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Interview mit Kim Yung-ho, Minister aus Südkorea

Kim Yung-ho betritt den Salon im achten Stock des Hotels InterContinental. Der 63 Jahre alte koreanische Minister für Wiedervereinigung hat viele Termine an diesem Montag: Er trifft Nordkoreaner, die in Deutschland leben und besucht später die Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen. Mit der Berliner Zeitung spricht er über den Stand der Wiedervereinigung in seiner Heimat, den Umgang mit geflüchteten Nordkoreanern – und welchen Nationalfeiertag Südkorea am gleichen Tag begeht.

Herr Ministerder 3. Oktober ist in zwei Ländern auf der Welt ein Feiertag, in Südkorea und in Deutschland. Sie feiern ihn in diesem Jahr hier, warum?

Am 3. Oktober feiern wir die Korea die 5000-jährige Geschichte. Ich bin sehr froh, dass ich für die Feierlichkeiten zu 33 Jahre Wiedervereinigung in Deutschland als einziger ausländischer Minister eingeladen bin. Dieses Jahr markiert auch das Jubiläum für 140 Jahre Beziehungen zwischen Deutschland und Korea. Ich bin sehr dankbar, in einem Land zu sein, das wie meine Heimat die universellen Werte wie Menschenrechte, Freiheit und Demokratie teilt.

Wir feiern Wiedervereinigung, Ihr Land ist weiter getrennt, befindet sich nur im Waffenstillstand mit seinem Nachbarland Nordkorea. Wie fühlt sich diese Grenze für Sie an?

Ich habe mein Amt als Wiedervereinigungsminister erst im Juli dieses Jahres angetreten, als ich noch im Präsidialamt gearbeitet habe, war ich aber ebenfalls zuständig für die Vereinigungsangelegenheiten. Damals habe ich sehr oft die Grenze besucht. Jeder, der dorthin kommt, kann mit seinem ganzen Körper spüren, wie hoch die Anspannung ist. Wir sind das einzige geteilte Land der Welt und ich glaube trotzdem weiter an eine friedliche Wiedervereinigung.

Und ist die deutsche Wiedervereinigung für Sie das Zeichen, dass es funktionieren kann.

In Bezug auf die deutsche Einheit finde ich besonders wichtig, dass die Politik der westdeutschen Regierung eine Grundlage darstellte, die sich bis heute auswirkt. Außerdem war von Anfang an der Wille zur Selbstbestimmung innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung besonders stark. Die Diplomatie der westdeutschen Regierung damals, damit befasse ich mich gerade besonders, in Vorbereitung für eine mögliche koreanische Wiedervereinigung. Ich wünsche mir, dass die nordkoreanische Bevölkerung in ihrem Herzen erfährt, was Freiheit bedeutet. Wenn sie das tun, dann erreichen wir auch eine friedliche Wiedervereinigung.

Ich habe einmal gelesen, in Ihrem Ministerium liegen 26 Pläne für eine Wiedervereinigung in der Schublade. Wie viele haben sie jetzt?

Wir haben sicher mehr als 26 Maßnahmen für die Wiedervereinigung geplant. Aber entscheidend ist für mich vor allem eines: Der Artikel 4 in unserer Verfassung sagt, dass wir die Wiedervereinigung vorantreiben auf der Basis von Freiheit und Demokratie. Aber dort steht auch, dass wir die Zustimmung der Bevölkerung dafür gewinnen. Ohne geht es nicht.

Hilft es dann, dass die Netflix-Serie „Crash Landing on You“ so erfolgreich ist? In der Serie verliebt sich eine Südkoreanerin in einen nordkoreanischen Grenzsoldaten.

Dieses Drama war ein großer Erfolg in Südkorea. Ich habe die Gelegenheit gehabt, mit der Produzentin auf einem Podium über die Entstehung des Dramas zu sprechen. Sie sagte, sie wollte so akkurat wie möglich das Leben in Nordkorea darstellen. Ich denke, die Serie hat einen großen Beitrag dafür geleistet, dass Südkoreaner sich gut mit der Lage in Nordkorea auskennen. Da haben sie sehen können: Sie sind genau wie wir, sie denken wie wir. Und vor allem: Wir gehören zusammen.

Der 63 Jahre alte Südkoreaner war Politikprofessor an der Sungshin Women’s University, als Präsident Yoon Suk-yeol ihn in das Ministerium für Wiedervereinigung holte. Es ist das erste Mal in 25 Jahren, das kein Karriere-Politiker aus dem Ministerium in das Amt kam. Er gilt laut mehrere südkoreanischer Medien als Hardliner gegenüber Nordkorea, das heißt, er plädiert offen für eine Aufrüstung Südkoreas mit Atomwaffen und hält den Sturz des Regimes in Nordkorea für unumgänglich.

Auch im Norden werden südkoreanische Serien geschaut, so wie im Osten Deutschlands auch vor der Wiedervereinigung West-Fernsehen gesehen wurde. Hat das einen großen Einfluss?

Kennen Sie die Serie „Treppe zum Paradies“, die ist so beliebt in Nordkorea, dabei geht es nur um den Alltag in Südkorea. Das Gute an koreanischen Serien ist, sie machen süchtig. Und ganz nebenbei können Nordkoreaner sehen, wie ein Leben in Freiheit aussieht. Ich bin überzeugt davon, dass sie so auch den Unterschied herausfinden, wie autoritär und unterdrückend ihre eigene Gesellschaft ist. Mehr als 60 Prozent der Nordkoreaner sehen sich diese Dramen an. Leider hat das Regime aktuell die Strafen dafür wieder erhöht.

Also setzen Sie auf ein langsames Überzeugen der Bevölkerung?

Der Regime-Kritiker und Ex-Präsident Vaclav Havel hat einst den Begriff Post-Totalitarismus entwickelt. In seinem Aufsatz „The Power of Powerless“ geht es auch darum, dass Osteuropa Gelegenheit hatte, sich mit dem Westen zu beschäftigen als alternative Kultur. Der Wunsch, selbst auch so frei leben zu wollen, sei durch den Kontakt erst entstanden, konnte sich etablieren und Havel hat den Fall der Mauer so beinahe vorausgesagt. Ich finde, man sollte bei der Beschäftigung mit Nordkorea nicht nur dessen Nuklarprogramm berücksichtigen. Man sollte sich auch die Kultur anschauen.

Sie gelten als Hardliner in einer ohnehin konservativen Regierung. Spricht so ein Hardliner?

Ich habe kurz nach meinem Antritt als Minister einen hohen Repräsentanten der Religion in Korea getroffen. Er sagte zu mir: Sie sehen so nett aus, die Presse nennt Sie immer Hardliner. Ich sage es so: Ich verfolge nur die Politik gegenüber Nordkorea, die auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie pocht. Ich beharre darauf, dass wir die Situation der Menschenrechte verbessern müssen. Unsere Politik sollte in dieser Richtung verstärkt werden. Mich aber als Hardliner zu bezeichnen, finde ich offen gesagt nicht angemessen.

Wenn Nordkoreaner es in den Süden schaffen, bekommen sie viel geschenkt, aber so richtig integriert sind sie nach wie vor nicht. Ist es auch Ihre Aufgabe, das zu verbessern?

Wir haben derzeit rund 30.000 Nordkoreaner in Südkorea, die zu unserem System übergelaufen sind. Die Regierung bemüht sich so viel wie möglich, sie zu unterstützen. Wir bieten Wohnungen, ein Studium und Hilfen für einen Alltag an. Aber auch ich habe gehört, dass sich viele diskriminiert fühlen. Da muss die ganze koreanische Gesellschaft etwas tun, besonders wichtig ist deshalb Bildung. Aber ganz konkret haben wir festgestellt, dass viele Nordkoreaner bei ihrer Ankunft unter einem Trauma leiden. Sie kommen oft über China oder Südostasien ins Land und haben auf diesem Weg schlimme Dinge erlebt. Deshalb haben wir eine Einrichtung für Trauma-Behandlung eröffnet, ein Therapie-Center.

Wie lange wird es dauern, bis ich diese Reise buchen kann, die neun Tage dauert: 3 Tage Pjöngjang, 3 Tage Seoul, 3 Tage Jeju.

Alles hängt dafür von unserem besseren Austausch ab. Derzeit ist der Kontakt mit Nordkorea fast unmöglich, das liegt aber nicht an uns. Nordkorea war drei Jahre lang wegen Corona komplett abgeschlossen. Außerdem hat das Regime im Jahr 2020 unser Büro für binationale Gespräche bombardiert. Unter solchen Umständen ist es schwierig, mit Nordkorea ins Gespräch zu kommen.

Noch eine letzte Frage: Wenn Sie im Norden vor einer riesigen Statue von Kim Jong-il stehen würden, verbeugen Sie sich?

Die Antwort auf diese Frage ist einfach. Sie lautet: Nein, ich beuge mich nicht. Das ist klar.

Zum Tag der Deutschen Einheit: Mein Klassentreffen mit 20 Zonenkindern nach 32 Jahren

René lernt gerade, mit 45 Jahren, zum ersten Mal die Signalzeichen für Züge in Deutschland. Eine Sache lässt ihn dabei nicht los: Die Signale für Ost-Lokführer sind anders als die für West-Lokführer. Eine blinkende grüne Lampe rechts oben gibt es in der Version DV und DS. „DV“ stehe für den Osten, sagt er. „Als Eselsbrücke haben sie uns beigebracht: Das V heißt Verlierer, das S heißt Sieger.“ Von den West-Lokführern, sagt René noch, wolle bis heute keiner die Ost-Signale lernen.

Erzählt hat mir René das auf einem Klassentreffen an diesem Wochenende in Dresden. René hat es organisiert, vielleicht hätten wir uns alle sonst nie wiedergesehen: Romy, Marc, Anett, Robert, Anke, Wodny, Rainer und all die anderen. Es ist die Klasse 6b der 115. Polytechnischen Oberschule in Dresden-Niedersedlitz, die ich besucht habe. Es waren die Jahre 1989 bis 1991, ausgerechnet jene Schicksalsjahre eines Landes, über das manche gar nicht mehr sprechen wollen und über das andere nicht genug sprechen können derzeit.

Wir schreiben das Jahr 33 nach der Wiedervereinigung, und am Dienstag werden viele den Tag der Deutschen Einheit feiern. Laut einer aktuellen Umfrage fühlen sich 40 Prozent der Ostdeutschen eher als Ostdeutsche, hier am Tisch sind das schnell 100 Prozent. Das Vermögen der Einwohner zwischen Rostock und Zwickau entspricht immer noch einem Drittel des Vermögens der Menschen im Westen — und drei Viertel unserer Eltern hatten laut Statistik einen anderen Job nach der Wiedervereinigung als vorher. Sieger und Verlierer.

