Christian Göke, Porträt

Es gibt Sätze, die passen besser zu einem Hippie als zu Christian Göke. Dabei war er sicher schon einiges in seinem Leben, Soldat zum Beispiel oder Jäger oder Geschäftsbereichsleiter oder Unternehmensberater. Aber diese Flower-Power-Sache, die hat er mit Sicherheit nie ausprobiert. Christian Göke steht also am Ende eines Spaziergangs auf dem Messegelände, seinem Messegelände, und sagt diesen Hippie-Satz: „Die Hauptaufgabe eines jeden Menschen ist es doch …“

Er unterbricht sich: „Haben Sie Kinder?“ Kopfschütteln.

Wieder ansetzen: „Die Hauptaufgabe ist es also, herauszufinden, was man machen will mit seinem Leben.“

Das ist ein großer Satz, und Göke sagt ihn so nachdenklich, dass man ihm glaubt, dass es mehr gibt für ihn als Zahlen und Diagramme und Bilanzen, denen er als Berliner Messe-Chef sein halbes Leben verschrieben hat. Da gibt es Freundschaft und Liebe, wichtige Gespräche, Rotwein, gute Literatur jenseits von „Meine-erste-Million“-Ratgebern. „Wir wissen doch im Grunde nichts“, sagt er noch. Aber warum will ein Manager mit knapp 500.000 Euro Jahresgehalt und, wie er sagt, „einem der spannendsten Jobs in Berlin“, Mitglied mehrerer Aufsichtsräte (unter anderem Hertha und Visit Berlin) – warum will dieser Mann der Messe bei einem Spaziergang das „Leben an sich“ diskutieren? Um im Bild zu bleiben: Lässt sich das Leben denn „vermessen“?

Das Berliner Jahr lässt sich zumindest ganz gut in Messen, Festivals und Kongresse einteilen. Es gibt die typischen Besucher der Grünen Woche (Latzhose), der Internationalen Tourismus-Börse (Rollkoffer) und der Internationalen Funkausstellung (Freisprechknopf im Ohr). Abseits vom Messegelände in Charlottenburg gibt es noch die Fashion Week, das Theatertreffen und die Berlinale. In Berlin gibt es zu fast allen Lebensbereichen ein Großereignis. Selbst die Jugend (YOU!), der ungehemmte Sex (Venus!) und der ordinäre Fruchtsalat (Fruit Logistica) haben ihre eigenen Messen. Für Christian Göke sind all das Märkte, in denen es Spaß macht, sich auszukennen.

Dem ersten Eindruck nach, als Göke aus dem Fahrstuhl kommt, ist er zunächst ein Mann, der schnell läuft, Hände fest drückt, Augenkontakt hält und auffällig deutlich spricht. Der Mantel sitzt, das Lachen auch, um die Frisur muss er sich keine Sorgen machen und die gute Laune ist nicht aufgesetzt. Alles drückt Verbindlichkeit und Optimismus aus. Das sind so viele „Softskills“ auf einmal, dass es einschüchternd wirkt. Auf die Frage, wie es ihm gehe, sagt er mit langem „ie“: „Ziemlich gut.“ Dann aber auf dem Weg zum Funkturm geht es schon um seinen Job. Seit einem Jahr ist er jetzt Vorsitzender der Geschäftsführung bei der Messe. Er sagt, das sei wie „permanenter Bildungsurlaub“. „Ich muss die Themen der Branche antizipieren“, sagt er, „damit die Messen weiterhin relevant bleiben.“ Hinzu komme, dass alles global geworden sei und somit sein Geschäft noch komplexer und schnelllebiger. Das schließt natürlich mobile Applikationen ein, Apps, die es inzwischen zu jeder Messe einzeln gibt. „Als ich hier 2000 herkam“, sagt er, „gab es noch nicht einmal E-Mail oder einen ordentlichen Internetauftritt.“

Doch gerade als er vom Stress des Alltags erzählt, gelangt er zu einem Ort etwas abseits auf dem Messegelände: Ein japanischer Garten. „Ist das nicht sonderbar hier?“, fragt er. Er zeigt auf die Bäume, den Teich mit Koi-Karpfen, die Brücke. Er komme hier viel zu selten her. Nur der Verkehrslärm erinnert daran, dass gleich nebenan der am stärksten befahrene Verkehrsknotenpunkt Deutschlands ist: die Avus. Dann muss Christian Göke doch lachen und sagt: „Das ist schon irre, in Berlin war soviel Geld damals“, sagt er, „dass sie einfach nicht wussten, wohin damit.“ Diesen Garten habe er trotzdem erst einmal so gelassen. „Das ist herrlich für unsere Mitarbeiter, aber für die Messe kann man ihn nicht einbinden.“

Dabei würde es gerade an diesem Wochenende passen, wenn die Besuchertage der Internationalen Tourismus-Börse (ITB) zum 48. Mal stattfinden. Wieder sind alle Hallen ausgebucht, wieder ist es die größte Messe ihrer Art weltweit: 10.147 Aussteller aus 189 Ländern zeigen fünf Tage lang, wo es noch richtig schön ist in der Welt. So ein Zen-Garten könnte da für gestresste Gäste eine Erholung sein. Doch es gibt keine Verbindung von den Messehallen. Der Park wirkt aber nicht vernachlässigt, eher unendlich geduldig, in sich ruhend.

