Category: Ausland
Der Phallus-Park von Südkorea
Als wir vor dem Park stehen, verlässt mich kurz der Mut. Das Kartenhäuschen ist geschlossen, und die Tore sind eindeutig zu. Doch ich kann mich neben dem Kassenhäuschen an einem Mauerstück leicht vorbeidrücken. Und schon stehe ich in einem Park, den zunächst nichts von anderen Parks unterscheidet. Ich laufe einen langen, kurvigen Weg entlang. Ein Gärtner jagt mir einen Schrecken ein, aber da er nur kurz aufschaut und nichts sagt, laufe ich weiter. Da steht er: der erste Penis.
Er hat ein Gesicht, ist ungefähr zwei Meter hoch und grinst wie aus einem Asterix-Comic, aus seinem Peniskopf wächst eine Nase, die auch aussieht wie ein Penis. Daneben steht noch eine Statue, deren Kopf wieder sehr phallisch aussieht, nur dünner, und er lächelt nicht, sondern schaut eher erschrocken.
Dieser Penis hat eine normale Nase, aber weiter unten wächst ein Glied, es steht wie ein Ast ab. Daneben steht eine Holzbank und ein Steinhocker, beide sind wieder entsprechend geformt. Ohne mich hinzusetzen, laufe ich weiter, und plötzlich stehe ich im Penispark.
Das Internet ist voller Bilder von Männern und Frauen, die diese Steine umarmen, küssen, auf ihnen sitzen. Große US-Medien waren hier, von der schönen Höhle bei Samcheok und dem Strand haben sie nichts geschrieben. Der Park heißt offiziell Haesindang-Park und liegt an der Ostküste Südkoreas, südlich der Stadt Samcheok in der Provinz Gangwon-do.
Benannt ist er nach dem Ritual, das hier zweimal im Jahr durchgeführt wird. Dabei wird dem Mädchen Auebawi gehuldigt. Diese junge Frau soll vor vielen Jahren ihre Liebe einem jungen Fischer versprochen haben. Der Verlobte setzte sie eines Tages an einem Felsen im Meer ab, damit sie dort Seegras sammeln konnte. Er wollte sie am Nachmittag wieder mit seinem Boot einsammeln, aber wegen eines Sturms erreichte er den Felsen nicht. Auebawi ertrank und der Fischer hatte große Schuldgefühle.
Nirgendwo steht mehr über ihn, aber ich bin mir sicher, er hat sein Leben lang gelitten. In den folgenden Wochen und schließlich Monaten waren die Netze der Fischer fast immer leer, wenn sie am Abend ans Ufer zurückkehrten. Das Meer schien ihnen nicht mehr gewogen, sagten die Alten im Dorf.
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Eine Legende besagt, dass die jungen Fischer sich an das Ufer stellten und dem Meer kollektiv regelmäßig ihr erigiertes Geschlechtsteil zeigten. Außerdem haben die Dorfbewohner damit begonnen, Statuen von Penissen aufzustellen. Eines von beiden muss funktioniert haben, die Dorfbewohner konnten den Geist der traurigen, unverheirateten Jungfrau Auebawi besänftigen.
In Südkorea gilt nach wie vor der Glaube, dass Geister von Verstorbenen nicht in das Jenseits gelangen, wenn noch Rechnungen offen sind. Die Bewohner des Dorfes fanden wieder Nahrung im Meer.
In den 90er-Jahren hatte die Lokalregierung die Idee, den etwas wilden Park auszubauen und bat südkoreanische Künstler, eigene Penisstatuen herzustellen. Und jetzt stehen 56 verschiedene Pfähle verteilt in diesem Park, es gibt ein Museum, in dem angeblich auch weibliche Geschlechtsteile gezeigt werden (leider eben heute geschlossen).
Es gibt eine große doppelköpfige Penisschaukel, eine Statue, die statt Zunge einen Penis hat, eine Schildkröte mit einem Peniskopf, zwölf Statuen der chinesischen Tierkreiszeichen (mit großen Penissen) – und Penisse als Windspiel, als Glockenschlaginstrument, als Trommel, als Springbrunnen und schließlich, als Höhepunkt: eine goldene Phalluskanone, die sich bewegen lässt. Vor dieser Kanone steht ein südkoreanisches Paar mit einem Kinderwagen, und der Mann lässt sich hinter der Kanone fotografieren.
Ich dachte, ich wäre allein im Park. Er ist schließlich geschlossen. Aber plötzlich sehe ich, wie unten am Hang, bei einem zweiten Eingang, immer mehr Menschen die Absperrung übersteigen. Sogar ein Reisebus hält auf dem Vorplatz, und die ganze Gruppe betritt den Park, illegal. Offenbar stört es niemanden, kein Aufpasser hindert sie daran. Aber dieser ganze Park ist eine Ausnahme von den sonst so strengen Regeln in Südkorea.
Nur nach außen wird Sexualität in Südkorea ausgeblendet
Ich hatte das Land bisher als sehr sittenstreng wahrgenommen. Südkorea ist bekannt dafür, pornografische Seiten im Internet zu sperren. Ein Kollege interviewte einmal einen solchen Online-Sittenwächter. Er sagte, es sei wie „Schneeschippen im Schneesturm“, eine unmögliche Arbeit. Er sagte auch, die wohl am häufigsten aufgerufene Seite in Korea ist die, auf der ein Comic-Polizist rät, sich bei der zuständigen Dienststelle zu melden. Sie erscheint, wenn jemand eine pornografische Seite aufrufen will.