Das ist kurz Thema an dem langen Tisch im Restaurant Olympos, denn auch wir haben diese turbulente Zeit irgendwie doch zusammen durchgemacht. Einer sagt, sein Vater habe kaum bemerkt, ob sein Sohn zu Hause war oder nicht. „Die hatten so viel mit sich zu tun.“ Ich wiederum kann mich kaum erinnern: Was war eigentlich in den beiden Jahren mit uns passiert? Hatten wir normalen Unterricht? Einer meint, dass der Lehrplan total durcheinanderging. „Wir hatten doch drei Jahre hintereinander die Französische Revolution“, sagt er. Andere erzählen, dass sie nach dem Mauerfall jedes Jahr in einer anderen Klasse waren. Weil sich die Struktur mit Gymnasien erst langsam entwickelte. Auf jeden Fall ging der Russisch-Unterricht weiter, und im Sportunterricht gab der Lehrer allen Jungen einen Klaps auf den Hintern. Das gibt es heute nicht mehr. Und zum Glück auch nicht mehr Menschen wie unsere Klassenlehrerin.

Frau K. war eine Lehrerin, die selbst auf den Schwarz-Weiß-Fotos nicht glücklich aussieht. Vielleicht hatte sie es auch nicht leicht, auf jeden Fall erinnern wir uns hier am Tisch an sie nicht wegen ihres Unterrichts, sondern deshalb, weil sie uns Dinge wegnahm, die es in der DDR nicht geben durfte. Es ging vor allem um Asterix-Comics, Tintenkiller und irgendwann beinahe auch einen Sportbeutel. „Ich hatte einen gelb-schwarzen Turnbeutel von Netto“, sagt Maria, „den sollte ich lieber zu Hause lassen.“

Heute wohnen wir alle in Köpenick, Schöneberg, Prenzlauer Berg oder Bonn, Hamburg, Malmö und „haben noch ein Haus in Abuja“, weil dort die Frau herkommt. Das sind die Geschichten, die auch an diesem Abend erzählt werden, nur ein Drittel von uns ist in Dresden geblieben, manche waren einige Jahre im Westen und sind dann doch zurück nach Sachsen. In Bayern, sagt einer, war das mit der Diskriminierung am schlimmsten. Mit dem sächsischen Dialekt dürfe man sich dort jedenfalls nicht blicken lassen.

Gerade hat der Ostbeauftragte Carsten Schneider ein Konzept beschlossen, das unter anderem vorsieht, in Zukunft Personalverantwortliche zu sensibilisieren für Ostbiografien. Schneider will, dass sich die Zahl von Ostdeutschen in Leitungspositionen erhöht. Er spricht von einer „unbewussten Diskriminierung von Menschen aus dem Osten“, besonders im öffentlichen Dienst sei diese sehr ausgeprägt. Verlierer und Siegern eben. Hier am Olympos-Tisch lässt sich das kaum bestätigen. Ärzte, Professoren, Bundespolizisten, Chefköche und Projektleiter für Entwicklungshilfe, keiner hat einen Ost-Minuspunkt ertragen müssen in seiner Karriere. Oder will heute davon sprechen. Nur so viel: Wir alle verstecken manchmal, wo wir herkommen.

Zu schnell geht es dann in Gesprächen nicht mehr um das schöne Elbtal und den Striezelmarkt, sondern nur noch darum, warum denn dort die AfD so sehr erstarken konnte und wie man sich verhalte. Marc ruft: „Halt, keine Politik heute Abend!“ Er muss das einige Male tun bei diesem Klassentreffen. Als einer von seinem Leben erzählt, geht es um die Flüchtlingskrise 2015 und wie die sein Leben verändert hat. Da steht es plötzlich mitten auf dem Tisch, das N-Wort, und keiner weiß, ob man das in Sachsen nach dem dritten Bier ausdiskutieren muss. Hat er gehört, dass Robert in Nigeria ein Haus gekauft hat? Wir entscheiden uns gegen einen Streit an diesem Abend.

Wodny sagt nach dem Bezahlen, dass ihm der Start in Hamburg jetzt wieder schwerfallen werde. Seine Arbeitskollegen haben ihn inzwischen fast als Hamburger akzeptiert. „Nur wenn ich frisch aus Dresden zurückkomme, sagen sie, ich sei irgendwie verändert.“ Er hat sie nie gefragt, was sie meinen, aber nach ein paar Tagen sei wieder alles ganz normal. Ich habe das Gefühl, dass zumindest dieser Tag der Deutschen Einheit anders sein wird für mich. In keinem der 33 Jahre zuvor habe ich so intensiv dem Gefühl nachgespürt, was diese Jahre des Umbruchs angerichtet haben.

Hier im Olympos wurde klar: Sie haben uns alle ganz schön durchgeschüttelt – und mehr geprägt, als wir uns vielleicht heute eingestehen wollen. Aber ich habe jetzt 20 neue Telefonnummern von Menschen, die mich auf eine besondere Art verstehen – weil sie dabei waren, als Tom morgens in die Klasse kam und sagte: Wir müssen ab heute keinen Pioniergruß mehr machen. Und Frau K. gar nicht anders konnte, als zu sagen: Das stimmt.

Interview mit Barbie Breakout und Nikita Vegaz

Seit 15 Jahren schickt die amerikanische Dragqueen RuPaul eine Gruppe von Nachwuchsdiven in den Kampf: Sie müssen singen, tanzen und vor allem schlagfertig sein. Die Show war in den vergangenen Jahren auch in Spanien, Frankreich und sogar auf den Philippinen zu sehen. Am Dienstag wird die erste Folge des deutschen Ablegers „Drag Race Germany“ beim Streamingdienst Paramount+ laufen. Streng genommen ist es „Drag Race DACH“, weil auch Österreich und die Schweiz jeweils zwei Kandidatinnen ins Rennen schicken. Zu gewinnen gibt es 100.000 Euro. Die Show wird moderiert von der Berliner Dragqueen Barbie Breakout und Gianni Jovanovic, die zusammen mit Dianne Brill die Jury bilden.

Nikita Vegaz ist eine von zwei Berliner Kandidatinnen, die um die Krone bei Drag Race kämpfen. Sie kommt zusammen mit der Drag-Race-Moderatorin Barbie Breakout ungeschminkt zum Interview auf das Dach des Berliner Verlags. Einer der beiden kennt diesen Blick schon, weil er mal ein Date im Nachbarhaus hatte. Doch heute soll es um die erste Staffel von „Drag Race“ gehen, auch wenn sie nur wenig verraten dürfen.

Berliner Zeitung: Barbie, Nikita, wie begann eure Reise zu „Drag Race Germany“?

Nikita: Im September kam die Casting-Ausschreibung. Ich dachte schon immer, dass ich ganz gut bin. Ich habe dann Barbie gefragt, ob ich mich bewerben solle. Und sie meinte: „Ja, mach das auf jeden Fall!“ Dann hab ich mein Bewerbungsvideo schnell zusammengeschnitten und abgeschickt. Irgendwann kam noch eine Nachfrage, dann wieder lange nichts – und dann die Zusage.

Barbie: Als Nikita mich anschrieb, war ich als Host noch nicht mal angefragt. Nur dass es da keine Missverständnisse gibt! Im Jahr 2013 hat schon mal eine Münchener Filmfirma die Lizenz für „Drag Race Germany“ gekauft, und auch damals war ich schon mal als eine mögliche Hostess im Gespräch. Aber wie wir wissen, ist es ja damals nichts geworden. Aber in den zehn Jahren danach habe ich immer, wenn ich mit TV-Leuten zu tun hatte, das Thema gepusht. Und dann gab es ja die erste Version mit Conchita und Heidi Klum, die ja etwas Ähnliches wie „Drag Race“ versuchte.

So schlecht waren die Kritiken jetzt nicht.

Nikita: Für den ersten Versuch war es schon okay.

Barbie: Trotzdem war ich dann doch sehr aufgeregt, als es hieß, „Drag Race“ kommt nach Deutschland. Ich hatte für mich schon eine Rolle darin gesehen, aber bestenfalls als Jury-Mitglied. Aber dieser Anruf kam nie. Und dann waren die Castings schon vorbei, die Queens standen fest, und ich hatte noch immer nichts gehört! Ich dachte: Okay, dann soll es nicht sein. Erst kurz danach kam dann doch eine E-Mail mit der Bitte, ob ich nicht am nächsten Tag Zeit hätte für ein Gespräch.

Wie seht ihr die Rolle von „Drag Race“ in der queeren Community? Kann die deutsche Staffel dem noch etwas hinzufügen?

Barbie: Also für mich ist das wirklich so ein bisschen wie der queere Superbowl, ein Ereignis, das die Community zusammenbringt. Aber „Drag Race“ hat darüber hinaus vielleicht sogar noch eine nicht ganz so offensichtliche Wirkung, ohne es vielleicht direkt darauf angelegt zu haben: Die Show hat Drag in den Mainstream geholt, raus aus der Bar, rein in die Wohnzimmer von Otto-Normalzuschauer:innen. Die Leute sehen plötzlich, dass wir ganz „normale“ Menschen sind, die „normale“ Geschichten haben, dass man sich auch mit uns identifizieren kann, ohne jetzt wahnsinnig queer sein zu müssen – und dass wir vor allem keine Bedrohung sind.

Braucht man dafür eine Krone am Ende und diese ganzen Streitereien? Es wird ja oft kritisiert, dass es mehr um die Streitereien geht als um den Drag.

Nikita: Bei uns ist es nicht so. Wir sind auf jeden Fall ein bisschen liebevoller miteinander. Ich finde, es wird von Staffel zu Staffel familiärer, auch in den US-Folgen.

Hast du alle amerikanischen Staffeln gesehen?

Nikita: Ja, alle 15 amerikanischen Staffeln – und ich fand es einfach geil. Ich habe mich auch über diese Sendung in dieses Drag-Leben reingefuchst und irgendwann hatte fast alles in meinem Leben mit Drag zu tun. Ich habe schon früh angefangen, mein ganzes Geld für Drag auszugeben. Alle drei Jahre eine neue Jeanshose, das musste reichen – und alles andere Geld ging für meinen Lebensstil drauf, also ja, auch für mich.

