Journal

Südkorea trauert: Mehr als 150 Tote bei Halloween-Feier in Seoul

Als Patrick Ray gegen 20 Uhr aus der U6 in Seoul an der Station Itaewon steigt, hat er sofort das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. „Itaewon ist einfach jedes Halloween der Ort, an dem alle sind“, sagt er, „aber so voll habe ich es noch nie erlebt.“ Seit fünf Jahren wohnt der Amerikaner in Seoul. Es gibt eine Schlange von Menschen vor der ersten Treppe, eine weitere an der Rolltreppe und oben am Ausgang noch einmal. „Es hat eine halbe Stunde gedauert, aus der U-Bahn auf die Straße zu kommen“, sagt Patrick Ray. Als sie auf der Straße ankommen, wird es aber nicht besser, sondern schlimmer. „Wir standen Ellbogen an Ellbogen.“

Nur zwei Stunden später kommt es gleich neben dieser U-Bahn-Station zu einer Massenpanik, bei der 151 Menschen sterben, mindestens 82 verletzt werden, die meisten der Opfer sind jünger als 30 Jahre. Es ist noch nicht klar, was die Panik auslöst, aber alles deutet derzeit darauf hin, dass in einer engen Seitengasse der Druck auf die Menge so groß ist, dass einige Menschen stürzen und andere auf sie fallen und es kein Zurück mehr gibt. Unter den Opfern waren nach bisherigen Meldungen 19 Nicht-Koreaner, darunter Menschen aus China, Norwegen, Usbekistan und Iran.

Die ersten Notärzte wurden kurz nach 21 Uhr gerufen, doch auch sie kamen nicht durch die Menge von Menschen und Autos. Das Halloween-Fest in Itaewon gilt als der Höhepunkt des Spätsommers in diesem Stadtteil. In früheren Jahren kamen rund 20.000 bis 30.000 Menschen zu diesem Festival. In den vergangenen beiden Jahren fand das Fest nur stark eingeschränkt statt. Wohl auch deshalb kamen in diesem Jahr schätzungsweise 100.000 Menschen nach Itaewon, um hier zu feiern. Außerdem wurde während der Pandemie der Bezirk durch die Netflix-Serie „Itaewon Class“ sehr bekannt, was sicherlich zusätzlich Gäste anzog.

Einer davon ist der Indonesier Beta Bayusantika. Der 27-Jährige wollte unbedingt einmal Halloween in diesem Stadtteil feiern. Als er zwischen 21 und 22 Uhr an der Station ankam, war es schon zu voll, um in die bekannte Party-Straße hinter dem Hotel Hamilton einzubiegen. „Ich konnte sehen, dass die Menschen Schwierigkeiten hatten, von dort herauszukommen“, sagt er. „Dann hörte ich nur noch Hilferufe auf Koreanisch. Und kurz darauf sah er Menschen auf der Straße liegen, die noch im Kostüm waren, die von anderen Menschen in Kostüm mit Herzmassage versucht wurden wiederzubeleben.

Das sind die Videos, die am Sonntagmorgen in der ganzen Welt für Aufmerksamkeit sorgen: die Straßen, in denen nebeneinander Leichen liegen, die nur notdürftig mit Folie abgedeckt wurden; die Menschen, die in der Seitenstraße neben dem Hotel Hamilton aneinandergedrückt werden und Schreie ausstoßen; die verzweifelten Versuche von mehreren Ärzten, Menschen zurück ins Leben zu holen.

Für Patrick Ray ist das am folgenden Tag ein Bild, das er nie vergessen wird. „Ich habe noch nie in meinem Leben Tote gesehen“, sagt er. „Aber als ich sehe, wie dort Menschen auf dem Boden liegen und beatmet werden, ist mir klar, dass wir diesen Ort so schnell wie möglich verlassen müssen.“ Schon vorher habe er gemerkt, dass sie für eine Strecke, die er sonst in zwei Minuten laufen kann, 20 Minuten brauchten. Als er sieht, dass die Lage eskaliert, begibt er sich sofort wieder zur U-Bahn und schafft es gerade noch in die letzte U-Bahn, bevor der öffentliche Verkehr eingestellt wird.

Itaewon ist eine in Südkorea berühmte Gegend, auch berüchtigt. Jahrzehntelang war der Stadtteil vor allem für die US-Soldaten berühmt, die hier ihre Basis hatten, die größte außerhalb der USA. Mehr als 20.000 Soldaten waren dort zwischen 1945 und 2019 stationiert. Die Basis wurde dort aufgebaut zu einer Zeit, als Seoul noch viel kleiner war und Itaewon außerhalb der Innenstadt lag. Hier waren schon die Japaner stationiert, als sie 1910 Südkorea kolonisierten. Innerhalb der Mauern entstand eine Art Mini-USA mit kleinen Straßen und Geschäften.

Als die USA mit Südkorea 2019 übereinkamen, die Basis außerhalb von Seoul zu errichten, veränderte sich der Stadtteil und öffnete sich zunehmend für Koreaner. Bis dahin war Itaewon der Bezirk, in dem vor allem Nicht-Koreaner wohnten. Es gab türkische, italienische und deutsche Restaurants, beliebte Ausflugsziele für Koreaner, die einmal etwas Exotisches probieren wollten. Rund um die Basis hatte sich auch ein Nachtleben entwickelt, das es sonst in Seoul nicht gibt: Bars für Homosexuelle und Transpersonen, aber seit neuestem auch immer mehr Craftbeer-Bars. Itaewon wurde der Bezirk zum Ausgehen für lange Wochenenden.

Einer, der davon profitiert hat, ist Park Tae-eung. Der 46 Jahre alte Koreaner ist Inhaber mehrerer Restaurants im Stadtbezirk. Zum Zeitpunkt der Massenpanik war er in einem Restaurant, das erst vor drei Wochen eröffnet wurde. „Von oben habe ich nur gesehen“, sagt er der Berliner Zeitung, „dass es immer mehr Menschen wurden“. Er habe sich noch gewundert, dass er nicht so viel Polizisten sieht wie in den Jahren zuvor. Am Morgen fragte er deshalb einen befreundeten Polizisten, ob es wirklich weniger waren. „Er sagte, es waren weniger Polizisten eingeteilt als in früheren Jahren.“

Das deckt sich mit den Informationen der New York Times vom Sonntagmorgen. Die Polizei sei überfordert gewesen mit den Massen an Menschen und habe sie nicht kontrollieren können. Berichte, nach denen die Sichtung eines berühmten K-Pop-Stars die Panik ausgelöst habe, konnten bisher nicht bestätigt werden. Auch die Gerüchte im Netz, dass Drogen eine Rolle gespielt haben sollen, blieben bisher unbestätigt. Angesichts der sehr strengen Anti-Drogen-Gesetze in Korea und der geringen Verbreitung harter Drogen im Land ist das jedoch unwahrscheinlich.

Um vier Uhr morgens nimmt Patrick Ray ein Video auf. Er ist mittlerweile in Hongdae, einem weiteren Ausgehviertel von Seoul. „Ich werde wohl heute nicht schlafen“, sagt er in die Kamera. Das Video wurde 100.000-fach auf Tiktok geschaut, wo Ray unter theextpatpat häufig von seinem Leben in Seoul Videos zeigt. „Das Schlimmste war bisher, hier in Hongdae jungen Studenten dabei zuzusehen, wie sie die Neuigkeiten von ihren Freunden in Itaewon bekommen.“ Er sagt, einige seien auf dem Boden zusammengebrochen und hätten nicht mehr aufgehört zu weinen. Dann beginnt er selbst zu weinen. „Mich macht das alles krank.“

Die Stadt, der Fluss und der „Gönisch“: Ein Besuch in Dresden

Anna Mateur und ich knipsen beide unser Sächsisch an, denn es soll schließlich um Dresden gehen, unsere Heimatstadt. Und vor wem müssen wie uns da verstellen! Sie holt mit den Armen weit aus und ruft in den Raum: „Der König war da!“ Bei ihr klingt das wie: „Do Gönisch wor do! Do Gönisch wor do!“ Sie meint August den Starken, jenen König, der den Ruf Dresdens weltweit geprägt hat, sodass er bis heute vergoldet im Stadtzentrum auf einem Pferd zu sehen ist.

Dann sagt sie drei Sätze über Dresden, die alle sehr wahr sind. Erstens: „Mit dem August fängt für viele Kultur in Dresden an und hört leider auch auf.“ Dabei gehe es doch, zweitens, bei der Stadt um mehr als nur um Barock und Porzellan. Drittens: „Dresden ist eine Großstadt, die sich manchmal wie eine Kleinstadt verhält.“ Auch ich erinnere mich, dass das Bewahren und Behüten den Einwohnern wichtig ist, ja. Aber, sagt Anna Mateur, es gebe auch die Momente, in denen sich die Stadt öffne für Neues, für etwas, das sie am meisten liebe: Chaos. „Das“, sagt sie, „liebe ich an Dresden.“

Anna Mateur ist wohl eine der berühmtesten Dresdnerinnen Deutschlands, die 46 Jahre alte Sängerin und Schauspielerin spielte bis vor kurzem in Berlin die Hauptrolle in dem Musical „Die Bettwurst“ und wird ab Ende März wieder in der Bar jeder Vernunft zu sehen sein mit ihrem Soloprogramm „Kaoshüter“. Sie ist in jeder Hinsicht auffällig: laut, selbstbewusst und in allen möglichen Musik-Stilen zu Hause – Country, Oper, Jazz, Musical und Rock ’n’ Roll. Sie kann Sächsisch und Hochdeutsch, und die Verbindung Dresden–Berlin ist für sie schon längst auf einen Katzensprung geschrumpft. Aber die Elbe verlassen für den Landwehrkanal? Niemals.