Auch im Alltag wird Sexualität ausgeblendet, fast wie Deutschland vor der sexuellen Revolution: Unverheiratete dürfen nicht zusammenwohnen, Mädchen sollen jungfräulich in die Ehe gehen, in den südkoreanischen Seifenopern wird eine Liebesbeziehung durch einen Kuss auf den Mund belegt – und als der Bürgermeister von Seoul sich in einem Interview indirekt für die Homo-Ehe in Südkorea aussprach, wurde er von der (mehrheitlich) konservativen Presse im Land dafür hart verurteilt. Er ruderte zurück, was ihm wiederum die liberale Presse nicht verzieh.
Ich hatte in Seoul einmal Südkoreas bekannteste TV-Sex-Beraterin getroffen, Bae Jeong-won. Eine Frau wie eine Schamanin, im Büro standen Blumen auf dem Tisch, im Hintergrund lief Klaviermusik von Bach, als sie mir sagte, dass dies alles nur die Oberfläche sei. „Nach außen zeigen wir viktorianische Strenge, aber im Grunde sind wir sehr wild.“ Nur sei diese Seite versteckter und leiser.
Das habe mit dem Konfuzianismus zu tun. „Jungen und Mädchen müssen ihren Eltern wenigstens vorspielen, ein guter Sohn oder eine gute Tochter zu sein.“ Was sie dann wirklich tun, ist eigentlich deren Sache.
Als ich ihr von dem Penispark erzählte, musste sie lachen. Natürlich war sie schon da. Sie sagte: „Diese Orte sind wie eine Befreiung für uns Südkoreaner. So wie Amsterdam in Europa die Stadt ist, von der viele denken, dort sei alles erlaubt, so haben wir Südkoreaner diesen Park, wir laufen durch die Peniswälder, und an diesem Ort ist es kein Problem, auch über Sex leicht zu reden.“
Der Park ist an einem Hang angelegt, unten brechen sich die Wellen an einem Pier. Dort sind auch Statuen aufgebaut, Männer, die mit geöffneten Hosen sich grinsend in Richtung Meer befriedigen. Als die Busreisegäste dort vorbeilaufen, fassen sie die Statuen an und stellen sich zu Gruppenfotos mit Penis auf.
Eine US-Zeitung nannte diesen Park einmal den „seltsamsten Wald der Welt“. Nur in einer Ecke wird es ernst. Dort steht ein Schrein für Auebawi, die daran erinnert, das jemand sterben musste, damit es diesen Park der Befreiung geben kann. Eine Statue eines Mädchens mit gesenktem Kopf ist in einem kleinen Tempelpavillon aufgestellt. Viele frische Blumen liegen davor. Ihr Geist wird noch immer besänftigt, mit Blumen und lachenden Geschlechtsteilen.
Ich blicke mich noch einmal um, all die Holzstämme, die auch etwas Kindlich-Unschuldiges an sich haben. Aber wenn es einen Zweck erfüllt, dann hat vielleicht Auebawi mehr für die Liberalisierung des Landes getan, als es eine TV-Sex-Kolumne hätte jemals schaffen können.
Bae Jeong-won hatte am Ende unseres Treffens seufzend gesagt, dass ihre Aufklärungssendung im öffentlichen Sender eingestellt wurde, kurz nachdem Park Geun-hye Präsidentin wurde. Die konservative Partei wollte keine Sexgespräche mehr im Fernsehen.
Erschienen in Die Welt, 11.12.2016
Der letzte Besuch bei den Waranen von Komodo
Ishak Ata Modo hat zwei Lieblingssätze, die er bei jeder Führung unterbringt. Einer lautet: „Die weiblichen Komodowarane sind um ein Vielfaches aggressiver als die männlichen.“ Das lässt jeden in der Reisegruppe aufhorchen, und auch dieser Spruch verfehlt nie seine Schockwirkung: „Frisch geschlüpfte Warane rennen instinktiv auf einen Baum, sonst frisst sie das Muttertier.“
Der 40-Jährige ist seit fast 20 Jahren Guide auf der indonesischen Insel Komodo, inzwischen Vorsitzender der Naturführer, und er genießt es, sein Publikum mit Fakten zu erschrecken. Neuerdings gehört ein weiterer Satz zu seinem Standardrepertoire, der ihn allerdings gehörig nervt: „Nein, Komodo wird 2020 nicht schließen!“
Während seiner Touren wird Ishak seit Monaten immer wieder gefragt, was denn nun dran sei an den Behauptungen, Komodo werde bald komplett für Besucher gesperrt. Das seien nur unausgegorene Gedankenspiele lokaler Politiker, entschieden sei noch gar nichts, entgegnet er dann, und man merkt ihm seine Wut an. Schon jetzt hätten große Reiseveranstalter für das kommende Jahr ihre Buchungen abgesagt, der Schaden gehe in die Millionen.
Ishaks tropische Heimatinsel ist berühmt für ihre Warane: urzeitliche Echsen, die bis zu drei Meter lang werden, die Hirsche, Affen und Wildschweine vertilgen können und nur auf Komodo und einigen Nachbarinseln leben. Ihr Bestand ist bedroht, sie stehen auf der Liste der gefährdeten Arten.