Hat dieser Spaß an der Verwandlung bei euch schon als Kinder angefangen?

Nikita: Es gibt sogar noch Fotos, auf denen ich schon als Kind an Karneval als Frau gegangen bin, und ich glaube, meine Schwester als Mann. Aber ich sah ganz schlimm aus, ein hässliches Kleid und ein alter Hut. Ich habe ja damals noch auf Rügen gelebt und erst in Berlin habe ich das erste Mal richtig Drag gesehen, zum CSD natürlich. Das war mit Stefanie Deluxe, alte GMF-Zeiten, bei der hab ich gewohnt. Kennst du sie?

Barbie: Ja, na klar!

Nikita: Ach so, ja, und ich habe mich dann zum ersten Mal als Frau angezogen. Ich weiß noch, wie Stefanie sagte: „Liebling, den Lidstrich, den mach ich mal lieber, das wirst du niemals können.“ Und dann war ich das erste Mal richtig Dragqueen.

Mir fällt auf, dass ihr sehr viele englische Begriffe verwendet im Gespräch. Ist das bei der Show genauso?

Barbie: Also ich spreche ja ohnehin auch in meinem Alltag fließend Denglish. Und bei „Drag Race“ geriet das natürlich ein bisschen außer Kontrolle. Alle Sätze, die wir aus dem Original im Kopf haben, die zur Sendung gehören, sind natürlich auf Englisch. Keiner von uns guckt das ja auf Deutsch. Und dann sitzt in der Sendung Dianne neben mir, mit der ich sowieso immer Englisch rede. Das hat es schon sehr schwer gemacht, nicht in jedem Satz irgendwelche Anglizismen zu verwenden.

Übernimmst du auch die englischen Begriffe wie „bring back my girls“?

Barbie: Ich habe das übersetzt, was Sinn macht zu übersetzen, und ich hab die Sachen so gelassen, bei denen das besser passte.

Dafür wird auch viel Dialekt und Akzent gesprochen.

Nikita: Ich konnte früher noch Plattdeutsch. Aber wenn du 20 Jahre in Berlin wohnst, dann klingst du anders. Wenn ich eine Woche lang wieder oben auf Rügen bin, dann kriege ich den Dialekt sofort wieder.

Barbie: Ja, man darf auch gar nicht vergessen, dass nicht nur Deutschland mitspielt, sondern auch Österreich und die Schweiz. Wir haben echt tolle Queens aus beiden Ländern dabei, und auch sonst haben wir versucht, den Cast so divers zu machen, wie unsere Länder es sind. Und dann war da echt ein Sammelsurium von wirklich wunderbaren Queens aus ganz unterschiedlichen Ecken der Welt, die eben Deutsch sprechen. Also ich habe es sehr genossen, überrascht, wie kreativ unser Drag mittlerweile ist. Obwohl es aus Deutschland kommt.

Können wir mithalten mit dem Original?

Barbie: Ich war wirklich überrascht davon, was für ein Level an Professionalität, Glamour und Talent einfach am Start war. Ich war wirklich von den Socken am ersten Tag. Ich bin da rein und wusste vorher nicht, wer kommt. Mir wollten immer Leute verraten, wer da alles dabei ist, aber ich wollte wirklich überrascht werden. Als ich dann das erste Mal die Treppe im Werkroom runterging und „Hallo, hallo, hallo“ sagte, war ich platt, wie krass die da aufgefahren und abgeliefert haben. Wir müssen uns international nicht verstecken.

Nikita: Ich war auch überrascht, als ich zuerst in den Werkroom gelaufen bin. Ich bin ja eine der ältesten Queens und bringe eben viel Erfahrung mit, dachte ich. Und dann kommen plötzlich die anderen Queens um die Ecke und ich dachte: Alter Schwede, was ist das?

Barbie: Das ist halt auch nicht das, was man von Deutschland erwartet hätte. Die Leute gucken auf Deutschland, denken, das ist altbacken und sicher zu schwerfällig oder plump. Nicht besonders filigran, nicht … besonders eben.

Ist unser Ruf so schlimm?

Barbie: Ich arbeite ja noch im Make-up-Bereich, habe ständig mit Leuten aus den verschiedensten Ländern zu tun, und die denken schon oft: Das ist alles Sauerkrautland hier. Die sind schon überrascht, wenn sie das erste Mal in Berlin sind und sehen, wie cool die Stadt und die Leute sind. Und wer hätte gedacht, dass ich als Moderatorin ausgewählt werde, also eine dicke, nichtbinäre, HIV-positive Aktivistin? Das war schon ein krasser Move.

Ist das denn ein Thema in der Sendung? Also dein Gewicht und HIV?

Barbie: Natürlich spielen mein Gewicht oder mein HIV-Status keine Rolle für die Show, es geht ja um unsere Girls. Aber wir sprechen trotzdem auch über HIV und mehrgewichtige Körper.

Konntest du dich gut auf deine Rolle vorbereiten?

Barbie: Ich habe 20 Kilo abgenommen zur Vorbereitung. Und ich habe mir noch ein bisschen genauer angeschaut, wie RuPaul ein Snatch Game moderiert zum Beispiel, wo sie wann steht, aber ich wollte auch keine Imitation machen. Ich will ja ich bleiben, meine Sachen machen.

Kanntest du viele Queens von früher, Nikita?

Nikita: Ich kannte mehr als die Hälfte, glaube ich. Und die mich auch. Neu waren für mich natürlich auch die aus Österreich und der Schweiz. Aber es sind alles wunderbare Menschen, ich liebe alle.

Wie habt ihr die einzige AFAB-Frau im Cast empfangen?

Barbie: Na, Pandora ist ja nicht die erste AFAB-Queen („Assigned Female At Birth“, eine AFAB-Queen ist also eine biologische Frau, die sich als Dragqueen verkleidet, Anm. d. Red.), insgesamt mit allen internationalen „Drag Race“-Ausgaben ist sie die dritte. Und das finde ich großartig. Und vielleicht auch wieder ein bisschen unerwartet, ausgerechnet im deutschen Franchise. Ich war sehr happy, dass keine der anderen Queens im Cast Pandora anders behandelt hat. Da gab es ja durchaus auch sehr laute Diskussionen vorher, ob Cis-Frauen einen Platz haben bei „Drag Race“. Ich finde, Drag ist für alle da.

Darfst du wirklich die letzte Entscheidung treffen, so wie RuPaul in der amerikanischen Version?

Barbie: Nein, die Lipsyncs zum Beispiel entscheiden wir alle zusammen, ganz demokratisch. Aber es gab viele Sachen, wo ich dann einfach sagen konnte: Okay, das will ich aber jetzt so machen, oder ich will, dass wir das so sagen, oder das machen wir einfach gar nicht.

Nikita, hast du Vorbilder, denen du nacheiferst?

Nikita: Also ich finde ja die alten Klassiker toll: Detox, Manila Luzon, Raven, Roxy Andrews. Lustig müssen sie sein, Crystal Versace finde ich geil.

Sind auch die dunklen Seiten des Nachtlebens Thema bei der Show? Jeder von uns kennt doch Leute, die unter die Räder gekommen sind.

Nikita: Auf jeden Fall, es geht oft um Gefühle. Manchmal war ich überrascht, wie sehr sich Menschen vor einer Kamera öffnen können. Manche haben ja sicher auch etwas Angst davor, was passiert, wenn das jetzt alle über dich wissen. Nein, ich habe jetzt nicht von mir gesprochen, aber so ganz allgemein.

Barbie: Klar, im Nachtleben geht es teilweise wild her und einige Leute schaffen dann den Absprung nicht mehr. Ich habe ja selber jahrzehntelang hart gefeiert, aber das liegt schon Jahre hinter mir. Drogen sind für mich mittlerweile echt uninteressant geworden und Neinsagen fällt mir sehr leicht. Aber da stecken auch einige Jahre Therapie dahinter. Ich finde das auch toll, dass wir eben bei „Drag Race“ Leute haben, die ganz offen mit ihrer Geschichte umgehen.

In Berlin sind ja sonst Dragqueens eher in Form von Trümmertunten bekannt, oder?

Barbie: Das ist ja jetzt echt Musik aus den 80ern, es gibt so viel anderes in Berlin mittlerweile. Wir haben so viele verschiedene Drag-Szenen. Zum Beispiel auch heute wieder sehr politische Gruppen wie die Queens against Borders, die superaktiv sind. Wir haben eine ganze Generation junger Queens, die nachgewachsen ist, die Drag von „Drag Race“ kennt und Look und Style eben auch eins zu eins nachzuahmen versucht. Und natürlich spielt die eher oldschoolige Travestie ja in ganz Deutschland auch eine Rolle, die man nicht ignorieren darf.

Wo kann ich denn in Berlin heute Drag erleben?

Barbie: Du kannst ins Tipsy Bear gehen, ins SchwuZ, im Theater des Westens gibt es freitags ab und zu „Ringelpiez“, und dann natürlich Nikitas Beach, seit acht Jahren am Hauptbahnhof.Habt ihr in Berlin einmal unangenehme Dinge erlebt?  

Barbie: Also mir ist in Berlin tatsächlich noch nichts passiert. Ich komme aus der Nähe von Frankfurt, da gab es ständig auf die Mütze. Aber auch hier in Berlin, wenn ich unterwegs bin, vermeide ich ganz viel. Ich steige beispielsweise nicht besonders bunt angezogen in die U-Bahn. Ich bin mir der Gefahr sehr bewusst. Ich bin vielleicht auch manchmal übervorsichtig. Ich kenne Leute, die fahren immer in Drag mit den Öffentlichen und denen passiert nie irgendwas. Aber die Zahl der Übergriffe mit queerfeindlichem Hintergrund steigt leider seit Jahren rasant.

Nikita: Es kommt auch darauf an, wie du auftrittst, denke ich. Wenn ich jetzt als eine eingeschüchterte Person immer nach unten schaue, bin ich ein leichteres Angriffsziel.

Ist dir mal etwas passiert?

Nikita: Ohne Drag, ja. Damals beim Europacenter, wir kamen aus dem Club Puro, glaube ich, und dann haben uns sechs Jungen angegriffen. Einfach, weil wir schwul waren. Das war mein erster Übergriff, wo so Leute auf dich einprügeln. Und ich lag dann am Boden, so in mich gekrümmt, und dachte: Wie können Menschen so sein? Natürlich haben wir die Polizei gerufen, die waren auch sehr nett. Aber die Suche nach den Tätern wurde irgendwann eingestellt. Das ist jetzt so fünf oder sechs Jahre her.