Anders als ich. Das ist auch der Grund für das Gespräch in Berlin: Mateur kann mir helfen, einen Dresden-Besuch im Jahr 2023 vorzubereiten, ich hab so ein bisschen den Draht zur Heimat verloren. Wir sind zwar beide mit einem Jahr Abstand dort geboren, haben beide die Wiedervereinigung noch als Kinder mitbekommen, aber ich bin mit 18 umgezogen und nie zurückgekehrt, außer für kurze Besuche auf dem Elbhangfest oder dem Striezelmarkt. Mein Dialekt wurde schwächer, so schwach, dass Sachsen, die ich in Asien oder Amsterdam traf, fast vorwurfsvoll sagten: „Das hört man ja gar nicht, dass du aus Dresden kommst.“

„Dresden ist ja für Berliner schon immer ein Phänomen unter den alten Bezirkshauptstädten: Als Tal der Ahnungslosen galt es während der DDR-Zeit als fast der einzige Ort, der keinen Zugang zu Westfernsehen hatte, dabei gab es im Stadtteil Prohlis Menschen, die sich lebhaft an den Senderstart von Sat.1 im Jahr 1984 erinnern können. Gleichzeitig aber lebten die Dresdner nahe am Dreiländereck von Polen und ČSSR – und so nah zum ungarischen Balaton wie kaum andere Ostdeutsche. Außerdem sind die Sachsen in Westdeutschland die bekanntesten Ostdeutschen überhaupt. Als der Spiegel das Cover druckte mit „So isser, der Ossi“, hätte da auch stehen können: „So isser, der Dresdner“. Der Autor des Textes wohnt in einer Villa am Großen Garten und denkt sicher immer noch, den Ossis gerecht geworden zu sein.“

Anna Mateur empfindet Dialekt als Stärke. „Menschen, die immer nur Hochdeutsch reden, tun mir ein bisschen leid“, sagt sie. Sie würden Sprache genau wie ihr Outfit der Situation anpassen. Aber umgekehrt heiße das nicht, dass sie jemandem nach ihrem Dialekt oder ihrer Kleidung sofort verurteilten. „Das ist etwas, das man in Dresden lernen kann und muss“, sagt sie, „nur weil sich jemand  komisch kleidet oder ein hässliches Tattoo hat, heißt das nicht, dass er nicht höflich ist.“ Sie ist froh, dass es in Dresden noch viele Orte gibt, an denen sich unterschiedliche soziale Schichten begegnen. Einer dieser Orte ist das Arnoldbad, ein Freibad gleich am Großen Garten. „Dort treffen Ausländer auf Nazis und Arme auf Reiche, und es klappt trotzdem.“

Und damit kommt sie auf den Kern eines jeden Gesprächs über Dresden: die Spaltung der Gesellschaft. Erst Pegida, dann die Impfgegner, jetzt die sogenannten Putinversteher. Immer gibt es eine Gruppe, die sich gegen den Mainstream der Gesellschaft stellt und die besonders in Dresden selbstbewusst auftritt. In der Stadt sitzen inzwischen AfD-Politiker in entscheidenden Positionen, haben schon als Richter auf sich aufmerksam gemacht, und gerade erst Ende Februar auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche konnte Rechtsaußen Björn Höcke seine These verbreiten, dass Putin lediglich die Ukraine „befreien“ wolle.

Sowohl bei Anna Mateur als auch bei mir sind diese Kämpfe im Freundes- und Familienkreis längst angekommen. Sie aber kämpft auf ihre Art gegen diese öffentliche Vereinnahmung der Stadt. Sie geht zu den Gegendemonstrationen mit Schildern, die auffallen. Wenn es zum Jahrestag des Feuersturms auf Dresden am 13. Februar 1945 schneit, hält sie ein Schild in die Höhe mit: „Schnee gegen Rechts“. Wenn sie erkältet ist, trägt sie eines mit „Angina gegen Rechts“. Sie nennt es „Dada gegen Goliath“. „Mit absurdem Humor können die nichts anfangen“, sagt sie. „Pointenlosigkeit macht die wütend.“

Auf einem ihrer Alben hat sie ein Lied aufgenommen, das wie ein Mantra klingt, ein Protestruf für Begegnungen mit Pegida. Mateur singt: „Dresden den Dresdnern, Chemnitzer raus / Chemnitz den Chemnitzern, Leipziger raus / Sachsen den Sachsen, Saarländer raus.“ Der Text schraubt sich immer absurder hinauf und landet schließlich ganz logisch bei „Mutti der Mutti, Vati raus“. Alles hat seinen „rechten Fleck“, heißt es, und „ein Schneemann hat immer drei Kugeln“. Es soll sich nichts ändern, nur wenn es so bleibt, wie wir es kennen.

Erst vergangene Woche wieder tauchte Dresden deutschlandweit in den Nachrichten auf, weil sich in der Frauenkirche zwei sächsische Literaten auf einem Podium unterhielten. Lukas Rietzschel, 28, und Uwe Tellkamp, 54, sprachen über Meinungsfreiheit und was man noch ungestraft sagen dürfe. Das Gespräch endete unversöhnlich. Nicht einmal auf den Klimawandel konnten sich die beiden Schriftsteller einigen. Am Ende sagte Tellkamp, er wolle Dresden trotz allem nicht verlassen. „Hier ist doch alles, was ich hasse.“

Anna Mateur und ich würden das beide so nie sagen, dazu ist die Liebe zu groß. Längst haben wir uns in Geschichten verstrickt über die Grauzonen, die zu wenig Raum bekommen im Reden über Dresden. Da hat eben jemand ein seltsames Tattoo und ist an anderer Stelle ein Engel gegenüber den Nachbarn und hat immer ein offenes Ohr. Und diese politischen Zuschreibungen … Anna Mateur sagt auf Sächsisch: „Haste schon gehört, do Maik, do is jetzt wiedo reschts, die bundn Hoore obrosiert.“ Aber das kann auch in zwei Wochen wieder anders sein. In Dresden ist wenig in Stein gemeißelt und wenn, dann eben meist in den butterweichen Sandstein, der sich schon mit dem Küchenmesser bearbeiten lässt.

Denn das ist die Stadt, die sich in den vergangenen Jahren auch zu einem weltweiten Touristenliebling entwickelt hat: das herausgeputzte Dresden mit Zwinger, Schinkelwache, Gemäldegalerie, Semperoper, Italienischem Dörfchen, Hofkirche, Brühlscher Terrasse, Residenzschloss, Augustusbrücke, Fürstenzug und Kunstakademie. Das sind zwölf Gebäude, die in anderen Städten allein schon eine Attraktion wären. Am Dresdner Theaterplatz stehen sie alle zwölf dichtgedrängt direkt nebeneinander. Tausend Jahre Prunk mit einmal um die eigene Achse drehen. Manche sagen, es gibt keinen schöneren Platz in Europa.

Anna Mateur saß schon als Teenager an diesem Platz, unterhalb der Augustusbrücke und sah die Punks und Touristen aus „Amiland“, sächsisch für Amerika, vorbeilaufen. „Im Fluss schwammen Kondome und tote Ratten“, erzählt sie. Sie saß dort am Elbufer und spielte Querflöte. Später zog sie über den Platz in den Gang zum Zwinger bei der Gemäldegalerie. „Dort war die Akustik zwar besser“, sagt sie, aber sie sei auch häufiger verscheucht worden. Eine 13-Jährige, die bei Mozart beginnt und im gleichen Lied im Jazz endet. Das brachten die Museumswärter nicht zusammen. „Einer kam zu mir und sagte, meine Musik löse den Alarm bei den Bildern aus.“ Sie lacht bei der Erinnerung daran.

Doch ihr Dresden ist auch eines, bei dem Künstler aus aller Welt eine Rolle spielten. Spektakel-Theater am Elbufer, Elbhangfest im Frühjahr mit Tausenden Gästen aus zig Ländern – und natürlich seit 25 Jahren der Schaubudensommer. Letzteres hat sie als Sängerin und Organisatorin mitgeprägt, ein großes Kostümspektakel mit viel „Puff“, wie sie sagt. Das ist eine ihrer Wortschöpfungen, die das Zirkusgefühl wiedergeben sollen, wie ein guter Abend in der Bar jeder Vernunft.

Ganzjährig „Puff“ findet sich in der Neustadt, einem Stadtteil, der sich wohl am besten beschreiben lässt als Kreuzung aus Friedrichshain und Prenzlauer Berg. Boheme trifft Ostkünstler. Bis heute haben sich dort Kneipen gehalten, die etwas von der Zeit erzählen, als man nicht so viel Brimborium brauchte. Das kann die Devise sein für Orte wie Trotzdem, Hebedas oder den Klassiker: Raskolnikoff, von allen Dresdnern nur das Ras genannt.

Im Ras hat sich einmal der Sohn von Anna Mateur einen Zahn ausgeschlagen, weil er hingefallen ist. Sie musste ihre Pelmeni stehen lassen, um ins Krankenhaus zu fahren. Heute gibt es im Ras vegane Pelmeni, und sie sind fantastisch. In den 90er-Jahren stand der Sand knöcheltief, das war das Markenzeichen vom Ras, wie die rote Lampe über der Tür. Dieser Sand steht heute abgefüllt in kleinen Gläsern in einer Vitrine, mit Jahreszahl. So können Besucher heute noch sehen, welche Zigarettenstummel im Jahr 1991 einst hier im Raum lagen, oder im September 2001, als ich genau dort an einem Tisch saß mit einem Freund aus New York, ich wollte das coole Dresden zeigen. Plötzlich platzte jemand herein und erzählte von Türmen, die einstürzen. Er lud uns in seine Wohnung ein und dort blieben wir stundenlang.

Und spätestens da merke ich, dass ich vielleicht doch Dresden nie so richtig verlassen habe, dass die Stadt noch fast die gleiche ist wie die, die ich vor 26 Jahren verlassen habe. Ich merke das, als ich in Dresden einfahre, wie fast immer mit dem Zug: Da ist erst der Neustädter Bahnhof, dann die Innenstadt mit der alten Zigarettenfabrik Yednize, die jetzt ein Märchen-Vorlese-Café ist, dann die Augustusbrücke, an der einst Anna Mateur saß und gespielt hat für vorbeifahrende Boote. Und schließlich der Blick, den der italienische Maler Giovanni Antonio Canal so oft gemalt hat, dass seine Ansicht bis heute als „Canaletto-Blick“ bekannt ist: die Elbe, die Brücke und all die Gebäude rund um den Theaterplatz – mit der Frauenkirche, die wie eine Glucke über die Stadt wacht, die Stadt der Königinnen und Könige.