Im Gegensatz dazu wirkt das Kunstwerk von Ursula Sax „Looping“ fast aufregend. Göke geht an der großen gelben Spirale vorbei in Richtung Funkturm und schaut auf das ICC gegenüber. Er mag auch dieses Gebäude, das Raumschiff. „Es wurde gebaut in einer Zeit, als man nicht dachte, dass es 40 Jahre später umgebaut werden könnte.“ Die Haustechnik sei unter dem Erdgeschoss verlegt, üblich für die Zeit, aber heute unpraktisch. Insgesamt habe das Gebäude nur 16 Prozent Nutzfläche. „Der City Cube, den wir in diesem Jahr öffnen, hat 80 Prozent Nutzfläche.“ Ja, der Eröffnungstermin steht fest, und: „Man braucht ein Datum, auf das man hinarbeitet.“

Als Christian Göke oben auf der Aussichtsplattform des Funkturms steht, könnte das auch der Tower eines Flughafens sein. Zu diesem Ausblick passen Sätze mit Superlativen: „Diese Gebäude sind im Prinzip der größte Brückenbau der Welt.“ Er meint damit, dass fast 80.000 der insgesamt 160.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche auf Stelzen gebaut wurden. Dann zeigt er auf die einzelnen Gebäude, die ersten Messehallen aus Sandstein aus der Nazi-Zeit, das frisch renovierte Marshall-Haus aus den 50er-Jahren, die späteren Messegebäude aus den 70er- und 90er-Jahren. Doch einen Superlativ hat er sich aufgespart: „Nirgendwo in Deutschland wird mehr Umsatz pro Quadratmeter Hallenfläche gemacht als an diesem Ort.“

Zahlen sind sein Element, mit ihnen kann er gut umgehen, er schaut auf Orte und ihm fallen sie sofort ein. Der Südeingang: „Bis zu 70 Prozent nutzen ihn jetzt.“ Mitarbeiter: „Wir haben rund 8000, die hier Tag und Nacht eine Messe aufbauen.“ Hotels: „Berlin hat 130.000 Betten, 40.000 mehr als New York.“ So könnte man das weitertreiben, jeder Mensch produziert ja ständig Werte, Zahlen, Fakten, Kurvendiagramme. Doch seine Freundin – so hat er einmal gesagt – erinnere ihn daran, dass er nicht alles in Zahlen ausdrücken könne. Und wenn er für ein paar Sekunden auf dem Turm steht, auf die Messe schaut, keine Zahl erwähnt, dann kann man das sehen, kein Hippie, aber …

Auf dem Weg nach unten erzählt Göke von seinem Morgenritual. „Ich stehe früh auf und mache die fünf Tibeter“, sagt er, „dann ist mein ganzer Körper einmal gedehnt.“ Früher sei er Fußballer gewesen, habe während seines Jurastudiums in Italien in der B-Liga gespielt. Sport habe ihm viel über das Leben gezeigt: die eigenen Grenzen, die Leistungsfähigkeit, auch den Respekt vor dem Altern. Nach einer Verletzung und jetzt mit 48 Jahren ist für Christian Göke Yoga der wichtigste Sport.

Statt Leistungsorientierung (Tore schießen) konzentriert er sich jetzt auf die Verbindung zwischen Körper und Geist. Die erste Übung der „fünf Tibeter“ geht so: Die Arme anheben und sich um die eigene Achse drehen. Nach einigen Umdrehungen die Augen schließen und auf sein Schwindelgefühl achten. Überhaupt: Auf sich achten. Einatmen, ausatmen. Wenn er so nachdenklich dasteht, oben auf dem Funkturm und auf die Messe herabschaut, ist es gar nicht mehr so schwer sich vorzustellen, woher diese Konzentration kommt, die man Managern als wichtigste Eigenschaft nachsagt.