Seid ihr vorbereitet auf das, was danach kommt, wenn die Staffeln draußen sind, Lob und Kritik?

Nikita: Ich muss sagen, ich hatte jetzt schon ein paar negative Kommentare gelesen und bei einem schrieb ich: Dankeschön. Weil ich irgendwie dachte, das gehört auch dazu. Aber Social Media war nicht wirklich mein Ding bisher, ich musste das richtig lernen und beschäftige mich jetzt öfter damit.

Barbie: Wie kann man sich auf etwas vorbereiten, von dem man nicht weiß, wie es laufen wird? Ich habe schon den einen oder anderen Shitstorm im Laufe meines Lebens gehabt. Insofern bin ich, was das angeht, ein gebranntes Kind. Was vielleicht auch ganz gut ist. Aber es tut ein bisschen mehr weh, wenn es aus den eigenen Reihen kommt.

Nikita: Irgendwas ist doch immer falsch, das Kleid oder der Blick in einer Szene … Ich setze mich da nicht unter Druck.

Barbie: Meistens sind das ja gesichtslose Menschen, die sich hinter einem anonymen Profil verstecken. Ich glaube, es ist was anderes, wenn jemand wirklich die Eier hat, zu sagen, das hier bin ich, das ist mein Name, und ich kritisiere das jetzt.

Sind eure Eltern stolz auf euch?

Barbie: Also mein Papa kommt zur Premiere. Der hat mich noch nie in Drag gesehen. Ich bin ganz aufgeregt.

Nikita: Bei mir kommen meine Mama, meine Schwester, mein Bruder. Also meine Eltern sind sehr stolz auf mich. Sie drücken es jetzt nicht wörtlich so aus, aber das Gefühl geben sie mir schon, ja.

Barbie: Neulich hab ich jemanden geschminkt und dann klingelt mein Handy. Ich sehe, mein Vater steht auf dem Display. Und ich merkte, dass ich so eine Panik bekam, dass er absagt. Aber er hat nur gefragt, ob er auch zur Party mitkommen soll. „Ich kreuze mal beides an“, sagte er dann. Und ich habe dann aufgelegt und sofort angefangen zu heulen. Selbst nach zig Jahren Therapie ist das immer noch ein Thema, also diese Angst, auch heute noch von einem geliebten Menschen abgelehnt zu werden und nicht akzeptiert zu werden. Das ist einfach noch ein wunder Punkt für viele von uns.

Als Putin Kai Diekmanns Interview zerriss: Mit Russlands Präsident in Speedos

Gerade als es so richtig gemütlich werden konnte, als sich sowohl Kai Diekmann als auch die Moderatorin Pinar Atalay schön warm-geduzt hatten und bereits die großen Themen Kohl und Putin abgeräumt hatten – da stellt die Moderatorin eine Frage, die noch jeden Springer-Mitarbeiter, ob aktuell oder ehemalig, ins Stolpern gebracht hätte. Atalay fragt mit ihrer freundlichen Stimme, die jeder harten Frage die scharfen Kanten absäbelt: „Hast du dich eigentlich mit Mathias Döpfner einmal gestritten, weil er Dinge behauptet wie ‚die Ossis werden nie Demokraten‘?“

Die Frage war ganz klar nicht abgesprochen und Kai Diekmann ist Profi genug, einfach loszusprechen, über Helmut Kohl und dessen Statue vor dem Axel-Springer-Haus und dem großen Verleger Springer selbst, der doch damals noch „Der Brandenburger Tor“ genannt wurde, weil er seinen Verlag an die Berliner Mauer baut. Hatte das etwas mit Döpfner zu tun? Nein, aber dafür ist die Antwort unterhaltsam.

Und das ist etwas, das an diesem Sonntagmittag im Tempodrom schnell klar wird. Der 58 Jahre alte Ex-Journalist, der jetzt Politikberater ist, kann es immer noch: Eine gute Geschichte auf das Wesentliche reduzieren und sie so in kleine, mundgerechte Teile verpacken, dass niemand davon genug bekommen kann. Im kleinen Saal des Tempodrom feiert er die Premiere seines Buches „Ich war Bild“, und gekommen sind vor allem Freunde des Mannes, der 16 Jahre lang Deutschlands auflagenstärkste Zeitung als Chefredakteur geprägt hat.

Da gibt es die Geschichte, wie er in New York sitzt und die Nachricht von Christian Wulff abhört und sie gleich noch mal abspielt, weil er es nicht glauben kann. Dann die, wie Hannelore Kohl ihn immer Beethoven genannt habe, weil Diekmann damals eine recht unkontrollierbare Frisur hatte. Dann erzählt Diekmann, wie er mit der späteren Gelfrisur bei Wladimir Putin sitzt und der ein Interview vor ihm zerreißt, das er eigentlich autorisieren sollte. Wladimir Putin führt das Interview live gleich noch einmal, während Kanzler Gerhard Schröder dabei sitzt. Oder wie er den finnischen Formel-1-Star Mika Häkkinen für den Taxifahrer hält, weil er ihm als „Fahrer“ vorgestellt wurde. „Ich bin promiblind“, gesteht der  Ex-Chef.

Je länger Kai Diekmann von seinen 16 Jahren als Chefredakteur erzählt, desto nostalgischer wird das Publikum, nicht nur wegen der vielen Schwarz-Weiß-Bilder, die hinter ihm an die Wand geworfen werden. Sondern: Allen im Saal fällt ein, dass es tatsächlich einmal eine Zeit gab, als Redakteure mit Putin einfach ein Interview führen konnten und danach mit ihm in engen Speedos zum Strand laufen (Ja, es gibt das Foto mit Diekmann und Putin in Speedos). Die MeToo-Fälle der Stars waren noch nicht öffentlich und auch über Springer gab es noch keine Überschriften, in denen Chefredakteuren toxische Männlichkeit vorgeworfen wurde. Die ganze Buchvorstellung hat deshalb auch etwas von einem Veteranentreffen.

Doch Pinar Atalay will sich nicht zu sehr auf diese Nostalgie-Schiene lenken lassen, auch wenn sie auf der „Original-Couch“ sitzt, auf der schon Lady Gaga bei ihrem Besuch in der Bild-Redaktion gesessen hat. Bild hat sie in das Tempodrom bringen lassen, zusammen mit dem Gemälde vom Bild-Logo, das so arg ramponiert ist, ähnlich wie der Ruf der Redaktion nach dem Weggang Diekmanns. Atalay fragt, ob sein Führungsstil nicht auch erst den Weg geebnet habe für einen Nachfolger wie Reichelt? Wieder ein Moment, den Diekmann weglächelt, was soll er auch sagen über seinen berühmt gescheiterten Nachfolger?

Vielmehr nutzt Diekmann die Gelegenheit und holt zur Selbstkritik aus, die aber in ihrer großen Geste auch wieder etwas Selbstherrliches hat. Er sagt: „Es gibt unendlich viele Situationen“, sagt er, „zu denen ich jetzt sagen muss, das hätten wir anders machen müssen.“ Atalay nennt als Beispiel den Umgang mit Sibel Kekilli, einer Schauspielerin, mit der Springer ungewöhnlich hart umgegangen war. „Ja, Kekilli war so ein Fall“, gibt Diekmann zu, „und auch die Berichterstattung rund um die Agenda 2010.“ Doch bevor auch diese Frage zu ernst wird, sagt er: „Aber ich habe nichts Dümmeres gemacht, als den Penis-Prozess zu führen.“

Der Penis-Prozess geht auf einen Text in der taz zurück, die Diekmann eine Penisverlängerung angedichtet hatte. Er zog vor Gericht und erinnert sich noch jetzt schmerzhaft, wie Gerichtsdiener mehr Stühle in den Saal bringen mussten, weil so viele Journalisten über den Spaß berichten wollten. Doch inzwischen hat er sich mit der taz versöhnt. Auf die BER-Schlagzeile in der linken Tageszeitung „Berlin kriegt keinen hoch“ ist er noch heute neidisch.

So will er dann wohl auch in Erinnerung behalten werden in Berlin, wenn er sich mehr und mehr nach Usedom zurückzieht, wo er ein Haus besitzt, weit weg vom Medienrummel: Als einer, der mit Fehlern der Vergangenheit abgeschlossen hat und aus seinen Erlebnissen Dinner-Table-taugliche Anekdoten macht, bei denen vor allem einer gut aus allem herauskommt: Kai Diekmann. Als er der amtierenden Bild-Chefin Blumen überreicht, sagt er: „Das Leben bei Bild ist hart.“

Knutschen, kuscheln, tanzen: Für AnnenMayKantereit ist Berlin eine „treue Seele“

In der Mitte des Konzerts will Henning May wissen, wie alt das Berliner Publikum ist. Der 1992 geborene Frontsänger der Band AnnenMayKantereitbittet alle nach 1995 Geborenen laut zu rufen. Direkt danach die vor 1995 Geborenen. Henning May sagt nach diesem Test: „Dann ist es ja gleichmäßig verteilt.“ In der ausverkauften Parkbühne Wuhlheide sind einige im Publikum daraufhin verwundert, die eindeutig mehr Ältere gehört haben.

Interessanter wäre wohl die Frage gewesen, ob mehr Frauen oder Männer anwesend waren. Diese Frage wäre zumindest am Freitagabend, dem ersten von zwei Konzerten, eindeutig für die Frauen entschieden worden. Dabei ist die Musik von Christopher Annen, Henning May und Severin Kantereit so etwas wie die jüngere, verträumtere und vielleicht etwas vernünftigere Version des deutschen Folk-Rock-Pop: leicht eingängige Texte, die oft, aber nicht nur von vergangenen Beziehungen handeln.

