstheorie – und, ab wann ein Text als verfassungsfeindlich eingeordnet werden kann.

Klimawandel? Huth: „Der Kampf gegen die Umweltzerstörung hat mich in den 1980er-Jahren politisiert.“ Protest mit festgeklebten Händen? Huth: „Wenn man sich selbst körperlich schädigt, kann das keine gute Protestform sein.“ Wiedervereinigung? „Sie meinen den Anschluss der DDR?“ Huth lächelt und fragt, was denn damals wiedervereinigt worden sei? Er sagt, dass die Redaktion das Wort nicht benutze, es gebe für sowas eine informelle Liste. Weitere Begriffe darauf seien: internationale Gemeinschaft, innerdeutsche Grenze („Es waren zwei Staaten“) und: Arbeitgeber. „Man müsste von Arbeitskraftaneigner sprechen, das drückt doch eher aus, was wirklich passiert. Bei uns ist die Rede von Unternehmern oder eben von Ausbeutern.“

Huth, Koschmieder und Borak sitzen nebeneinander im sechsten Stock in den Redaktionsräumen ihrer Zeitung, an den Bürowänden hängen eine Mini-Flagge von Kuba, ein russischer Wimpel und ein Aufkleber mit Hammer, Sichel sowie arabischen Schriftzeichen. Am Fenster steht eine hölzerne Statue, die Peter Borak von Zuhause mitgebracht hat: Es ist der russische Soldat vom sowjetischen Ehrendenkmal im Treptower Park. Er ist aus Holz und trägt ein Kind im Arm. Daneben steht das Leipziger Messemännchen: der Kopf eine Weltkugel, im Mund eine Pfeife. Wer ostdeutsche Wurzeln hat, findet viele Bekannte hier im Büro.

Vor den Redakteuren auf dem Tisch liegt die aktuelle Junge-Welt-Ausgabe vom Mittwoch, auf deren Titel stehen drei rätselhafte Wörter, die man auch nach längerem Anschauen nicht ganz versteht: „Putin erzwingt Frieden“. Huth und seine Kollegen wollen über die Ausrichtung ihrer Zeitung sprechen, weil sie sich falsch verstanden fühlen. Seit 24 Jahren werden sie vom Verfassungsschutz beobachtet. Die Bundesbehörde schreibt dort jedes Jahr, das Blatt sei ein „bedeutendes Printmedium im linksextremistischen Bereich“. Die Zeitung pflege eine „traditionskommunistische Ausrichtung“ und wolle eine „sozialistische Gesellschaft errichten“. Gewalt gelte in den Texten der JW als anerkanntes Mittel gegen Kapitalismus und Imperialismus. So der Vorwurf und so die Gründe für die Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Die putinfreundliche Ausrichtung wird nicht helfen. Jetzt erst recht nicht.

Trotzdem. Die Macher der Zeitung sehen sich schikaniert. Die Redaktion habe das viel zu lange ertragen, sagt Geschäftsführer Koschmieder. „Früher hatten wir weder Kraft, Zeit noch Mittel, dagegen juristisch vorzugehen“, sagt er, „wir kämpften schlicht um unser Überleben.“ Aber inzwischen sei die verkaufte Auflage recht stabil, sie liege an manchen Tagen bei über 24.000 Exemplaren. „Aber weil wir die einzige Tageszeitung sind, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, entstehen uns eine Reihe von Nachteilen, die mittlerweile unsere Existenz bedrohen.“ So dürfe man an deutschen Bahnhöfen nicht auf Großplakaten werben, Druckereien oder Bildagenturen verweigern die Zusammenarbeit, Autoren oder Interviewpartner wollen nicht in der Zeitung abgedruckt werden – immer mit Hinweis auf die Nennung im Verfassungsschutzbericht. „Erst diese Woche wurde uns die Werbung für eine Probeabokampagne im öffentlichen Nahverkehr unter anderem von Hamburg,  Köln, Leipzig verweigert.“

In nächster Zeit entscheidet das Berliner Verwaltungsgericht über den Erlass einer einstweiligen Verfügung, die zumindest die aktuelle Beobachtung aus dem Verfassungsschutzbericht nehmen könnte. Derzeit ist noch völlig offen, wie das Gericht entscheidet. Folgt es aber den Anwälten der JW, dann stünden der Zeitung wieder Werbekunden zur Verfügung, die mit dem Verweis auf die „Verfassungsfeindlichkeit“ bisher vor einer Zusammenarbeit zurückgeschreckt sind. In Zeiten steigender Papierpreise und dem generellen Rückgang von Zeitungsauflagen wäre das eine sehr gute Nachricht für die Redaktion.