Auf dem Weg zum Sommergarten sagt er, dass er immer einen Beruf ausüben wollte, in dem er etwas bewegen kann. „Lange Zeit dachte ich, Unternehmensberater sei der einzige Beruf, in dem man das kann.“ Man reise um die Welt, gestalte sie mit, bereite klare Entscheidungen vor. Inzwischen sehe er das anders. „Manchmal glaube ich, das ist alles ein ganz schöner Mist.“ Das Leben lasse sich nicht so einfach einteilen. Die einzige Grundregel sei eben, dass man herausfinden müsse, was man im Leben wolle. „Wenn ich Kindern beim Spielen zuschaue, dann kann man das sehen: Der eine will etwas bauen, der nächste blättert in einem Bilderbuch, ein Baby malt am liebsten oder planscht im Wasser.“ Das klingt verträumt, ist es aber nicht. Bei Christian Göke hat selbst das Sprechen über Kinderspiele etwas mit seinem Nachdenken über die beste Managementform zu tun. Jeder ist in einer Sache gut. Er muss nur herausfinden worin und dann noch besser werden. Göke zitiert dann gern die beiden Pulitzer-Preis-Gewinner Will und Ariel Durant, die 1965 das Buch „Lessons of history“ geschrieben haben. Darin geht es um den Vergleich von Freiheit und Gleichheit.

Göke sagt: „Wenn die Gleichheit groß ist, geht die Freiheit des Einzelnen zurück und dann schließlich die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft.“ Das könne man an den kommunistischen Beispielen bestätigt finden, extrem in Nordkorea. „Lasse man aber der Freiheit zu viel Raum, dann geht es plötzlich nur noch nach Darwin und dem Recht des Stärkeren.“ Kurz: „Der Gleichheitsgedanke wirft den Freiheitsdenkenden einen Knüppel zwischen die Beine.“ Zwischen diesen beiden Begriffen könne man alles durchdeklinieren: Volksentscheide, Rekommunalisierung, Freiheitsbewegung.

Bei Christian Göke klingt es manchmal so, als ginge es immer um die Optimierung von Prozessen, um das „Beste und Meiste rauszuholen“ aus einer Sache, sei das eine Messe oder eine künstlerische Fertigkeit. Dabei ist es bei ihm offensichtlich so, dass er sich nicht nur mit Messen beschäftigt, weil er dafür Geld bekommt. Er kann mühelos begründen, warum solche Geschäftstreffen nie an Reiz verlieren werden, fernab des Rituals. „Face to Face kann nie ersetzt werden“, sagt er, „einen Rechtsanwalt, Arzt oder Psychologen will man schließlich auch immer in Person treffen.“ Und er kann dann schnell eine ITB mit Beethoven vergleichen. „In zehn Jahren wird jeder noch Beethoven hören“, sagt er, „aber Lady Gaga vielleicht nicht mehr.“ Der Komponist sei länger am Markt gewesen und habe sich etabliert. Der „Lindy-Effekt“ gelte auch für Messen.

Plötzlich kommen ihm im Sommergarten einige Mitarbeiter entgegen. Zu einem ruft er: „Hallo, wie war die Krisenstabübung?“ Ein paar Meter weiter sagt er zu einer Kollegin auf Krücken: „Hey! Geht es besser?“ – Sie sagt grinsend: „Die Arme sind jedenfalls stark.“ Er zeigt auf die Kantine, zu der sie alle unterwegs sind: „Das ist der Haupttreffpunkt, nirgendwo wird so viel gequatscht.“ Aber das sei gut, sagt er, jeder könne vom anderen lernen, aber eben nur, wenn man spricht und zuhört. Er macht das wirklich immer wieder, diese Vermischung von privatem Vergnügen und Optimierung von Prozessen.

Am Ende steht Christian Göke wieder vor dem Kunstwerk von Ursula Sax, dem „Looping“, der aussieht wie ein gefrorener Geistesblitz. Zahlen, die er so mag, gibt es nur wenige zu diesem Werk: 50 Meter lang, seit 22 Jahren hier. Vielleicht schauen es manchmal Autofahrer verträumt an, wenn sie mal wieder im Stau auf der Avus stehen und die hässliche Tribüne auf der anderen Seite nicht sehen wollen. Oder ITB-Besucher, wenn sie mit Rollkoffer abends in Richtung S-Bahn laufen. Dass dahinter noch ein Zen-Garten liegt, wissen nur die Messemitarbeiter und ihr Chef. „Was weiß ich denn?“, fragt er noch. „Vielleicht hat der Gärtner des japanischen Gartens genauso viel bewegt wie ich in meinem Büro da oben.“ Die Frage ist doch, ob er jetzt in diesem Moment genau das tue, was er immer tun wollte? Christian Göke kennt die Antwort auf diese große Frage. Aber nur für sich selbst.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 9.3.2014