Bushido sagt gegen Arafat Abou-Chaker aus: „Ich habe meine Hausaufgaben gemacht“

Es heißt immer, Deutsch sei so eine harte Sprache. Wenn der Dolmetscher im Saal 500 des Landgerichts Moabit von Arabisch auf Deutsch übersetzt, klingt unsere Sprache im Vergleich plötzlich sehr weich. Das kann an der hohen Stimme des Übersetzers liegen. Er ist Mitte 40, trägt eine cremefarbene lange Hose und ein dunkles Hemd. Seine schwarz-grauen Haare sind zu einem modernen manbun hinten zusammengebunden.

Das Repertoire der arabischen Sätze, die er übersetzen muss, ist im Grunde recht beschränkt. Wir lernen, dass „Aksam bi Allah“ bedeutet: Ich schwöre bei Gott. Wenn es schnell gehen muss, sagen Araber in Berlin auch „Wallah“. „Aleikum Salam“ heißt „Friede sei mit dir“, und ein „Fetna-Mensch“ ist laut Übersetzer „jemand, der Zwietracht sät“. Einmal fragt der Vorsitzende Richter den Übersetzer, ob er das Wort „Kühlschrank“ in der Audio-Aufnahme gehört habe. In der schriftlichen Übersetzung des Audio-Bandes stand dieses Wort. Der Mann verneint. Nichts mit Kühlschrank. Dafür lernen die Zuhörer noch ein arabisches Sprichwort. Es lautet: „Wenn du wütend bist, solltest du besser schweigen.“

Streng genommen sitzen alle hier in diesem Saal, weil einige dieses Sprichwort nicht beherzigt haben. Seit fast genau zwei Jahren nehmen Woche für Woche dieselben Menschen an diesem Prozess in genau dem Saal teil, in dem schon Honecker und der Hauptmann von Köpenick verurteilt wurden: der Angeklagte Arafat Abou-Chaker und seine drei Brüder Yasser, Rommel und Nasser, der Nebenkläger Anis Ferchichi, den ganz Deutschland unter seinem Künstlernamen Bushido kennt, die Oberstaatsanwältin Petra Leister und der Vorsitzende Richter Martin Mrosk sowie noch weitere Mitglieder der Kammer, sieben Anwälte und rund zehn Journalisten.

Am Montag, den 17. August 2020, begann dieser Prozess gegen Arafat und seine Brüder. Und am Montag, den 15. August 2022, ist noch immer kein Ende in Sicht.

Im Kern geht es darum, dass Bushido nach 17 Jahren Freundschaft seine Beziehung zu seinem Manager und Mentor Arafat Abou-Chaker abbrechen wollte. Der jedoch hatte mit dem Rapper eine lukrative Einnahmequelle, weil er ihm rund 30 Prozent seiner Einnahmen abgab. Das geschah laut Aussage Bushidos nicht freiwillig.

Überhaupt beschreibt der Rapper das Verhältnis als Zwangsehe. Als Bushido dann seine jetzige Frau, die inzwischen achtfache Mutter Anna-Maria Ferchichi, kennenlernte, gefiel das wiederum Arafat nicht. Und laut Bushido forcierte das die geschäftliche Trennung. Doch wer als Gangsterrapper auftritt, der braucht auch einen Gangster im Rücken. Es kam zu jenem großen Streit am 18. Januar 2018, dem Tag, an dem die vier Abou-Chakers laut Anklage den Rapper beleidigten, nötigten, verletzten, bedrohten und einsperrten.

An diesem Montag, dem 77. Prozesstag, nun wird ein Band vorgespielt, das – so behautet das Magazin Stern – am Abend des großen Streits entstanden sein soll. Während die rund zweistündige Audiodatei sekundenweise abgespielt wird, sorgt ein Übersetzer dafür, dass die arabischen Passagen von allen im Saal auch wirklich verstanden werden. Der Übersetzer lässt die Aufnahme mit Handzeichen unterbrechen und spricht dann die Übersetzung in ein Mikrofon: Wallah, Fetna, Salam.

Die Gespräche auf dem Band sind schwer zu verstehen, auch die deutschen Passagen. Es gibt viele Störgeräusche und Knacklaute, mal schnäuzt sich jemand laut die Nase, mal klingt es so, als würde jemand sehr tief einatmen, wie durch ein Röhrchen. Die Gespräche finden vor allem zwischen Arafat Abou-Chaker und Bushido statt, die sich nicht einig sind, wie es weitergehen soll mit ihnen. Manchmal spricht zwischendurch Nasser Sätze, die beschwichtigen sollen. Sätze wie: „Lass ihn ausreden.“ Nicht immer ist klar, wer beruhigt werden soll. Yasser ist oft aufgeregt, ruft Beleidigungen in das Gespräch. Rommel ist nicht zu hören.

Arafat: Verfickt seien die Geschäfte. Warum hast du mich aussortiert (…), ich will wissen, warum?
Bushido: Arafat, das hat nichts mit Aussortieren zu tun. Du weißt genau, wir hatten unsere Differenzen gehabt, ja? (…)
Arafat: Ich habe doch dir eine Frage gestellt.
Bushido: (…) Wir haben uns gestritten, wir hatten uns in den Haaren gehabt, wir haben seit fünf Jahren nur Rennereien mit Anwälten.
Arafat: Das hat doch nichts damit zu tun.
Bushido: Doch, doch, doch. Nein, nein, nein. Stopp! Stopp! (…)

Das Zuhören ist sehr ermüdend. Wer im Saal um sich blickt, kann immer wieder beobachten, wie Zuhörern die Augen zufallen, wie Köpfe nach vorn kippen. Das mag auch am Klima liegen, die Sonne scheint an diesem Sommertag (29 Grad) in den Saal im ersten Stock, und trotz Stoßlüften steht die Luft. Der Richter hat den Robenzwang aufgehoben, die Anwälte tragen pink, hellblau und weiß, der Richter selbst einen weißen Schlips auf einem weißen Hemd, die Oberstaatsanwältin versteckt ihr rosa Sommerkleid unter der Robe. Bushido hat seine Schuhe ausgezogen und lehnt sich sehr weit zurück beim Zuhören. Auf etlichen Männerhemden sind unter den Achseln Schweißringe zu sehen.

Arafat schüttelt bei manchen Übersetzungen den Kopf. „Das stimmt nicht“, ruft er einmal in den Saal. „So ein Quatsch!“ Der Übersetzer bleibt sehr ruhig, dreht sich nicht zum Angeklagten um und sagt in das Mikrofon: „Ich bitte darum, dass ich nicht gestört werde und auch nicht eingeschüchtert werde.“ Immer wieder hat in den vergangenen zwei Jahren der Richter den Angeklagten zur Ordnung rufen müssen, heute ist wieder so ein Tag. Arafat hält sich im Folgenden mehr zurück, schaut nur immer wieder irritiert, wenn der Übersetzer seine Arbeit macht.

Obwohl die Audiodatei jetzt komplett als Beweisstück in den Prozess eingeführt wird, ist noch nicht klar, ob sie überhaupt etwas Wichtiges beiträgt. Sie wird längst öffentlich angezweifelt. Da ist zunächst die Länge, die nicht der Länge des Gesprächs entspricht. Es gibt mehrere Quellen, die die Dauer des Streits vom 18. Januar 2018 auf rund vier Stunden festlegen. Die zugespielte Aufnahme dauert nur eine Stunde und 58 Minuten. Außerdem bricht sie am Ende etwas unvermittelt ab, und auch inhaltlich passen nicht alle Stellen zu einem Gespräch. So sind manchmal Geräusche zu hören, die eher aus einem Auto stammen, und bestimmte Inhalte lassen ebenfalls Zweifel aufkommen.

Der Stern hatte Anfang Februar dieses Jahres die Audiodatei exklusiv vorgestellt. Das Magazin hatte einen „unabhängigen Gutachter“ beauftragt, der noch dazu „Deutschlands renommiertester Audio-Forensiker“ sein soll. Seinen Namen wollte das Magazin im Februar nicht nennen. Bushidos Anwalt Steffen Tzschoppe hatte schon im Februar diese Datei mit den „Hitler-Tagebüchern“ in Verbindung gebracht und angedeutet, dass das Magazin einem Fake aufgesessen sei. Bei einer MP3, so der Anwalt damals, könne niemals zweifelsfrei ein Datum der Aufnahme festgestellt werden. Die Metadaten ließen sich leicht und ohne Spuren verändern.

Der Stern schrieb damals, dass auf der Datei wenig von einem Streit zu hören sei. Allerdings, das ist deutlich am Montag im Gericht, flammt auf dem Mitschnitt mehrfach eine sehr hitzige Auseinandersetzung auf, bei der auch Beleidigungen („Hund“, „Du bist scheiße“ oder „Bastard“) zu hören sind.

Der Anwalt Tzschoppe hatte bereits darauf hingewiesen, dass es Inhalte gebe, die eigentlich im Gespräch am 18. Januar hätten zur Sprache kommen müssen. Was beweise, dass es ein Mitschnitt von einem anderen Tag sein müsse.

Arafat: Ganz ehrlich? Ich habe dir nie einen Grund gegeben, der Erniedrigung (…)
Bushido: Arafat, du vermischt gerade was, Alter, sag mal, willst du … ist das gerade dein Ernst? (…) Du fängst an zu schreien, ja, du brüllst wie ein Panzer. (…)
Arafat: Was sagst du immer? Auf eine Aktion folgt Reaktion.
Bushido: Aber ist doch okay, wenn man sich anschreit, wenn man sich hochschaukelt, das ist doch beidseitig.

So geht das eine ganze Zeit lang. Ein Streit, der auf eine Gewalttätigkeit oder auf eine bedrohliche Situation hinweist, ist in der Tat nicht zu hören. Aber es bleibt eben weiter die Frage: Stammt die Aufnahme überhaupt von dem Tag des großen Streits? Warum ist sich der Stern so sicher?