Die JW eröffnete den Kampf gegen den Verfassungsschutz mit einem Offenen Brief, den die Redaktion im März 2021 an alle Bundestagsfraktionen schickte. Als Reaktion darauf stellte Die Linke kurz darauf eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung. Sie wolle die Gründe erfahren, die eine geheimdienstliche Beobachtung der Zeitung nötig machen. Die schließe immerhin auch telefonische Überwachung und sonstige erkennungsdienstliche Mittel ein. Die Antwort der Bundesregierung liegt der Berliner Zeitung am Wochenende vor. Das Bild, das die Vielzahl der aufgeführten Beispiele zeichnet, lässt jedoch vor allem den Verdacht aufkommen, dass der Redaktion etwas Verfassungsgefährdendes nachgesagt werden soll, um ihre Beobachtung weiter aufrechthalten zu können. Der erste Eindruck: Die JW-Texte mögen eine extrem streitbare Haltung zeigen. Doch eine staatsgefährdende Tendenz lassen sich aus den erwähnten Beispiele nicht herauslesen.

So wurde in einem Text am 2. März 2020 über einen Parteitag der DKP berichtet und in dem Zusammenhang aus einer Rede zitiert: „Kapitalismus ist Gewalt – er zerstört Menschlichkeit, er ist Gewalt.“ Laut der Akte gehe es in diesem Text nicht nur um die Berichterstattung, sondern auch darum, den Thesen des Politikers „ein Forum zu bieten“. Das allerdings tun alle Texte über Parteitage. Auch folgendes Zitat aus demselben Text ist dem Verfassungsschutz einen Eintrag wert: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Man mag dem vielleicht nicht zustimmen, aber bildet dieser Satz eine ernsthafte Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung? Will die Tageszeitung das Grundgesetz abschaffen? Mitnichten.

Der Verfassungsschützer zitieren immer wieder Stellen, die beweisen sollen, dass die JW den „Kapitalismus überwinden“ wolle. Dafür durchforsteten sie das Archiv der Tageszeitung und stellten Beispiele aus dem Jahr 2005 direkt neben Artikel von 2020. Sie markieren Texte, in denen Autoren das „System in Frage stellen“. Diese kurzen Passagen sind häufig aus dem Zusammenhang gerissen, und es findet sich in ihnen nichts, was der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Deutschlands widerspricht, womöglich aber der politischen Haltung des Verfassungsschutzes.

Auch in unserem kurzen „Gesinnungsgespräch“ benutzen die drei Redakteure regelmäßig solche Begriffe. Klassengesellschaft? Borak: „Selbst linker Positionen unverdächtige Personen wie der Großinvestor Warren Buffett sprechen davon, dass es einen Krieg der Klassen gibt.“ Huth: „Das ist eine legitime Kategorie, mit der man Wirklichkeit beschreibt, der Begriff kommt genauso im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb vor, und daran stört sich niemand.“ Marxismus? Koschmieder: „Unsere Zeitung ist marxistisch orientiert, weil wir davon ausgehen, dass alle gesellschaftlichen Sphären von sich widersprechenden Klasseninteressen geprägt sind. Auch bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler haben übrigens ihren Marx gelesen.“ Kapitalismus? Huth: „Ein vorübergehendes Stadium.“ Borak: „Nicht das Ende der Geschichte.“ Koschmieder: „Wir gehen davon aus, dass der Kapitalismus in seiner absteigenden Phase zur verschärften Ausbeutung führt und nur den Interessen weniger Menschen nützt. “

Aus dem Jahr 2009 zitiert der Verfassungsschutz diese Passage: „Jetzt Waffen und Kriegsgerät zerstören: Das kann jeder und sollte sogar jeder vernünftige Mensch machen.“ Und weiter: „Um menschenverachtendes Kriegsgerät unbrauchbar zu machen, haben wir es einfach angezündet.“ Was sich als martialischer Aufruf zur Gewalt lesen könnte, ist allerdings ein Zitat, das in der Rubrik „Abgeschrieben“ auftaucht. Eine kurze Google-Recherche zeigt, dass diese Sätze aus einem Bekennerschreiben stammen und wortgleich vom Münchner Merkur, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Sächsischen Zeitung und dem Focus zitiert wurden. Außerdem ist die Rubrik „Abgeschrieben“ schon kraft ihres Titels ein Ort, an dem andere Medien zitiert werden. Diese Rubrik taucht häufig in den Argumenten der Verfassungsschützer auf.