Doch weil die Riesenwarane so selten und so Furcht einflößend sind, sind sie eben auch eine Attraktion. Und genau das ist ein Problem, denn die Besucherzahlen auf Komodo steigen seit Jahren, von 44.000 im Jahr 2008 auf 176.000 Besucher 2018. Das bedeutet mehr Müll, den niemand entsorgt, mehr Boote, deren Anker die Korallen beschädigen, und eine zunehmende Störung der Warane in ihrem natürlichen Lebensraum.
Ende März flog dann noch ein Schmugglerring auf: Die Gauner hatten versucht, fünf Baby-Drachen auf Facebook zu verkaufen, zuvor hatten sie laut Polizei 41 Komodowarane für bis zu 32.000 Euro pro Stück verscherbelt. Der neu eingesetzte Gouverneur nutzte den Skandal, um ein Exempel zu statuieren.
Er sagte öffentlich, dass sich im Umgang mit den Tieren etwas ändern müsse, denkbar sei auch eine vorübergehende Schließung der Insel, um die Warane zu schützen. Eine Regionalzeitung schrieb zuerst: „Gouverneur will Komodo 2020 schließen“.
Die Meldung ging um die Welt. Allerdings hatte die Sache einen Haken: Die Schließung war nur eine Idee, beschlossen hatte und hat sie niemand.
Seit einem halben Jahr ist Ishak Ata Modo nun damit beschäftigt, die Folgen dieser Meldung einzudämmen und dafür zu kämpfen, dass die Insel nicht geschlossen wird. Sein Argument: Der Tourismus habe zwar in den vergangenen Jahren zugenommen, aber die Besucher hielten sich nur in einem kleinen Gebiet an der Küste auf und kämen ohnehin nur für zwei, drei Stunden. Tatsächlich buchen die wenigsten eine Tour mit Übernachtung auf Komodo.
Achmad Ariefiandy von der Umweltorganisation Komodo Survival Program bestätigt, dass das touristische Gebiet weniger als zwei Prozent der Gesamtfläche der Insel ausmacht. „Aber es kommt immer wieder vor, dass Touristen unerlaubterweise Sperrgebiete betreten und dort sogar Warane füttern.“ Ergo: Je weniger Besucher, desto besser für die Warane.
Ishak hält dagegen. Touristen liefen stets in 20er-Gruppen mit einem Guide über die Insel, auf vorgegebenen Pfaden. Die Chance, unter einem Palmenblatt oder auf einer Lichtung Warane zu sichten, sei groß, eine Garantie gebe es allerdings nicht. An manchen Tagen zeige sich keine einzige Echse. „Dann zeige ich den Besuchern eben Giftschlangen oder Giftspinnen.“
Ohne großen Stock würde Ishak den Wald nicht betreten: „Warane sind unberechenbar, sie können ganz plötzlich sehr aggressiv reagieren und sehr schnell rennen.“ Mit dem Stock hält er sie auf Abstand und erklärt, dass ihr Speichel ein Bakterium enthält, das die Heilung von Bisswunden verhindert. „Erst voriges Jahr ist wieder ein Mensch gestorben, der hier gebissen wurde.“
Ishak Ata Modo wurde 1978 auf Komodo geboren, in einem von zwei Dörfern, die es auf der Insel gibt. Er ist mit Waranen aufgewachsen. Rund 2000 soll es auf Komodo geben, ihre Zahl gilt seit Jahren als stabil. Auf der Nachbarinsel Rinca leben noch einmal gut 3000 Tiere. „Die Biester lassen sich aber schwer zählen“, sagt Ishak, schließlich würden sie zwischen den Inseln auch hin und her schwimmen.
Die komplette Schließung Komodos ist inzwischen vom Tisch. Die lokale Regierung hat eine neue Idee präsentiert: eine saftige Eintrittsgebühr von 1000 US-Dollar. Mit der dürften sogenannte Premium-Kunden dann ein Jahr lang alle Inseln des Komodo-Nationalparks besuchen, auf Komodo übernachten und auf exklusiven Touren die Insel erkunden.
Doch auch dieses Konzept ist noch keine beschlossene Sache. „Es wird frühestens 2021 Änderungen geben“, sagt Achmad Ariefiandy vom Komodo Survival Program. Vorher werde eine umfassende Studie durchgeführt.
„Ein Team aus Experten und Politikern hat dafür ein Jahr Zeit und wird dem Umweltminister Ende 2020 Bericht erstatten.“ Es solle eine Lösung gefunden werden, die den Bedürfnissen der Tiere, der Touristen, aber auch der lokalen Bevölkerung gerecht werde.
Den Bedenken, dass bald nur noch Luxusreisende Warane zu Gesicht bekommen dürfen, tritt die Regierung schon jetzt entgegen. „Wer die Gebühr in Komodo nicht zahlen will“, gab Luhut Pandjaitan, Indonesiens Schifffahrtsminister, zu Protokoll, „kann für eine weitaus geringere Gebühr die weniger berühmte Nachbarinsel Rinca besuchen.“ Dort leben bekanntlich mehr Warane als auf Komodo.
Ishak Ata Modo hat also recht mit seiner Einschätzung, dass Komodo 2020 nicht schließen wird. Was danach passiert, weiß derzeit niemand. Derweil bauen die Einheimischen am Hafen von Komodo weiterhin Tag für Tag ihre Stände mit Drachen-T-Shirts und Waran-Souvenirs auf.
Sobald sich ein Touristenboot nähert, preisen sie ihre Ware mit lauten Rufen an und unterbieten sich gegenseitig. Der Preis für einen Aschenbecher mit Mini-Waran fällt in wenigen Sekunden von umgerechnet vier auf zwei Euro.