Auf genau diese Fragen kommt Bushido zu sprechen, als er am Montag den Zeugenstand zum zweiten Mal betritt. Das erste Mal saß er dort 25 Tage lang und erklärte dem Saal, wie seine Karriere begann und warum irgendwann im Jahr 2012 ein riesiges Plakat auf dem Hotel Waldorf Astoria zu sehen war. Dieses Mal wird es sicher nicht so lange dauern, aber die Anwesenden haben viele Fragen.

Bushido beginnt mit der ersten Minute der Aufnahme, in der schon nach wenigen Sekunden eine weibliche Stimme fragt, ob jemand einen Espresso möchte. Er sagt noch einmal, dass er sich sicher sei, am 18. Januar 2018 nicht auf die Sekretärin getroffen zu sein. Außerdem weiß er, dass sie zu Beginn des Gespräches damals noch über zwei Themen gesprochen haben: zuerst über seine Kleidung und dann über das Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit. Das hatte am Morgen des 18. Januar stattgefunden, Arafat Abou-Chaker war das nicht recht. Auf dem Band wird es mit keiner Silbe erwähnt.

Bushido wirkt sehr sortiert an diesem Tag, obwohl er ohne seinen Anwalt, der kurzfristig ausfällt, in den Zeugenstand gehen muss. Zu Beginn des Prozesstages sagt er noch, er habe „seine Hausaufgaben gemacht“, er hat Ausdrucke von WhatsApp-Chats und E-Mails dabei, bereits in mehrfacher Ausführung für die Kammer. Auf die Anschuldigung der Abou-Chakers, er habe falsch ausgesagt, reagiert er gelassen: „Das nehme ich sportlich.“ Die bösen Blicke von der Anklagebank pariert er ruhig, spielt nur ab und zu mit seiner Maske vor dem Gesicht. Er ist einer der wenigen im Saal, die noch eine Maske tragen.

Corona hat den Prozess immer wieder gestört in den vergangenen Monaten: Arafat, Bushido, der Vorsitzende Richter, so gut wie alle Beteiligten hatten das Virus, was zu Verzögerungen führte. Die Mutter der vier Brüder ist an Covid-19 gestorben. Wegen der Beerdigung mussten auch Sitzungstage verschoben werden. Am Montag ist die Pflicht zwar aufgehoben, empfohlen wird die Maske dennoch. In der Pause sagt jemand auf dem Gang: „Ich hab Sie ohne Maske gar nicht erkannt.“

Am Ende wird es eine lang erwartete, aber sehr kurze Aussage von Bushido am Montag. Unter anderem weist er auf einen Schnitt in der 37. Minute hin. „Das könnte auf eine Manipulation der Audiodatei hindeuten“, sagt er. Um deutlich zu machen, wie man einen Schnitt besser vertuschen könne, benutzt er ein Fachwort aus der Musikwelt: „Unauffälliger wäre ein Crossfade gewesen.“ Der Richter kennt das Wort nicht und Bushido erklärt: „Auf der Datei sind plötzlich verschiedene Arten von Rauschen direkt hintereinander, das passt einfach nicht zusammen.“

Ein Sachverständiger soll Fragen wie diese und andere Ungereimtheiten klären, wenn sämtliche Zweifel an der Aufnahme zusammengetragen worden sind. Allen ist am Montag Erleichterung anzumerken, als die Anhörung der Audiodatei zu ihrem Ende kommt. Sogar ein Bruderkuss ist darauf zu hören. Zu einem großen Teil besteht die Aufnahme jedoch aus Rauschen und Kraftausdrücken. Insofern dürfte der kommende Mittwoch interessant werden, für den Stern und für die kleine Gruppe der Prozessbeteiligten. Es sind übrigens 32 Grad vorhergesagt.

Auf der Suche nach dem großen Berlinale-Moment für dieses Jahr

Im Pandemie-Jahr 2020 saß ich kurz vor dem ersten positiven Corona-Test in Berlin mit vier anderen Journalisten in einem Raum und „schaute“ einen Film, der fast nur aus schwarzer Leinwand bestand. Der Film „Expedition Content“ behandelte eine Reise von Anthropologen nach Papua, aber deren Filmmaterial verbrannte in den 1960er-Jahren zu 95 Prozent. Die Audio-Dateien waren noch da und wurden 60 Jahre später zu einem Film zusammengeschnitten, die Untertitel sind in der Mitte der schwarzen Leinwand zu lesen. Damals verstand ich nicht, was die Kuratoren bewegte, diesen Quatsch auf einem Filmfestival anzubieten.

Aber seitdem habe ich so oft davon erzählt, dass ich es inzwischen ziemlich Rock ‘n’ Roll finde, diesen „Film“ aufzuführen. Bei jeder Berlinale gibt es für mich im Rückblick einen dieser ganz besonderen Momente, von dem ich noch Jahre zehre. Ich weiß noch, als ich 2004 den Film „Before Sunset“ im Berlinale-Palast sah und umringt war von Menschen, die weinten, laut oder leise. Ich wusste in dem Moment, dass ich die Filme von Richard Linklater immer im Kino sehen möchte, in Gemeinschaft von Menschen, die gerade das Gleiche durchmachen wie ich. „Boyhood“ und „Before Midnight“ liefen dann auch auf der Berlinale und wurden zu „Momenten“ für mich.

Ich weiß noch, wie ich auf der Berlinale 2009 dann „Alle Anderen“ von Maren Ade gesehen habe, wieder im Berlinale-Palast, und wie ich damals Hoffnung schöpfte, dass der deutsche Film so viel Gutes vor sich hat. Ich habe ihn dann noch einmal auf derselben Berlinale angeschaut, was ich davor und danach nie mehr getan habe. Und ich bin in die Videothek, um mir „Der Wald vor lauter Bäumen“ auszuleihen, ihr großartiges Debüt. Keiner hat Cringe-Momente so gut einfangen können wie Maren Ade.

Auf dieser Berlinale hatte ich am Dienstag meinen „Moment“. Ich kam gerade etwas gehetzt vom Kino International und wusste nicht, ob ich überhaupt noch Lust hatte auf einen weiteren Film – ausgerechnet Hong Sangsoo, der Regisseur, der immer sehr langsame Filme macht, voller Cringe-Momente, wie Maren Ade. Es geht immer um Menschen, die Angst vor Misserfolg haben und deshalb sehr unsicher auftreten.

Das Besondere am Film „Mul-an-e-seo“ (Im Wasser) ist aber, dass er komplett unscharf gedreht wurde. Alles wirkt wie durch eine Milchglasscheibe gefilmt, die Gesichter sind nur helle Flecken, das Meer im Hintergrund ist nur eine blaue Fläche und die Gespräche sind so vorsichtig, als hätten die Protagonisten Angst, ihr Gegenüber werde in der nächsten Sekunde zu einem Faustschlag ausholen. Die Untertitel waren zum Glück scharf gestellt und das Wellenrauschen war die ganze Zeit ganz klar. Berlinale heißt für mich: Ich will, dass dieser Film nie endet.

Du Sau! Ausziehen! Was das Kiezbingo im SO36 so unvergesslich macht

Kurz vor 21 Uhr wird es unübersichtlich auf meinem Bingo-Zettel. Gisela ruft: „23!“, Inge wiederholt sehr laut: „23!“. Sie schreibt die Zahl auf eine Folie am Overhead-Projektor. Alles ist sehr handgemacht hier. Dann machen sie dasselbe mit der 70 (Inge: „Die Siebzig!“), mit der 8 („Die Acht!“) und der 40 („Pfirsich!!!“). Die 40 habe ich auf meinem Zettel! Ich lege einen Knopf auf die 40. Die 15 danach habe ich auch! Nur noch drei freie Felder! Und plötzlich ruft Inge: „Den Elf!“ Ein Feuerwerk bricht auf der Bühne los, alle Lampen blinken, die Band spielt einen Tusch, und der ganze Saal jubelt frenetisch.

Ich muss sehr verwirrt aussehen. Mein Kumpel Jörg beugt sich zu mir und sagt, das mit „den Elf“ habe mit einer früheren Gastgeberin des Kiezbingos zu tun. Die Dragqueen Mary Wijnvoord hätte damals mit ihrem niederländischen Akzent moderiert, und so wurde es ein Running Gag, die Zahl 11, niederländisch „den Elf“, mit einem Tusch zu feiern. Das ergibt noch immer keinen Sinn, aber je später es wird, desto lauter wird das Gejohle, desto leiser wird die Stimme in meinem Kopf, die permanent sagt: „In was für einen Quatsch bist du hier geraten?“ Und irgendwann johle ich einfach mit: „Den Elf!“

Dem Kiezbingo eilt der Ruf voraus, eine Institution im Berliner Club SO36 zu sein. „Du warst noch nie da?“, hatte ich oft in Kreuzberg gehört. Es begann im Jahr 1998 als kleine Kiezveranstaltung für ältere Damen aus der Nachbarschaft, dann wurde es zum Kult (2000er-Jahre), dann kamen die Touristen (2010er-Jahre) und damit die peinlichen Momente („Sorry, no German!“). Gerade als das die Ur-Berliner so richtig zu nerven begann, kam Corona. Das Kiezbingo ging in eine längere Pause, seit einigen Monaten ist es zurück. Inzwischen hat es wohl wieder den Kultstatus der frühen 2000er erreicht. Zumindest ist fast kein Englisch in der Schlange zu hören, höchstens Deutsch mit britischem Akzent.