Der Verfassungsrechtler Benjamin Rusteberg ist von den Argumenten für die Überwachung der JW nicht überzeugt:  „Eine kapitalismuskritische oder ablehnende Sichtweise ist nicht per se verfassungsfeindlich“, sagt er der Berliner Zeitung am Wochenende. „Der Kapitalismus ist kein Teil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.“ Welches Wirtschaftssystem Deutschland habe, sei im Grundgesetz bewusst offen gelassen worden. „Das vergisst der Verfassungsschutz vielleicht manchmal.“ Es sei nicht dessen Aufgabe, bloße Meinungen zu überwachen. „Was die Beamten bräuchten, wären klare Beweise, dass die Redaktion der JW sich aktiv gegen unser Grundgesetz wendet.“ Man müsse also belegen, dass die Junge Welt eine Art zweite DDR errichten, mithin das bestehende System stürzen wolle. Das verneint die Redaktion der Jungen Welt. Auch die Belege des Verfassungsschutzes lassen so eine Schlussfolgerung nicht zu.

Die JW veröffentlicht immer wieder Texte, die in anderen Zeitungen so sicherlich nie stehen würden. Selbst in Filmkritiken zu Berlinale-Filmen schreiben die Autoren vom Klassenkampf, bei Berichterstattung über Sportereignisse wie Olympia gibt es Verweise auf Chinas Politik oder frühere DDR-Erfolge. Manchmal ist es, gerade in dieser Woche, auch schwer erträglich, immer wieder die Sicht des Kremls, jene von russischen Kommunisten oder schlicht die Wortwahl eines Wladimir Putin auf den Seiten der JW wiederzufinden. Beispiele: Die Spannungen in der Ukraine seien „vom Westen angeheizt“, der amerikanische Geheimdienst CIA sei schuld an der Eskalation. Am Freitag veröffentlichte die Zeitung einen Text über den russischen Angriff, der schon im ersten Satz die Leser subtil auf die russische Seite zieht: „Der Vormarsch russischer Truppen auf die ukrainische Hauptstadt Kiew verläuft offenbar mühsamer als erwartet.“

Auch druckte die Zeitung in dieser Woche einen Text über Slobodan Milosevic unter der Überschrift „Unbequemer Sündenbock“. Ein Porträt, das all seine Kriegsverbrechen außen vor lässt. Und immer wieder sind auch Interviews mit ehemaligen RAF-Mitgliedern erschienen – was allerdings auch andere Zeitungen getan haben, ohne deswegen vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden. Ist das Wort „Aufstandsversuch“ für die Taten der RAF schon eine Verharmlosung? Anfang dieser Woche war sogar die komplette Rede Wladimir Putins über die Ukraine auf zwei Doppelseiten in der JW abgedruckt. Doch auch das haben andere Medien (Tagesspiegel Online, Deutschlandfunk, Berliner Zeitung Online) getan – zur Dokumentation. Reicht das aus, um, wie es der Verfassungsschutz tut, Dossiers über einzelne Autoren der Zeitung anzulegen und in diesen Kurzbiografien die Mitgliedschaft in der DKP als verfassungsfeindlich auszulegen? Eine „linksextreme Gesinnung“ lässt sich so jedenfalls nicht belegen.

Der Rechtswissenschaftler Benjamin Rusteberg erklärt zum Thema RAF, dass jede Zeitung ihre Gesprächspartner selbst aussuchen könne. „Sie haben ihre Haft verbüßt und können sich äußern, wenn sie das wollen.“ Die Junge Welt müsse schon eine zweite DDR herbeischreiben wollen, um als verfassungsfeindlich zu gelten, sagt er. „Die Meinung der Bundesregierung kann kein Maßstab sein für die Autoren einer Zeitung.“ Es komme schließlich auch zu Menschenrechtsverletzungen in Ländern, mit denen die Bundesregierung eng zusammenarbeite. Sein Fazit: „Ich sehe nicht, dass die Argumente ausreichen, um eine Beobachtung zu rechtfertigen.“

Für die tägliche Arbeit jedenfalls habe die Beobachtung schon seit langem Konsequenzen, sagt Chefredakteur Stefan Huth. „Eine Schere im Kopf gibt es auf jeden Fall. Ich frage mich immer wieder, ob eine bestimmte Zeile, ein bestimmter Satz vom Amt als Argument gegen uns angeführt werden könnte. Und mitunter natürlich auch, ob er einer medial formierten Öffentlichkeit zuzumuten ist.“ Als ehemaliger Studienrat kenne er das „Zwangssystem“, wie er es nennt, auch von der anderen Seite. „Aber ich bin zur JW gekommen, weil ich hier mein politisches Denken unzensiert entfalten kann.“ Der Arbeitsdruck sei für alle hoch, die Bezahlung eher schlecht, deshalb gehe es ihm dann besonders nahe, wenn er sehen muss, wie Beamte versuchen, ihn als Verfassungsfeind zu diskreditieren. „Manchmal höre ich das berühmte Knacken in der Leitung“, sagt Huth, „mal belauscht jemand in der Kneipe am Nachbartisch ein Gespräch.“ Aber er wolle auch keine Paranoia entwickeln.