Einer ihrer ersten Hits, „Pocahontas“, ist solch ein Lied. Es war auf dem Album „Alles Nix Konkretes“, das bei ihrem Berliner Label erschien und sie plötzlich bekannt machte. „Es tut mir leid, Pocahontas“, singt Henning May, „ich hoffe, du weißt das.“ Normalerweise würden sie das Lied weiter hinten im Set singen, sagt May, aber in Berlin wollte er es früher singen. Es endet mit: „Ich halt dich nicht fest, aber ich lass dich nicht los.“

So ungefähr lässt sich auch die Beziehung der Kölner Band zu Berlin beschreiben. So richtig warm geworden sind sie nie, die Spree ist nicht der Rhein und überhaupt, so sagt Henning May in einer Pause: „In Berlin essen sogar die Tauben Döner.“ Dann lobt er die Ambivalenz der Stadt und sagt zum Publikum: „Und es gibt Euch, wegen Euch ziehen wir nach Berlin, wegen Euch sind wir jetzt hier, Danke, Berlin, Du treue Seele.“

Die Parkbühne in der Wuhlheide ist für sie auch ein Schritt zurück zu ihren Anfängen. Viermal haben sie hier schon gespielt, das erste und zweite Mal noch im Jahr 2014 als Vorband für die Berliner Band Beatsteaks. Das war lange vor „Pocahontas“, aber nach ihrem wohl bekanntesten Lied, das Henning May 2013 geschrieben hat: „Oft gefragt“. Die Bühne strahlt bei diesem Song wie ein einziger Feuerball, und die ganze Wuhlheide singt: „Zuhause – bist immer nur Du.“

AnnenMayKantereit haben für ihre eineinhalbstündige Show die großen Hits mitgebracht: „Es ist Abend“ (klingt wie DER Berlin-Song), „3 Tage am Meer“ (beste Usedom-Stimmung), „Ozean“ (May: „Und jetzt bitte alle kuscheln“). Überhaupt gibt der Leadsänger zwischen den Liedern immer wieder Anweisungen, wie sich das Publikum am besten verhalten soll: knutschen, kuscheln, tanzen wie früher. „Und vor allem zwischen dem Kindl und dem Sekt nicht das Wasser vergessen.“ Da ist es wieder, das vernünftige Element dieser braven Boyband mit sensationellem Charisma.

Nicht alle Texte ergeben Sinn, auch dann nicht, wenn sie mehrfach mit einer sehr tiefen Stimme gehaucht werden: „Die Vögel scheißen vom Himmel und ich schau ihnen dabei zu.“ Ist das schon Medienkritik oder einfach ein schöner Sommersong über (mal wieder) eine verflossene Freundin, diesmal eben „Marie“?

Der schönste Song aus dieser Kategorie ist „Barfuß am Klavier“, und plötzlich kuscheln alle, ohne dass es jemand angeordnet hat. Als May den letzten Ton auf dem Klavier gespielt hat, schaut er auf und lächelt. Mitten in der Wuhlheide an einem Sommerabend ist dieses Lichtermeer der Beginn eines Moments, der ruhig noch ein paar Augenblicke länger hätte dauern können. Als letztes Lied singen sie „Ausgehen“ – und Henning May wünscht, wie ein Berliner, den Nach-1995-Geborenen „viel Spaß im KitKat“.

Konzert im Ausnahmezustand: Rainald Grebes großer Abschied in der Waldbühne

Rainald Grebe liegt im Krankenbett und sagt: „Wenn man eine unbekannte Krankheit hat, dann sind die Leitplanken einfach schwarz.“ Man könne was Schönes erleben, aber im Grunde sei alles schwarz. „Es war oft so im letzten Jahr, dass ich mich umbringen wollte, aber dann hab ich gemerkt, ich habe so vieles, das toll ist, ich habe eine Freundin, ich habe ein Kind, das toll ist. Und ich hab euch! Mein Gott!“

Das Krankenbett steht auf der Berliner Waldbühne und Grebe zeigt vor sich, und da sind 10.000 Zuschauer, von denen die meisten ihre Taschenlampen am Telefon angeschaltet haben. Die kleine Rede ist auch schon vorbei und alle auf der Bühne singen weiter: „Knockin’ on Heaven’s Door“ von Bob Dylan, bekannt geworden durch die Band Guns ’n’ Roses: „Es wird immer dunkler, zu dunkel, um noch etwas sehen zu können.“

Und wenn jetzt Rainald Grebe dieses Lied mit der Unterstützung von Freunden auf der Bühne singt, dann könnte man sagen, dass es ganz schön dick aufgetragen ist. Oder man erkennt den Moment darin. In der Waldbühne ist Grebe 2011 das letzte Mal aufgetreten, er kam damals mit Federschmuck auf dem Kopf auf einem Pferd eingeritten. Und hier nun soll mit „Halleluja Berlin“ das große Finalkonzertspektakel stattfinden.

Eingeladen hat er Freunde aus ganz Deutschland: die Dresdnerin Anna Mateur, den Berliner Bodo Wartke und den HipHopper Alligatoah. Dazu Tänzer, Turner, Puppenspieler und einen Chor von Psychologen, die Singing Shrinks von der Charité.

Vor Rainald Grebe tritt das Jagdhornblasensemble aus Köllnitz bei Storkow auf. Sie spielen „La Cucaracha“. Zu dem Zeitpunkt wissen viele im Publikum nicht, ob es wirklich zum Auftritt kommt. Zwischen den Bläsern werden Videos von Thomas Hermanns oder Olaf Schubert eingeblendet, die wortreich erklären, warum sie heute Abend nicht in der Waldbühne sein können. Das tut auch ein bisschen weh, weil die Bühne nicht ausverkauft ist, sondern nur etwas mehr als die Hälfte der Plätze.

Dann betritt Franz Schumann die Bühne. Er sagt, es sei nie ein gutes Zeichen, wenn er auf die Bühne müsse, denn er sitze sonst an der Technik. Man habe geprobt, doch jetzt: „Rainald sagt nun, er kann es leider nicht.“ Da unterbricht Grebe selbst per Video und ruft aus dem Krankenbett: „Doch, doch! Ich kann es doch!“

Im Laufe des Abends werden Grebe und Schumann erzählen, dass diese Szene ein Zitat war. Der Musiker hatte seinen ersten Schlaganfall auf der Bühne während eines Konzerts. Grebe schwitzte und in der Pause bat er Schumann, den Rest des Konzerts abzusagen. Er konnte sich nicht mehr an die Texte erinnern. Was danach passierte, hat Grebe in einem Lied verarbeitet: „Sind Sie nicht dieser Sänger von ‚Brandenburg‘?/Wir wissen nicht was Sie haben, aber wir checken Sie durch.“

Damals kam heraus, dass er Vaskulitis hat, eine seltene Entzündung der Blutgefäße. Bei ihm ist die Erkrankung auf die Hirnregion konzentriert, was in den vergangenen Jahren zu elf Schlaganfällen geführt hat. Mal konnte er nicht laufen wegen eines anhaltenden Schwindelgefühls, mal fehlen ihm Liedtexte, die er selbst geschrieben hat. Die Krankheit führt zum Tod, deswegen, so sagte er auch in der Berliner Zeitung, produziert er gerade „sein Spätwerk“. Er nimmt selbst diese Krankheit mit Humor.

Und so beginnt auch dieser vierstündige Konzertabend mit vornehmlich fröhlichen Liedern: „Volkslieder singen“ von 2007 und „Präsident“ von 2008. Schon da singen viele in der Waldbühne mit, auch die Stelle, wo er das N-Wort singt – und zur Sicherheit ruft: „Das war ein Zitat“. Bei „Prenzlauer Berg“ kann man kaum glauben, dass der Song schon zwölf Jahre alt ist: „Die Mieten sind bezahlbar, denn ich kann sie ja zahlen“ funktioniert jedenfalls heute noch besser als damals. Nur am Ende des Liedes wurde Grebe schon damals melancholisch: „Ich stehe Schönhauser vor dem Schmerzzentrum Berlin/Schöner Name, aber ich spüre rein gar nichts.“

Je länger der Abend dauert, umso eindeutiger werden die Verweise auf die Endlichkeit – des Abends und des Lebens. Er interviewt auf der Bühne einen Jäger und singt dann das Lied „Das Reh ist tot, die Sau ist tot“. Es werden Tiere auf die Bühne geholt, am Rand wedelt ein Papp-Elefant in Lebensgröße mit dem Rüssel.

Grebe macht mittendrin wirklich ernst mit dem Reden über den Tod. Er zeigt ein Foto von Martin Brauer, einst Drummer seiner Band, der vor zwei Jahren überraschend gestorben ist. „Er war eigentlich der Fitteste von uns allen.“ Er sei einfach beim Holzhacken gestorben. Grebe holt drei zusätzliche Drummer auf die Bühne und spielt massenkompatibel: „Ich bin das Beste aus der 70ern, 80ern, 90ern/Ich bin das Beste von heute/Ich bin massenkompatibel“.

Zwischendurch tritt immer wieder Grebes Freund René Marik auf, mal tanzt er einen seltsamen Striptease (ja, bis er komplett nackt ist) zu dem 90er-Jahre-Song „Creep“, mal ist er Gevatter Tod, der im Hintergrund gruselige Verrenkungen macht. Wie alle englischen Lieder an diesem Abend hat auch „Creep“ etwas von einem Abschied. „I don’t belong here“, singt Grebe. Später singt er zusammen mit Anna Mateur ausgerechnet: „I will survive“.

Einmal sieht es so aus, als mache Grebe das Time-out-Zeichen. Er formt die Hände zu einem T und sofort kommen zwei Mediziner in Orange auf ihn zugestürmt. Doch er winkt ab, die Rettungskräfte ziehen sich wieder zurück. Es bleibt ein Konzert im Ausnahmezustand. Wenn er später singt, er möchte gern auf der Bühne sterben, glaubt man es ihm.

Besonders die letzten 90 Minuten sind ein Feuerwerk an Höhepunkten: Wie Grebe mit Alligatoah vom „Raben“ singt, der plötzlich einfach weg ist. Wie beim „Trauerlied“ Grebe nur den Refrain singt: „Ihr schafft den Rest allein.“ Wie Bodo Wartke auf Finnisch ein Liebeslied singt. Wie Grebe die „Flugbegleiterin“ auf ihrem letzten Flug begleitet („Hier kommt die Tomatensaft-Schubse und dann Schluss“) und dann das Lied vom Tod („Der Tod wippt sachte mit der Hüfte/See you soon“). „Knockin’ on Heaven’s Door“ wieder mit der großen Anna Mateur, und dann auch noch das melancholische Lied „Die Fete“. Wieder singt das halbe Publikum mit: „Fete, geile Fete, ich zünd’ noch eine Rakete/Fete, geile Fete, was haben wir gelacht“. Es ist so entsetzlich, dass das der letzte Abend sein soll.

Und dann, wie um die Abschiedstränen für alle kollektiv herunterzuschlucken, schickt Grebe seinen alten Puppenspieler-Lehrer auf die Bühne. Hans Krüger mit einem Pflaster auf der Glatze zeigt exklusiv sein „Feuerwerk aus Holz“, ein absurdes Mitmach-Spiel für die ersten Reihen – zum Mitjohlen für die ganze Waldbühne: „Ooooooh, Peng!“ Das ist messy, handgemacht und albern – und vielleicht deshalb so einzigartig gut.