Überhaupt: Diese lange Schlange auf der Oranienstraße, sie gehört für Fans zu einem Teil des Kiezbingo-Erlebnisses. Ich stehe an diesem Abend ganz vorne, bin der zweite in der Schlange. Jörg hatte mir eingeschärft, unbedingt um 18 Uhr da zu sein. Zehn Minuten später kommen er und Yvonne, mit Bier und Pizza in der Hand. Sie erzählen, dass sie einander beim Kiezbingo kennengelernt haben und gehen heute, sieben Jahre später, immer noch gemeinsam hin. Sie essen im Stehen vor dem SO36, und Yvonne sagt: „Kurz vor der Pandemie war ich mal um Punkt 18 Uhr hier, und es war leer. Zehn Minuten später kam ich zurück, und die Schlange war so lang, dass ich Sorge hatte, nicht mehr reinzukommen.“

Das passiert dann auch wirklich: Die Schlange wächst innerhalb von Minuten, auch weil meist einer für eine ganze Gruppe ansteht und plötzlich sieben Menschen dazukommen. Der vierte unserer Runde wird später gegen halb acht nicht hineingelassen, was die Stimmung bei uns am Tisch stark sinken lässt. Diese Bingo-Tür, sie ist verdammt hart.

Warum dieser Abend so beliebt ist in Berlin, ist nur auf den ersten Blick schwer zu verstehen. Ist es die Ballsaal-Atmosphäre, die fast an einen Saloon in einem Western-Film erinnert? Ist es die schnodderige Moderation der beiden Drag Queens Gisela Sommer und Inge Borg? Sind es die Preise, die alle aus Kreuzberg kommen? Oder ist es einfach die laute, ausgelassene Stimmung, die im Nu alle Krisen unserer Zeit, den Ukrainekrieg, die Energiekriese, den Klimakollaps, draußen vor der Tür lässt?

Das SO36 ist hergerichtet wie ein bayrisches Bierzelt. Die Bänke ziehen sich quer über den Dancefloor, und in einer Ecke steht ein Tisch mit der nächsten langen Schlange. Dort gibt es die Bingo-Zettel in Orange, Blau, Weiß und Pink. Sie kosten zwischen 1,50 und 6 Euro. Sämtliche Einnahmen (an diesem Abend etwas mehr als 2000 Euro) gehen an diesem Abend an eine Initiative für Seenotrettung. Vor der Bühne liegen die Preise, Geschenke von umliegenden Buchläden, Restaurants und Boutiquen: Eierlikör, bunte Socken, das legendäre Wandmalset von Farben Kacza und links und rechts der Bühne die Hauptpreise, jeweils ein Pappaufsteller von Inge Borg und Gisela Sommer.

Wir setzen uns ganz vorn an den Bühnenrand und Yvonne zeigt sofort schwärmerisch auf den Aufsteller von Inge Borg, mit erhobenem Bein. „Den will ich“, ruft sie und malt sich aus, wie gut der Pappaufsteller in ihre Küche passen würde. Doch sie weiß, die Chancen darauf sind gering: Sie müsste nicht nur „Bingo“ haben als erste in einer Runde, sondern dann auch noch aus der Lostrommel den Hauptpreis ziehen.

Wir reißen Zettel in Stücke und legen die kleinen Knöpfe vor uns auf dem Tisch bereit. Wer genau hinschaut, erkennt in den Knöpfen ein Gesicht. Manche haben eine Sammlung 1-Cent-Stücke dabei, alles hier hat Kultstatus.

Kurz nach 20 Uhr wird es zum ersten Mal turbulent: Mehrere Frauen und Männer laufen singend in Frauenkleidern quer durch den Saal. Das Bingo-Ballett wirft mit Federboas, Pompoms und Perücken, tanzt durch die Reihen, die Wild-Flamingo-Bingo-Band spielt laut, und dann betreten die Moderatorinnen mit gespielt schlechter Laune die Bühne: Diese Stadt, dieser Lärm und jetzt noch dieses Bingo! Den ganzen Abend kommen sie aus dem Schimpfen nicht mehr heraus.

Die Runden selbst sind sehr kurz. Zuerst kündigen die Moderatoren ein Muster an, das gespielt und über das 5×5-Feld gelegt wird. Mal spielen wir nur die erste Reihe, nur die Diagonalen, ein Viereck ist natürlich die Rosette – und gleich in der ersten halben Stunde spielen alle das Muster vom „Pimmel“: Vier Felder links und vier Felder rechts unten und in der Mitte ein Strich. Wir decken die übrigen Felder ab und schon fliegen die Zahlen um uns herum: 67, 18, 6, „den Elf“ und so weiter. Dann ruft irgendwann jemand „Bingo!“ und darf auf die Bühne.

Inge fragt meist freundlich: „Woher kommst du?“ – „Ich trau mich nicht, das zu sagen.“ – „Na, so schlimm wird’s schon nicht, Süße.“ – „Aus Stuttgart.“ – „Ok, das ist doch schlimm!“ Gisela wiederum fragt meist etwas forscher nach: „Bist du Single?“ Und dann kommentiert sie Berufe mit: „Damit kann man Geld verdienen?“ Bevor jemand die Bühne verlässt, wird er untergehakt, hebt ein Bein und ruft: „Super! Sexy! Bingo!“

Das ist das Kernelement vom Kiezbingo: Wir lernen Berliner kennen, die sich auf die Bühne trauen. Den Azubi aus Syrien, die Friseurin aus Lichtenberg, den Koch aus Mitte und die Kassiererin aus Schöneberg. Bevor sie in den Lostopf greifen, werden sie von Gisela und Inge befragt, andere würden sagen: gegrillt. Nicht immer sind die beiden fair in ihren eher persönlichen Fragen. Eine Buchautorin aus dem Iran hat es dabei vielleicht ein bisschen leichter bei Gisela als eine Unternehmensberater aus Prenzlauer Berg. Es soll schon vorgekommen sein, dass jemand ein Bingo nicht sagen wollte, weil er Angst vor den beiden hatte. Es soll auch vorgekommen sein, dass Gisela jemanden am Kragen auf die Bühne zerrte.

Manchmal müssen sie erst etwas abgeben, nämlich dann, wenn sie ein Kleidungsstück gewinnen. Dann ruft der Saal wie beim Flaschendrehen: „Ausziehen!“ Jörg steht irgendwann ohne T-Shirt auf der Bühne und kommt mit einem neuen T-Shirt wieder an den Tisch. Später wird er erzählen, dass manche schon ohne Preis von der Bühne heruntergeschickt wurden, weil sie die falsche Antwort gegeben hatten. Wird Eierlikör oder Wodka gewonnen, muss der meist schon auf der Bühne zumindest geöffnet werden.

Am ehesten lässt sich der Abend wohl mit einer Runde „Rocky Horror Picture Show“ vergleichen. Es gibt eine Menge Rituale, es wird sehr viel gelacht, gepöbelt und gewonnen. Den Elf! Du Sau! Ausziehen! Bingo!

Als wir gegen Mitternacht wieder draußen auf der Oranienstraße stehen und mit dem Pappaufsteller von Inge Borg posieren, wird uns klar, dass Yvonne wirklich den Hauptpreis gewonnen hat. Es heißt, er mache sich sehr gut neben der Speisekammer. Sie hebt ein Bein und sieht aus, als würde sie für die Ewigkeit rufen: Super! Sexy! Bingo!

Das nächste Kiezbingo findet am 13. Dezember im SO36 statt.

Ex-Mitbewohner von Bushido: „Arafat war sein Mentor, Beschützer und Ersatzvater“

15.06.2022

Rommel Abou-Chaker überholt die Journalisten und sein Lächeln ist ein ehrliches. Gerade hat die erste längere Pause im Prozess im Landgericht Moabit begonnen. Der 44-Jährige läuft wie alle schnell zu einem Ort, an dem er etwas trinken kann. Auch im Saal 500 ist es heißer als sonst. Rommel, der Fans des Berliner Lokalfußballs als Stürmer des BFC Preussen bekannt ist, sagt: „Jetzt sieht man endlich mal die Gesichter und nicht nur irgendwelche Masken.“

Fast zwei Jahre dauert der Prozess gegen ihn und seine drei Brüder jetzt schon. Zusammen mit dem mutmaßlichen Bandenchef Arafat Abou-Chaker sind Rommel, Nasser und Yasser wegen Beleidigung, Nötigung, Freiheitsberaubung, räuberische Erpressung und gefährliche Körperverletzung angeklagt. Nebenkläger ist der Rapper Bushido, der die vier Brüder beschuldigt, ihn und seine Familie bedroht zu haben, weil er einen Management-Vertrag mit Arafat auflösen wollte. Die Abou-Chakers haben sich bisher nicht zu den Vorwürfen geäußert.

Nach rund einem Monat Sommerpause treffen sich bis auf Bushido und dessen Anwalt alle Prozessbeteiligten wieder. Weil die Corona-Regeln geändert wurden, muss niemand mehr im Saal eine Maske tragen, einige machen es trotzdem. Der 74. Verhandlungstag beginnt mit einer Stellungnahme der Verteidigung. Sie will prüfen lassen, das Verfahren des ältesten der vier Brüder, Nasser Abou-Chaker, vom Hauptverfahren abzutrennen. Er habe nur schlichten wollen, an jenem 18. Januar 2018, als sich Bushido und Arafat stritten. Entschieden wird in dieser Sache allerdings erst in den kommenden Wochen.

Dann tritt der Zeuge des Tages in den Gerichtssaal: Danny Bokelmann ist im gleichen Alter wie Rommel und trägt auch eine ähnliche Frisur, nur dass seine Haare grauer sind, viel länger und nach hinten gekämmt. Der Musikproduzent war in Berlin auch eine Zeit lang als Rapper D-Bo bekannt – und war zwischen 2004 und 2007 Bushidos Mitbewohner. Sie gründeten zusammen das Label Ersguterjunge. Bokelmann betritt den Saal in kurzen Hosen und einem T-Shirt mit der Aufschrift Raw Power. Seine Arme sind voller Tattoos. Vögel, Totenköpfe, Micky Mouse und ein Spruch auf Englisch: „Denk daran, dass du sterben wirst“.

In den kommenden fast vier Stunden wird Bokelmann zu seiner Freundschaft zu Bushido und zu Arafat befragt. Zu letzterem pflegt er noch immer Kontakt, die Freundschaft zu Bushido ist stark erkaltet. Bei der Gründung des Labels 2004 sei er noch von einer 50-Prozent-Beteiligung ausgegangen, beim Notar waren es dann nur vier Prozent. „Ich wurde überrumpelt“, sagt er heute. Gleichzeitig wurde Arafat im Leben Bushidos immer wichtiger, war schließlich auch Trauzeuge, als der sich Bokelmann selbst gern gesehen hätte. Nur von den Gewaltausbrüchen, die sowohl Bushido als auch andere Zeugen immer wieder beschrieben, will D-Bo nichts mitbekommen haben.