Das Bundesverfassungsgericht ist auf der Seite der Jungen Welt

Ein weiterer, immer wieder auftauchender Vorwurf der Verfassungsschützer sind die „häufigen positiven Bezugnahmen auf kommunistische Vordenker“: Liebknecht, Luxemburg, Marx, Engels, Lenin. Die Zeitung nutzte diesen Vorwurf humorvoll und baute in eine Werbekampagne ein Bild von Karl Marx ein, der über seinen Augen einen roten Balken trägt mit dem Wort „Verfassungsfeind?“ Darunter rief die Redaktion dazu auf, die JW zu abonnieren. Der Slogan war: „1000 Abos für die Pressefreiheit.“ Laut Geschäftsführer Koschmieder war die Aktion sehr erfolgreich und konnte dieses Ziel schon nach wenigen Wochen erreichen.

Ein Punkt, der für die JW-Redaktion spricht, ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Jahr 2005: Die Richter nennen die Eintragung eines Presseorgans im Bundesverfassungsschutzbericht als  „mittelbar belastende negative Sanktion“ und werten dies klar als einen Eingriff in die Pressefreiheit. So schränke das Abhören von Telefonen massiv den Quellenschutz ein und gefährde die Institution Presse. In dem Urteil bezogen sich die Richter auf die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit. Sie stellten außerdem ausdrücklich fest, dass selbst eine „Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ebenso erlaubt ist wie die Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ändern“. Kurz gesagt: Eine Demokratie müsse aushalten, dass über ihre Grundfesten öffentlich diskutiert werde.

Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) muss sich derzeit aus genau diesem Grund ebenfalls wehren: Ihr wird vorgeworfen, vor einem Jahr einen Text in einer Zeitschrift „Antifa“ der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ veröffentlicht zu haben. Die Vereinigung wird vom bayerischen Verfassungsschutz als „bundesweit größte linksextremistisch beeinflusste Organisation im Bereich des Antifaschismus“ bezeichnet. In dem Text ging es um rechtsextreme Drohbriefe. Die Ministerin würde ihn wohl heute „nicht mehr so schreiben“, dabei geht es nicht um den Inhalt sondern den Ort der Veröffentlichung. Sie wollte sich zu dem Verfahren und dem der JW aber nicht äußern. Übrigens genauso wenig wie der Verfassungsschutz, den die Berliner Zeitung am Wochenende ebenfalls kontaktierte.

Genau dieser Ansicht ist auch die Vorsitzende der Linken, Janine Wissler. „Im Grundgesetz ist keine Wirtschaftsordnung festgeschrieben“, sagt sie der Berliner Zeitung am Wochenende. Das Grundgesetz lasse das offen. „Ich halte es für absurd, dass die Junge Welt als verfassungsfeindlich eingestuft wird, weil sie marxistisch orientiert ist.“ Ohne den Namen Hans-Georg Maaßen konkret zu nennen, sieht sie dahinter jedoch ein System. Wörtlich sagt sie: „Der Verfassungsschutz verlässt sich bei seiner Informationsbeschaffung zu sehr auf V-Leute in der rechten Szene.“

Jacobia Dahm

Der Blick vom 6. Stock auf Berlin ist immer schön: Von hier gibt es einen guten Blick auf Mitte.

Der Raum im sechsten Stock ist inzwischen in orangefarbenes Licht getaucht, vor dem Fenster geht die Sonne unter, der Blick fällt auf die Volksbühne, das Büro der Linken Partei, den Fernsehturm und auf den Rosa-Luxemburg-Platz. Die Redakteure erzählen, dass während der Berlinale schon Paparazzi fragten, ob sie sich auf dem Dach der JW aufbauen dürften. Von dort ist der Blick in die Hotelzimmer des Soho House, dem früheren Hauptsitz der Hitlerjugend, nämlich besonders gut. Ein Redakteur zeigt auf ein Fenster gegenüber und sagt: „Dort, wo Licht brennt, da wohnte Bertold Brecht.“ Von dort habe er gesehen, wie hier am Platz Kommunisten verprügelt wurden. „Das hat er ihn endgültig zum Kommunisten gemacht.“

Die Redaktion der JW hat soeben, am 12. Februar, ihr 75. Jubiläum gefeiert. Die Geschichte dieses Blattes kann als turbulent beschrieben werden. Einer ihrer Autoren, Jürgen Elsässer, verließ vor einigen Jahren die Redaktion im Streit. Ein Text von Elsässer wurde nicht veröffentlicht, andere wurden zurückgezogen, Elsässer gründete schließlich eine Zeitschrift: Compact, inzwischen das Blatt für Impfgegner und Pegida-Anhänger – es wird auch vom Verfassungsschutz beobachtet.