„Es kommen einfach zu wenig Boote“, klagt einer der Händler, die Einnahmen hätten sich schon jetzt halbiert, obwohl die Schließung nur ein Gerücht gewesen sei. „Wir sind weiterhin hier, auch im kommenden Jahr“, sagt er und geht ungefragt mit dem Preis auf 1,50 Euro runter.
Philippinen: Der Präsident lässt töten
Manila. Die kleine Hütte, in der sich die Familie Lopez versammelt hat, ist aus Stein, das Dach ist undicht, gerade mal zwei Räume gibt es. Es ist feucht, riecht muffig, Insekten krabbeln auf dem Boden oder fliegen umher. Über der Tür hängt ein Bild von Justin, er wurde nur 24 Jahre alt. Wenn Luisito Lopez vom 18. Mai 2017 und dem Tod seines Sohnes erzählen soll, dann wird er oft unterbrochen, von Gloria, Justins Großmutter, oder von seinem Bruder Nestor, Justins Onkel.
Es passierte spät am Nachmittag jenes Donnerstages im Stadtteil Tondo der philippinischen Hauptstadt Manila, im Slumviertel Morong Street. Luisito: „Jemand schrieb meinem Sohn eine SMS, er solle zum Bahndamm gehen.“ Der Junge lief mit einer Gruppe von Freunden los, zu den 200 Meter entfernten Gleisen. Als er dort ankam, waren die Jungen plötzlich von Polizisten umringt, in Zivil und Uniform.
Nestor: „Seine Freunde rannten weg, die Polizisten bekamen nur Justin zu fassen und stießen ihn zwischen die Schienen.“ Dort bekam der 24-Jährige einen epileptischen Anfall. Luisito: „Er hatte oft epileptische Anfälle, die Polizisten aber dachten, er machte sich lustig.“ Nestor: „Dann habe ich acht Pistolenschüsse gehört.“ Großmutter Gloria: „Als ich zu den Gleisen kam, sah ich meinen Enkel mit ausgestreckten Armen zwischen den Schienen liegen.“
Das, was Justin passiert ist, passiert seit zwei Jahren sehr häufig in den Slums von Manila. Die Polizei nennt ihr Vorgehen „Tokhang“ — „Tok“ steht für „klopfen“ an der Tür und „Hang“ für „festnehmen“. Menschenrechtsorganisationen haben einen anderen Begriff für die Aktion: „Extra Judicial Killings“ (EJK), Töten ohne Prozess.
Der Drogenkrieg wird mit harten Mitteln geführt: Die Polizei nimmt Verdächtige nicht mehr fest, sondern tötet sie meist gleich vor Ort. Es gibt keine Anklage, keine Beweisaufnahme, kein Urteil. Die Exekutive handelt in Manila unabhängig von der Judikative, Rückendeckung bekommen sie dabei vom Präsidenten selbst: Rodrigo Duterte.
Vor fast zwei Jahren, im Juni 2016, gewann Duterte die Wahl – unter anderem, weil er der Bevölkerung damals versprach, die Straßen der großen Städte von Drogen und Kriminellen zu befreien. Er benutzte schon damals eine menschenverachtende Sprache: „Hitler hat drei Millionen Juden getötet – ich werde drei Millionen Drogensüchtige töten.“
Tatsächlich hat Hitler sechs Millionen Juden umbringen lassen, und unter Duterte sollen bereits 20.000 Menschen bei Polizeieinsätzen getötet worden sein. Wie viele davon Dealer, Drogensüchtige und Unschuldige waren, lässt sich nicht mehr sagen. Das System Duterte funktioniert zumindest zum Teil: Die Kriminalitätsrate ging tatsächlich um ein Fünftel zurück, allein im ersten Jahr seiner Amtszeit – parallel steigt die Zahl der Toten.
In den ersten Monaten der Duterte-Regierung gab es einen internationalen Aufschrei, Medien berichteten, zeigten Bilder von Leichen, denen ein Schild umgehängt war: „Ich bin ein Dealer.“ Als Papst Franziskus und der damalige US-Präsident Barack Obama das Vorgehen kritisierten, bezeichnete Duterte sie als „Hurensöhne“, und in Richtung der Europäischen Union sagte er schlicht: „Leckt mich.“ Das Töten hat nicht aufgehört, auch jetzt noch im April 2018 gibt es in jeder Nacht neue Leichen.
Chito Gascon, Vorstand der Menschenrechtskommission auf den Philippinen, ist einer der wenigen hochrangigen Politiker, die sich gegen diese Tötungen stellen. „Das Problem ist, dass wir wenig tun können, solange die Öffentlichkeit aufseiten des Präsidenten ist“, sagt er. Dessen Beliebtheit liegt nach wie vor bei rund 80 Prozent. Gascon wurde kurz vor Dutertes Präsidentschaftswahl nominiert und ist jetzt noch mindestens zwei Jahre im Amt.
„Am Anfang waren es mehr als 100 in einer Nacht“, sagt er, „inzwischen sind es viel weniger, aber es hört nicht auf.“ Seine Kommission geht von bis zu 20.000 Toten aus, die im Drogenkrieg sterben mussten. Offiziell gibt die Polizei an, für 4100 Tote verantwortlich zu sein, die „in Notwehr“ erschossen wurden. Doch jetzt regt sich erstmals Widerstand gegen dieses Vorgehen.