Den ersten Streit gab es wegen Geld. „Wir haben die Merchandise-Verkäufe von den Konzerten Anfang der 2000er nicht abgerechnet, sondern separat in der Wohnung gelagert“, erzählt Bokelmann. Zu einem Zeitpunkt lagen 65.000 Euro in bar in einer Plastiktüte in der gemeinsamen Wohnung. Er sei davon ausgegangen, dass Arafat von dem Geld wusste, der aber sei außer sich gewesen. „Bei der Aussprache hat dann Bushido erst versucht, es mir in die Schuhe zu schieben“, sagt Bokelmann.

Nach den vielen Zeugen, die inzwischen gehört wurden, ist dieser nun also ein weiterer der Kategorie „enttäuschter bester Freund von Anis Ferchichi“, wie Bushido mit bürgerlichem Namen heißt. Immer wieder wurden Menschen in den Zeugenstand gerufen, die einmal sehr eng mit Deutschlands erfolgreichstem Rapper („Staatsfeind Nummer 1“) waren, dann aber den Kontakt zu ihm verloren. Oft geht es um fünfstellige Beträge, die irgendwo in bar lagerten und zu Problemen führten. Und immer wieder versuchen Richter und Staatsanwalt herauszufinden, was diese Menschen zu der Beziehung zwischen Arafat und Bushido sagen können.

Danny Bokelmann hat beinahe ein psychologisches Gutachten für die 38. Strafkammer vorbereitet: Arafat sei „Mentor, Beschützer, großer Bruder und Ersatzvater“ gewesen für Bushido. Außerdem sei die Freundschaft auch für das Image des Gangsterrappers unverzichtbar gewesen. „Er konnte mit Arafat einfach viel mehr Geld verdienen.“ Musiker dieses Genres müssten sich mit Gangstern umgeben, oder, wie es Bokelmann ausdrückt, „mit Menschen, die sich zu kriminellen Taten hinreißen lassen“.

Die Ausdrucksweise des Musikproduzenten ist gewählt, nur einmal rutscht D-Bo ein „am Arsch“ heraus im Zusammenhang mit seinen Kollegen. Verträge werden nicht unterschrieben, sondern „gesigned“ und wenn ein „kleiner Bonus“ gezahlt wird, dann im „niedrigen fünfstelligen Bereich“. Die Rap-Welt ist eben eine sehr eigene Welt. Wenn D-Bo mal etwas nicht weiß, sagt er nicht „Keine Ahnung“, wie die übrigen Ex-Kollegen Bushidos. Er sagt: „Das entzieht sich meiner Kenntnis.“

Doch ein paar Ungereimtheiten bleiben nach der Aussage des Mannes, auf dessen linken Unterarm tätowiert ist: „Die Hölle ist leer und die Teufel sind hier“. Wieso bezeichnet er sich als jemand, der Bushido extrem gut kenne, hat aber jahrelang kaum Kontakt mit ihm gehabt? Wieso spricht er davon, dass Arafat mit den Jahren weicher geworden sei, wo doch mehrere andere Zeugen von einer zunehmenden Verhärtung des mutmaßlichen Bandenchefs sprachen? Und warum nennt es ein ehemaliger bester Freund „kindisch“, wenn Bushido an ihn in einer SMS schreibt: „Arafat will meiner Frau Säure ins Gesicht schütten?“ Bokelmann lapidar zum Richter: „Wenn Sie Bushido so lange kennen würden wie ich, dann könnten Sie das auch nicht ernst nehmen.“ Am Montag, den 8. August, geht der Prozess weiter.

Harald Glööckler: „Manchmal wache ich nachts auf und alles tut mir weh“

Melanie Meiritz streicht einer Dame die Creme mit beiden Händen auf die Wangen. „Ich nenne diese Creme immer das Wirkstofftaxi“, sagt sie, „weil das direkt tief einzieht.“ Dann reibt sie auf dem Dekolleté der Frau herum. „Es ist wichtig, auch das Dekolleté mit einzubeziehen“, sagt die 50-jährige Creme-Entwicklerin. „Denn das ist das große Gesicht.“ Harald Glööckler sitzt am Rand der Bühne auf einem Sessel und kommentiert von dort die Szene: „Das ist ja oft das einzige, wo Männer hinschauen.“

Es ist 11.15 Uhr morgens im Kleinen Wintergarten, Hotel Adlon, Pariser Platz. Der bekannte Modemacher Harald Glööckler hat geladen, um seine neue Duftkollektion vorzustellen: Pompöös No1 Skin Revolution. Am Rand steht ein Tisch mit Melonenstückchen und Himbeeren, eine kleine Bar mit Cola und Gurkenwasser. Es ist wohl eher ein Termin für Fotografen, denn es sind rund 15 von ihnen im Raum. Auf der Bühne posieren Meiritz und Glööckler minutenlang mit den Parfümfläschchen im Blitzlichtgewitter.

Harald Glööckler ist bekannt, weil er sein Gesicht so gestaltet hat, wie er es für schön hält. Er hat sich dafür vielen Operationen unterzogen, zuletzt einer Haartransplantation, wie er erzählt. Der 57-Jährige hat vor 35 Jahren seinen eigenen Jeansladen eröffnet, aus dem das Label Pompöös hervorgegangen ist. Einer breiten Öffentlichkeit wurde er bekannt durch Auftritte im Verkaufssender QVC, bei„ Let’s Dance“, im Dschungelcamp und zuletzt bei „Chez Krömer“. Gekommen sind viele Journalisten, auch weil der Berliner Modezar seit ein paar Tagen in den Schlagzeilen ist. Er habe das unheilbare Fibromyalgie-Syndrom, hieß es, eine chronische Krankheit, die mit großen Schmerzen verbunden sei.

Nach der Fotosession im Wintergarten lässt sich Glööckler einen Sessel auf die Bühne tragen und setzt sich dort für ein paar Interviews hin. Immer wieder fragen ihn Journalisten, wie es ihm gehe. Man habe sich „solche Sorgen gemacht“. Der 57-Jährige sagt: „Ich bin wunderbar am Leben, ich werde 100 Jahre alt, das was die Presse über mich schreibt, stimmt so alles nicht.“ Direkt danach sagt er aber etwas, dass ganz anders klingt: „Manchmal wache ich nachts auf und alles tut mir weh, und wenn ich dann morgens aufstehe, schmerzt jeder Schritt.“

Er trägt an diesem Morgen einen rotgoldenen samtenen Hosenanzug, unter dem Jackett ist nur seine tätowierte Brust zu erkennen. Während er spricht, streichelt er die ganze Zeit seinen Zwergspaniel Billy King. Der zwölf Jahre alte Papillon hatte einen ein Zentimeter großen Blasenstein, der entfernt werden musste. Die Operation sei erst wenige Tage her, deshalb muss der Hund ihn jetzt auf diesem Termin begleiten. Ein paar Mal nimmt er das Tier mit den Wimpelohren hoch, hält es in die Kamera.

Glööckler spricht über die Pflegeserie, die „Frauen wieder zu Prinzessinnen machen“ solle: „Wir alle haben nach den vergangenen zwei Jahren Hunger nach Leben.“ Früher seien Revolutionen dazu da gewesen, Kaiserreiche zu stürzen. „Meine Skin Revolution macht Frauen zu Kaiserinnen.“ Männer übrigens auch zu Kaisern, die Pflege-Kur sei für beide Geschlechter geeignet. Sie habe auch einen Lichtschutzfaktor, ersetze ein Peeling und pflege die Haut. Glööckler wörtlich: „Eine ungepflegte Haut braucht man gar nicht zu liften, das hilft gar nichts.“

Während die Cremes vorgeführt werden, spielt eine Violinistin die „Méditation“ aus der Oper „Thais“ des französischen Komponisten Jules Massenet. Das Luxury-Set mit vier verschiedenen Tuben kostet 666 Euro, das Basic-Set nur 266 Euro. Es hält bei normalem Gebrauch drei bis vier Monate. Ungefähr so lange kennt Harald Glööckler übrigens seine neue Geschäftspartnerin. Sie sagt, sie habe ihn im Mai dieses Jahres kennengelernt. Da gab es die Idee für das Produkt. Kaufen kann man es derzeit nur im Internet.

Am Ausgang des Adlon-Wintergartens werden knallpinkfarbene Papiertaschen verteilt. Auf der einen Seite steht der Name der Kosmetik-Frau, auf der anderen der Schriftzug „Queen of Cream“. Wer dachte, darin eine Probe der Creme zu finden, wurde enttäuscht: In den mit pinken Satinschleifen verschlossenen Tüte befindet sich ein Flyer und eine Visitenkarte. Als die Violinistin zu einem zweiten Lied ansetzen will, kreischt Harald Glööckler: „Nein, jetzt nicht!“

Coldplay in Berlin: Feuerwerk, Konfetti und ein großes Versprechen

Nach fast zwei Stunden unterbricht Chris Martin das Konzert. Das fast ausverkaufte Berliner Olympiastadion leuchtete gerade im Wechsel ganz in Gelb, Violett und Rot, Chris hat soeben noch „My Universe“ gesungen, jenen Hit, den seine eigene Band Coldplay mit der südkoreanischen Band BTS produziert hatte. Plötzlich unterbricht er seine Band und hält die Hand nach oben. Für einen Augenblick ist nicht klar, ob er mit dem Sound nicht zufrieden ist (das Mikro ist tatsächlich hier und da übersteuert) oder ob er sich um einen Zuschauer sorgt: Am Rand des Stadions fährt zu diesem Zeitpunkt gerade ein Krankenwagen auf das Gelände.