Maduro? Huth: „Kein Sozialist, hat aber unsere Sympathie, weil er sich auf Hugo Chávez beruft, der eine große antikolonialistische Bewegung anführte.“ Kuba? Huth: „Großes leuchtendes Vorbild, solange es da ist. Leuchtturm des Anti-Kolonialismus, Vorbild der internationalen Solidarität.“ Nordkorea? Huth: „Schwierig, da gibt es interne Debatten und die Forderung von Lesern, dass wir sie, wie offiziell, Demokratische Volksrepublik nennen.“ Putin? „Seit er Ende 1999 Präsident der russischen Föderation wurde, hat er sich um sein Land enorm verdient gemacht. Russland war auf dem Weg, zu einem Rohstofflager für den Westen herabzusinken, aber er hat es zurück auf die Weltbühne geholt. Bei aller notwendigen Kritik an seinen imperialen Ambitionen, an denen der Westen eine Rolle hat, setzt sich Putin auch seit Jahren für eine multipolare Weltordnung ein.“ Giffey? Huth: „Für Berlin reicht’s.“

Wenn der SUV zur Waffe wird

Berlin – Das Hupen ist sehr laut. Daran erinnert sich David B. noch genau. Er läuft gerade mit seiner Freundin durch einen verkehrsberuhigten Bereich in Charlottenburg. Da ist eine Kirche und direkt daneben ist am Sonnabend immer ein Wochenmarkt, so auch an diesem Tag. B. ist mit seiner Freundin in Richtung Schlosspark unterwegs. Sie wollten nicht durch die Menschenmenge des Markts laufen. Es ist April 2021, die wenigsten Berliner sind zu diesem Zeitpunkt geimpft. Als es hinter ihm hupt, erschrickt er.

§ 16 Abs. 1 StVO: Schall- und Leuchtzeichen darf nur geben, wer außerhalb geschlossener Ortschaften überholt oder wer sich oder andere gefährdet sieht.

„Ich habe mich umgedreht, und da sitzt dieser Mann, Mitte 40, in einem silbernen SUV und schaut mich wütend an“, erzählt David B. der Berliner Zeitung am Wochenende. „Wir sind da völlig regelkonform gelaufen, es war wie gesagt verkehrsberuhigt, und außerdem war neben uns viel Platz, so dass er hätte ausweichen können, wenn er es eilig hat.“ Doch die Beifahrerin habe ihr Fenster geöffnet und laut gerufen: „Runter von der Straße, Spinner!“ Wieder das Hupen. Die Leute auf dem Markt drehen nach den Streitenden um. David B.: „Wir stehen, er steht.“ Dann fährt der SUV langsam auf den Mann und die Frau zu, berührt seinen Oberarm.

Der 37-jährige TU-Professor für Informatik hat diesen Vorfall selbst auf Twitter in dieser Woche bekannt gemacht, es ist eine jener Geschichten, die in Berlin auf einen großen Resonanzboden fallen: Fußgänger gegen Fahrräder gegen E-Scooter gegen Autos gegen Laster. Fast tausendmal wurden die elf Tweets, in denen er die Geschichte zusammenfasst, geteilt. Gelesen haben es noch viel mehr und in Blogs weitergetragen. Obwohl das Erlebnis fast ein Jahr zurückliegt, schreibt er jetzt darüber, weil B. den Fahrer angezeigt und das Gericht über den Fall vorläufig entschieden hat.

Es ist eine Geschichte darüber, was passieren kann in dieser Stadt, wenn ein Fahrer eines zweieinhalb Tonnen schweren Autos denkt, er habe Macht über einen Fußgänger, und Regeln ihm egal sind. Es ist auch eine Geschichte über eine bestimmte Stimmung in der Stadt, die viele Berliner derzeit erleben. Nur aus dieser Woche: die wütende Lichthupe eines Autos, weil die Grünphase verpasst wurde (Mittwoch, Torstraße). Ein Radfahrer, der einen anderen Radfahrer anbrüllt: „Dann überhol mich doch, du Vollidiot!“ (Mittwochmorgen vor dem Kanzleramt am Tiergarten). Ein Radfahrer, der einem Autofahrer im Vorbeifahren einen Mittelfinger zeigt, einfach so. (Dienstag, Eberswalder Straße). Jeder Berliner kann solche Geschichten derzeit erzählen.