Zum Schluss dann das Lied, wegen dem ihn auch die Ärzte in der Charité erkannt haben: „Brandenburg“. Zuerst singt Grebe es einmal auf Sorbisch, um diese ethnische Minderheit zu würdigen. Und dann dürfen alle noch einmal auf die Bühne: „In Berlin bin ich einer von drei Millionen/In Brandenburg sollen jetzt auch Löwen wohnen/Brandenburg.“ Beim Refrain knallt beim Wort „Berlin“ ein richtiges Feuerwerk und die Berliner Flaggen fallen herunter. Es ist die ganz große Show, alle stehen auf, Grebe hebt die Arme, neben ihm das Krankenbett.

Es ist 22.52 Uhr als Grebe doch noch nicht nach Hause will. Und so spielen sie noch ein Lied, auch wenn sie damit den Anwalt ärgern, der laut Grebe hinter ihnen im Wald wohnt und dafür sorgt, dass kein Konzert länger als bis 23 Uhr dauert. Er spielt „Sandmann“, noch ein Abschied, diesmal einer, der in den Schlaf führt. „Und ich hab wieder nicht die Welt gerettet“, singt Grebe, „Dann macht’s halt ein anderer.“ In den Sekunden, bevor das Licht ausgeht, kann Rainald Grebe es wohl selbst nicht fassen, dass es das gewesen sein soll. „Vielleicht machen wir doch weiter“, sagt er noch, sichtlich gerührt von den Standing Ovations. „Ich sag mal: Auf Wiedersehen.“

Der 100. Tag im Bushido-Prozess: „Sie wissen noch immer nicht, wer wir sind?“

Nasser, Yasser, Arafat und Rommel Abou-Chaker kommen zusammen ins Landgericht in Moabit. Wie immer tragen sie lockere, weite Hosen. Es ist 12:57 Uhr, noch drei Minuten bis Prozessbeginn. An der Sicherheitsschleuse zum Saal 500 werden sie von einer Justizbeamtin gestoppt. Sie sagt streng: „Moment, bitte! Wer sind Sie?“ Nasser kann ein Lachen nicht unterdrücken. „Es ist unser 100. Prozesstag und Sie wissen noch immer nicht, wer wir sind?“ Die Beamtin ungerührt: „Ich habe Sie höflich gefragt, wer Sie sind.“

Die vier Brüder sind Angeklagte im Prozess von Rapper Bushido gegen die Abou-Chakers. Sie werden dann doch schnell vorgelassen in den Saal, in dem einst der Hauptmann von Köpenick und Erich Honecker verurteilt wurden. Hier läuft seit fast drei Jahren ein Prozess, der immer komplexer wurde und bei dem inzwischen nicht mehr klar ist, ob all die Erzählstränge jemals ein Bild ergeben werden, das ein eindeutiges Urteil möglich machen wird. So viele neue Nebenschauplätze wurden aufgemacht, so viele kleine Gaunereien kamen ans Licht aus dieser Halbwelt, in der sich Rap-Musiker und ihre Freunde aufhalten.

In diesem Fall muss es wohl besser heißen, dass sie sich dort aufgehalten haben. Denn das Ende einer Freundschaft ist das eigentliche Grundthema des Mammut-Prozesses. Arafat Abou-Chaker und der Rapper Bushido waren einst Geschäftspartner und Freunde, zumindest nach außen. Als Bushido diese Beziehung beenden wollte, unter anderem weil er sich ausgebeutet fühlte, kam es am 18. Januar 2018 zu einem Streit, von dem der Musiker behauptet, er sei genötigt, beleidigt, bedroht, geschlagen und eingesperrt worden. Ob dies allerdings für eine Verurteilung ausreicht, ist nach fast drei Jahren nicht mehr ganz so sicher, wie es anfangs schien.

Der Prozess hat zuletzt wirklich an Tempo verloren. Die vergangenen 20 Prozesstage brachten wenig Erkenntnisgewinn, es wurden immer wieder Audioaufnahmen besprochen, deren Echtheit letztlich fraglich ist. Es wurde eine Bushido-Dokumentation abgespielt, die eigentlich alle im Saal schon daheim auf Amazon geschaut hatten, und zwischendurch kamen Polizisten zu Wort, die sich nach mittlerweile fünf oder sechs Jahren nicht mehr an Details aus ihren Vernehmungen mit Bushido oder anderen Zeugen erinnern können.

Bevor allerdings der Zeuge befragt wird, hält Arafat Abou-Chakers Verteidigung ein T-Shirt in die Höhe, das dieser „von einem Fan“ geschenkt bekommen habe. Es ist olivfarben; darauf ist ein Gerichtsgebäude abgedruckt. Darüber steht: „Jubiläum 100. Prozesstag Abou-Chaker vs. Bushido“. Der Anwalt fügt leise an, dass die Reihenfolge ja wohl eigentlich umgekehrt sein müsse. Arafat Abou-Chaker selbst trägt das T-Shirt nicht an dem Tag. Meist trägt er teure Markenkleidung von Balenciaga, Vetements oder Gucci, was er oft lachend wie „Gucki“ ausspricht.

An diesem einhundertsten Prozesstag aber spricht er nicht viel mit anderen Beteiligten. Arafat Abou-Chaker ruft auch nichts dazwischen, sondern verhält sich ungewöhnlich zurückhaltend. Das kann daran liegen, dass die Befragung des Polizisten recht zäh abläuft. Es geht um den Rapper Shindy, der mit bürgerlichem Namen Michael Schindler heißt und ebenfalls mit bei Bushidos Label Ersguterjunge unter Vertrag stand. Als Bushido sich von Abou-Chaker geschäftlich trennte, betraf das auch andere Rapper, die sich entscheiden mussten.

Doch zum eigentlichen Tathergang am 18. Januar 2018 konnte Shindy nichts beitragen. Das macht der Polizist deutlich, der ihn vor rund fünf Jahren in Stuttgart befragte. Auch das ein ungewöhnlicher Vorgang: Der Zeuge weigerte sich, nach Berlin zu reisen, und so flogen die Polizisten nach Süddeutschland, um dort den Rapper zu befragen. Zu sämtlichen heiklen Themen aber schwieg Shindy damals im Gespräch, erzählt der Polizist vor Gericht. Und der Vorsitzende Richter erinnert sich korrekt: Auch vor Gericht sei Shindy nicht gesprächig gewesen.

Nach nur 45 Minuten endet die Befragung des Polizisten – ein Segen bei der Hitze im Saal 500 und dem angeschlagenen Mikrofon, das die Stimme des Polizisten beinahe unverständlich macht. Eigentlich sind drei Zeugen geladen, aber der Vorsitzende Richter rechnet offenbar selbst nicht mit einem hohen Erkenntnisgewinn durch deren Befragung. Die Krise des Prozesses ist einmal mehr offensichtlich geworden.

Irgendwann mitten in der Aussage klingelt das Mobiltelefon eines der Anwälte. Weil nur die Anwälte ihre Telefone behalten dürfen, ist dies ein sehr ungewöhnliches Geräusch, dass wohl an keinem der 100 Tage bisher vorgekommen ist. Es ist ein kurzer Moment, in dem eine Jazzmelodie durch den Raum weht und alle daran erinnert, dass es da noch mehr gibt, über das man sich Gedanken machen könnte. Es liegt etwas Dankbarkeit auf den Gesichtern im Saal für diese Unterbrechung.

Nach Podcast, Büchern und WhatsApp-Leaks: Sind die Springer-Festspiele vorbei?

Ganz am Ende von „Boys Club“ stellen sich die Macherinnen des Podcasts die Frage, was sie nach den anderthalb Jahren Recherche, nach Gesprächen mit 40 Mitarbeitern von Axel Springer, nach acht Folgen – was sie nach all dem gelernt haben. Die leicht dudelige Hintergrundmusik stoppt für einen Moment und in die Stille fragt Pia Stendera: „Was ist denn das Problem bei Axel Springer?“ Ihre Kollegin Lena von Holt windet sich erst, lacht dann verschämt und sagt schließlich langsam: „Dass mit Macht nicht verantwortungsvoll umgegangen wird.“

Aber wer verstehen will, was die Macht dieses Verlags genau ausmacht, der hat das leider in diesem Podcast nicht gelernt. Vielmehr hat es den Autorinnen Freude gemacht, Klischees von Machtstrukturen zu wiederholen, die inzwischen auch bei Axel Springer längst ironisch gebrochen oder zumindest offen angesprochen werden. Passenderweise verweigern sich die Autorinnen häufig der Einordnung mit Jahreszahlen, wo sich doch in #MeToo-Fragen seit dem Jahr 2017 so viel geändert hat.

Ein Beispiel ist eine eigentlich sehr eindrückliche Szene in Folge 7, als eine Bild-Mitarbeiterin eingeladen wird, von einem unangenehmen Erlebnis mit einem Vorgesetzten zu berichten. Es sei ein Compliance-Verfahren, hieß es, eine interne Ermittlung wegen Verstößen gegen Unternehmensregeln also. Die Mitarbeiterin musste damals das Wort nachschlagen, weil sie es nicht kannte.

Im Subtext sagt diese Szene aber auch: Axel Springer hatte schon ein Compliance-Verfahren, als andere noch nicht einmal ein Wort dafür hatten. Und ja, es mag sehr unbeholfen sein, wenn sich diese junge Frau im Verfahren ausschließlich mit drei Männern auseinandersetzen muss, die sie noch dazu nicht nach Beweisen fragen. Aber wann fand das Gespräch statt? 2016 oder 2021?

Im Prinzip vertont der Podcast die Geschichten, die in der New York Times, Financial Times und im Spiegel standen. Sie sind jetzt noch einmal in Benjamin von Stuckrad-Barres Roman nachzulesen und wurden mit verschiedenen WhatsApp-Nachrichten in der Zeit garniert. In dieser Woche erschien noch die Biografie von Reichelts Vorgänger Kai Diekmann, der im Podcast ebenfalls mit dem Thema Machtmissbrauch in Verbindung gebracht wird.