Vielleicht will der Sänger auch einfach einen harten Break, so wie eine plötzliche Pause in einer Beethoven-Sinfonie die Zuschauer aufschreckt. Denn er hält plötzlich eine kleine Rede, in der er noch einmal allen hier im Stadion bewusst machen will, was sie hier gerade erleben: „Diese Gruppe von Menschen wird nie wieder so zusammenkommen, bitte steckt jetzt alle Eure Telefone weg und genießt diesen Augenblick.“ Dann singt er das nächste Lied, das übrigens wie viele Songs seiner Band Coldplay mit dem Universum und den unendlichen Weiten da draußen zu tun hat: „A Sky Full Of Stars“.

Der Titel des Konzerts war der gleiche wie ihres neunten Studio-Albums: „Music of the Spheres“. In der Videoinstallation werden Planeten zu Discokugeln und umgekehrt, Aliens tauchen plötzlich auf, Raketen starten gen Himmel und als die Band ganz zu Beginn die Bühne betritt, spielt im Hintergrund der Orchester-Soundtrack von „E.T., der Außerirdische“. Als sie gleich danach bombastisch mit „Higher Power“ von ihrem neuen Album einsteigen, wird klar, dass man ihre Lieder nie wieder leise im Radio wird hören können, ohne sich Feuerwerk und herumfliegende Papierschnipsel dazuzudenken.

Coldplay sind 1998 einmal als kleine College-Band mit dem Namen Starfish gestartet: Chris, Jon, Guy und Will. Jenes berühmte Video von Chris mit Zahnspange sollte Pflicht für jeden Konzertgänger sein, bevor er Coldplay zuhört. Da ruft dieser Teenie größenwahnsinnig in die Kamera: „Wir werden groß werden, das Fernsehen im ganzen Land wird uns übertragen!“ In den 24 Jahren danach hat die Band gemeinsam alles durchgemacht: Welterfolg, Depression, Suchtprobleme und Scheidungen. Dass Coldplay im Juli 2022 für drei Konzerte nach Berlin kommen (noch einmal am Dienstag und Mittwoch, 12. und 13. Juli, Olympiastadion), ist auch ein Zeichen für die große Macht von Freundschaft. Viele Konzerte wird es nicht mehr geben, denn Chris hat angekündigt, die Band trotz allem 2025 aufzulösen.

Den Hit, mit dem alles damals begann, singt Chris in der Mitte des Konzerts: „Yellow“. Und schon damals schien er vorwegzunehmen, dass es eines Tages bei ihnen oft um Universen und Planeten gehen wird. „Look at the stars“, singt er, während er sich selbst mit der Gitarre begleitet, „Look how they shine for you“. Es ist eines der vielen Liebeslieder, bei dem Paare gemeinsam den Satz mitsingen, der doch so viel leichter über die Lippen geht, wenn es ein ganzes Stadion singt: „You know, I love you so!“

Um das Handgelenk haben viele während des Konzerts ein kleines Armband gewickelt, das am Eingang kostenlos verteilt wird. Dieses Plastikding leuchtet in verschiedenen Farben und macht die Halle so zu einer weiteren Lichtquelle. Chris spielt damit manchmal wie ein Zauberer und lässt mit seiner Handbewegung Farbspiele durch das Stadion wehen. Bei „Humankind“ ist alles lila, bei „Sparks“ blau, bei „Clocks“ grün und bei „Viva La Vida“ schreiend bunt. Chris lässt keinen großen Hit aus und fordert sein Publikum dabei immer wieder zu Singalongs auf: „Eins, zwei, drei!“

An zwei Stellen redet er ganze Sätze auf Deutsch. Einmal zu Beginn: „Wir sind glücklich und dankbar hier zu sein“, holpert er charmant. Dann atmet er tief: „Aaah, die Berliner Luft.“ Sein anschließendes Kompliment versteckt er in einer Frage: „Ist es wahr, dass das Berliner Publikum das beste der Welt ist?“ Dann singt er die Antwort: „Ich denke jaaaa!“

Die zweite Stelle ist am Ende des Konzerts und er wird trotz Konfettiregen und Feuerwerk für einen Moment ernst: „Danke, dass Ihr heute hier seid, trotz der Probleme.“ Auf Englisch erklärt er dann, was er meint mit Problemen: die steigenden Preise, die Pandemie und der blöde Krieg. Er erwähnt zwar Putin nicht, aber kündigt dafür einen ukrainischen Kinderchor an, der mit ihm zusammen noch einmal „Something Just Like This“ singt. Als sie dafür Stadionapplaus bekommen, können das die Kinder in der Großaufnahme sichtlich kaum fassen.

Etwas „cringe“ fühlte sich allerdings der Versuch an, dieses Konzert als „nachhaltig“ zu vermarkten. 70.000 Menschen mit Bratwurst oder Pulled-Pork-Burger in der einen Hand und Plastikbecher und Plastikarmband in der anderen können schwer nachhaltig sein. Den Sprachen nach sind viele im Publikum für dieses Konzert in Flugzeuge gestiegen: aus Finnland, Israel und Spanien. Coldplay will dafür wieder zurück auf die Straße, in den Tourbus, wie früher. Außerdem werden vom Ticketpreis Bäume gepflanzt – und auf speziellen Tanz-Bühnen und durch Fahrräder am Rand können Zuschauer „Energie erzeugen“, die dann für das Konzert benutzt wird.

Die Natur, die Erde, die Welt rettet Chris mit seinem Konzert jedenfalls nicht. Aber wie singt er selbst ganz am Ende: „Wenn du dein Bestes gibst, aber es trotzdem nicht schaffst“. Gerade bei diesem Lied schafft er diesen Moment, für den Menschen selbstverständlich lange Reisen auf sich nehmen, von dem sie zu Hause lange erzählen werden, an den sie sich immer wieder erinnern, bis zum nächsten Konzert: Hand in Hand bei „Fix You“ mitsingen, in einem Olympiastadion, das komplett in Orange getaucht ist, in einer Stadt, die einst geteilt war. Und alle singen „Licht wird dich nach Hause geleiten“ und dann das unmögliche Versprechen: „Ich krieg dich wieder hin.“

Fünf Jahre nach dem Relotius-Skandal: Beim Spiegel sind noch viele Fragen offen

Doch zurück zum Tod der Reportage und den Rouladen: Ich habe das so geschrieben, weil damals viele Spiegel-Geschichten genau so begannen. Etwas Großes trifft auf etwas Kleines, das lässt doch aufhorchen und so richtig nachprüfbar ist es auch nicht. Als ich lernte, Reportagen zu schreiben, wurde uns beigebracht, dass unser Text den Leser mit jedem Absatz davon abhalten soll, sein Mobiltelefon zur Hand zu nehmen. Heute müssen wir dafür sorgen, dass er oder sie es nicht weglegt: Jeder Absatz muss irgendwie Lust auf den nächsten machen. Und der erste Satz, der muss sitzen.

Ich stand also nach dem Kantinenessen auf der Straße und las den ersten Satz eines Textes auf Spiegel online, der einen der größten Medienskandale der Nachwendezeit auslöste: „Kurz vor dem Ende seiner Karriere kommen sich Glanz und Elend im Leben des Claas Relotius einmal ganz nah.“ Nach diesem ersten Satz erzählt Ullrich Fichtner, damals designierter Chefredakteur des Spiegels, wie Claas Relotius jahrelang Artikel fälschen, sich ganze Geschichten komplett ausdenken konnte.

Dieser Text vom 19. Dezember 2018 ist ohne Paywall noch immer zu lesen und wirklich ein interessantes Stück Zeitgeschichte. Er beschreibt, wie Relotius am 3. Dezember vor fünf Jahren seinen vierten Reporterpreis entgegennimmt, während sich im Hintergrund die Beweise gegen ihn auftürmen, bis auch endlich die Chefredaktion einsehen muss, dass sie reagieren muss. Also macht sie es selbst publik: Claas Relotius hat 60 Reportagen gefälscht.

Ullrich Fichtner beendet seinen ersten Absatz mit den damals so beliebten Ein-Wort-Sätzen. Diese sogenannten Holophrasen waren unter Reportern sehr im Trend, schon immer etwas manieriert, sicherlich, aber wer braucht schon ein Verb und ein Objekt, wenn ein Subjekt allein schon seine Wirkung nicht verfehlt – oft durch einen Absatz abgetrennt:
Fichtner schreibt: „Fake.“
Ein paar Zeilen später: „Der bescheidene Claas? Ausgerechnet?“

Als ich den Text damals anfing zu lesen, konnte ich wie viele Journalisten in diesem Land nicht mehr aufhören, auch ohne die Taschenspielertricks des Reporters, ich war fasziniert, wie er Stück für Stück das Drama entblätterte. Er wurde später dafür kritisiert, nicht einfach die nüchterne Form des Berichts gewählt zu haben. Aber vielleicht musste es genau so ein Text sein, denn er wird auch noch in weiteren fünf Jahren interessant zu lesen sein.

Ich las dann das gesamte Sonderheft des Spiegels mit dem gespreizten Leitspruch auf dem Titel „Sagen was ist“, schaute diverse Dokumentationen, las das wunderbare Buch von Juan Moreno „1000 Zeilen Lüge“. All diese Werke spiegeln eine immer neu formulierte Fassungslosigkeit wider.

Sie deckt sich bis heute mit meiner Fassungslosigkeit darüber, dass ich diesen Texten geglaubt habe. Ich habe mit Kollegen über „Nummer 440“ und „Die letzte Zeugin“ gesprochen, wie immer begeistert, wenn mal wieder ein neuer Relotius erschienen war. Wie schafft er das nur? Ich weiß noch, wie ich bei seinem Stück „Königskinder“ für einen Moment gedacht habe: Warum schreibt er auf, wie viele Stufen das Kind in seine kalte nasse Kellerbude hinabsteigt? Warum ist das wichtig? 15 Stufen. Er hat für diesen Text den vierten Reporterpreis gewonnen.

Ich habe damals am 19. Dezember 2018 eine Nachricht geschrieben, versucht, nüchterne Worte zu finden für dieses Ereignis, wie sicherlich viele Kollegen. Doch im Grunde bin ich bis heute noch nicht wirklich weitergekommen. Ich habe nicht das Gefühl, dass es nicht noch einmal vorkommen kann. Ich glaube, ich könnte wieder auf einen gut geschriebenen Text hereinfallen, heutzutage sogar von einer KI geschrieben, auch mit Holophrasen. Vielleicht.