In seiner Hütte berichtet Luisito Lopez davon, dass die Drogen bei der armen Bevölkerung durchaus ein Problem sind, vor allem Shabu, wie Crystal Meth auf den Philippinen genannt wird. „Justin hat ungefähr ein Jahr lang Shabu genommen“, sagt Luisito. „Justin hatte das Gefühl, dass er mit der Droge keine epileptischen Anfälle mehr bekam.“ Die Familie versuchte, Justin davon wegzubekommen. „Erst am Morgen jenes 18. Mai hat er seiner Mutter versprochen, nie wieder Shabu zu nehmen.“
Es ist das Letzte, was sie von ihrem Sohn noch in Erinnerung hat, bevor er starb. Aber mit den Drogen gehandelt habe er nie. „Er war ein guter Junge, hatte einen Job in einer kleinen Werkstatt, wo er aus Aluminium Töpfe herstellte.“ Dafür bekam er umgerechnet zwei bis drei Euro am Tag. Damit unterstützte er seine Familie.
Die Lopez-Familie ist arm und kann sich keinen Anwalt leisten. Nach Justins Tod fühlten sie sich zunächst allein. Großmutter Gloria: „Sie gaben uns 280 Pesos als Kompensation.“ Das sind umgerechnet fünf Euro. Sie schüttelt den Kopf. „Diese Tiere, damit werden sie nicht durchkommen.“
Nach der Beerdigung von Justin ging sie zur Polizei und beschwerte sich. „Ich habe sie angeschrien, dass mein Enkel kein Dealer war“, erzählt sie. Aber die Polizisten sagten ihr nur: „Der Präsident steht hinter uns, Sie haben keine Chance.“ Dann aber sprach Rubylin Litao sie an, sie sagte, sie sei von der Organisation Rise Up (steh auf). Die kümmert sich um einzelne Fälle der Opfer von „Tokhang“ und versucht, die Tötungen zu dokumentieren und zu untersuchen.
Rubylin Litao ist für viele Familien die einzige Hoffnung auf Gerechtigkeit. Sie hält den Kampf gegen Drogen vor allem für einen Kampf gegen die Ärmsten der Bevölkerung: „Die meisten Familien haben nicht den Mut, sich offen gegen den Staat und die Polizei zu stellen.“ Litao kennt den Fall Lopez, vor allem deshalb, weil es einer von drei Fällen ist, die aktuell vor Gericht verhandelt werden. „Für uns ist es vor allem Überzeugungsarbeit, dass die Familien ein Recht darauf haben, vor Gericht gehört zu werden.“
Auch ihrem Büro haben die Beamten schon einen überraschenden Besuch abgestattet. „Sie wollten uns einschüchtern, aber wir werden weitermachen.“ Litao denkt, dass im Fall von Justin Lopez der Polizei zumindest Fehlverhalten nachgewiesen werden kann. Aber ob die Gerichte unabhängig sind? Bei dieser Frage lächelt sie nur. „Das werden die Urteile zeigen.“
Rückenwind bekommt die Organisation durch einen Fall, der im August vergangenen Jahres weltweites Aufsehen erregte. Der 17 Jahre alte Kian Delos Santos wurde am 16. August tot in einer Sackgasse im Norden Manilas gefunden. Auch ihn beschuldigte die Polizei, ein Drogenhändler zu sein und sich mit Waffengewalt gegen die Verhaftung gewehrt zu haben. Aber es gab Kameraaufnahmen und Zeugen, die dem widersprachen.
Außerdem war der Junge in seiner christlichen Gemeinde und im Freundeskreis als besonders engagiert bekannt. Die Familie Delos Santos kommt ebenfalls aus ärmlichen Verhältnissen, aber auch sie strengte ein Gerichtsverfahren an. Der Vater wurde Teil des Zeugenschutzprogramms und zog in einen anderen Teil Manilas. Das Urteil wird im Sommer erwartet.
Duterte hält weiter am Image des Hardliners fest
Die Prozesse von Delos Santos und Lopez haben erste Konsequenzen für die philippinische Polizei zur Folge gehabt. Es wurden Regeln eingeführt, wie eine „Tokhang“-Aktion durchgeführt werden soll: Es müssen nichtpolizeiliche Zeugen anwesend sein, oder der Vorgang muss mit Kameras aufgezeichnet werden. Aber Duterte hält weiter am Image des Hardliners fest. Die starke Polizeipräsenz ist in den Straßen Manilas spürbar, vor allem abends.
Taxifahrer und Shop-Besitzer – egal, wen man fragt, sie alle unterstützen den Präsidenten. Der Kampf gegen Drogen geht so weit, dass selbst das Rauchen von Zigaretten im öffentlichen Raum verboten ist. Wer es doch tut, muss mit hohen Geldstrafen oder Gefängnis rechnen.
Großmutter stimmte selbst für Duterte im Jahr 2016
In dem Slum, wo die Straßen ganz eng sind und die Abwasser vor den Eingängen entlangfließen, dort also, wo die Familie Lopez lebt, wird überall geraucht. Hier gelten die Regeln nicht, mit denen Duterte eine neue Zeit einläuten will. Großmutter Gloria stimmte selbst für Duterte im Jahr 2016. Jetzt aber sagt sie eisern: „Ich wünsche mir nur noch, dass er stirbt.“ Die Familie hat außer dem Foto über der Tür nicht mehr viel, was sie an Justin erinnert, erzählt der Vater.