Doch das wirklich Ärgerliche an „Boys Club“ ist, dass die beiden Autorinnen ein Fazit ziehen, das den Anlass ihrer Recherche verwässert: Springer sei im Grunde überall, sagen sie, es gebe „andere Medienhäuser, DAX-Konzerne oder Anwaltskanzleien“, wo es ganz ähnlich laufe. „Und es ist wirklich so“, sagt Pia Stendera, „all die Dynamiken gibt es so oder so ähnlich überall, es sind Strukturen, die über Jahrhunderte gewachsen sind und den einen nützen und den anderen schaden.“

Und direkt danach erzählen sie von den Springer-Mitarbeitern, die sie kontaktiert haben und die froh sind, endlich bestimmte Strukturen ansprechen zu können. Haben die Autorinnen wirklich bis zur letzten Folge geglaubt, dass bei Axel Springer alle Mitarbeiter Teil einer gut geölten Machtmaschine sind? Haben sie erst dann gemerkt, dass selbst im Springer-Verlag Journalisten arbeiten, die einfach für gute Texte kämpfen, für ihre Recherchen brennen, ungeachtet von Ideologien oder hausinternen Kämpfen?

Das wundert dann doch. Je länger man den beiden Autorinnen zuhört, umso mehr fragt man sich, ob sie zur Vorbereitung nur Heinrich Böll und Günter Wallraff gelesen hatten. Wer wirklich verstehen will, wie die Macht ins Haus Axel Springer kommt, der muss die Amazon-Doku „BILD.Macht.Deutschland“ sehen, die noch zu Zeiten erschien, als Julian Reichelt Chefredakteur der Bild war. Wir sehen die Politiker, die bei Bild aus- und einkehren, den unaufgeräumten Schreibtisch und die Jungs-Runden bei Julian Reichelt im Büro, wo manchmal auch Frauen mitreden.

Das sind die Szenen, die in „Boys Club“ fehlen. Stattdessen erzählen junge Reporterinnen ganz ehrfürchtig, wie sie zum ersten Mal Business Class fliegen und wie beeindruckend das alles sei. Auch Funke, Burda und der Spiegel behandeln ihre Reporter ähnlich, ohne dass dort ein korruptes System dahinter vermutet wird.

Verwunderlich auch bis zum Ende der acht Folgen: An keiner Stelle von „Boys Club“ wird einmal benannt, wer denn jetzt die Mitglieder im engen Kreis um Julian Reichelt waren. Und welche Bedeutung hätte der Name Boys Club eigentlich, wenn ein Großteil nicht-hetero wäre? Schwamm drüber, der Club ist sowieso Geschichte.

Und vielleicht können wir jetzt wieder die Springer-Festspiele beenden und uns auf gute Geschichten konzentrieren, zum Beispiel die der Berliner Schulklasse, die vor einer Woche im Ferienlager in Brandenburg rassistisch attackiert wurde. Der erste Text darüber stand in der Bild, unter anderem geschrieben von Til Biermann (ja, der „Sohn von… “), der Chefreporter bei Bild ist und nie in einem Boys Club war.

Sören Kittel war sieben Jahre bei Axel Springer, davon zwei Jahre in der Axel-Springer-Akademie. Er hat in dieser Zeit bei der Welt/Berliner Morgenpost eine sehr diverse Redaktion kennengelernt.

Roman als Pulverfass: Stuckrad-Barre und das Ende seiner Freundschaft zu Döpfner

Vielleicht ist es ganz passend, die Rezension eines sogenannten Schlüsselromans mit dem Zitieren von SMS zu beginnen. Auf der Seite 293 werden mehrere SMS zitiert, die der Chefredakteur einer Tageszeitung an mehrere Frauen geschrieben hat. Vorgelesen werden sie in einem Videochat und die Frauen müssen zum Teil selbst lachen, wie schablonenhaft sie geschrieben sind. Sie klingen so: „Du bist so schlau und schön“, „Heute um 22 Uhr in meinem Büro?“, „Melancholisches, schlafloses, sehnsüchtiges Andichdenken.“ Und etwas ungelenk: „Ich will dich mit jeder deiner Fasern spüren.“

Auf dem Titel des neuen Romans von Benjamin von Stuckrad-Barre steht ebenfalls eine dieser SMS: „Noch wach?“ Das Buch ist seit diesem Mittwoch im Handel, hat 380 Seiten und eine digitale Version wurde erst um 10 Uhr morgens an Journalisten verschickt. Normalerweise erhält man Tage oder Wochen vor Erscheinen eines Buchs die Druckfahnen, um sich auf die Besprechung vorbereiten zu können. Möglicherweise sollten so einstweilige Verfügungen oder Auslieferungsverbote verhindert werden. Manche munkeln, dass es diese trotzdem geben könnte, und das Buch bald wieder vom Markt verschwinden müsse. Denn es liest sich nicht, als habe der Autor hier eine fiktive Geschichte aufgeschrieben, sondern vielmehr so, als habe er das Wort Roman als Schutzbehauptung auf das Cover drucken lassen.

So machen wir das hier am besten auch und weisen darauf hin, dass die in dieser Kritik enthaltenen Informationen ihren Ursprung in der Lektüre eines fiktionalen Textes haben. Gleichwohl lassen sich sämtlichen Protagonisten ohne Mühe reale Personen zuordnen, und es ist nicht davon auszugehen, dass sie zugestimmt haben, in einem Buch so beschrieben zu werden, allen voran Kai Diekmann, Julian Reichelt, Mathias Döpfner. Stuckrad-Barre zieht sich in einem Hinweis hinter die Behauptung zurück, das Buch sei nur „inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen“. Er habe nicht den Anspruch, Personen „authentisch wiederzugeben“.

Das wird nicht verhindern, dass viele Leserinnen und Leser „Noch wach?“ als nicht autorisierte Biografie und Fallstudie über den Verlagsgeschäftsführer Mathias Döpfner lesen werden. Die an Döpfner angelehnte Figur im Buch besucht den Ich-Erzähler in den USA, baut mitten in Berlin ein neues Verlagshaus auf, gründet einen Fernsehsender mit einem neuen Chefredakteur, vertritt im Laufe der Zeit immer radikalere politische Ansichten und verliert zunehmend die Bodenhaftung.

Zum ersten Mal taucht der „Freund“ im dritten Kapitel auf. Sie sitzen zu zweit in einem Sportwagen auf dem Weg von Los Angeles nach San Francisco und reden vertraulich. Mehrere Führungskräfte des großen Berliner Verlagshauses sind an die Westküste der USA geflogen, um sich weiterzubilden über die Start-up-Industrie des Silicon Valley. Alles Männer, die Musik in ihren Autos hören, umso lauter, je näher ihre Scheidungen gerückt sind, wie der Erzähler genüsslich kommentiert. Auch der Chefredakteur, der nachts unangemessene SMS verschickt, ist mit dabei. In einem Geländewagen mit Panzeroptik. Eindeutig: Julian Reichelt.

Stuckrad Barre schreibt: „Angeschnallt waren wir, trotz FREIHEIT. Freiheit war ja ganz wichtig; sein LEBENSTHEMA, wie mein Freund immer wieder überall betonte, er hatte geradezu eine Freiheitsobsession, was in sich irgendwie unfrei wirkte, aber auch dafür liebte ich ihn natürlich.“ Es läuft Jazzmusik und dieser Verlags-Vorstand weiß offenbar nicht, dass er diese Internet-Radiosender auch in Deutschland hören kann, er will Netflix kaufen und schaut nie fern. Und dann, etwas unvermittelt, sprechen die beiden Männer über einen Vorwurf der sexuellen Belästigung durch einen ehemaligen Bild-Chefredakteur.

Ja, im Buch wird die Bild immer wieder genannt, auch der Springer-Verlag wird mit Namen bezeichnet, darüber hinaus sind keine Namen der Protagonisten erkennbar. Bild TV wird nur „ein Nachrichtensender“ genannt und die New York Times wird hinter dem Pseudonym TransAtlantic versteckt.

Doch zurück zum Beinahe-Autorennen vor kalifornischer Kulisse: So früh wird also das Thema Machtmissbrauch eingeführt. Stuckrad-Barre schreibt: „Schlimme Geschichte, sagte mein Freund. Aussage gegen Aussage, die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren dann ja eingestellt. Aber das war schon alles sehr merkwürdig.“ Es geht um nächtliches Nacktbaden und einen versuchten Übergriff. Interessante Zusatzinformation: Der Nachfolger als Chefredakteur soll in dieser Nacht das mutmaßliche Opfer auf einer Bank fotografiert haben, was später entlastend gewirkt haben soll: Die Frau sitzt da, trinkt Wein und raucht. „Nichts Schlimmes passiert.“

Teilweise liest sich das Buch wie eine Abrechnung. Auffällig, dass der Autor wie die Bild-Zeitung immer wieder Großbuchstaben in seine Sätze einbaut. Diese Worte ragen wie Pfeiler aus dem Text, ohne jedoch inhaltlich unbedingt betont zu werden: „Ich hatte mich für diesen Typen nie interessiert, weder für ihn noch für das, was er da so sendete in seinen immer verrückter werdenden POLITIKFENSTERN (…). In Tonlage, Infamie und Dauerhetze ahmte er überdeutlich den amerikanischen Lügenprediger Tucker Carlson nach, SENDERINTERN nannte man ihn, wenn er gerade nicht in der Nähe war: Tucker Carlson für geistig NOCH Ärmere.“

An Handlung enthält das Buch nur wenig. Der Erzähler verliebt sich in eine Springer-Mitarbeiterin, die zu dem weiten Netzwerk des Bild-Chefs zählt. Er fliegt zwischen Los Angeles und Berlin hin und her, auch, weil sein „Freund“, der Verlagschef, ihm diese finanzielle Unabhängigkeit überhaupt erst ermöglicht hat. Reale Personen wie Palina Rojinski, Lars Eidinger, Sophie Rois und Elon Musk tauchen auf, Szenen, über die verschiedene Medien berichteten, wie der absurde Auftritt des Tesla-Gründers in Brandenburg. Im Zentrum dieser Szenen steht die immer wackeligere Freundschaft zum Verleger.

Ein erster Bruch ist die Berichterstattung über den Fall Kasia L., im Buch nicht mit Namen benannt. Die 25-Jährige hat sich vor zwei Jahren das Leben genommen, nachdem in der Bild-Zeitung ein Fußballer-Interview mit Anschuldigungen gegen sie abgedruckt wurde. Im Roman streitet sich die Döpfner-Figur vor der Schaubühne mit einer Figur, in der man einen bekannten Berliner Medienanwalt erkennen kann. Der Anwalt empfiehlt dem Verleger: „Lesen Sie mal lieber Böll heute Abend, ‚Die verlorene Ehre der Katharina Blum‘. Und dann stellen Sie den Sendebetrieb ein.“ Der Verleger nennt den Anwalt einen Heuchler und verweist auf die Pressefreiheit. Der Erzähler urteilt nach dieser Szene über seinen Freund: Er habe „in letzter Zeit zu streiten verlernt“, seit „er die UNSELIGE Entscheidung für diesen Chefredakteur getroffen hatte“.