David B. zog im Jahr 2014 von Karlsruhe nach Berlin. „Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mich hier eingelebt habe“, sagt der Informatik-Professor. Als Fahrradfahrer habe er immer wieder Dinge erlebt, die ihn schockieren und ärgern. Außerdem kennt er die Zahlen: 39 Fahrradfahrer und Fußgänger im Berliner Straßenverkehr gestorben. „Deswegen habe ich irgendwann die Straßenverkehrsordnung mehrfach komplett gelesen.“ Er wollte, dass er sich sicher sein kann, dass er die Regeln kennt, wenn er anderen Fehlverhalten vorwirft. Er betreut gleichzeitig ein Projekt, bei dem Fahrradfahrer in ganz Berlin gefährliche Gegenden in eine App eintragen können. B. möchte sein Verkehrsprojekt aber nicht mit diesem Erlebnis bewerben, das würde den falschen Eindruck erwecken.

§ 42 Abs. 4 StVO: In einem verkehrsberuhigten Bereich (darf) nur mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden. Jegliche Behinderung oder gar Gefährdung von Fußgängern (…) muss verhindert werden.

David B. weicht zurück, als die Kühlerhaube des SUV ihn berührt, das Auto rollt weiter und berührt ihn erneut. Fahrer, seine Beifahrerin und Fußgänger schreien einander an. B. zückt sein Mobiltelefon und beginnt, das Auto zu fotografieren: das Nummernschild, die Beifahrerin, den Fahrer, die ganze Szene. Dann ruft er dem Fahrer zu: „Ich rufe jetzt die Polizei!“ Plötzlich setzt der Fahrer zurück und rast an ihm vorbei in Richtung Hauptstraße.

Die Polizei kommt kurz darauf und nimmt die Anzeige auf, spricht mit Zeugen, die allerdings laut David B. erst später dazugekommen sind. Er glaubt zu dem Zeitpunkt, dass für den Fahrer zumindest ein Bußgeld fällig wird. Weil niemand zu Schaden gekommen sei, trifft „Fahrerflucht“ nicht zu, sagen ihm die Beamten, aber sie werden den Fahrer des SUVs kontaktieren und sich anschließend bei ihm melden. Zumindest Nötigung im Straßenverkehr könnte eine Begründung für die Strafe sein.

Der Begriff der „Nötigung“ kommt nicht in der StVO vor, aber im Strafgesetzbuch. Niemand soll lauf Paragraf 240 durch Gewalt zu einer Handlung gedrängt werden. Im Internet sind Beispiele für diesen Umstand angegeben, auch in den Kommentaren zu B.s Tweets sind derartige Geschichten erzählt: Wie Autofahrer Fahrradfahrer anfahren, weil sie nicht vorbeikommen, wie sie Fahrradfahrer zur Seite drängen bis zum Umfallen. In den Kommentaren wird auch deutlich, wie verhasst SUV-Fahrer in Berlin sind.

Erst im Februar dieses Jahres war ein SUV-Fahrer zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil er an der Invalidenstraße vier Menschen getötet hatte. Er hatte die Kontrolle über sein Auto verloren, weil er einen epileptischen Anfall erlitten hatte. Diese schweren, großen „Sport Utility Vehicles“ sind eine Mischung aus Limousine und Geländewagen, über zwei Millionen sind in Deutschland zugelassen. Der Vierradantrieb ist für den Betrieb in der Stadt im Grunde unwichtig, aber viele – meist ältere – Fahrer schätzen an diesem Auto, dass sie einsteigen können, ohne sich nach unten beugen zu müssen.

Nach ein paar Schriftwechseln zu diesem Vorfall kommt im Januar dieses Jahres ein Brief bei David B. an. Darin steht nur ein Satz: Gemäß Paragraph 153 Abs. 2 StPO wird das Verfahren gegen den Fahrer des SUVs eingestellt. B. schlägt in der Strafprozessordnung nach und erfährt dort, dass dieser Paragraf greift, wenn geringe Schuld oder kein öffentliches Interesse vorliege. Er ärgert sich: „Das bedeutet für den Fahrer, dass nichts passiert sei und er weiter so handeln kann, wie er es getan hat.“

Mona Lorenz von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat sich auf Anfrage noch einmal sämtliche Akten zu dem Fall zukommen lassen. Sie sagt, dass kein Schaden entstanden sei, dass der Tatverdächtige nicht vorbestraft sei und spricht außerdem von einem „tatprovozierendem Verhalten des Geschädigten“, das „nicht ausgeschlossen werden könne“. Am Ende ihres Berichts zum Fall noch ein interessantes Detail: Die Amtsanwaltschaft hat zugestimmt, dass das Verfahren eingestellt wird, unter der Bedingung, dass der Beklagte die Kosten seines Anwalts selbst trägt.