Justins Schwester Jery holt ein Parfüm hervor, Marke Poison, und ein T-Shirt von Dieckies. „Er wollte immer aussehen wie ein Gangster“, sagt sie. Vater Luisito: „Die Polizei kam nach seinem Tod einmal zu uns, um uns diese Kette zu geben.“ Der Vater spielt mit der Kette, mit dem kleinen Kreuz daran und sagt: „Justin wurde am 31. Dezember geboren, damals war überall Feuerwerk. Es war der glücklichste Tag in meinem Leben.“
Sheela Birnstiel, Porträt
Basel. Sheela Birnstiel ist schwer zu durchschauen. Das liegt nicht an der Sonnenbrille, die nimmt sie ab, wenn man sie bittet. Es liegt eher daran, dass es so viele Geschichten über diese rätselhafte Frau gibt, die heute Leiterin eines Heimes für geistig Behinderte in der Schweiz ist. Vor 35 Jahren war sie die Sekretärin eines indischen „Sex-Gurus“, wie der Sektenführer Bhagwan Shree Rajneesh gern genannt wurde.
„Sekretärin?“, fragt sie. „Bitte nennen Sie mich Bhagwans Geliebte.“ Aber sie habe nie ein sexuelles Verhältnis mit ihm gehabt. Sie war ihm in den turbulenten Jahren nah, sah ihn täglich, folgte ihm geistig, liebte ihn. Man kann also sagen: Es war kompliziert.
Dieser Bhagwan ist auch der Mann, für den die gebürtige Inderin beinahe zur Mörderin geworden wäre. Sie war überzeugt davon, dass sein Leibarzt ihn vergiften wollte. Und so planten einige Frauen aus ihrem Umfeld den Tod des Arztes. Der Giftanschlag schlug fehl, der Arzt überlebte, Sheela ging ins Gefängnis.
Bhagwan-Bewegung ist Gegenstand einer neuen Netflix-Serie
Der Mann, den sie beschützen wollte, ihre „große Liebe“, dieser Bhagwan nannte sie öffentlich eine „undankbare Hure“. Diese turbulenten Jahre zwischen 1980 und 1985 sind gerade wieder Thema, weil der Streamingdienst Netflix eine sechsteilige Dokumentation ins Programm genommen hat. In „Wild Wild Country“ werden viele Anhänger des Gurus interviewt. Sie waren leicht erkennbar, denn sie trugen alle rote oder orangefarbene Kleidung.
Doch die mit Abstand spannendste Figur bleibt die junge Sheela. Sie lebte es, das tabulose Leben in einer Gemeinschaft, in der Sex nichts Verstecktes, nichts Peinliches war, sondern etwas, das gefeiert wurde – nicht nur zu zweit. Sie trat in Talkshows auf, sie provozierte mit Schimpfwörtern und mit ihrer offen zur Schau gestellten freien Liebe. „Wir sind genau wie ihr“, sagte sie zum US-Publikum, „wir haben nur besseren Sex.“
Sheela (68) sagt: „Aber das alles ist 35 Jahre her.“ Sie weiß, dass sie auch daraus ihre Bekanntheit zieht, ihren Ruhm. „Ich liebe Bhagwan noch immer, und dieser Liebe konnten die Jahre nichts anhaben, nicht einmal sein Tod“, sagt sie.
Dann springt sie auf und läuft einem Mann hinterher, der aus dem Heim hinaus in Richtung Wald geht. „Wo willst du denn hin?“, ruft ihm Sheela nach. Der Mann ist einer ihrer Heimbewohner. Sie holt ihn ein, streichelt ihm über die Schulter und führt ihn langsam zurück ins Haus. Dann fragt sie: „Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, Liebe.“
Sie soll einen Anschlag mit Salmonellen geplant haben
Liebe war nach außen hin das große Thema des Bhagwan, der in den 1970er-Jahren in Indien eine Sekte gründete, der weltweit Tausende folgten. Für den kleinen indischen Ort Pune waren es irgendwann zu viele, sodass Sheela beauftragt wurde, für sie eine neue Heimat zu suchen. Sie fand sie in Oregon, USA.
Ein Gebiet von 25.000 Hektar, das sie für fünf Millionen US-Dollar kaufte. Der Ort wuchs von rund 50 auf mehr als 5000 Einwohner in wenigen Monaten. Bei Festivals waren es mehr als 20.000.
Doch nach außen hin blieb die Gemeinde undurchsichtig: Wie kam der Bhagwan zu dem Geld, dass sich die Sekte eine Flotte von Rolls-Royce leisten konnte, einen Flughafen und eine bewaffnete Polizei? Damals kam das meiste Geld aus den Spenden der Mitglieder und aus Einnahmen aus Restaurants und Clubs.
Jetzt verdient Sheela Geld mit der Pflege ihrer Patienten
Inzwischen verdient Sheela nur durch die Pflege ihrer Patienten Geld, sagt sie. Sie lebt mit ihrer Schwester im obersten Stockwerk des Heims in Maisprach außerhalb von Basel. Sie kam hierher mit ihrem Schweizer Ehemann, Urs Birnstiel, nachdem sie die Kommune 1985 verlassen hatte.
Es war die Zeit, in der alles zusammenbrach: Der Kommune wurde da schon vorgeworfen, schuld zu sein an einem politisch motivierten Bio-Terroranschlag, mit der eine kommunale Wahl beeinflusst werden sollte.
Rund 50 Menschen mussten damals im Krankenhaus behandelt werden, weil sie mit Salmonellen infiziert waren. Die Polizei fand Salmonellen-Kulturen in Bhagwans Gemeinschaft, und Sheela musste dafür und für den Anschlag auf den Leibarzt Bhagwans ins Gefängnis: 39 Monate.