Alles, was schiefläuft, so die These dieses Buches, begann mit dieser an Reichelt angelehnten Figur. Langsam entspinnt sich im zweiten Teil des Buches dann die Geschichte, die schon vom Spiegel und der New York Times detailliert aufgeschrieben wurde: Mehrere Frauen erzählen ihre Geschichten mit dem Chefredakteur. Vergewaltigt wurde keine. Aber wie freiwillig ist ein sexuelles Verhältnis, wenn Frauen es mit einem Chef eingehen, der über ihre berufliche Zukunft bestimmen kann? Oder wie Stuckrad-Barre schreibt: „Sie wollten Benachteiligung wegen Nichtvögelns verhindern.“

In Kapitel 14 erzählen nicht nur die Frauen ihre Geschichten im O-Ton („Hat der bei euch auch immer nachts so völlig hysterisch rumgeheult und dauernd diese ganze Scheiße vom Krieg erzählt?“), sondern auch der Autor selbst. Er berichtet vom Übergriff eines älteres Mannes, als er mit 19 Jahren zu einer Privatparty ging, Drogenwaren im Spiel. Als er von dem Mann belästigt wird, kann er sich nicht rühren. Mehr noch: Ihm ist peinlich, dass er sexuell nicht erregt ist. „Aber es war toll, in einem Hotel zu sein“, schreibt er. „Und immer, wenn ich diesen Typen später traf, war mein Gefühl ihm gegenüber: Du hast noch was gut bei mir.“

Während solche Stellen erschütternd und dicht sind, verlieren andere Passagen deutlich an Fahrt. Vielleicht soll das einen Rhythmus erzeugen. Das Buch verhandelt immer wieder recht brisante Enthüllungen aus der realen Welt, deutet sie an, doch das reale oder fiktive Liebesleben des Erzählers vor idyllischer Hotelkulisse ist einfach ungleich uninteressanter. Die Passagen über das Leben im Hotel wirken wie Werbepausen in einem Thriller.

Denn das ist das eigentlich Neue über die Affäre Reichelt, das in diesem Buch enthüllt wird. Der Verleger, so deuten es die vielen Begegnungen mit dem Ich-Erzähler an, muss sehr früh gewusst haben, wen er zum neuen Chefredakteur gemacht hat und welche Praxis dieser mit untergebenen Frauen pflegt. Dass er das entweder nicht so schlimm fand oder gar deckte, deutet dieses Buch zumindest an. Schon auf der Autofahrt am Anfang werden erste Vorwürfe laut, doch wie reagiert der Verleger: „Er brauche Namen und Screenshots, sagte mein Freund ernst. Dann werde er DURCHGREIFEN. Er nehme das SEHR ERNST und werde dem NACHGEHEN.“ Und sonst? Dann seien die Frauen eben selbst schuld. Dieser Ausflug der Springer-Chefs ins Silicon Valley, er fand wirklich statt, im Juni 2012.

Das Buch endet, als der „Freund“ zum „Ex-Freund“ wird. Er sei gewarnt worden, sich mit dem Verleger anzulegen, schreibt der Erzähler. „Meinen Namen auf einer von Journalisten enthüllten FEINDESLISTE zu finden, die mein Ex-Freund und der Chefredakteur in ihrer Argumentationsnot offenbar erstellt hatten, das fand ich ja beinahe noch lustig.“ Zudem wurde ihm ein Drogenrückfall angedichtet. Er überlegt noch, „einen gemeinsamen Langzeitdrogentest einzufordern“. Verleger und Drogen kommen hier ganz am Ende in einem Satz vor. Vielleicht der gemeinste von allen. Aber der Erzähler entschied sich gegen diesen Test, er wollte wieder nach Los Angeles in sein Hotel. Vielleicht arbeitet er dort am Film.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Noch wach? Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 380 Seiten, 25 Euro

Wie Kafka auf LSD: Tori Amos bekennt sich in Berlin zu ihrer großen Liebe

Beim dritten Lied gerät Tori Amos zum ersten Mal in Trance, sie sitzt an ihrem Flügel, wirft wie beim Heavy Metal ihre roten Haare vor und zurück und singt eine kurze Textpassage in Dauerschleife, bis auch die 3000 Zuhörer ihr in die Trance folgen. Beim Lied „Crucify“ ist es die Textzeile „Never going back“. Immer wieder ruft sie also: „Niemals zurückgehen, niemals zurückgehen …“ Und beim 20. Mal wird allen klar, dass sie abgeschlossen hat und auch wir Zuschauer und auch Sie als Leserin oder Leser abschließen sollten mit dem 90er-Jahre-Bild von Tori Amos. Die Frau, die hier vor uns sitzt, die hat ganz andere Dinge vor.

Tori Amos bildete zusammen mit PJ Harvey und Björk das Indie-Triumvirat vor rund 30 Jahren. Ihr Debut „Little Earthquakes“ haben Musiker wie Taylor Swift und Justin Timberlake als Inspiration für ihre Karriere angegeben. Und auch die Alben, die danach folgten, gaben Generationen ein unlösbares Puzzle an Texten und Referenzen, die wohl nie entschlüsselt werden. Selbst der Text ihres bekanntesten Hits „Cornflake Girl“ liest sich wie Kafka auf LSD: „Ich war nie ein Cornflake-Mädchen, dachte, es wäre eine gute Idee mit den Rosinen-Mädchen abzuhängen.“ What?

Doch als Eröffnung für ihren Abend hat Tori Amos ein anderes Stück gewählt, schließlich wird am Ostermontag in den Kirchen der Sieg des Lebens über den Tod gefeiert. Und so betritt sie die Bühne in einem schwarz-weiß gescheckten Hosenanzug/Kleid/Priestergewand und violetten Pumps. Im Hintergrund grooved schon ihr früher Hit „God“ von ihrem zweiten Album „Under the Pink“. Immer wieder fragt sie den Dreifaltigen: „Brauchst du eine Frau, die sich um dich kümmert?“ Immerhin, „seine Gänseblümchen“ seien ja ganz hübsch gelungen.

Was für ein grandioser Einstieg in das Œuvre der 59-jährigen Sängerin, nicht nur an Ostern, sondern überhaupt. Laut Gerüchten sollte sie bei ihrer Europa-Tour sehr viele Lieder ihres aktuellen Albums spielen. Doch dieser Start macht allen klar, dass auch dieser Abend eine Reise durch ihre 16 Alben sein wird. „Wir werden einige Überraschungen erleben“, sagt Tori Amos, „schließlich ist das hier das Tempodrom, und dieses Haus macht etwas mit mir.“ Wörtlich sagt sie: „Ich liebe, liebe, liebe, liebe, liebe, liebe, liebe diesen Ort so sehr.“ Und verbeugt sich wie immer bis zum Boden vor ihrem Publikum.

Doch leider werden diese Worte die einzigen sein, die sie mit dem Publikum direkt austauscht. Wer Aufnahmen ihrer US-Konzerte gehört hat, weiß, wie sie zur Geschichtenerzählerin werden kann, wie sie über ihre Lieder spricht, als wären sie alte Freundinnen (Pronomen she/her) von ihr. Warum bestimmte Lieder an einem Abend nicht „zu ihr kommen wollen“ und andere Lieder sich quasi aufdrängen: „Spiel mich, Tori, ruft sie mir zu.“ Doch in Berlin ist diese Welt der versponnenen Dialoge mit ihrer Setliste verschlossen. Man könnte auch sagen: Sie spielt einfach ihr Programm herunter.

Aber das wiederum wird dem nicht gerecht, was geboten wird: Das Publikum im ausverkauften Tempodrom erkennt meist frühzeitig, welchen Song sie gerade anspielt, und jubelt, sobald klar ist, welcher Song jetzt kommt. Dabei sind darunter keine Hits wie „Winter“, „Caught a Light Sneeze“ oder „A Sorta Fairytale“. Sie hat unbekanntere Lieder mitgebracht, die aber auf der Bühne zu echten Juwelen werden: „Climb“ von „Native Invader“, „Body & Soul“ vom Album „American Doll Posse“ und „Spring Haze“ von „To Venus and Back“.

Besonders letzteres Stück weitet sie auf eine ganze Jamsession aus mit ihren beiden Musikern an Bass und Schlagzeug. Die Bühnenshow ist dabei zurückhaltend, aber gleichzeitig effektvoll: Im Laufe des Abends wird allein durch Lichter die Bühne in Höllenfarben erscheinen, zur Unterwasserwelt werden oder sich in ein Eisgefängnis verwandeln. Für „Pandora’s Aquarium“ wird der Raum in dunkles Blau-Grün getaucht, und „Doughnut Song“ singt sie vor einem mächtigen Sternenhimmel.

Höhepunkt des Abends ist sicherlich zum einen das leise Cover „Easter Parade“ von Irving Berlin, das sie wohl extra für Ostern spielt – und schließlich ihre Variation von „Icicle“, die fast wie ein komplett neuer Song erscheint, dem man die mehr als 30 Jahre nicht anmerkt. Die Lichter bilden große Säulen, die am Ende aufbrechen und Richtung Publikum scheinen, es miteinbeziehen, während Tori Amos auf der Bühne die Hände von den Tasten nimmt, auf ihr Herz zeigt und singt: „Feel the word.“ Dann ist sie wieder in Trance und wiederholt mindestens 20-mal: „Fühl das Wort, fühl das Wort, fühl das Wort …“

Erst fast am Ende spielt Tori Amos ihren Hit „Cornflake Girl“, und rund die Hälfte des Saals singt textsicher mit beim Lied über die „Rosinen-Mädchen“. Die ersten Fans wollen schon zur Bühne stürmen, doch die Platzanweiser halten sie zurück. Das soll erst bei der Zugabe erlaubt sein, die sich direkt anschließt. Tori Amos wird den Depeche-Mode-Hit „Personal Jesus“ spielen und zum Abschluss „Take to the Sky“. Es ist ein Lied darüber, dass man denen nicht zuhören sollte, die einem immer wieder sagen, dass ein Weg nicht der richtige sei. Tori Amos, die Frau, die mit nur einem Flügel um die ganze Welt fliegen kann, weiß davon viel zu erzählen.