David B. will trotzdem eine Beschwerde einreichen. Er wundert sich, dass die beiden Insassen des Autos offenbar leugnen, ihn mit dem Auto berührt zu haben – und damit durchkommen. „Warum wurden wir nie mit den Aussagen konfrontiert?“ Seine Freundin hätte schließlich den gesamten Vorfall ebenfalls bezeugen können. Die anderen Zeugen waren 20 bis 30 Meter weiter weg. Am Ende sagt B. einen versöhnlichen Satz: „Ich weiß, dass nur ein Bruchteil der SUV-Fahrer sich so verhält, aber sie müssen sich bewusst sein, dass sie mit einer Waffe agieren.“

§ 1 Abs. 1 StVO: Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.

Escape Room: Ausbruch aus dem Stasi-Knast

Berlin – Ein Bett, ein Klo und ein kleiner Tisch zum Hochklappen. An der Wand klebt ein Kalender aus dem Jahr 1963 (mit Hammer, Sichel und Lenin) und daneben ein altmodisches Werbeplakat für einen Urlaub im FDGB-Ferienheim. „Die Errungenschaften unserer Arbeiter- und Bauernmacht.“ Durch die Wand sind undeutlich weitere Häftlinge zu hören. „Hallo?“, ruft einer, „Hört ihr uns?“. Das Kratzen des Lautsprechers wird lauter, eine weibliche Stimme sagt streng: „Zellenkontrolle in einer Stunde!“

Das Thema „Flucht aus dem DDR-Gefängnis“ ist ein beliebtes für Bücher, für Thriller und seit neuestem auch für Escape Rooms. Diese Räume sind in den vergangenen zehn Jahren in fast allen Berliner Stadtteilen entstanden und haben offenbar sogar die Pandemie überlebt. Rund 16 Firmen gibt es aktuell in der Stadt, jede mit mindestens vier Räumen im Angebot, und in allen von ihnen ist das Prinzip das gleiche: Eine Gruppe zwischen zwei und sechs Menschen zahlt rund 100 Euro, um sich in einen Raum einsperren zu lassen. Sie können diesen Raum nur verlassen, wenn sie innerhalb von 60 Minuten alle Rätsel lösen. Sonst ist das Spiel vorbei und sie haben verloren.

Die Themen sind vielfältig: Südsee, Raumfahrt, Inka-Tempel, Zombie-Apokalypse, Zeitreise, Flugzeugabsturz oder eben Stasi-Knast. Auch der Ausbruch durch einen Tunnel von Ostberlin nach Westberlin kann nachgespielt werden, ebenfalls an Originalschauplätzen in alten Tunnelanlagen mitten in Berlin. Die meisten Escape-Rooms bieten die Spiele in Englisch oder Deutsch an. Das Stasi-Gefängnis, um das es hier geht, liegt an der Prenzlauer Allee, direkt neben einer ehemaligen „DDR-Speisegaststätte“.

Empfangen wird man von einer jungen Frau Anfang 20, Sophia, die erst einen roten Knopf in die Höhe hält. „Diesen Knopf könnt ihr immer drücken, wenn euch danach ist“, sagt sie, „dann aber ist das Spiel zu Ende und wir brechen ab.“ Wenn man nur auf Toilette müsse, solle man einfach Bescheid sagen. Das ließe sich immer einrichten. Als es losgeht, wird die freundliche Sophia zur Gefängniswärterin. Sehr laut sagt sie wortwörtlich diesen Satz: „Ihr habt Schande über euren Staat gebracht und müsst dafür jetzt ins Gefängnis!“ Dann teilt sie die vier Spieler auf zwei Zellen auf.

Es gilt als unschön, den Inhalt der einzelnen Spiele zu verraten, aber vielleicht soviel: Es geht darum, zusammenzuarbeiten, sich gegenseitig hektisch Dinge zuzurufen und Codes herauszufinden, Nippel durch Laschen zu ziehen, ohne zu wissen, ob es in die richtige Richtung führt. Aus Schachfiguren werden Schlüssel, oder war es umgekehrt? Und dass ein Spiegel nicht das ist, was er scheint, war nun wirklich jedem klar, oder?

Das besondere dieses Genres fällt auch bei diesem Escape Room auf: Es hat sich stark verändert in den vergangenen Jahren. Begann es zunächst als einfaches „Ich muss einen Raum verlassen“ (Escape Room 1.0), wurden die Räume immer größer, komplexer und bestanden schließlich aus mehreren Zimmern (2.0). Inzwischen gibt es schon Escape Rooms, in denen Schauspieler arbeiten, die die Spieler erschrecken oder ihnen Hinweise geben, wenn sie sich richtig verhalten. Das sind die sogenannten Räume der dritten Generation.