Sie sagt ganz ruhig: „Ich bin vor Gericht nie schuldig gesprochen worden.“ Vielmehr habe sie die Schuld auf sich genommen. „Ich habe meine Strafe abgesessen, und auch mir sollte jetzt ein ordentliches Leben möglich sein, oder?“ Sie sagt noch, sie habe „Fehler“ gemacht, die sie sich eingestehen müsse.
„Ich muss akzeptieren, dass ich auch versagt habe, aber niemand kann 35 Jahre von morgens bis abends weinen.“ Jetzt steht sie jeden Morgen um sechs Uhr auf und kümmert sich um die Bewohner im Heim. „Bhagwans Regeln aber“, sagt sie, „behalten ihre Gültigkeit. Er sagte immer: Im Grunde sind alle Probleme im Leben lösbar“, sagt sie. „Wir nehmen uns nur nicht genug Zeit, um sie zu verstehen.“
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 10.10.2018
Die Geisterinsel
Hinter der Geschichte: Wie der Autor von dem Fall erfuhr
Familien in Korea: Nur für Stunden wiedervereint
Seoul. Als Kim Kwang-ho seinen Bruder zum ersten Mal nach 68 Jahren wiedersieht, weint er nicht, er umarmt ihn auch nicht – sondern er bleibt kühl. „Ich konnte ja nicht sofort wissen“, sagt er wenige Wochen nach dem Treffen, „ob es wirklich mein Bruder ist.“ Er lächelt unsicher und schiebt hinterher, er sei an sich kein emotionaler Mensch.
„Ich bin Ingenieur“, sagt Kim, „also habe ich auch dieses Thema zunächst nüchtern betrachtet.“ Der 80 Jahre alte Mann wirkt streng, auch wenn es hier um einen der emotionalsten Momente seines Lebens geht. „Und es ist doch normal, dass ich nicht weiß, wie jemand aussieht, den ich fast 70 Jahre nicht gesehen habe.“
Kim will auf keinen Betrüger hereinfallen und der Mann, der ihm gegenübersitzt, könnte genau das sein: Jemand, der sich Kontakte in den Süden erschwindeln will. „Zum Glück hatte er ein Bild dabei, von sich selbst als Kind und von anderen Verwandten“, sagt Kim. „Und er kannte alle ihre Namen, da wusste ich, das muss Kwang-il sein, mein Bruder.“
Das Jahr 2018 war für Kim Kwang-ho ein ganz besonderes Jahr und für sein Heimatland Südkorea auch. Nach mehr als vier Millionen Toten im Koreakrieg und nach Jahrzehnten der Funkstille nahmen die beiden Staaten, die „Bruderstaaten“ genannt werden, Süd- und Nordkorea, am 9. Januar 2018 erstmals wieder bilaterale Gespräche miteinander auf.
Am 27. April 2018 trafen Diktator Kim Jong-un und Südkoreas Präsident Moon Jae-in sich in der demilitarisierten Zone. Die Fotos von diesem Treffen hängen noch jetzt im Schaukasten der Botschaft Nordkoreas in Berlin. Im Juni 2018 fand dann der erste Gipfel zwischen US-Präsident Donald Trump und Nordkoreas Diktator Kim Jong-un in Singapur statt – und kapp acht Monate später folgt in dieser Woche der zweite Gipfel der beiden Männer in Vietnam.
Für Herrn Kim bedeutete diese Annäherung, dass er sich wieder Hoffnung machen darf, nach fast 70 Jahren Trennung Anschluss zu seiner Familie im Norden zu bekommen. Seit dem Jahr 2000 organisieren beide Staaten regelmäßig sogenannte Familienzusammenführungen. Mal werden sie kurzfristig abgesagt, mal verschoben. Doch weil Besuche verboten sind, bleiben diese Treffen die einzige Gelegenheit, bei der normale Menschen aus dem Volk aufeinandertreffen – keine Sportler oder Politiker.
Es sind immer hochemotionale Termine, sehr alte Menschen liegen sich weinend in den Armen. Bis zu 700.000 Südkoreaner haben noch Familie im Norden, 130.000 von ihnen haben sich für diese Treffen registriert, aber nur 20.000 davon konnte zu einem Treffen verholfen werden. Doch jedes Jahr wird die Zahl derer geringer, die sich noch an Verwandte im Norden erinnern können.
Kim Kwang-ho jedenfalls besteigt am Morgen des 20. August 2018 zusammen mit seiner Frau einen Reisebus und fährt in Richtung Norden, von Seoul aus nur rund 50 Kilometer. Fast 90 Menschen sitzen mit ihm im Bus, das Ticket zum Verwandten-Treffen wurde unter ihnen verlost. Die Stimmung hat er als angespannt in Erinnerung.
Stumm fahren sie vorbei an einem Urwald, zu dem sich in den 60 Jahren die demilitarisierte Zone entwickelt hat. Doch die grüne Idylle täuscht. In diesem rund vier Kilometer breiten Streifen sollen Millionen Landminen liegen. Ein weiterer positiver Effekt der Gespräche: Die Staaten haben sich geeinigt, die Minen zu räumen.