Ein paar Fragen bleiben noch, eigentlich drei: Warum waren zwei von drei Mitgliedern in der Aufarbeitungskommission des Spiegels Mitarbeiter des Magazins und wurden während dieser Zeit befördert, wie es die Sky-Doku andeutet? Warum ist der damalige Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer MDR-Programmdirektor geworden, ohne dass es irgendjemand wagte, den Namen Claas Relotius in seine Vita hineinzuschreiben, auch wenn dieser Name dort wirklich hingehört? Und warum wurde dieser brisante Stoff, der Journalisten des ganzen Landes bis heute den Arbeitsalltag erschwert, ausgerechnet in eine Kinokomödie von Bully Herbig verwandelt mit Pappkameraden als Hauptfiguren, die ernsthaft Golf spielen oder unverständliche Eheprobleme haben?

Denn, ja, alle deutschen Reporter kann jetzt immer der Relotius-Style vorgeworfen werden wegen dieser Sache vor fünf Jahren. Und der Vorwurf sitzt jedes Mal echt tief. Unsere Art, Geschichten zu erzählen, hat sich verändert. Und an manchen Tagen stehe ich geistig noch immer dort vor der Musikerkantine hinter dem Konzerthaus und scrolle den Text immer wieder nach oben und nach unten. Als ich ihn heute noch einmal gelesen habe, musste ich auch lachen. Die Spiegel-Redaktion hat inzwischen darunter eine Korrektur ergänzt, weil ein Wort „in einer früheren Version des Textes“ verwendet wurde, das heute als unangemessen gilt. Das Wort verdient einen Ein-Wort-Satz und es ist wirklich alles andere als zeitgemäß. Getürkt.

Sex im Berlin der 20er-Jahre: Münzis, Steinhuren und Tauentziengirls

Ein Mann betritt eine Apotheke in Schöneberg und wartet, bis die Kundin vor ihm den Laden verlassen hat. Dann beugt er sich über den Tresen und sagt leise, fast verschwörerisch: „Ich bin seit 13 Tagen krank und möchte eine blonde Medizin.“ Der Apotheker nickt, macht sich eine Notiz, fragt nach der Adresse. Ungefähr zwei Stunden später klingelt ein 13 Jahre altes Mädchen an der Tür des Mannes.

Diese Art des Menschenhandels war durchaus üblich in Berlin vor rund 100 Jahren. Jeff Mannes erzählt davon in einer besonderen Führung durch Berlin, die er seit sechs Jahren in Berlin anbietet.

In vier Stunden erzählt der 34-Jährige nicht nur von der Freiheit, die in der gerade neu entstandenen Weltstadt gefeiert wird, sondern auch von den Schattenseiten, der Armut, der Gewalt, die sich in den 20er-Jahren schon ankündigte und die Stadt dann in den 30ern im Griff hatte.

Auf den ersten Blick ist es eine Stadtführung wie viele: Mannes führt eine bunt gemischte Gruppe an verschiedene Orte in Berlin, die vor 100 Jahren besonders wichtig waren. Die Gruppe steht vor Denkmälern in Tiergarten, läuft an der Spreeentlang, wo einst das Berliner Sexualinstitut errichtet wurde, und steht schließlich in Schönebergs Gassen, wo Christopher Isherwood die Vorlage für das Musical „Cabaret“ schrieb.

Doch es gibt Besonderheiten, die diesen Rundgang wirklich zu einer Reise in die Vergangenheit machen: An verschiedenen Orten hält Jeff Mannes sein mitgeführtes Tablet in die Höhe. Auf dem Bildschirm tauchen dank der App „Zaubar“ dann die Hauswand, die Straße, der Himmel auf, die wir alle sehen – und davor entstehen Bilder von Menschen aus der damaligen Zeit. Eine wirklich beeindruckende Augmented Reality: Es ist, als halte Mannes uns ein Fenster in die Vergangenheit vor Augen.

Die 20er in Berlin: Nicht nur Kokain und Federboas, auch Hunger und Syphilis

Als die Gruppe von der Bülowstraße in die Frobenstraße einbiegt, ist so ein Moment. Jeff Mannes zeigt auf das Tablet und erklärt anhand von Frauen auf Bildern Begriffe, die in den 20er-Jahren eben üblich waren: „Grashüpferinnen“ hießen die Frauen, die sich meist im Tiergarten neben die Büsche stellten und bei Bedarf schnell mit Freiern einen ruhigen Ort suchten. „Steinhuren“ war der Begriff für Prostituierte, die einen Hautausschlag hatten oder im Gesicht entstellt waren. Manche Freier suchten genau das. „Münzis“ waren schwangere Prostituierte, die sich damals rund um die Münzgasse in Mitte aufstellten. Und es gab auch einen furchtbar verharmlosenden Begriff für die Kinder vom Anfang dieses Textes: Medizinmädchen.

Mit jeder weiteren Vokabel entblättert sich das vermeintliche Lotterleben der Großstadt vor 100 Jahren, das eben auch eine Hauptstadt des bezahlten Sex war. Einige Europa-Abgeordnete sehen noch heute Berlin als ein Zentrum der käuflichen Liebe; eine Branche, bei der das Wort Zwangsprostitution immer mitgedacht werden muss – weil sie eine Realität ist. Die Berliner Zwanziger vor hundert Jahren waren eben nicht nur Bubikopf, Kokain-Döschen und Federboa, für viele Menschen bedeutete die Zeit zwischen den Weltkriegen auch Hunger, Armut und Syphilis.

Mannes erzählt auch von dieser Not, während er auf seiner Tour die verschiedenen Begriffe mit Bildern füllt: Da sind die „Halbseidenen“, Frauen, die sich nur etwas hinzuverdienen wollten durch Prostitution. Da sind die „Telefonmädchen“, die meist unter 20 Jahre alt waren und sich per Telefon bestellen ließen – und es gab die „Tauentziengirls“, eine sehr spezielle Form der Prostitution. Die Frauen liefen in sehr teuren Kleidern über den Kudamm und ließen sich von reichen Männern einladen: zum Essen, zum Theater und vielleicht auch zum Sex. Manche waren verheiratet, manche waren in finanzielle Not geraten, manche hatte einfach Spaß daran.

Der Krieg, die Armut, wie viel Zwang war denn nun dabei? Eine Ausstellung will darauf ab dem 26. März näher eingehen. In „With Legs Wide Open – Ein Hurenritt durch die Geschichte“ wird die Geschichte der Prostitution in Berlin genauer beleuchtet. Das Schwule Museum, das mitten in Berlins letztem Rotlichtkiez rund um die Bülowstraße liegt, erzählt vom Strich als einem Ort der Selbstermächtigung. Sexarbeit, so die Autoren in einem Begleittext, sei auch eine „Überlebenskunst“. Ihre „Whorestory“-Ausstellung will sich auch mit der Sexarbeit der Zukunft beschäftigen.

Die Denkmäler für die offenen Zwanziger werden oft zerstört

In den 1920er-Jahren war das offenbar tatsächlich ein Weg, am Leben zu bleiben. Der Markt war sehr ausdifferenziert: Es gab jüdische Frauen, sogenannte „Chonten“, die oft einen polnischen Hintergrund hatten. „Fohsen“ waren dafür bekannt, vor dem Sex auch für eine gute Massage zu sorgen – das heute bekannte Schimpfwort hat wohl diesen Ursprung. Für Männer, die es rauer mochten, standen in bestimmten Ecken des Kiezes die „Stiefelhuren“ bereit. Deren Schnürsenkel zeigten an, für welche Spielarten sie offen waren. Und die Bezeichnung „Puppenjungs“ weist auch auf ein weiteres Kapitel der Prostitution hin: Junge Männer, die meist in Gruppen an bestimmten Orten darauf warteten, von älteren Männern mitgenommen zu werden. Auch einen Transstrich gab es in Berlin – nicht weit von der Friedrichsstraße.

Nach London und New York war Berlin die drittgrößte Metropole der Welt. Es war die Zeit, als Bertolt Brecht die „Dreigroschenoper“ schrieb und Alfred Döblin sein „Berlin, Alexanderplatz“, jener Platz, der in seinem Roman gerade wieder aufgerissen wird und über den Menschen auf Holzbohlen laufen müssen. Marlene Dietrich wird bekannt mit ihrem Lied über die „fesche Lola“, und bis im Jahr 1929 die Weltwirtschaftskrise viele Menschen in die Armut trieb, war Berlin die Stadt, die das Leben und die freie Liebe feierte.

Bis diese Orte allesamt eingestampft werden. Denn auch das ist eine Wahrheit, die Jeff Mannes ganz am Ende der Führung erzählt. Das Berlin der Zwanziger war ein liberaler Ort, aber das wurde auch vielen zum Verhängnis. Kein einziger Club überlebte die Nazizeit. Alle wurden geschlossen und erst sehr viel später wiedereröffnet. Und wer bekannt war, in solchen Clubs zu verkehren, für den konnte es in den 30er-Jahren wirklich lebensbedrohlich werden. Einen kleinen Einblick in diese Geschichte gibt die Dokumentation „Eldorado“, die vergangenes Jahr auf Netflix erschien.

Vor eben diesem „Eldorado“ endet die Tour mit Jeff Mannes. Wieder hält er sein Tablet in die Höhe. Dank der „Zaubar“-App wird der Biomarkt an der Motzstraße plötzlich zum verruchten Club. Ein Klick, und die Fassade ist übersät mit Hakenkreuzen. Ausgerechnet hier hat die NSDAP später ein lokales Büro eingerichtet. Die Tour durch das liberale Berlin der 1920er endet brutal: Plötzlich geht es um Verhaftungen, Folter und Tod. Die wenigen Denkmäler auf der Tour, die der liberalen Sexualmoral der Zwanziger errichtet wurden, sie wurden alle schon mehrfach beschädigt. Bisher allerdings hat Berlin sie immer reparieren lassen.