Der Stasi-Raum ist noch einer der zweiten Generation. Man kriecht und klettert, um diesen engen Gefängnisraum zu verlassen, und wird dabei die ganze Zeit beobachtet. „Zellenkontrolle in 30 Minuten!“ schallt es in dem Augenblick, als alle langsam verstehen, was sie tun müssen, um herauszukommen. Die Rätsel erinnern stark an die Point-and-Click-Adventure aus der Computerspielezeit der 90er-Jahre. „Benutze Löffel mit Falltür“ konnte man dort dem Helden auftragen, eben Dinge zu Werkzeugen zu machen, die vorher keine waren. Bei den Spielen war jedes neue Zimmer ein neuer Escape Room.

Diese Gemeinsamkeit weist auch auf die Herkunft dieser Räume hin. Die ersten Escape Rooms gab es tatsächlich in den Nullerjahren in Japan und Bulgarien – allerdings noch als Computerspiele. Die Aufgabe war, einen Raum zu verlassen und dabei auf dem Weg alle Schubladen zu durchsuchen und kleinere Rätsel zu lösen. Den ersten echten Escape Room konstruierte angeblich ein Schweizer Lehrer im Jahr 2012. Er wollte seine Schüler herausfordern. Kurz nachdem Zeitungen darüber berichteten, startete die erste Firma mit professionellen „Zimmern“ und ist bis heute Marktführer in der Schweiz.

Im Stasi-Knast kriechen alle durch ein Loch in der Wand in einen Hohlraum. Dort ist es dunkel, und der Lichtschalter muss erst einmal gefunden werden. Es kommt ein Tipp aus dem Lautsprecher von einem weiteren „Häftling“. Die Spielleiterin kann die ganze Zeit zuschauen und hat auch die Zeit im Blick. Sie sagt zum Beispiel: „Ich glaube man muss mehr um die Ecke denken.“ Nach ein paar Minuten stehen wir in einem Raum, der an eine Werkstatt erinnert, mit Spind, DDR-Radio (aus dem Geräusche kommen) und mehreren blauen Kitteln aus dem Kunststoff Dederon. Alle rufen durcheinander. Aus dem Lautsprecher schrillt: „Zellenkontrolle in 10 Minuten!“

Das besondere bei Escape Rooms ist wohl, dass man nicht gegeneinander, sondern zusammen gegen einen gemeinsamen Feind spielt. Offenbar liegt das im Trend: Im Vorraum werden auch die Escape-Brettspiele verkauft, die während der Pandemie einen wahren Boom erlebt haben: 2020 stieg ihr Marktanteil um 11 Prozent, 2021 noch einmal um 4 Prozent. Bei der Spielwarenmesse in Nürnberg gewann vor einer Woche ein Escape-Spiel von Ravensburger den „Toy Award“ – natürlich eines, das nur mit Spielkarten und einer App funktioniert. Dabei kann man die meisten Spiele nur einmal spielen, denn die Lösungen der Rätsel vergisst keiner so schnell – und die meisten Materialien sind nach einem Gebrauch auch zerstört. Die bayrische Firma Homunculus verschickt seit 2020 ihre Escape-Spiele sogar per Brief und hat so eine Online-Community erschaffen, die sich über soziale Netzwerke austauscht und zum Teil auch gegenseitig beim Rätseln hilft.

Die besten echten Escape Rooms werden jedes Jahr von einer internationalen Jury ausgezeichnet, die bisher über 170.000 Räume weltweit bewertet hat. Platz 1 geht in der aktuellen Wertung an einen Raum in Spanien, Platz 2 und 3 gehen in die Niederlande. Deutschland taucht erst auf Platz 22 auf – und zwar der „Geisterjäger Brandon Darkmoor“ von „The Room“ in Berlin-Lichtenberg. Deutschlands bester Escape Room liegt also außerhalb des S-Bahn-Rings, nur ein paar Hundert Meter nördlich vom ehemaligen Hauptquartier der Stasi.

Der Spiel-Stasi-Knast in Prenzlauer Berg muss kriechend verlassen werden. Mehr darf man wohl nicht verraten. Es blieben noch 27 Sekunden bis zur Zellinspektion. Sophia hat auch bald Feierabend, aber erzählt noch selbst von all den Escape Rooms, die sie in Berlin schon besucht hat. Die junge Frau wundert sich nicht über das Stasi-Thema. Neulich musste sie eine Oma von ihrem Enkel trennen, steckte beide in die Stasi-Zellen und fühlte sich ein bisschen schlecht dabei. Doch der 11-Jährige löste die Rätsel schnell und befreite seine Oma. „Nur einmal war es etwas unangenehm“, sagt Sophia, „da war ein älterer Mann, der schimpfte, dass es im Stasiknast doch ganz anders ausgesehen habe.“ Sie hat ihn nie wieder gesehen.