Im Gepäckfach des Busses liegen viele Pakete für die Geschwister im Norden. Herr Kim hat zwei für seinen Bruder gepackt: mit Hemden, Westen, Medikamenten und Daunendecken, weil die Winter im Norden noch härter sind als im Süden. „Ich habe auch südkoreanischen Schokokuchen eingepackt“, sagt er und lacht, „weil ich gehört habe, dass den jeder in Nordkorea kennt.“
Er spricht das Wort nicht Koreanisch aus, sondern Englisch: „Choco Pie“. Manche sagen, einige Nordkoreaner fliehen nach Süden, weil sie endlich den berühmten Schokokuchen essen wollen. Aber bis heute weiß Kim Kwang-ho nicht, ob das Paket seinen Bruder erreicht hat. „Da waren sofort Männer, die es mitgenommen haben.“ Er meint nordkoreanische Beamte, die immer neben ihnen standen. Aber das merkte er nicht, weil er sich so auf seinen Bruder konzentrierte. „Die Zeit verging viel zu schnell.“
Die Familienzusammenführungen sind streng reglementiert. An drei Tagen gibt es vier Begegnungen von jeweils rund drei Stunden. Zusammen, sagt er, habe er seinen Bruder zwölf Stunden gesehen. Manche der Treffen finden in einem großen Saal statt, mit Stimmengewirr und Lärm, andere in einem privateren Umfeld, einem kleinen Extra-Zimmer. Südkoreanische Medien umringen die Familien oft, machen Fotos. Am Tag nach einem Treffen drucken die Zeitungen Bilder der weinenden alten Menschen. Kim Kwang-ho aber sagt, dass nicht viele geweint haben. Ihm sei viel eher aufgefallen, wie still es häufig war.
Das lag auch daran, dass alle konzentriert versuchten, die Zeit zu nutzen. „Wir haben uns über unsere Familien erzählt“, sagt Kim Kwang-ho. Er berichtet seinem Bruder von seinem Studium in Seoul, wie er dann mehr als dreißig Jahre als Professor an einer Universität gelehrt habe, wie er dort seine Frau kennenlernte, drei Kinder mit ihr bekam, später vier Enkelkinder. Seine beiden Söhne sind Zahnärzte, er ist stolz, wenn er von ihnen erzählt. Dann ist sein Bruder dran: Kwang-il wuchs allein mit der Mutter auf, er studierte erst Elektrotechnik und dann Chemie in Nordkorea. Auch er heiratete, hatte aber nur eine Tochter, die ebenfalls eine Tochter hat.
Kim Kwang-ho war 13 Jahre alt, als er seinen damals neunjährigen Bruder und die gemeinsame Mutter zum letzten Mal sah. Der Norden hatte gerade den Süden angegriffen. Kwang-ho wurde wie viele flüchtende Nordkoreaner im Jahr 1950 mit Schiffen aus der umkämpften Stadt Hungnam in den Süden gebracht.
Es waren Schiffe der US-Marine und Frachter, die bis zu 100.000 Zivilisten und ebenso vielen Soldaten das Leben retteten. Die Aktion spielt eine Rolle im Film „Ode to my Father“ aus dem Jahr 2014, der diesen Moment ins Kino brachte: Tausende winkende Menschen am Hafen, und dazwischen Verwandte, die einander verlieren. „Genauso war es“, sagt er, „ein großes Chaos.“ Die Familie trennte sich dort am Hafen. Der Bruder Kwang-il dachte damals, er könnte Kwang-ho und die anderen bald wiedersehen.
Kim Kwang-ho kann sich noch genau erinnern: „Als ich das Schiff bestieg, hatte ich das Gefühl, dass ich meine Mutter und meinen Bruder für lange Zeit nicht wiedersehen würde.“ Sonst aber habe er nur wenige Erinnerungen an die Zeit vor der Trennung. „Ich weiß noch, dass ich meinen Bruder immer geärgert habe, weil er so jung war.“
Und der Bruder habe ihn daran erinnert, wie sie beim Abendessen eine richtige Familie waren: Mutter, Vater und die sieben Kinder. „Aber wir haben noch Glück gehabt“, schiebt er sofort nach. „Mein Bruder hat immerhin überlebt.“ Er selbst ist der letzte Überlebende der Familie in Südkorea, seine fünf Geschwister sind mittlerweile gestorben, ohne Kwang-il je wiedergesehen zu haben.
Jetzt wo die Zeichen mehr auf eine Kooperation mit Nordkorea stehen, denkt Kim Kwang-ho oft an seinen Bruder. Er schaut vor sich hin, faltet sein Taschentuch sorgfältig zusammen, er spricht leise und überlegt länger vor jedem Satz. Er sagt, dass weder er noch sein Bruder über politische Umstände ihrer Heimat sprechen durften.
Sie haben sich daran gehalten. „Natürlich hat mein Bruder nichts Negatives über Nordkorea gesagt“, sagt Kim Kwang-ho, „aber ich konnte sehen, dass es ihm nicht gut ging.“ Kwang-il sei sehr dünn gewesen und auch die Kleidung habe ärmlich gewirkt.
Der Moment, in dem Kwang-ho die Tragweite dieses Treffens aber bewusst wurde, ist der Moment des Abschieds. Es gab so viel aufzuholen, dass beide nicht daran dachten, was sein wird, wenn die Zeit um ist. „Doch als ich wieder auf einem Platz im Bus neben meiner Frau saß und meinem Bruder winkte, der draußen stand“, sagt er und beginnt zu schluchzen, „da wusste ich, den sehe ich nie wieder.“
Er sagt, dass er diese Erfahrung seinen Enkeln einschärft. „Damit sie verstehen, wie froh sie sein können, ihre Geschwister immer um sich zu haben.“